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CAROL BERG Tor der Offenbarung

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CAROL BERG

Tor der Offenbarung

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Buch

Sechzehn Jahre lang war Seyonne ein Sklave, nun ist er wieder ein frei-er Mann. Und nicht nur das. Als Dank für die Dienste, die Seyonne den Derzhi – und hier allen voran Prinz Aleksander, dem Thronfolger des der-zhischen Kaiserreichs – im Kampf gegen den Herrn der Dämonen geleistet hat, haben die Ezzarier ihr Heimatland zurückerhalten und können wieder in ihren angestammten Wäldern und Tälern von Ezzaria leben. Und auch wenn das Geflüster, die Jahre der Knechtschaft hätten ihn für alle Zeit gezeichnet, nicht verstummen will, hat Seyonne wieder den Mantel eines Wächters, eines Kämpfers gegen die Dämonen, umgelegt und stellt sich ih-nen in den Seelenlandschaften ihrer besessenen Opfer. Doch dann stößt er auf einen Dämon, der keineswegs die Absicht hat, Wahnsinn und Verder-ben zu säen, sondern der stattdessen lernen will – der versucht, die Welt um ihn herum zu verstehen. Da Seyonne in dem Dämon keinerlei böswil-lige Absichten erkennen kann, lässt er ihn am Leben. Eine Entscheidung, die schlimme Folgen für ihn selbst hat, denn als die Ältesten seines Volkes von dieser Verletzung des Eids, den er einst abgelegt hat, erfahren, versto-ßen sie ihn aus seinem Wächteramt. Nun ist es an Seyonne herauszufinden, was Dämonen und Ezzarier wirklich miteinander verbindet – ehe der nie endende Krieg zwischen ihnen die Welt zerstört. Doch wird er das, was er

herausfindet, auch ertragen können …?

Autorin

Carol Berg wurde in Texas geboren und ist mit den Geschichten von Ro-bert A. Heinlein und Ray Bