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Politik 50 schlüssel ideen Sachbuch Ben Dupré

Ben Dupré - Politik 50 Schlüsselideen

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  • Politik

    50schlsselideenS a c h b u c h Ben Dupr

  • Ben Dupr

    50 Schlsselideen

    Politik

    Aus dem Englischen bersetzt von Peter Wittmann

    Springer Spektrum

  • Einleitung 3

    POLITISCHE THEORIE01 Freiheit 402 Gerechtigkeit 803 Gleichheit 1204 Menschenrechte 1605 Der Gesellschaftsvertrag 2006 Demokratie 2407 Monarchie 2808 Tyrannei 3209 Utopien 3610 Revolution 40

    WELTANSCHAUUNGEN11 Anarchie 4412 Skularismus 4813 Republikanismus 5214 Kapitalismus 5615 Konservatismus 6016 Liberalismus 6417 Sozialismus 6818 Kommunismus 7219 Sozialdemokratie 7620 Multikulturalismus 8021 Arbeiterbewegung 8422 Feminismus 8823 Umweltbewegung 9224 Faschismus 9625 Fundamentalismus 10026 Islamismus 104

    InhaltDER POLITISCHE APPARAT27 Der Staat 10828 Verfassungen 11229 Prsidialsystem 11630 Parlamente 12031 Politische Parteien 12432 ffentliche Verwaltung 12833 Medien 13234 Propaganda 136

    HANDLUNGSRUME DER POLITIK35 Armut 14036 Kriminalitt 14437 Sicherheit 14838 Nachrichtendienste 15239 Politische Gewalt 15640 Staatliche Wohlfahrt 16041 Rassismus 16442 Korruption 16843 Political Correctness 172

    DIE GANZE WELT IST BHNE44 Politischer Realismus 17645 Krieg 18046 Nationalismus 18447 Imperialismus 18848 Isolationismus 19249 Globalisierung 19650 Vereinte Nationen 200

    Glossar 204Index 206

  • 3Politik ist angeblich das zweitlteste Gewerbe, und mir ist klar geworden, dass es eine sehr groehnlichkeit mit dem ltesten besitzt, witzelte Ronald Reagan 1977. Der sptere 40. Prsident derVereinigten Staaten und die Hter der Logik mgen mir verzeihen, aber es knnte sein, dass diezweitlteste Profession in Wahrheit lter ist als die erste. Sich politisch zu verhalten, knnte manargumentieren, ist untrennbar mit dem Menschsein verbunden. Aristoteles Definition der Menschenals zoa politika (politische Wesen) ging auf seine Beobachtung zurck, dass sie sich in den Ver-hltnissen des griechischen Stadtstaates oder der polis wovon der Begriff Politik abgeleitet ist am vollkommensten und charakteristischsten entfalteten. Die polis ist demnach der natrlicheLebensraum politischer Wesen, hier agieren sie im wechselseitigen Miteinander und schaffen so dieRegeln und Institutionen, von denen gesellschaftliche Ordnung und soziale Gerechtigkeit abhngen.Und wenn der Mensch von Natur aus ein politisches Wesen ist, folgt daraus, dass es ein Leben ohnePolitik nicht geben kann.

    Die polis mag das Ergebnis der Zusammenarbeit von Brgern sein, doch ihre Triebfeder ist derKonflikt. Wenn sich Menschen nicht stets uneins wren, knnte man auf Politik verzichten. In einerWelt vollkommener Einigkeit oder allgegenwrtiger Unterdrckung knnte Politik nicht gedei-hen, denn entweder gbe es einfach keine Meinungsunterschiede oder sie wren eliminiert. Wir kn-nen gar kein anderes als ein politisches Leben fhren, da es keine grundstzliche bereinstimmungin den Fragen gibt, wie die guten Dinge verteilt werden sollen, wer Autoritt gegenber wem besit-zen soll und wie hierber entschieden wird. Wie Mao Zedong einmal klug bemerkte, ist PolitikKrieg ohne Blutvergieen: ein Mittel zur Konfliktlsung ohne Anwendung von Gewalt. Die einzigeselbstverstndliche bereinkunft in einer politisch offenen Gesellschaft ist die, dass bestehendeUnterschiede anzuerkennen sind. Politik ist folglich die Kunst (oder die Wissenschaft die Meinun-gen sind geteilt) des Kompromisses.

    Gehen wir also davon aus, dass Uneinigkeit das ist, was Politik letztlich ausmacht. Dann wrdeich dem Thema nicht gerecht werden, wenn ich meine ganz persnliche Auswahl von 50 politischenSchlsselideen, die dieses Buch behandelt, rechtfertigen wollte. Und angesichts der Tatsache, dasses das Wort endgltig in der Sprache der Politik nicht gibt (wie Benjamin Disraeli bemerkte),werde ich auch nicht so tun, als knnte jedes einzelne Konzept nur so und nicht anders dargestelltwerden. Ich danke lediglich meinen Verlegern (erst Richard, jetzt Slav) fr ihre stete Untersttzungund auerdem meiner Familie, die mir gezeigt hat, dass eine gute politische Entscheidung nicht vomVerstand oder von gerechter Arbeitsteilung abhngt. Amor vincit omnia.

    Ben DuprOxford, 2010

    Einleitung

    Einleitung 3

  • Politische Theorie4

    01 FreiheitIn den westlichen Demokratien gilt die Freiheit weithin als das hchste Menschenrecht: ein Ideal, fr das es sich zu kmpfen und notfalls auch zusterben lohnt. Der hohe Stellenwert der Freiheit ist ein Ma fr die vielenerbitterten Kmpfe, die ausgefochten wurden, um sie zu erringen: gegen Kirchen, die ihre Glaubenslehre auch um den Preis von Menschenleben ver-teidigten; gegen die absolute Macht von Monarchen, die Unterdrckung derFrau und politisch Andersdenkender; gegen Sklaverei, Vorurteile, Ignoranzund vieles andere mehr.

    Seit den groen Revolutionen in Amerika und Frankreich in der zweiten Hlfte des18. Jahrhunderts galt Freiheit als das herausragende Merkmal des Liberalismus. In ber-stimmung mit dem Staatsdenker John Locke, dessen Werk die Grndervter der Vereinig-ten Staaten von Amerika inspirierte, ist die Gewhrleistung der Freiheit die hchsteRechtfertigung der Verfassungsordnung eines Staates: Die Gesetze sind nicht dafr da,die Freiheit abzuschaffen oder einzuschrnken, sondern dafr, sie zu bewahren und zuvergrern. Freiheit bedeutet fr jeden die Mglichkeit, die ihm zusagenden politischenund religisen Ansichten zu haben, sie ohne Furcht oder Beschrnkung zu uern, selbstzu entscheiden, wo und wie man sein Leben lebt.

    Nach der amerikanischen Unabhngigkeitserklrung von 1776 ist Freiheit ebensowie das Leben selbst und das Streben nach Glck eines der natrlichen und unver -uerlichen Rechte, mit dem alle Menschen ausgestattet sind. Es ist ein Recht, dasnur im uersten Fall eingeschrnkt werden darf. Dennoch kann es nicht grenzenlosoder absolut sein. Wie der englische Sozialphilosoph und Historiker R. H. Tawney inEquality (1938) bemerkte, bedeutet die Freiheit fr den Hecht den Tod der Karpfen.Die uneingeschrnkte Freiheit des einen engt zwangslufig die Freiheit von anderenein. Doch wo ziehen wir die Grenze? Staatsfhrungen reagieren gewhnlich aufuere Bedrohungen wie Krieg oder Terrorismus, indem sie die Freiheitsrechte derBrger beschneiden, und der damit verbundene Freiheitsverlust ist nach Meinung vonKritikern oft nicht weniger beunruhigend als die Gefahren, die ihn angeblich recht -fertigen.

    Zeitleiste1644John Miltons Areopagiticakritisiert die staatliche Zensur

    1690John Locke verffentlichtZwei Traktate ber dieRegierung

    Juli 1776Die Vereinigten Staatenvon Amerika erklrenihre Unabhngigkeit

    Juli 1789Sturm auf die Bastille

  • Freiheit 5

    Positive und negative Freiheit Keine moderne Darstellung des Freiheitsbegriffskann den grundlegenden Beitrag ignorieren, den im 20. Jahrhundert der politische Philo-soph Isaiah Berlin zu diesem Thema leistete. Seine Analyse geht von einer zentralenUnterscheidung zwischen zwei Freiheitskonzepten aus: der positiven und der negativenFreiheit.

    Wir sehen Freiheit gewhnlich dort als gegeben, wo keine ueren Beschrnkungenoder Zwnge vorhanden sind: Man ist so lange frei, wie keine Einschrnkung einendaran hindert zu tun, was man tun mchte. Das ist es, was Berlin negative Freiheitnennt. Mit Blick auf die Umstnde, unter denen es fr die Gesellschaft statthaft ist, dieseFreiheit zu beschneiden, spricht sich Berlin fr das Schadensprinzip aus, das beson-ders mit dem englischen Philosophen John Stuart Mill verbunden ist. Es sieht vor, dassder Staat Individuen die Freiheit gewhren sollte, alles tun zu drfen, was die Interessenanderer nicht beeintrchtigt. Auf diese Weise lsst sich ein Bereich individueller Freiheitdefinieren, ein privater Raum, der unantastbar ist und geschtzt gegen jede Einmischungvon auen. Freiheit in diesem Sinne ist immer einKompromiss zwischen Individuen, die in einerGesellschaft zusammenleben. Freiheit bedeutet,schrieb 2002 der britische Dramatiker Tom Stop-pard, in meinem Badezimmer so laut singen zudrfen, wie es meinen Nachbarn nicht in seinerFreiheit einschrnkt, in seinem eine andere Melo-die zu singen.

    Stellen Sie sich jetzt eine Person vor, die Frei-heit in diesem negativen Sinn besitzt, der es aberan den finanziellen Mglichkeiten, an Erziehungoder anderen geistigen oder physischen Ressourcenmangelt, um sich dementsprechend zu verhalten.Ist eine solche Person vollkommen frei? Nehmenwir einmal an, dass es bestimmte Handlungsweisengibt, die man whlen sollte und whlen wrde,dass man aber daran gehindert wird, weil es eineman den ntigen materiellen Mitteln, an Charakter-strke oder Vorstellungskraft fehlt. Woran es dieserPerson mangelt, ist das, was Berlin positive Frei-heit nennt: eine Form der Befhigung oder Eigen-

    1859John Stuart Mill verffentlichtber die Freiheit

    Oktober 1958Isaiah Berlin hlt eineVorlesung zum ThemaZwei Begriffe der Freiheit

    September 2001George W. Bush hlt vor demKongress seine Rede zumKrieg gegen den Terror

    Der neue Preis der FreiheitLaut Sprichwort ist stetige Wachsamkeit der Preisder Freiheit. Ursprnglich sollten die brgerlichenFreiheiten einer stndigen berprfung unterzo-gen werden, aus Sorge, sie knnten durch staatli-ches Handeln unbemerkt ausgehhlt werden undverloren gehen. Heute ist es genau umgekehrt,und die Brger selbst sind zu Objekten stndigerKontrolle geworden, wobei die Geheimdienste undStrafverfolgungsbehrden immer raffiniertereberwachungstechniken einsetzen. Unsere Bewe-gungen werden von Drohnen, Satelliten undunzhligen berwachungskameras registriert;unsere physischen Merkmale werden biometrischanalysiert; unsere Computerdaten werden abge-griffen und fr Persnlichkeitsprofile genutzt,unsere Telefongesprche routinemig mitgehrt;unsere E-Mails werden gescannt. Der Groe Bru-der beobachtet uns wirklich auf Schritt und Tritt.

  • Politische Theorie6

    verantwortung, die einen in die Lage versetzt, das eigene Potenzialauszuschpfen oder seine eigentliche Bestimmung zu erfllen.

    Genau darin sieht Berlin das Problem dieser positiven Form vonFreiheit, dass sie nmlich die Existenz einer Bestimmung voraus-setzt einen richtigen Weg, den man gehen sollte und auf dem mansich befindet, wenn sich die bessere Seite des Charakters durch-setzt. Das wrde bedeuten, es gibt in der Natur des Menschengleichsam etwas Essenzielles, das bestimmt, was richtiges Handelnist, und nur eine freie Person ist in der Lage, diesen Wesenskernzuentfalten. Aber wer knnte sagen, was diese Bestimmung oderEssenz ist? Berlins Sorge ist, dass diejenigen, die Autoritt besitzen blicherweise die Vordenker und Begeisterten , bestimmen, wiedie Dinge sein sollten, und es selbst in die Hand nehmen, die ange-nommene bessere Seite der anderen zu frdern (und die schlechtezu unterdrcken), und zwar so, wie es ihren eigenen Interessen am

    ehesten ntzt. Eine solche patriarchalische Regierung knne sich leicht in Tyrannei verwandeln, indem sie ein bestimmtes gesellschaftliches Ziel festlegt und den Brgernvorschreibt, wie sie zu leben haben. Fr die Mchtigen ist es dann nur noch ein kleinerSchritt, sich das Recht anzumaen, die tatschlichen Wnsche von Menschen oderGesellschaften zu ignorieren, diese zu schikanieren, zu unterdrcken, zu foltern imNamen und im Interesse ihres ,wahren Selbst. Berlins tiefes Misstrauen gegenberpositiver Freiheit speiste sich aus dem Wissen um die Ungeheuerlichkeiten des 20. Jahr-hunderts, insbesondere der totalitren Schreckensherrschaft Stalins in der Sowjetunion.

    Gebt mir die Freiheit zu wissen, zu uern und freizu argumentieren, nach meinem eigenen Gewissen,als hchste aller Freiheiten. Die Streitrede des eng-lischen Dichters John Milton gegen die Zensur inseinem Traktat Areopagitica aus dem Jahr 1644 isteiner der berzeugendsten Appelle fr die Rede-und Meinungsfreiheit. Auf sie bezieht sich John Stu-art Mill in seiner Schrift ber die Freiheit (1859), inder er vor den Gefahren einer Kultur des Vorurteilsund der intellektuellen Unterdrckung warnt, in derallgemein akzeptierte Ansichten weder hinterfragtnoch kritisiert werden drfen und in der die aktivs-ten und wissbegierigsten Kpfe sich davor frchten,

    freie und khne Spekulationen ber die wesentli-chen Dinge anzustellen. Aus einer hnlichen Hal-tung heraus hatte vor ihm der deutsche PhilosophImmanuel Kant postuliert, dass der Intellekt frei seinmsse, um zur Reife zu gelangen: Zur Aufklrungaber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar dieunschdlichste unter allem, was nur Freiheit heienmag, nmlich die: von seiner Vernunft in allen St-cken ffentlichen Gebrauch zu machen. Auf denPunkt gebracht hat diesen Gedanken der englischeSchriftsteller George Orwell, als er Freiheit definierteals das Recht, den Leuten zu erzhlen, was sienicht hren wollen.

    Freie und khne Spekulationen

    Diejenigen, die Freiheitan sich immer als Wert

    betrachtet haben, warenberzeugt, dass die

    Freiheit zu whlen undnicht die Abwesenheit

    von Zwngen einunverzichtbarer

    Bestandteil dessen ist,was den Menschen zum

    Menschen macht.Isaiah Berlin, 1969

  • Freiheit 7

    Worum es gehtDas Ringen um Freiheit

    Andere sehen positive Freiheit in einem helleren Licht und unterstreichen ihr Potenzialfr die persnliche Entwicklung und Selbstverwirklichung.

    Die Verteidigung der Freiheit Die Verwirklichung und Verteidigung der Freiheitging selten reibungslos vonstatten. Die Vereinigten Staaten, selbsternannter Fackeltrgerder Freiheit, machten sich die Hnde schmutzig, als sie nach der Erlangung ihrer Unab-hngigkeit die Sklaverei fast ein Jahrhundert lang gesetzlich erlaubten und sie de factobis ins 20. Jahrhundert praktizierten. In Frankreich, einer weiteren Bastion der Freiheit,verkehrte sich die von einer Pariser Zeitung anlsslich des Sturmes auf die Bastille aus-gerufene heitere und gesegnete Freiheit binnen vier Jahren in dieSchreckensherrschaft unter Robespierre, der jede politische Opposi-tion zerschlagen und schtzungsweise 17 000 angebliche Konterre-volutionre auf der Guillotine hinrichten lie.

    1795 warnte der politische Schriftsteller und Intellektuelle Tho-mas Paine: Wer seine eigene Freiheit sichern will, muss selbst sei-nen Feind vor Unterdrckung schtzen. Doch seine Mahnung fandnur wenig Gehr. Die Revolutionre in Frankreich rechtfertigtenihre Missachtung der Brgerrechte mit der Gefahr einer Gegenrevo-lution im eigenen Land und mit der Bedrohung durch fremde Armeen von auen. Leiderhaben nachfolgende Regierungen trotz ihrer behaupteten Freiheitsliebe das franzsischeModell zu kopieren versucht und dabei die Warnung des vierten US-PrsidentenJamesMadison vergessen: Die Mittel zur Abwehr von ueren Gefahren wurden in derGe schichte zu Instrumenten der Tyrannei im eigenen Land. Nach den islamistischenAnschlgen am 11. September 2001 rief George W. Bush einen Krieg gegen den Terroraus Zivilisationen kmpfen den Kampf all jener, die an Fortschritt und Pluralis-mus, an Toleranz und Freiheit glauben. Der Krieg sollte eine ra der Freiheit einlei-ten, doch zu seinen Opfern in den darauffolgenden Jahren zhlten auch brgerliche Frei-heiten und Menschenrechte: Gesetze wurden verschrft, sogenannte feindliche Kmpfermisshandelt, gefoltert und unter Missachtung internationalen Rechts abgeurteilt.

    Wer die Freiheitaufgibt, um Sicherheitgewinnen, der wird amEnde beides verlieren.

    Benjamin Franklin, 1755

  • Politische Theorie8

    02 GerechtigkeitWir alle knnen das krasse Unrecht sklavenartiger Kinderarbeit in Ausbeu-terbetrieben erkennen, oder auch das hungernder Kinder, fr die eigentlichgenug Nahrung vorhanden wre. Wir wissen um die Ungerechtigkeit, dassHIV-Infizierte wegen malos berteuerter Medikamentenpreise an Aids sterben oder andere Folter erleiden mssen und ohne Gerichtsverfahreneingesperrt sind. Wir scheinen einen natrlichen Sinn fr Gerechtigkeit odervielmehr ein Bewusstsein von Ungerechtigkeit zu besitzen: Es mag nichtleicht sein, Gerechtigkeit zu definieren, doch im konkreten Fall scheinen wirsie oder ihre Abwesenheit fast instinktiv zu erkennen.

    Neben dieser Sensibilitt fr Ungerechtigkeit gibt es oft ein Bewusstsein fr Unstim-migkeit, fr das Missverhltnis zwischen dem, was Menschen erleiden, und dem, wasihnen nach unserem Gefhl zusteht oder was sie berechtigterweise erwarten drfen. DieVerbindung des Gerechtigkeitsprinzips mit der Vorstellung von Ausgewogenheit istschon sehr alt und geht mindestens bis auf Plato und Aristoteles zurck. Im Fall der perGesetz geregelten Gerechtigkeit wird sie durch die Figur der Justitia personifiziert, diezwei Waagschalen hlt.

    Gerechtigkeit bei den alten Griechen Plato zieht in seiner sehr speziellenTheorie, die er am deutlichsten in seiner Politeia beschrieben hat, Parallelen zwischender Gerechtigkeit in seinem idealen Staat und der sittlichen Vorbildlichkeit von Indivi-duen. Genauso wie Gerechtigkeit im Staat auf der Ausgewogenheit oder gesellschaftli-chen Harmonie zwischen den drei Klassen von Brgern (Regierende, Hter, Erzeuger)in der Erfllung ihrer Pflichten beruht, hngt das sittliche Wohl eines Individuums abvon der Balance oder inneren Harmonie zwischen den drei Teilen der Seele (Verstand,Gefhle, Bedrfnisse). Aus Platos Vorstellung von Gerechtigkeit als Harmonie ergibtsich, dass das Wohl des Staates mit der Verwirklichung von Gerechtigkeit untrennbarverbunden, wenn nicht sogar gleichzusetzen ist. In vielen spteren politischen Theorienwurde die Gerechtigkeit ausdrcklich oder unausgesprochen zum grundlegenden oderhchsten politischen Wert erhoben. So ist etwa fr den Rmer Cicero aus dessen Sicht

    Zeitleisteca. 375 v. Chr.Plato legt seine Lehrevon der Gerechtigkeit alsHarmonie vor

    ca. 350 v. Chr.Aristoteles argumentiert, dass einwesentlicher Aspekt von Gerechtigkeitdarin besteht, gleiche Flle gleich zubehandeln

  • Gerechtigkeit 9

    als Staatsdenker Gerechtigkeit die krnende Pracht, die hchste Gebieterin undKnigin aller Tugenden.

    Nach Aristoteles Auffassung von Gleichgewicht oder Ausgewogenheit besteht dasWesen der Gerechtigkeit darin, dass Menschen das ihnen Zustehende bekommen.Gerechtigkeit herrscht, im Leben wie nach dem Gesetz, wenn es eine bereinstimmunggibt zwischen dem Schicksal, das ein Mensch erfhrt, und dem Schicksal, das zu erfah-ren er verdient hat; ein angemessenes Verhltnis zwischen dem, was einer Person zuteilwird, und dem, was ihr zuteil werden msste. Diese sogenannte distributive oder Vertei-lungsgerechtigkeit bezieht sich auf die faire oder gerechte Verteilung der zwangslufigbegrenzten Ressourcen, Vorteile und Belastungen (einschlielich der Rechte und Pflich-ten) innerhalb einer Gemeinschaft oder Gesellschaft. Sowohl diegute Regierungspraxis als auch die Stabilitt eines Staates hngenentscheidend von der (sichtbaren) Anwesenheit dieser Art vonGerechtigkeit ab. Der franzsische Philosoph und Aufklrer DenisDiderot war sich dessen deutlich bewusst, als er bemerkte:Gerechtigkeit ist die erste Tugend derer, die befehlen, und siebereitet den Klagen derer ein Ende, die ihnen gehorchen.

    Furchtlos und unparteiisch Justitia trgt zwei Waagschalenund dazu eine Binde vor den Augen: Von ihr wird nicht nur ver-langt, ausgewogene Urteile zu fllen, sondern auch blind zu seinhinsichtlich Partei, Freundschaft [und] Verwandtschaft (in denWorten Joseph Addisons). Objektivitt verlangt, dass alle Unter-schiede, auf die eine Person keinen Einfluss hat zum Beispiel Hautfarbe oder Her -kunft , unbercksichtigt bleiben. Doch Justitia ist nicht blind gegenber smtlichenUnterschieden: Objektivitt bedeutet nicht, alle gleich zu behandeln. Wir alle mgen imPrinzip der Meinung sein, dass Gleiches gleich behandelt werden sollte, doch keinMensch gleicht dem anderen, und folglich gibt es Unterschiede in dem, was angemessenist. Gerechtigkeit erfordert, dass jeder, der in moralisch relevanter Hinsicht hnlichgestellt ist, gleich behandelt werden sollte; mit anderen Worten, Gleichbehandlung istnotwendig, sofern es nicht gute Grnde gibt, von ihr abzuweichen.

    Schwierig wird es natrlich, wenn wir uns ber diesen Konsens hinaus Fragen stellen etwa danach, worin Gleichheit eigentlich besteht. Chancengleichheit und tatschlicherErfolg sind zwei vllig verschiedene Dinge. Selbst wenn alle in ihrem Leben die glei-chen Chancen htten, wrden Unterschiede hinsichtlich Talent und Glck dafr sorgen,

    1971John Rawls entwickelt seineTheorie der Gerechtigkeit alsFairness

    2009Amartaya Sen pldiert fr einpluralistisches Verstndnis vonGerechtigkeit

    Gerechtigkeit ist derbestndige und un -wandelbare Wille,einem jeden das ihmGebhrende zukommenzu lassen.

    Kaiser Justinian, 6. Jh. n. Chr.

  • Politische Theorie10

    dass Menschen ganz verschiedene Positionen in der Gesellschaft erreichen. Weiter stelltsich die Frage, welche Grnde ein Abweichen von der Gleichverteilung der guten undschlechten Dinge in einer Gesellschaft moralisch rechtfertigen knnten. Ist es gerecht

    und fair, dass bessere Qualifikationen, hhere Intelligenz oderFreude an harter Arbeit dazu fhren, dass jemand strker an denguten Dingen des Lebens partizipiert? Oder ist es Aufgabe einergerechten Gesellschaft, die Ungleichheiten, die sich aus unserennatrlichen Gaben ergeben knnen, auszugleichen?

    John Rawls und Gerechtigkeit als Fairness In der zwei-ten Hlfte des 20. Jahrhunderts wurde die Gerechtigkeitsdebatte

    mageblich von den berlegungen des US-amerikanischen Philosophen John Rawlsbeeinflusst. In Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971) unterstreicht Rawls, dass jedeTheorie der sozialen Gerechtigkeit den Gedanken der Ungleichheit mit einbeziehen

    Drei Kinder streiten sich darber, wer von ihnen eineFlte behalten darf. Anne begrndet ihren Anspruchauf das Instrument damit, dass sie die einzige unterden Dreien ist, die wei, wie man es spielt. Bobsagt, dass er die Flte haben sollte, weil er so armist, dass er keine anderen Spielsachen hat. Schlie-lich fordert Clara, dass ihr die Flte gehren soll,denn sie habe sie schlielich gemacht. Wer alsosollte die Flte bekommen? Auf den ersten Blick hatjedes der drei Kinder einen begrndeten Anspruch,eine gerechte Schlichtung erfordert also ein behut-sames Abwgen und genaues Prfen aller relevan-ten Umstnde. Die Entscheidung wird letztlichdavon abhngen, wie man die Bedrfnisse der dreiKinder und Dinge wie knstlerischer Ausdruck oderdas Lindern von Armut gewichtet.

    Erzhlt wird die Geschichte von der Flte vondem indischen Wirtschaftswissenschaftler undNobelpreistrger Amartya Sen in seinem von denKritikern gefeierten Buch Die Idee der Gerechtigkeit(2009). Der springende Punkt in der Erzhlungbesteht fr Sen darin, dass es eine absolut und

    objektiv richtige Antwort nicht gibt; eine fr allefaire und akzeptable Entscheidung lsst sich alleinanhand von Prinzipien und ohne die Bercksichti-gung ffentlicher Debatten und Argumente nicht tref-fen. Whrend Gerechtigkeit als abstraktes Prinzipschwer zu definieren und noch schwieriger anzu-wenden ist, sind Ungerechtigkeiten in der realenWelt ganz konkret sprbar. Sie verdienen unserevolle Aufmerksamkeit, und wir knnen sie beseitigenund die Gerechtigkeit in der Welt schrittweise ver-mehren, indem wir ffentliche Debatten fhren undgegenwrtige Leben vergleichen. In Sens Augenist Gerechtigkeit kein abstraktes oder monolithi-sches Prinzipiengebude, sondern es gibt eine Viel-zahl konkurrierender Grundstze, die eine Pluralittmiteinander im Wettstreit liegender Versionen vonGerechtigkeit begrnden. Was uns antreibt, istnicht die Erkenntnis, dass die Welt nicht durch unddurch gerecht ist, was kaum jemand erwartet, son-dern die Tatsache, dass es um uns herum offen-sichtlich vermeidbare Ungerechtigkeiten gibt, die wirbeseitigen wollen.

    Das Mrchen von der Flte

    Gerechtigkeit ist dieerste Bedingung fr

    Humanitt.Wole Soyinka,

    nigerianischer Schriftsteller, 1972

  • Gerechtigkeit 11

    msse. Denn wenn die Prinzipien, auf denen ein Gesellschaftssystem beruht, unausge-wogen sind und eine bestimmte Gruppe (etwa eine soziale Klasse oder politische Partei)bevorzugen, wird sich dieses System automatisch als ungerecht erweisen.

    Von zentraler Bedeutung in Rawls Darstellung ist seine Antwort auf die Frage, wasals moralisch ausreichende Begrndung fr ein Abrcken vom Prinzip der Gleichbe-handlung gelten kann. Er argumentiert, dass Menschen, die unter einem imaginrenSchleier des Nichtwissens stehen, der alle persnlichen Interessen und Verpflichtun-gen verbirgt, gutheien werden, was er als Differenzprinzip bezeichnet, um ihre eigenen (unbekannten) zuknftigen Interessen zu wahren. Nach diesem Prinzip sindUngleichheiten in der Verteilung knapper Gter oder Ressourcen (Geld, Macht, Gesund-heitsfrsorge) nur dann gerechtfertigt, wenn die am strksten benachteiligten Mitgliederder Gesellschaft am meisten davon profitieren. Steuersenkungen fr die Reichen wrenzum Beispiel statthaft, vorausgesetzt sie htten bessere Chancen fr die weniger Wohl-habenden zur Folge. Zweifellos lassen sich mit Rawls Differenzprinzip sehr groeUnterschiede zwischen den schwchsten und den erfolgreichsten Mitgliedern einerGesellschaft rechtfertigen. Und um sein Konzept der sozialen Gerechtigkeit liefern sichGegner und Befrworter nach wie vor heftige Debatten.

    Worum es gehtDie Knigin aller Tugenden

    Unsere erste Frage lautet nicht, wie eine vollkommen gerechteGesellschaft aussehen wrde, sondern welche vermeidbaren

    Ungerechtigkeiten erkennbar sind, ber deren Beseitigung begrndete bereinstimmung herrschen wrde.

    Amartya Sen, The Guardian, Juli 2009

  • Politische Theorie12

    03 GleichheitKaum ein Politiker, egal welcher inneren berzeugung, wrde heute aufste-hen und fr Ungleichheit eintreten. Neben seinen revolutionren BegleiternFreiheit und Brderlichkeit ist das Gleichheitsprinzip heutzutage praktischunantastbar und wird als unverzichtbarer Bestandteil einer gerechtenGesellschaft angesehen. In einem Schreiben an George Washington im Jahr1784 bemerkte Thomas Jefferson, dass die naturgegebene Gleichheit desMenschen die konstitutionelle Basis der Vereinigten Staaten von Amerikabildet. Am hohen Stellenwert der Gleichheit als Grundpfeiler des politischenund sozialen Denkens hat sich seitdem nichts gendert.

    Als Ideal der Aufklrung geht das Prinzip der Gleichheit auf staatstheoretische berle-gungen zurck, die John Locke und andere in der zweiten Hlfte des 17. Jahrhundertsanstellten. Hundert Jahre spter, 1776, wurde die Vorstellung, dass es bestimmte natur-gegebene und unveruerliche Rechte gibt, in der Unabhngigkeitserklrung der Verei-nigten Staaten verankert, darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glck alsRechte, die allen Menschen gleichermaen zustehen. Dreizehn Jahre spter wurde ebenjenes Ideal zur Inspirationsquelle fr die von den Kmpfern der Franzsischen Revolu-tion verkndete Erklrung der Menschen- und Brgerrechte und mit ihr entstand derenSchlachtruf: Freiheit, Gleichheit, Brderlichkeit.

    Die weitgehende Unantastbarkeit des Gleichheitsprinzips mag uns den Blick daraufverstellen, wie sehr es auf die Neuzeit und regional begrenzt wie auch allgemein unge-ngend umgesetzt ist. Das Ideal der Gleichheit, fr das sich die Aufklrer einsetzten,war in mancher Hinsicht eine skular inspirierte Reaktion auf die sogenannte Gleich-heit vor Gott und auf die unausgesprochene und groe Ungleichheit unter den Men-schen (und Geschlechtern), die whrend des gesamten vergangenen Jahrtausends denAlltag bestimmte. Ungleichheiten beispielsweise aufgrund von Geburt, Kaste oderGeschlecht sind noch heute die Regel in nichtwestlichen Lndern, wo die Staatsmacht inden Hnden religiser Fhrer oder des Militrs liegt oder allgemein undemokratischeVerhltnisse herrschen und Gleichheit im Sinne der westlich-liberalen Tradition nochnicht einmal angestrebt wird.

    Zeitleiste1690John Locke verffentlichtZwei Abhandlungen berdie Regierung

    1776Die Unabhngigkeitserklrung derVereinigten Staaten proklamiert dieunveruerlichen Menschenrechte

  • Gleichheit 13

    Chancengleichheit Die verwirrende Frage, die im Mittelpunkt der Diskussion umdas Gleichheitsprinzip steht, hat der sterreichische Sozialphilosoph und Wirtschafts-wissenschaftler Friedrich Hayek in seinem einflussreichen Buch Die Verfassung derFreiheit (1960) zutreffend beschrieben:

    Aus der Tatsache, dass die Menschen sehr verschieden sind, folgt, dass gleiche Behandlung zueiner Ungleichheit in ihren tatschlichen Positionen fhren muss, und dass der einzige Weg, siein gleiche Positionen zu bringen, der wre, sie ungleich zu behandeln. Gleichheit vor demGesetz und materielle Gleichheit sind daher nicht nur zwei verschiedene Dinge, sondern sieschlieen einander aus.

    Kein Mensch gleicht dem anderen. Zu behaupten, alle Menschen seien gleich, argumen-tiert Hayek, sei schlichtweg unwahr weltfremdes und ideologisch motiviertes Wunsch-denken. Menschen sind mit den unterschiedlichstenTalenten ausgestattet, wenn sie also Gleichheit vordem Gesetz genieen dieselben grundlegendenjuristischen und politischen Rechte, wie sie dertypische Liberale mindestens fordert , werden ihresoziale Positionen und wirtschaftliche Situationenzwangslufig sehr unterschiedlich sein. Die Art vonGleichheit, die Liberale wie Hayek fordern, ist dieGleichheit der Chancen. Sie setzt voraus, dasskeine knstlichen Hindernisse wie soziale Her-kunft, Rasse oder Geschlecht einer mglichst freienEntfaltung der natrlichen Gaben und persnlichenPotenziale im Weg stehen. Allerdings ist es nichtdie Aufgabe eines gerechten Staates, hier einzugrei-fen und sich in die Rechte und Freiheiten der Br-ger einzumischen, um die daraus entstehendeChancenungleichheit (hinsichtlich Wohlstand, Sta-tus, Macht usw.) auszugleichen. Gleichheit nachdiesem Verstndnis erfordert faire Bedingungen,ohne so zu tun, als ob alle Akteure gleich talentiertwren, und ohne dafr sorgen zu wollen, dass siein der Ausschpfung ihrer Talente gleich belohnt wrden.

    1960Friedrich Hayek verffentlichtDie Verfassung der Freiheit

    1989Die kommunistischen Regimein der Sowjetunion und inOsteuropa kollabieren

    2007Die kapitalistische Marktwirtschaftwird von der weltweiten Kredit -krise gebeutelt

    Jedem, was ihm zustehtIn seinem Essay Die Idee der Gleichheit (1927)drckte der englische Schriftsteller Aldous Huxleydie unvermeidliche Diskrepanz zwischen derGleichbehandlung von Menschen und derenBehandlung entsprechend ihrer Leistung aus:Brderlichkeit unter den Menschen bedeutet nichtihre Gleichheit, schrieb er. Familien haben ihreNarren und ihre Genies, ihre schwarzen Schafeund ihre Heiligen Ein Mensch sollte seinen Bru-der liebevoll und gerecht behandeln, gem derVerdienste eines jeden. Doch nicht alle Brderhaben dieselben Verdienste. Wir sind keine Klone kein Mensch wird je identisch mit einem anderensein; und die Fairness, die oft in einem Atemzugmit Gerechtigkeit genannt wird, scheint es zugebieten, dass Menschen gerecht und entspre-chend ihrer individuellen Leistung behandelt wer-den jedoch nicht gleich, es sei denn, sie leistendasselbe.

  • Politische Theorie14

    Wege zur Chancengleichheit Gleichheit nach liberaler Lesart ist also im Kernleistungsorientiert. Die Verantwortung des Staates beschrnkt sich darauf, ein Systemgleicher Rechte und Freiheiten zu schaffen, das Individuen in die Lage versetzt, kraftihres angeborenen Verstandes und harter Arbeit in angesehene Positionen aufzusteigen das heit in Positionen der Ungleichheit. Ein solche Auffassung billigt das Entstehenvon Eliten, allerdings nicht solcher der Herkunft oder des materiellen Wohlstands wie infrheren Zeiten, sondern von Leistungseliten letztlich also Verdienst-Aristokratien.

    Hier ergeben sich aber sofort Probleme. Es ist naiv zu glauben, dass es gengenwrde, etwa aufgrund von Herkunft oder Geschlecht gegebene Hrden zu beseitigen,um die Entfaltung angenommener natrlicher Talente zu ermglichen. Kaum ein Staatwrde heute darauf setzen, dass Gerechtigkeit durch einen derart minimalen Eingrifferzielt werden kann. Es ist offensichtlich, dass eine Vielzahl von Faktoren die effektiveFreiheit zur Selbstverwirklichung einschrnkt: fehlende Erziehung, mangelnde Bildung,geringe finanzielle Mglichkeiten. All diese Faktoren tragen dazu bei, dass Gesellschaf-ten entstehen, die durch tiefe strukturelle Ungleichheiten gespalten sind. Abgesehen voneinigen unverbesserlichen Liberalisten wrden alle akzeptieren, dass der Staat ein gan-zes Bndel von Manahmen ergreifen muss, um Ungleichheiten zu beseitigen und aus-gewogene Rahmenbedingungen zu schaffen. Umstritten ist jedoch das Ma der Inter-vention, und in hitzigen Debatten ber die Ausgestaltung des ffentlichen Bildungs- und

    Selbst dort, wo das Gleichheitsideal im Prinzip aner-kannt wurde, war seine Unerreichbarkeit in der Rea-litt stets ein Gemeinplatz in der Literatur und impolitischen Denken. In Anthony Trollopes Buch DerPremierminister (1876) beklagt der Herzog vonOmnium (der Premierminister des Titels) denUmstand, dass ein gutes Wort, das fr eine groeIdee steht, aus dem Wortschatz guter Menschenverdrngt wurde. Gleichheit wre ein Himmelreich,wenn wir sie erlangen knnten. In George OrwellsFarm der Tiere (1945) verknden die tyrannischenSchweine zynisch alle Tiere sind gleich, aber einigesind gleicher als andere, whrend in dem Roman1984 des englischen Schriftstellers die rtselhafte,an Trotzki erinnernde Figur des Emmanuel Gold-stein feststellt: Kein Zuwachs an Wohlstand, keinenderung im Verhalten noch eine Reform oder

    Revolution haben die Menschen der Gleichheit auchnur einen Millimeter nhergebracht. Unter Philoso-phen herrschte zu keiner Zeit Konsens darber, obGleichheit mglich und erwnscht ist. Plato reflek-tiert ber eine unter seinen Zeitgenossen weitver-breitete Auffassung, wenn er die Demokratie alseine angenehme Verfassung bespttelt, die ohneUnterschied Gleichen und Ungleichen dieselbeGleichheit zuteilt. Und fr den deutschen Philoso-phen Friedrich Nietzsche, der seinen heroischen,vom Willen zur Macht ber die Herde angetriebe-nen bermenschen pries, war der Gleichheitsge-danke an sich verabscheuenswert: Die Lehre vonder Gleichheit! aber es gibt gar kein giftigeresGift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbstgepredigt, whrend sie das Ende der Gerechtigkeitist.

    Hirngespinst oder Gift?

  • Gleichheit 15

    Sozialsystems und eine gerechtere Steuerpolitik zur Verringerungvon Armut wurde eine Menge politischer Staub aufgewirbelt.

    Im Mittelpunkt solcher Auseinandersetzungen steht das Argu-ment, dass die sozialen und konomischen Unterschiede zwischenIndividuen auf Faktoren wie Familie, Kultur und Herkunft beruhen,auf die eine Person keinen Einfluss hat; wenn diese nicht beein-flussbar sind und folglich niemandem vorgeworfen oder als Ver-dienst zugeschrieben werden knnen, dann ist die liberale, auf Leis-tungsunterschiede begrndete Rechtfertigung ungleicher Chancengrundstzlich infrage gestellt. Die Idee einer gerechten Gesellschaftwird auf die linke Seite des politischen Spektrums gerckt, in Rich-tung eines Modells, in dem alle Ressourcen entsprechend derBedrfnisse und nicht dem Verdienst verteilt sind und in dem es die Aufgabe des Staatesist, strukturelle Ungleichheiten zu beseitigen und eine grere Gleichheit der sozialenund konomischen Bedingungen herzustellen.

    Die besonders im Zusammenhang mit sozialistischen Staatstheorien gestellte Forde-rung nach Chancengleichheit erfllte sich im 20. Jahrhundert nach und nach mit derAusbreitung des Kommunismus. Angeregt durch Marx Maxime jedem nach seinenBedrfnissen machten kommunistische Regime sich daran, mithilfe sozialplanerischerManahmen und zentraler Wirtschaftslenkung einen Staat zu schaffen, in dem alle Br-ger gleich sein sollten. Diese Versuche scheiterten jedoch, und der Zusammenbruch desKommunismus seit 1989 schien der liberalen Auffassung von Gleichheit Recht zu gebenund die Einschtzung des berhmten US-amerikanischen konomen Milton Friedmanzu besttigen, der 1980 bemerkte: Eine Gesellschaft, die Gleichheit im Sinne vonGleichheit im Ergebnis ber Freiheit stellt, wird am Ende weder das eine noch dasandere haben. Doch jegliche Triumphgefhle waren nur von kurzer Dauer und erhiel-ten durch die Krisen, die den globalen Kapitalismus in den nachfolgenden Jahrzehntenerschtterten, einen starken Dmpfer. In seinem Roman Die rote Lilie beobachtet derfranzsische Schriftsteller Anatole France voller Sarkasmus wie die majesttischeGleichheit vor dem Gesetz den Reichen wie den Armen verbietet, unter Brcken zuschlafen, in den Straen zu betteln und Brot zu stehlen. In der von konomischenErschtterungen gebeutelten Welt des frhen 21. Jahrhunderts wurde die Brisanz einersolchen uerung erneut deutlich: Es war offensichtlich, dass die Debatte ber Gleich-heit keineswegs beendet war.

    Worum es gehtAlle Tiere sind gleich

    Es ist besser, dasseinige unglcklich sind,als dass keiner glcklichist, was in einem Zustandallgemeiner Gleichheitder Fall wre.

    Samuel Johnson, in James Boswells Das Leben desSamuel Johnson, 1791

  • Politische Theorie16

    04 MenschenrechteDie Menschenrechte sind tief in unserem politischen Bewusstsein ver -wurzelt. Es gilt heute als selbstverstndlich, dass es gute Dinge gibt, aufdie Menschen ein Anrecht haben, und schlechte Dinge, die wir vermeidenknnen oder versuchen knnen zu vermeiden. Eine groe und weiter wach-sende Zahl solcher Ansprche und Sicherheiten werden heute jedem berallund jederzeit zuerkannt, und zwar schlicht aufgrund unserer Humanitt der Wrde und des Respekts, die uns als Menschen zustehen.

    Entsprechend der Charta, mit deren Unterzeichnung 1945 die Vereinten Nationen(UNO) ins Leben gerufen wurden, verpflichten sich alle Mitgliedsstaaten, die Achtungvor den Menschenrechten und Grundfreiheiten fr alle ohne Unterschied der Rasse, desGeschlechts, der Sprache oder der Religion zu frdern und zu festigen. Trotz der depri-mierenden Bilanz hinsichtlich ihrer konkreten Umsetzung ist es letztlich den hochge-steckten Zielen der UNO und einer Reihe untersttzender Vertrge und Vereinbarungenzu verdanken, dass die Menschenrechte in den darauffolgenden Jahrzehnten im interna-tionalen Recht wie auch in den nationalen verfassungsrechtlichen Regelungen zahlrei-cher Lnder der Erde verankert wurden. Die Einhaltung von Menschenrechtsstandards,auf die sich die internationale Gemeinschaft festgelegt hat, ist zu einer Messlatte derLegitimitt von Regierungen geworden, whrend berall auf der Welt oppositionelleGruppen die Forderung nach diesen Rechten als Parole auf ihre Fahnen geschriebenhaben. Mittlerweile sind unzhlige sogenannte Nichtregierungsorganisationen vonAmnesty International bis zu Human Rights Watch entstanden, die sich fr die Einhal-tung von Rechten einsetzen und gegen jeglichen Missbrauch mit der Folge von Ausbeu-tung, Unterdrckung, Verfolgung und des Verlustes an menschlicher Wrde protestieren.

    Leben, Freiheit und mehr Die Ursprnge der Menschenrechte in der Neuzeit(wenn auch nicht der Begriff als solcher) sind insbesondere in den Werken John Lockeszu finden. Der englische Staatsdenker verfasste seine Schriften unmittelbar nach Eng-lands Glorreicher Revolution von 1688, in der Jakob II. als absolutistischer Herrschergestrzt worden war. Locke argumentiert, dass es bestimmte Rechte gibt, die Individuenallein kraft ihres Menschseins besitzen; diese sind naturgegeben insofern, als sie im

    Zeitleiste1690John Locke verffentlicht ZweiAbhandlungen ber die Regierung

    1776Amerikanische Unabhngigkeits -erklrung

    1789Franzsische Erklrung derMenschen- und Brgerrechte

  • Menschenrechte 17

    Wesen des Menschen begrndet liegen und folglich unveruerlich (nicht aberkennbar)und universell (allen Menschen gleichermaen eigen) sind. Die drei von Locke genann-ten Grundrechte Leben, Freiheit und Eigentum wurden von Thomas Jefferson in des-sen berhmtem Entwurf der amerikanischen Unabhngigkeitserklrung (1776) aufge-griffen. Darin fordert er als Selbstverstndlichkeiten, dass alle Menschen gleichgeschaffen wurden; dass sie von ihrem Schpfer mit bestimmten unveruerlichenRechten ausgestattet wurden; dass zu diesen Leben, Freiheit und das Streben nachGlck gehren. Die von Locke postulierten Rechte sind vorwiegend negativ: Er erklrtim Gegensatz zu Verfechtern des politischen Absolutismus, dass das individuelle Br-gerrecht unabhngig von der zuflligen Autoritt des Staates und seiner Einmischungbesteht. Die Legitimitt der Regierung hngt nach dieser Sichtweise von ihrer Fhigkeitab, diese Rechte zu achten und zu frdern, und es ist das Privileg des Brgers, dieRegierung zu strzen, wenn sie dies unterlsst.

    Philosophisch drehte sich die Debatte ber dieBedeutung von Rechten vor allem um die Fragenach deren Ursprung oder Grundlage. Lockes ber-zeugung, dass sie sich unmittelbar aus dem Natur-gesetz herleiten gewissermaen dem Wesen desMenschen entspringen , wurde von den franzsi-schen Philosophen der Aufklrung und insbeson-dere von Montesquieu, Voltaire und Rousseau wei-ter ausgefhrt. Deren Ansichten fanden ihren end-gltigen Ausdruck in der revolutionren Erklrungder Menschen- und Brgerrechte von 1789, die pro-klamiert, dass die Menschen von Geburt frei undgleich an Rechten sind und bleiben und dass dasZiel jeder politischen Vereinigung die Erhaltung dernatrlichen und unveruerlichen [unverlierbaren]Menschenrechte ist. Die philosophische Demon-tage der Vorstellung vom Naturrecht begann Mitte

    des 18. Jahrhunderts mit den Ideen des schotti-schen Philosophen David Hume. Dieser wider-sprach der Auffassung, alles Prskriptive und aufWerten Beruhende (wie etwa Rechte) liee sich ausetwas Deskriptivem und auf Tatsachen Fuendem(wie etwa der Natur der Welt und der Menschen)ableiten. Die vielleicht schrfste Zurckweisung kamvon dem utilitaristischen Philosophen Jeremy Bent-ham. Natrliche Rechte sind purer Unsinn, schrieber im Jahr 1795, natrliche und unveruerlicheRechte, rhetorischer Unsinn Unsinn auf Stelzen.Nach seiner berzeugung war ein Recht derAbkmmling des Gesetzes, also Gegenstand derbereinkunft von Menschen, und er hielt Rechte wie alles andere auch dann fr gerechtfertigt,wenn sie den Nutzen oder menschliches Glck ver-mehren.

    Unsinn auf Stelzen

    1945Unterzeichnung der Charta derVereinten Nationen

    1948Allgemeine Erklrung derMenschenrechte

  • Politische Theorie18

    Seit den groen Revolutionen des 18. Jahrhunderts war die Entwicklung der brgerli-chen Gesellschaft im Wesentlichen eine Geschichte der Ausweitung von Rechten berdie von Locke und Jefferson ins Auge gefasste Sphre des Politischen hinaus auf dieBereiche der Gesellschaft und der konomie. Whrend anfangs zur Gewhrleistung derRechte die Zurckhaltung und Nichteinmischung seitens des Staates gefordert wurde,verlagerte sich der Fokus spter zunehmend in Richtung der positiven Rechte, die vonden herrschenden Autoritten affirmatives Handeln verlangen. Seit Mitte des 19. Jahr-hunderts brachte die von einem entfesselten Kapitalismus vorangetriebene Industriali-sierung erschreckende Armut und groes Elend ber die Arbeiter. Deren Ausbeutungentgegenzuwirken, war einer der Grnde fr die Einfhrung erster Wohlfahrtsrechteoder Sozialleistungen, die allerdings alles andere als einheitlich oder universell waren.Seit jener Zeit sind eine ganze Reihe neuer positiver Wohlfahrtsrechte in sozialen undmit der Arbeitswelt verbundenen Bereichen hinzugekommen, darunter die Interessen-vertretung durch Gewerkschaften, Sozialversicherung, Mindestlohn, bezahlter Urlaub,Fortbildung, Gesundheitswesen und vieles andere mehr.

    Whrend die Menschenrechte als universell gelten,ist ihre konkrete Verwirklichung weit davon entfernt.Vlkermord, ethnische Suberungen, Kriegsverbre-chen, Folter, Menschenhandel, Inhaftierung ohneGerichtsverfahren und unzhlige andere Menschen-rechtsverletzungen waren und sind in vielen Teilender Welt traurige Realitt. Selbst die angeblichenBastionen der Menschenrechte in Europa und Ame-rika haben sich schuldig gemacht, indem sie sichunter dem Vorwand der Notsituation oder der Bedro-hung der inneren Sicherheit in zynischer Weise berdiese hinwegsetzten. Strukturelle Probleme derinternationalen Ordnung und die daraus resultieren-den gewaltigen Wohlstandsunterschiede zwischenStaaten waren der Anlass fr eine vllig neue Artvon Rechten, die sich auf Gegenstnde wie Ent-wicklung, Umwelt und Verbrauch von natrlichenRessourcen bezogen. Inzwischen haben die Krfte

    der Globalisierung eine Reihe riesiger multinationa-ler Konzerne und Finanzinstitute entstehen lassen.Mit Budgets, die teilweise weit ber dem eines klei-neren Landes liegen, fhlen sie sich gewhnlichInvestoren und Anteilseignern verpflichtet und nichtder lokalen Bevlkerung oder irgendwelchen ue-ren Interessen. Die neue groe Bedrohung, die vonsolchen Giganten ausgeht, wurde 2003 von JeanZiegler, damals Sonderberichterstatter der UN-Men-schenrechtskommission, hervorgehoben:

    Der wachsende Einfluss transnationaler Unternehmenund ihre Machtausweitung durch Privatisierung, Deregu-lierung und den Rckzug des Staates bedeutet, dasses jetzt an der Zeit ist, bindende Rechtsnormen zu entwi-ckeln, die Unternehmen zur Einhaltung von Menschen-rechtsstandards verpflichten und den mglichen Miss-brauch ihrer Machtposition einschrnken.

    Das fortwhrende Ringen

  • Menschenrechte 19

    Wegweiser und Zndstoff Diese Ausweitung von Rechten stie von Anfang anauf heftigen Widerstand. Unterschiedliche Ansichten ber Art und Umfang von Rechtenspiegelten unterschiedliche Vorstellungen darber wider, welche Rolle der Staat bei derGestaltung der Gesellschaft spielen sollte. Diejenigen, die sozialistisch orientiert waren,sprachen sich fr staatliche Eingriffe aus, um mehr Gleichheit zu schaffen und dieWohlfahrtsrechte der Brger zu schtzen. Anhnger der freien Marktwirtschaft indessenhielten dagegen, dass Wohlfahrtsrechte keine fundamentalen Rechte sind (nicht mensch-liche Grundbedrfnisse reprsentieren) und den Kapitalismus als effizientestes Mittelder Ressourcenverteilung zu untergraben drohen. Besonders deutlich wurde diese ideo-logische Kluft in den Jahrzehnten nach der formalen Inkraftsetzung der Menschen-rechte, die ihren Namen unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhielten.

    Kein Dokument hat mehr dazu beigetragen, den Menschenrechten dauerhaft einenvorderen Rang in der politischen Debatte einzurumen, als die Allgemeine Erklrungder Menschenrechte, die von der Vollversammlung der VereintenNationen am 10. Dezember 1948 in Paris verabschiedet wurde. Unterdem Eindruck der Gruel des gerade zu Ende gegangenen Kriegesbekrftige dieser formale Ausdruck der Vorrangstellung der Men-schenrechte die in der drei Jahre zuvor unterzeichneten UNO-Grn-dungscharta enthaltenen Verpflichtungen und fhrte die theoretischeGrundlage fr diese Rechte aus: Alle Menschen sind frei und gleichan Rechten und Wrde geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissenbegabt und sollen einander im Geiste der Brderlichkeit begegnen.

    Neben brgerlichen und politischen Rechten wie dem Recht auffreie Meinungsuerung sowie Gedanken- und Versammlungsfrei-heit proklamiert die Charta eine Reihe sozialer und konomischerRechte, darunter das Recht auf Arbeit, Bildung und Teilhabe amsozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft. Von Anfang anwaren sich die westlichen Demokratien und der Ostblock uneins berdie Prioritten, die diesen verschiedenen Arten von Rechten einge-rumt werden sollen, und die Angelegenheit blieb in den Jahren desKalten Krieges hchst spannungsgeladen. Ein jngerer, ebenfalls immer wieder vorge-brachter Einwand lautete, dass das Konzept der Menschenrechte als eine von internatio-nalen Gremien wie der UNO verkndete Vorstellung kulturell einseitig in der westlich-liberalen Tradition stehe und regionale Unterschiede zu wenig bercksichtige. Ange-sichts solcher grundstzlichen Einwnde und der weitverbreiteten Missachtung derMenschenrechte werden diese mit Sicherheit auch weiterhin ein wichtiges Thema aufder politischen Agenda bleiben.

    Worum es gehtLeben, Freiheit und ?

    Die Anerkennungder allen Mitgliedernder menschlichenFamilie innewohnendenWrde und ihrer gleichenund unveruerlichenRechte ist die Grund -lage der Freiheit, derGerechtigkeit und desFriedens in der Welt.

    Allgemeine Erklrung der Menschenrechte, 1948

  • Politische Theorie20

    05 Der Gesellschafts-vertrag

    Der Staat mat sich an, unser Leben auf vielfltige Weise zu kontrollieren.Die Vertreter der Staatsmacht nehmen unser Geld in Form von Steuern undfhren in unserem Namen Kriege. Sie erlegen uns Geld- oder Gefngnisstra-fen auf, wenn wir die von ihnen aufgestellten Regeln brechen. Sie berwa-chen unsere Bewegungen und sagen uns, was wir essen sollen und wo wirrauchen drfen und vieles andere mehr.

    Wie wird diese Machtausbung legitimiert? Welche Rechtfertigung gibt es fr die Existenz und Organisation des Staates und fr die Verteilung von Ressourcen, Rechtenund Pflichten in ihm? Mit Blick auf diese sehr grundstzlichen Fragen haben Staats -theoretiker von Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert bis John Rawls im 20. Jahrhundertdarauf hingewiesen, die Legitimitt des Staates sei am besten damit zu erklren, dassseine Institutionen und Strukturen auf der Grundlage eines stillschweigenden bereinkommens oder Gesellschaftsvertrags unter seinen Mitgliedern aufgebaut wurden.

    Weshalb schlieen Menschen Vertrge? Warum lassen sie sich auf Vereinbarungenein, die sie Strafen ausliefern, wenn sie etwas tun, was sie ansonsten vielleicht nichtgetan htten? Weil sie sofern der Vertrag gerecht ist erkennen, dass es sich lohnt,bestimmte Verpflichtungen einzugehen oder gewisse Freiheiten aufzugeben, um imGegenzug einen Mehrwert dafr zu erhalten. Sie sehen, dass ihren Interessen ehergedient ist, wenn sie auf diese Weise eingeschrnkt sind, als wenn sie frei von solchenBeschrnkungen wren. Im Falle des Gesellschaftsvertrags, wie ihn Hobbes und anderevorgeschlagen haben, ist unsere Anerkennung des Staates und seiner Rechte, unseremTun Grenzen zu setzen, die eine Seite eines Handels; gewissermaen als Gegenwertgenieen wir den Vorteil, nicht in Chaos und Anarchie leben zu mssen, was ohne denStaat der Fall wre.

    Zeitleiste1651Thomas Hobbes Leviathanredet der absolutenSouvernitt das Wort

    1690John Locke verffentlicht ZweiAbhandlungen ber die Regierung

  • Der Gesellschaftsvertrag 21

    Hobbes und Leviathan Um die Bedingungen eines Vertragsrichtig zu bewerten, muss man bedenken, wie das Leben wre,wenn der Vertrag nicht bestehen wrde: Nur dann lsst sich beurtei-len, ob die bereinkunft einen lohnenden Zugewinn bringt. Theore-tiker, die mit der Vorstellung sympathisieren, dass die Organisationder Gesellschaft im Sinne eines stillschweigenden Gesellschaftsver-trags verstanden werden kann, haben sich dementsprechend Gedan-ken darber gemacht, wie es wre, wenn es solche Regeln undRegulierungen, die die Rechte und Freiheiten von Brgern einzu-schrnken pflegen, nicht geben wrde.

    Einer der ersten und einflussreichsten Theoretiker des Gesell-schaftsvertrags, der englische Philosoph und Staatsdenker Thomas Hobbes, beginntseine groe Abhandlung Leviathan (1651) mit der Beschwrung einer hypothetischenvorgesellschaftlichen Condition humaine, die er als Naturzustand bezeichnet. HobbesVision der Lebensbedingungen des Menschen ohne das Korsett gesellschaftlicher Krfteist durchweg dster und pessimistisch. Er nimmt an, dass im Naturzustand jeder Menschfr sich allein handelt, ausschlielich mit dem eigenen Vergngen und Interesse, derSelbsterhaltung beschftigt und hauptschlich angetrieben von einem rastlosen Verlan-gen nach immer neuer Macht, das nur mit dem Tode endet. Da die Menschen perma-nent zerstritten sind und im Wettbewerb miteinander stehen, ist keinerlei Vertrauen oder

    1762Jean-Jacques Rousseau fhrt in seinemWerk Vom Gesellschaftsvertrag denedlen Wilden ein

    1971John Rawls entwickelt in Eine Theorieder Gerechtigkeit die Vorstellung vonGerechtigkeit als Fairness

    Whrend Thomas Hobbes die Macht desStaates als notwendiges Mittel zur Zgelungder egoistischen und grausamen Instinktedes Menschen betrachtet, teilt der franzsi-sche Philosoph Jean-Jacques Rousseau,obwohl stark von Hobbes Ideen beeinflusst,dessen dstere Vorstellungen nicht. In sei-nem bekanntesten Werk, Vom Gesellschafts-vertrag (1762), stellt er fest, dass menschli-che Laster und andere bel ein Produkt derGesellschaft sind dass der edle Wilde,

    unschuldig und zufrieden im Schlaf der Ver-nunft und mit seinen Gefhrten in Harmonielebend, durch Erziehung und andere Ein-flsse der Gesellschaft in seiner Natrlichkeitverdorben wird. Diese Vorstellung der verlo-renen Unschuld und der nicht vom Kalklgesteuerten Gefhle erwies sich als eineInspirationsquelle fr die Geistesbewegungder Romantik, die Europa gegen Ende des18. Jahrhunderts erfasste.

    Der edle Wilde und der Schlaf der Vernunft

    Der Mensch wird freigeboren; und berallliegt er in Ketten. Mancheiner glaubt, Herr berdie anderen zu sein, undist ein grerer Sklaveals sie.

    Jean-Jacques Rousseau, 1762

  • Politische Theorie22

    Kooperation mglich; und ohne Vertrauensbasis besteht keine Aussicht auf Prosperittoder darauf, die Frchte der Zivilisation zu genieen: Keine Knste, keine Literatur,keine Gesellschaft; und das Schlimmste von allem, bestndige Furcht und Gefahr einesgewaltsamen Todes. Und deshalb, folgert Hobbes mit den berhmt gewordenen Wor-ten, ist im Naturzustand das Leben des Menschen einsam, armselig, scheulich, tie-risch und kurz.

    Es ist zweifellos in jedermanns Interesse zusammenzuarbeiten, um der von Hobbesgezeichneten Hlle zu entkommen. Warum also kooperieren im Naturzustand die Men-schen nicht? Die Antwort ist einfach: Weil das Einhalten eines Vertrags immer einenPreis hat und andererseits immer etwas gewonnen wird, wenn man es nicht tut. WennEigeninteresse der einzige moralische Kompass ist, wie Hobbes unterstellt, wird es

    immer jemanden geben, der einen Vorteil aus der Nichteinhaltungeines Vertrags zu ziehen versucht. Deshalb ist das Beste, was mantun kann, den Vertrag als Erster zu brechen, bevor andere es tun.Und weil natrlich jeder so denkt, gibt es kein Vertrauen, und jedefr die Zukunft getroffene Vereinbarung verliert rasch ihre Gltig-keit: Langfristiges Interesse wird immer fr kurzfristige Vorteilegeopfert, und damit gibt es kein Entrinnen aus dem Kreislauf vonMisstrauen und Gewalt.

    Wie also knnen Individuen, die in so einem erbrmlichenSumpf feststecken, eine bereinkunft mit anderen erzielen und sichdamit aus diesem befreien? Fr Hobbes ist die Krux an der Sache,dass Vertrge ohne das Schwert leere Worte sind. Es bedarf einerueren Macht oder Sanktionierung, die alle Menschen zwingt, dieBedingungen eines Vertrags zum Wohl eines jeden einzuhalten.

    Menschen mssen bereit sein, ihre Freiheiten um der Kooperation und des Friedens willen einzuschrnken, unter der Auflage, dass jeder dies tut; sie mssen ihre gesamteMacht und Strke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen bertra-gen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren knnen.Die Lsung besteht also in der gemeinsamen Unterwerfung unter die absolute Autorittdes Staates (den Hobbes Leviathan nennt) eine gemeinsame Macht, die sie inSchrecken hlt.

    Locke ber das Regieren auf der Grundlage von Zustimmung Knappein halbes Jahrhundert nach Hobbes beschftigt sich ein anderer groer englischer Phi-losoph, John Locke, mit der Vorstellung des Gesellschaftsvertrags, um die Grundlagedes Regierens auszuloten. Hobbes spricht vom Leviathan der Macht des Staates alsder sterbliche Gott und deutet damit an, dass die Souvernitt durch menschlichebereinkunft auf den Staat bertragen wird und nicht durch gttliche Fgung, wie esder damals vorherrschenden Auffassung entsprochen htte. In dieser Hinsicht stimmtLocke mit Hobbes berein, doch ist sein Bild des Naturzustands der Bedingungen fr

    Durch Kunstfertigkeitwurde jener groe

    Leviathan erschaffen,Gemeinwesen oder Staat

    genannt, der nur einknstlicher Mensch ist und in welchem Souver-

    nitt eine knstlicheSeele ist.

    Thomas Hobbes, 1651

  • Der Gesellschaftsvertrag 23

    die Menschheit in einer vorgesellschaftlichen Zeit ohne Regierung oder Gesetz wesentlich weniger finster als das von Hobbes. Folglich ist der Vertrag, den Locke sichzwischen Volk und Souvern vorstellt, auch bei Weitem nicht so drakonisch. Whrendnach Hobbes die Macht des Staates notwendigerweise unbegrenzt und absolut seinmuss, um die Schrecken des Krieges aller gegen alle abzuwenden, liefert Locke imGrunde die Argumente fr die konstitutionelle Monarchie. Nach seiner Auffassung wil-ligen die Menschen ein, ihre Macht dem Souvern unter der Bedingung zu bertragen,dass er sie fr das Gemeinwohl einsetzt, und sie behalten sich das Recht vor, diese Ein-willigung zu widerrufen, wenn der Souvern seine vertraglichen Pflichten nicht erfllt.Dabei bleibt der Sturz der Regierung durch das Volk, falls ntig durch eine Rebellion,ein legitimes (wenn auch das letzte) Mittel.

    Hinter dem Schleier des Nichtwissens Der prominenteste und einfluss-reichste Theoretiker des Gesellschaftsvertrags in der zweiten Hlfte des 20. Jahrhundertswar der Philosoph John Rawls. In seinem Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971)unternimmt Rawls ein Gedankenexperiment, das eindeutig in der Tradition von HobbesNaturzustand steht. Um die zentrale Bedeutung der Objektivitt fr die soziale Gerech-tigkeit zu unterstreichen, geht Rawls von einem Urzustand aus, einer fiktiven Situa-tion, in welcher Individuen sich hinter einem Schleier des Nichtwissens befinden, deralle persnlichen Interessen und Zugehrigkeiten verbirgt. Niemand kennt seine Stel-lung in der Gesellschaft, seine Klasse oder seinen Status, ebenso wenig sein Los bei derVerteilung natrlicher Gaben wie Intelligenz oder Krperkraft. Wenn wir uns hinterdiesem Schleier befinden, unwissend, was die Gesellschaft fr uns auf Lager hat, sindwir gezwungen, auf Nummer sicher zu gehen und dafr zu sorgen, dass keine Gruppeauf Kosten einer anderen bervorteilt wird. Wie bei Hobbes ist es ausschlielich rationa-les Eigeninteresse, was die Entscheidungen hinter dem Schleier steuert. Tatschlich sindwir in solch einer Situation bereit, Vertrge ber bestimmte soziale und konomischeStrukturen und Regelungen einzugehen, welche diese gerecht und dadurch stabil undbelastbar machen.

    Worum es gehtDer Preis gesellschaftlicher Ordnung

  • Politische Theorie24

    06 DemokratieIm vergangenen Jahrhundert wurde die Demokratie zunehmend als idealeRegierungsform betrachtet: ein hchst gerechtes System, das fr politischeund gesellschaftliche Strukturen sorgt, innerhalb derer die Menschen einglckliches, erflltes und verantwortliches Leben fhren knnen. Einer derGrnde, weshalb Woodrow Wilson 1917 zu der berzeugung gelangte, dieWelt msse sicher fr die Demokratie gemacht werden, war, dass sieallein das Potenzial hat, die Energien jedes einzelnen Menschen freizu -setzen.

    Beeindruckend schnell hat sich die Demokratie seitdem in der Welt ausgebreitet. NachSchtzungen kam im Jahr 2000 rund die Hlfte der Weltbevlkerung in den Genusspolitischer Institutionen, die ein historisches Hchstma an staatlicher Demokratiegewhrleisten. Tatschlich geniet die Demokratie heute eine derart hohe Reputation,dass man leicht vergisst, wie schlecht ihr Ruf bis vor nicht allzu langer Zeit noch war. Inden vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden gab es kaum einen Staatstheoretiker, derdie Demokratie als Prinzip und als Praxis nicht entschieden abgelehnt hat.

    Die Griechen und die Demokratie Auf groes Misstrauen stie die demokrati-sche Regierungsform in ihrer Anfangszeit in Athen, dem griechischen Stadtstaat, dergewhnlich als Wiege der Demokratie bezeichnet wird. (Das Wort stammt aus demGriechischen und bedeutet Herrschaft des Volkes.) Das Regierungssystem, das dieAthener im 5. Jahrhundert v. Chr. entwickelten, war wohl die reinste Form der direktenDemokratie, die jemals verwirklicht wurde. Den Anfang hatte 507 v. Chr. der bekannteStaatsmann Kleisthenes gemacht. Kernstck seiner Reformen war die ekklesia oderVolksversammlung, die allen whlbaren Brgern (mnnliche Athener, die mindestens18 Jahre alt waren) offenstand. Das Gremium kam regelmig zusammen, um ber diewichtigen Angelegenheiten des Staates zu debattieren; Entscheidungen erfolgten durchHandzeichen auf Mehrheitsbasis aller Anwesenden.

    In Thukydides Darstellung der Geschichte des Peloponnesischen Krieges werden dieStrken der attischen Demokratie eindrucksvoll in einer Grabrede dargelegt, die der

    Zeitleiste507 v. Chr.Kleisthenes leitet Reformenin Athen ein

    1690John Locke identifiziertgesellschaftlichen Konsensals Grundlage staatlicherAutoritt

    1651Thomas Hobbes diskutiert dasGleichgewicht zwischenStaatsmacht und individuellerFreiheit

  • Demokratie 25

    Athener Staatsmann Perikles 430 v. Chr. gehalten haben soll. Er greift viele ihrer Quali-tten heraus, die von spteren Verfechtern der Demokratie ebenfalls hervorgehoben wer-den sollten, unter anderem, dass sie eine Regierungsform sei, welche die Vielenbegnstigt und nicht die Wenigen; zudem fordere sie die Gleichheit vor dem Gesetzund den politischen Aufstieg auf der Grundlage von Leistung und nicht von Reichtumoder Klassenzugehrigkeit ein. Perikles Begeisterung fr die Demokratie wurde aller-dings nur von wenigen seiner Zeitgenossen geteilt, auch nicht von Griechenlands ein-flussreichsten Philosophen, Plato und Aristoteles. In ihren Werken, die im darauffolgen-den Jahrhundert unter dem Eindruck der verheerenden Niederlage Athens im Kampfgegen das totalitre Sparta entstanden, tun sie die Demokratie verchtlich als von Naturaus ungebrdig, verdorben und instabil ab. In seiner bedeutsamen Unterscheidung derpolitischen Systeme beschreibt Aristoteles die Demokratie als eine pervertierte Formvon Politie, dem Modell einer idealen Staats-form, in welcher die Vielen im Dienste desGemeinwohls herrschen. In einer Demokratie dage-gen wrden die unteren Schichten der Gesellschaftim eigenen Interesse regieren und deshalb eherdanach trachten, sich Vermgen und Besitz der bes-ser gestellten Brger anzueignen.

    Demokratie unter Beschuss Die Sorge,dass die Demokratie im Kern anarchisch seinknnte, treibt seitdem ihre Befrworter und Gegnergleichermaen um. Thomas Jefferson, selbst einFreund der Demokratie, uerte seine Bedenken,sie knnte am Ende nichts anderes als die Herr-schaft des Pbels sein. Mit unverhohlener Ironiestellt Jean-Jacques Rousseau in seinem Werk VomGesellschaftsvertrag (1762) fest, dass wenn es einVolk von Gttern gbe, es sich demokratisch regie-ren wrde, doch eigne sich eine so vollkommeneRegierungsform nicht fr den Menschen. Weil wires aber in unserer Welt mit Menschen und nicht mitGttern zu tun htten, msse man erkennen, dasses keine Regierungsform gibt, die so anfllig frBrgerkriege und inneren Aufruhr ist.

    1787Die Verfassung der Vereinigten Staatenlegt die Regeln der demokratischenRegierung des Landes fest

    17891799Whrend der Franzsischen Revolutionwerden erstmals radikaldemokratischeStrukturen etabliert

    19891991Die kommunistischen Regimein der Sowjetunion und inOsteuropa kollabieren

    Nichtreprsentative DemokratieNur wenige politische Systeme, die vor dem20. Jahrhundert existierten, wrden heute alslupenreine Demokratien eingestuft werden, undzwar aus dem einfachen Grund, weil in ihnen dasWahlrecht stark eingeschrnkt war. In Athen, woFrauen, am Ort lebende Auslnder und Sklavenvom wahlberechtigten demos (Volk) ausgeschlos-sen waren, hatte nach Schtzungen von Wissen-schaftlern nur ein Zehntel der Bevlkerung dasRecht zur Stimmabgabe. Noch strkere Beschrn-kungen gab es im 19. Jahrhundert in Grobritan-nien, wo das Wahlrecht strikt an materiellen Besitzgebunden war, sodass selbst nach dem GreatReform Act von 1832 nur etwa sieben Prozent dererwachsenen Bevlkerung zur Urne gehen durf-ten; das allgemeine Wahlrecht besteht dort erstseit 1928, nachdem die Berechtigung zur Stimm-abgabe auf die erwachsenen Frauen ausgedehntworden war.

  • Politische Theorie26

    Die Einschtzung, dass die Demokratie zur Anarchie tendiert, beruhte gewhnlich aufder angeblichen Unfhigkeit des Volkes zur verantwortungsbewussten Beteiligung amRegierungsprozess. Der englische Philosoph John Stuart Mill machte sich trotz seinergrundstzlichen Sympathie fr demokratische Prinzipien Gedanken ber die Gefahr derkollektiven Mittelmigkeit der Masse, die ihre Ansichten nicht mehr durch Wrden-trger der Kirche oder des Staates, aus Fhrern oder Bchern schpft. Winston Chur-

    chill soll gescherzt haben, das beste Argument gegen die Demokra-tie sei ein fnfmintiges Gesprch mit dem durchschnittlichen Wh-ler, whrend in den 1920er-Jahren der US-Satiriker H. L. MenckenDemokratie als armseligen Glauben in die kollektive Weisheit derindividuellen Ignoranz abtat. Die Unzulnglichkeiten der Demo-kratie wurden sogar auf Zelluloid festgehalten, in der Verfilmungvon Graham Greenes Roman Der Dritte Mann aus dem Jahr 1949.Auf dem Hhepunkt der Geschichte stellt der von Orson Wellesgespielte Verbrecher Harry Lime fest, die Schweiz htte 500 Jahrelang Demokratie und Frieden gehabt und nicht mehr hervorgebrachtals die Kuckucksuhr.

    Wahrscheinlich am hartnckigsten hielt sich unter den Theoreti-kern der frhen Neuzeit die bereits von den griechischen Philosophen geuerte Sorgeber die sogenannte Tyrannei der Mehrheit. Mill und andere frchteten, dass dieMehrheit ihre Machtposition dazu missbrauchen knnte, Minderheitenrechte mit Fenzu treten bestrkt (wie sie glaubten) durch ein System, das die Verwirklichung ihrerWnsche und Hoffnungen legitimiert.

    Die Anfnge der reprsentativen Demokratie Die von Amerikas Grnderv-tern geuerte Sorge war Teil einer langen und folgenreichen Debatte ber Demokratieund die Souvernitt des Volkes. Diese war aus der Flle neuer Ideen hervorgegangen,die von den Denkern der Aufklrung vorgebracht wurden. Eine zentrale Frage, welchedie Richtung vieler spterer Diskurse bestimmen sollte und einen Kontrapunkt zu denBedenken einer mglichen Tyrannei durch die Mehrheit setzte , wurde 1651 von Tho-mas Hobbes unter dem Eindruck des in England gerade zu Ende gegangenen Brger-kriegs gestellt. Wie, fragte er, lsst sich die souverne Macht des Staates, legitimiert(unter anderem) durch die Notwendigkeit, die Rechte jedes Einzelnen zu schtzen,beschrnken, um die missbruchliche Beschneidung eben jener Rechte zu verhindern?Eine erste Antwort darauf gab einige Jahrzehnte darauf John Locke. Er argumentierte,dass die bertragung einer solchen Autoritt durch die Regierten auf die Regierung unddie gleichzeitige Beschrnkung ihrer eigenen Freiheiten nur mit der Einwilligung derRegierten erfolgen kann. Die Debatte ber die angemessene Beziehung zwischen Volkund Staat wurde dadurch in eine neue Richtung gelenkt. Im Mittelpunkt stand jetzt dieangemessene Balance von Macht und Recht das zweckmige Verhltnis zwischen

    Demokratie ist eineRegierungsform, welche

    die Anordnung einigerKorrupter durch die

    Beschlsse vielerInkompetenter ersetzt.

    George Bernard Shaw, Mensch und bermensch, 1903

  • Demokratie 27

    Worum es gehtHerrschaft oder Tyrannei der Vielen

    den Ansprchen des Staates auf der einen und denRechten des Einzelnen auf der anderen Seite.

    Vorangetrieben durch zwei siegreiche, blutigeRevolutionen, zuerst in Amerika und spter inFrankreich, sollten dennoch viele Jahrzehnte verge-hen, bis die Frchte dieser Debatte geerntet werdenkonnten: in Gestalt einer Form der Demokratie, diesowohl verfassungsrechtlich verankert als auchreprsentativ war. ber die Jahre in wesentlichenPunkten verfeinert und weiter ausgearbeitet, gabdiese Theorie die groe Entdeckung der Neu-zeit, wie John Stuart Mills Vater James formulierte die endgltige Antwort auf Hobbes grundstzli-che Frage nach der Begrenzung von Macht. Durchdie Festlegung einer Reihe politischer Mechanis-men, darunter regelmige Wahlen und Wettbe-werb zwischen den Parteien und Kandidaten, stelltedas reprsentative System sicher, dass die Regie-renden den Regierten jederzeit Rechenschaft able-gen mussten und dadurch Letztere die hchsteAutoritt und die Kontrolle ber den politischenProzess behielten.

    Wenn alle Stricke reienDie heute fast berall verbreitete berzeugung,Demokratie sei die beste aller Staatsformen, hatdazu gefhrt, dass in vielen politischen Zusam-menhngen demokratisch fast gleichbedeutendmit gerecht geworden ist. Das Wort besitzt eineso starke positive Ausstrahlung, dass viele unter-drckerische und autoritre Regime sich ungeach-tet ihres tatschlichen Charakters bewusst zuDemokratien stilisiert haben. Ostdeutschland einrigoroser Einparteienstaat nannte sich Deut-sche Demokratische Republik. In Wahrheit erklrtsich der gegenwrtige Erfolg der Demokratie teil-weise aus dem klglichen Scheitern ihrer Alternati-ven. In einer Rede vor dem britischen Unterhausim Jahr 1947 sagte Winston Churchill denberhmten Satz Demokratie ist die schlechtestealler Staatsformen, ausgenommen alle jene ande-ren, die von Zeit zu Zeit ausprobiert wurden.Innerhalb eines halben Jahrhunderts wurde ihrgrter Konkurrent als Fundament der staatlichenOrganisation, der Kommunismus, in Russland undOsteuropa weggefegt.

  • Politische Theorie28

    07 MonarchieNur wenig Sympathie geniet im 21. Jahrhundert ein Regierungssystem, beidem die Staatsmacht in den Hnden einer einzelnen Person liegt, und diesaus dem einzigen Grund, weil schon der Vater ein hnliches Privileg genos-sen hat. Wer dazu erzogen wurde, Kompetenz und Charakterstrke hher zubewerten als adlige Abstammung und gepflegte Umgangsformen, hat in derRegel nicht viel brig fr Knige, Kniginnen, Kaiser und Sultane, die dasRecht zu regieren geerbt und nicht durch Verdienst erworben haben.

    Weniger als ein Viertel der souvernen Staaten der Welt 44 von etwa 200 habenheute die Monarchie als Regierungsform, darunter das Vereinigte Knigreich und 15weitere Commonwealth-Staaten, die alle einer Monarchin unterstehen: Knigin Elisa-beth II. Mit Ausnahme einiger weniger Lnder wie Saudi-Arabien, Oman, Katar, Bruneioder Vatikanstadt ist die politische Autoritt des Monarchen heute entweder rein nomi-nell oder durch Gesetze stark eingeschrnkt; die wirkliche Macht liegt anderswo, meistbei Parlamenten der einen oder anderen Form, whrend die Rolle des Monarchen haupt-schlich symbolischer und zeremonieller Natur ist. Das war nicht immer so. In derGeschichte war die Monarchie bis in die jngere Vergangenheit ber weite Strecken dievorherrschende Regierungsform, und die Monarchen besaen praktisch unbegrenzteMacht.

    Die Ursprnge der Monarchie Wie alle Staatsformen entwickelt sich auch dieMonarchie ber einen lngeren Zeitraum hinweg, und sie festigt ihre Position, indem siebesondere Regierungsstrukturen und -institutionen ausbildet. Gleichzeitig baut sie ihreneigenen Kanon von Grndungs- und dynastischen Mythen auf und schafft so eine Logik,die ihre Rechtmigkeit begrndet und ihre Legitimitt ber die Generationen hinwegsichern hilft. Die Grndung einer Monarchie setzt allerdings ein unmittelbareres gesell-schaftliches Bedrfnis oder eine dringliche Situation voraus, die sowohl das monar-chische System rechtfertigt, als auch einen bestimmten Amtsinhaber legitimiert.

    In frherer Zeit waren Konflikte und Kriege fast allgegenwrtig. Sie wurden ausge-tragen, um fruchtbares Land zu erobern oder zu verteidigen, Kontrolle ber Handelsrou-ten zu gewinnen oder diese zu sichern und aus vielen anderen Grnden mehr. Da die

    Zeitleiste1651Thomas Hobbes spricht sich inseinem Leviathan fr die absoluteMacht des Souverns aus

    1688Die Glorreiche Revolution bringtEngland die konstitutionelleMonarchie

    1690John Locke propagiert in ZweiAbhandlungen ber die Regierungdas Prinzip des Regierens mitEinwilligung des Volkes

    1651Thomas Hobbes spricht sich inseinem Leviathan fr die absoluteMacht des Souverns aus

    1688Die Glorreiche Revolution bringtEngland die konstitutionelleMonarchie

  • Monarchie 29

    Fortdauer und das Wohlergehen einer Gemeinschaft gewhnlich von ihrem militri-schen Erfolg abhingen, waren vor allem die Qualitten als Krieger und Schlachtenfhrerausschlaggebend fr das Erreichen einer Machtposition bis hin zur Knigsherrschaft. Introckenen Klimaregionen konnte das berleben zudem von der effizienten und planm-igen Verteilung von landwirtschaftlichen Flchen und Wasser abhngen. Man nimmtdaher an, dass die Fhigkeit zum Bau und Unterhalt der erforderlichen Infrastruktur,etwa von Bewsserungsanlagen, ein wichtiger Faktor fr das Entstehen von Monarchienin China, gypten und Babylonien war. Angesichts der vorrangigen Bedeutung vonbesonderen Fertigkeiten und persnlichem Charisma ist es wahrscheinlich, dass diemeisten frhen Monarchien ursprnglich auf irgendeiner Art von Wahl beruhten, ver-mutlich vonseiten einer etablierten Adelselite.

    Von militrischer Gewalt zu absoluter Macht Militrische Strke blieb inden darauffolgenden Jahrhunderten die wichtigste Voraussetzung von Monarchien, vonAlexander dem Groen in der hellenistischen Welt und Augustus, dem ersten rmischenKaiser, ber Karl den Groen bis zu den Kriegsherren des mittelalterlichen Europas. ImMittelalter wurde von den Knigen gewhnlich erwartet, dass sieihre Heere selbst als Feldherren in die Schlacht fhrten, und Erfolgeauf dem Schlachtfeld konnten die Position starker Fhrer wie Edu-ard I. und Heinrich V. von England gegenber den Intrigen ambitio-nierter Adliger und konkurrierenden Ansprche der Kirche zustz-lich festigen. Stabilitt in ihrer damaligen Form basierte auf einemEhrenkodex zwischen Monarch und Adel, der beide Seiten durchein fein ausbalanciertes System von Privilegien und Verpflichtun-gen aneinanderband.

    Von der Renaissance bis in die frhe Neuzeit gab es eine Ten-denz zur Stabilisierung, die europischen Monarchen finanziertenEntdeckungsreisen und frderten neue Formen des Handels, siebauten Verwaltungen auf, die die Regierungsarbeit und das Steuer-wesen untersttzten, und sie hoben immer grere Heere aus, umihre Territorien auszuweiten und an Ruhm und Prestige zu gewinnen. Groe Monarchendes 16. Jahrhunderts wie Karl V., Kaiser des Heiligen Rmischen Reiches (Karl I. vonSpanien), oder Heinrich VIII. und Elisabeth I. von England setzten sich entschlossen frdie Einigung ihrer Reiche und die verstrkte Kontrolle ber sie ein. Die Zentralisierungder Macht erreichte ihren Hhenpunkt whrend der Regentschaft des franzsischenSonnenknigs Ludwig XIV., der wie kein anderer Monarch die Vorstellung der abso-

    1789Die Franzsische Revolutionbeendet die Alleinherrschaft derBourbonen

    19171922Die imperialen Monarchienverschwinden als Folge desErsten Weltkriegs von derBildflche

    Zuallererst sind wirunserer Monarchiegegenber zu Ehre undRespekt verpflichtet Ihre Geheimnisse sindihr Leben. Wir drfen dasMagische nicht demhellen Tag aussetzen.

    Walter Bagehot, Die englische Verfassung, 1867

  • Politische Theorie30

    luten Herrschaft verkrperte. Er besa uneingeschrnkte Autoritt ber sein Knigreichund war unabhngig sowohl vom Adel als auch von der Kirche. 1655 soll er die Einheitvon Knig und Staat mit dem berhmt gewordenen Ausspruch Ltat, cest moi (DerStaat bin ich!) verkndet haben.

    Opfer von Krieg und Revolution Das sogenannte Zeitalter des Absolutismusendete abrupt im Jahr 1789, als die Franzsische Revolution die Herrschaftsansprcheder Bourbonendynastie in Frankreich beendete. Die Grnde fr dessen Zerfall reichenjedoch weit in die Geschichte zurck. Schon bald nachdem Karl I. von England, derseine autokratische Herrschaft unter Berufung auf Gottes Gnade gerechtfertigt hatte,im Jahr 1649 hingerichtet worden war, formulierte Thomas Hobbes seine Vorstellungeines nichttheistischen Absolutismus. Er argumentierte, dass nur die ungeteilte Souver-nitt in der Person eines allmchtigen Monarchen die anarchischen Krfte der Zeitabwehren knnte. Dieser Sichtweise widersprach jedoch spter John Locke, nach dessenAuffassung Hoheitsgewalt durch Zustimmung der Bevlkerung gewhrt wird und auchwieder entzogen werden kann, wenn sie nicht zum Wohl der Gemeinschaft ausgebtwird. Die englische Bill of Rights (1689) untersagte dem Knig, sich ber Recht undGesetz zu stellen, und setzte damit dem Anspruch ein Ende, dass knigliche Autorittgottgewollt sei und folglich nicht durch Gesetze behindert werden knne.

    Von Beginn an haben Monarchen versucht,ihre Herrschaftsansprche aus einem gttli-chen Plan abzuleiten. Manche, wie die Pha-raonen im alten gypten und die rmischenund japanischen Kaiser, wurden selbst alsGtter verehrt; andere beanspruchten frsich, von Gott als seine Stellvertreter aufErden berufen zu sein. Die Vorstellung, dassein Monarch das Recht zur uneingeschrnk-ten Machtausbung im Staat direkt von Gott(nicht vom Volk und nicht durch die Kirche)zugesprochen bekommt, wurde im Mittelalterals Gottesgnadentum formuliert; nach dieserLehre war der Knig allein Gott gegenberRechenschaft schuldig, und Widerstandgegen seine Herrschaft galt als Gottesverrat,auf den als Strafe die Verdammnis stand. Der

    Stuart-Knig Jakob I. trieb das Dogma aufdie Spitze, als er im Jahr 1610 in einer Redevor dem Parlament postulierte, der monar-chische Staat sei das hchste irdische Gut,denn Knige sind nicht nur die StellvertreterGottes auf Erden und sitzen auf GottesThron, sondern sie werden sogar von Gottselbst Gtter genannt. Das Gottesgnaden-tum war der theoretische Kontrapunkt zudem Streit zwischen Jakobs Sohn Karl I. unddem englischen Parlament, der zum Brger-krieg und letztlich zur Hinrichtung Karlsfhrte. Von Karl II. fr kurze Zeit wiederbe-lebt, wurde das Gottesgnadentum in derGlorreichen Revolution von 1688 ein fr alleMal beseitigt.

    Das hchste Gut auf Erden

  • Monarchie 31

    Worum es gehtRegieren oder herrschen?

    Die Stimme des Volkes rief, wenn sie berhaupt gehrt wurde, nicht unbedingt nachDemokratie oder dem Sturz von Knigen das Kaisertum Napoleons war im Grundegenommen eine Monarchie, die ihre Legitimation durch die Zustimmung des Volkeserhielt. Dennoch gab es Anzeichen fr bevorstehende Vernderungen, und ein Reihe vonRevolutionen im 19. und frhen 20. Jahrhundert, herbeigefhrt durch die Unzufrieden-heit im Volk und verlorene Kriege, fhrten dazu, dass die monarchischen Regime imrussischen, sterreichisch-ungarischen, deutschen und ottomanischen Reich ins Wankengerieten.

    Monarchie in heutiger Zeit Die heute existierenden Monarchien haben grten-teils nur deshalb berdauert, weil sie befolgten, was Trotzki einmal das englischeRezept nannte: Sie haben sich an ein Regierungssystem angepasst, in dem der Monarchregiert, aber nicht bestimmt. 1867 waren die Aufgaben des britischen Knigshausesauf ein Ma reduziert, dass der englische konom Walter Bagehot, die drei Ansprcheeiner konstitutionell eingeschrnkten Herrschaft zusammenfassend, beschreiben konnteals das Recht, angehrt zu werden, das Recht Zustimmung zu uern, das Recht zuwarnen.

    Am Ende ihrer Regierungszeit im Jahr 1901 hatte Knigin Viktoria die Rolle der bri-tischen Monarchie neu definiert und damit die Blaupause fr ein funktionierendesKnigtum im 20. Jahrhundert geschaffen. An die Stelle direkter politischer Macht tratjetzt der Einfluss auf symbolischer Ebene, indem der Knig oder die Knigin zum Sinn-bild fr nationale Einheit wurden: Mittelpunkt der patriotischen Gefhle, Kitt fr denZusammenhalt der Gesellschaft, eine einende Figur, die stellvertretend fr die Ambitio-nen und Sehnschte eines ganzen Landes stand. Von da an wurde der Mangel an politi-schem Einfluss als eine der wesentlichen Referenzen der Monarchie angesehen. DenVorzug eines Staatsoberhaupts, das ber der Politik steht und zwar so, wie es freinen gewhlten Prsidenten nie mglich sein wird , beschrieb 1985 die damalige briti-sche Premierministerin Margaret Thatcher in einer Rede: Diejenigen, die glauben, einPolitiker wrde eine bessere Gallionsfigur abgeben als ein angestammter Monarch,drften mit mehr Politikern Bekanntschaft machen.

    Der Haupteinwand gegen die Herrschaft eines Einzelnen istdas hufige Abgleiten von Autokraten in den Grenwahn;

    hinzu kommen inkompetente Nachfolger, da das Amt erblich ist.Anthony Quinton, 1995

  • Politische Theorie32

    08 TyranneiIm Verlauf von mehr als 2 500 Jahren seines Gebrauchs hat der BegriffTyrannei einen so abstoenden Beigeschmack bekommen, dass er heuteseinen festen Platz im Lexikon der politischen Rhetorik hat. Als Schimpfwortin politischen Debatten oder Angriffen eingesetzt, beschwrt er augenblick-lich das Bild einer unterdrckerischen und rcksichtslosen Regierungsformherauf.

    Wie oft bei derlei Rhetorik werden die feinen Bedeutungsunterschiede verwischt, meis-tens unbeabsichtigt. Tatschlich ist der Begriff der Tyrannei in seiner polemischen Ver-wendung kaum zu trennen von seinen engen Verwandten, Despotie und Diktatur. Als imJahr 1940, auf dem traurigen Hhepunkt des Zweiten Weltkriegs, Winston ChurchillHitlerdeutschland als eine monstrse, im dunklen und beklagenswerten Katalog dermenschlichen Verbrechen niemals bertroffene Tyrannei anklagte, wollte er zweifelloseinen ganzes Bndel abscheulicher Eigenschaften ins Gedchtnis rufen, darunter dieBrutalitt der Nazifhrer und die illegale Art und Weise, wie sie an die Macht gekom-men waren.

    Die Griechen und die Tyrannei Die sptere Bedeutung des Wortes Tyrann die des Usurpators oder einer Person, die in einem Staat die Macht gesetzwidrig an sichreit deckt sich fast mit seinem ursprnglichen Sinngehalt. Im griechischen Zeitalterder Tyrannen vom 7. bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. bezeichnete das Wort tyrannisch,jedenfalls zu Beginn, die Mittel, durch welche die politische Macht gewonnen wurde:Es war wertfrei in Bezug auf den Charakter des Machthabers wie auch auf die Qualittseiner Herrschaft. Tatschlich wurden viele der frhen griechischen Tyrannen vom Volkgeschtzt, als Sachwalter der Vielen und Armen gegen die Wenigen und Reichen, wie esgewhnlich hie; und nicht wenige von ihnen drften bei ihrem Vorhaben, den herr-schenden Adel von der Macht zu verdrngen, Untersttzung vom Volk erhalten haben.Der bekannteste unter den frhen Tyrannen, Peisistratos, blieb wegen seiner Gesetzes-treue und der Verdienste, die er sich um das Wohl Athens erworben hatte, in wohlwol-lender Erinnerung: In seiner Regierungszeit erlebte Athen sein goldenes Zeitalter, indem die Stadt aufblhte und sich zu einem in ganz Griechenland bekannten Zentrum der

    Zeitleiste7. Jh. v. Chr.Das Wort Tyrann wird erstmalsvon dem griechischen DichterArchilochos verwendet

    7.6. Jh. v. Chr. Zeitalter der Tyrannenin Griechenland

    ca. 546510 v. Chr.TyrannenherrschaftPeisistratos und seinerShne

    Mitte 4. Jh. v. Chr.Eindeutig griechischeDarstellung der Tyranneidurch Aristoteles

  • Tyrannei 33

    Kultur entwickelte. Eine Reihe spterer Tyrannen, unter ihnen Peisistratos Shne,waren allerdings nicht so aufgeklrt. Als sie ihre Macht mit der Zeit immer mehr miss-brauchten, verdsterte sich das Bild der Tyrannei zunehmend, und in den philosophi-schen Werken von Plato und Aristoteles wurden die dunklen Flecke schlielich unaus-lschlich. Beide waren der Auffassung, dass der Tyrann die schlimmste Form des Herr-schers ist. Die Tyrannei findet sich in Aristoteleseinflussreicher Klassifizierung der verschiedenenArten politischer Verfassungen, die sich auf zweiKriterien grndet: der Zahl derer, die regieren(einer, wenige oder viele), und in wessen Interessesie regieren (im eigenen oder dem der Gemein-schaft). In diesem System erscheint die Tyranneials die verdorbene oder pervertierte Form derMonarchie, und ein Tyrann ist ein Herrscher, der inseinem eigenen Interesse regiert.

    Viele der von Aristoteles angefhrten Aspekteder Tyrannei beruhen auf dem Vergleich mit demPrinzip der Despotie, das die Griechen als eine frAsien charakteristische Regierungsform ansahen.Whrend der Despotismus genau wie die Tyranneiim grten Gegensatz zur Freiheit steht (welche dieGriechen besonders mit sich selbst in Verbindungbrachten), unterscheiden sich beide dennoch in vie-len wichtigen Punkten. Erstens regiert ein Despot,obwohl seine Macht allumfassend ist, in berein-stimmung mit den bestehenden Gesetzen undbewegt sich somit in gewisser Weise auf demBoden der Verfassung; im Gegensatz dazu reit einTyrann eigenmchtig die Kontrolle an sich undregiert nach eigenem Gutdnken, auf der Grund-lage seines persnlichen Willens und seiner indivi-duellen Launen. Man kann somit sagen, dass die Subjekte der Despotie die Macht frei-willig abgeben und folglich nicht gegen ihren Willen oder gewaltsam regiert werden;anders als diejenigen, die unter einem Tyrannen leben, stimmen sie dem Regierungssys-tem, in dem sie leben, stillschweigend zu und handeln somit nicht unter dem Einflussvon Angst. Das ist der Grund, weshalb eine Despotie im Unterschied zur Tyrannei typi-

    17751783Die Amerikanische Revolutionkmpft fr die Befreiung vonder absoluten TyranneiEnglands

    17891799Die Franzsische Revolutionkmpft fr die Befreiung vomDespotismus der franzsischenKnige

    19221945Faschistische Tyranneienvon Mussolini und Hitler inItalien und Deutschland

    19291953Josef Stalin herrschtals effektiver Diktatorder Sowjetunion

    Die Despotie der FreiheitTyrannei hat nicht den Verlust von Freiheit zurFolge, und es ist weder direkt noch in der politi-schen Rhetorik die vorrangige Pflicht der Verfech-ter der Freiheit, der Tyrannei entgegenzutreten.Getreu dem Motto seiner Familie (Widerstandgegen Tyrannen ist Gehorsam gegen Gott)erklrte Thomas Jefferson im Jahr 1787: DerBaum der Freiheit muss von Zeit zu Zeit mit demBlut der Patrioten und der Tyrannen aufgefrischtwerden. Es ist sein natrlicher Dnger. Die wun-dersamsten Beispiele verbaler Verrenkungen lie-ferten in diesem Zusammenhang die Kmpfer derFranzsischen Revolution. Darber nachgrbelnd,ob die Anwendung von Terror die Revolutionrenicht zu Despoten macht, verkndete Robespierreim Jahr 1794, dass Schrecken dann gerechtfertigtsei, wenn er als Mittel eingesetzt wird, um dieFeinde der Freiheit zu bezwingen. Die Revoluti-onsregierung, folgerte er, ist die Despotie derFreiheit ber die Tyrannei.

  • Politische Theorie34

    scherweise ber einen langen Zeitraum stabil bleibt und nicht durch Nachfolgeproblemegekennzeichnet ist.

    Wo das Gesetz endet Die Vorstellung von Tyrannei als einer Person oderGruppe, die unter Missachtung des Rechts die Macht ergreift und ausbt, findet sichauch noch in spteren Darstellungen. Sie wurde jedoch teilweise dahingehend verfei-nert, dass es zuerst Machtgier ist, die den Tyrannen antreibt, und dass die Ausbung derMacht ohne jegliche Einschrnkung durch Recht und Gesetz das eigentlich moralischVerwerfliche ist. In einer Rede vor dem britischen Oberhaus im Jahr 1770 stellte Wil-

    liam Pitt der ltere im Rckgriff auf einen vormals von John Lockegeuerten Gedanken fest: Unbegrenzte Macht ist geeignet, dieSeelen derer zu verderben, die sie besitzen; und eines wei ich,meine Herren, wo das Gesetz endet, da beginnt die Tyrannei.

    Hinsichtlich des Handelns ohne Rcksicht auf Recht und Gesetzist die Tyrannei praktisch nicht von der Diktatur zu unterscheiden,zumindest nicht nach unserem heutigen Verstndnis (dictator warursprnglich ein rmisches Magistratsamt mit weitgehenden Voll-

    Das durchdringende bel der Demokratie,schrieb Lord Acton 1878, ist die Tyrannei derMehrheit. Weiter beschreibt er eine Form derTyrannei eine Gefahr schildernd, die aus-schlielich in der Demokratie besteht , inwelcher die Rechte von Minderheiten von derMehrheit mit Fen getreten werden, wobeiLetztere in der berzeugung handelt, dieVerwirklichung des Volkswillens sei durchden demokratischen Prozess legitimiert.Actons Bedenken wurden nicht nur vonStaatstheoretikern wie Edmund Burke, Alexisde Tocqueville oder John Stuart Mill geteilt,sondern auch von den Grndervtern derVereinigten Staaten. Ein besorgter ThomasJefferson verglich Demokratie mit Pbelherr-schaft, wo 51 Prozent der Leute die Rechteder anderen 49 Prozent wegnehmen kn-nen. John Adams, den spteren zweitenPrsidenten, beunruhigte die Vorstellung, alle

    Regierungsorgane knnten von der Mehrheitkontrolliert werden. Im Jahr 1787 notierte er:Zuerst wrden die Schulden gestrichen;Steuern lasteten schwer auf den Reichenund berhaupt keine auf den anderen; undzumindest wrde eine absolut gleiche Vertei-lung von allem verlangt und durch Wahlbestimmt. Im Jahr 1833 beklagte der vierteUS-Prsident, James Madison, die pau-schale Verunglimpfung der Mehrheitsregie-rungen als tyrannischste und unertrglichstealler Regierungen. Doch gerade sein Anlie-gen, die Gefahr einer solchen Tyrannei zumindern, brachte ihn dazu, die Gewaltentei-lung vorzuschlagen und ein System dergegenseitigen Kontrolle zu entwickeln, daseine zentrale Rolle in der amerikanischenVerfassung spielt, fr die er in groemUmfang mit verantwortlich war.

    Die Tyrannei der Mehrheit

    Wo immer das Gesetzendet, da beginnt die

    Tyrannei.John Locke,

    Zwei Abhandlungen ber die Regierung, 1690

  • Tyrannei 35

    Worum es gehtEntartete Monarchie

    machten, das jedoch fr die Zeit einer Ausnahmesituation befristet war und dessen Inha-ber Recht und Gesetz verpflichtet blieb).

    Autokraten der Neuzeit, von Napoleon bis Stalin und Hitler, die teilweise aufgrundvon persnlichem Charisma an die Macht kamen und deren Herrschaft durch den Willendes Volkes legitimiert war, wurden von ihren Gegnern wahllos als Diktatoren oderTyrannen abgestempelt. Auf den Hang der Tyrannei zur Macht geht der englischeSchriftsteller George Orwell in seinem Roman 1984 (1949) ein: Macht ist kein Mittel,sie ist ein Zweck. Man errichtet keine Diktatur, um eine Revolution abzusichern; manmacht ein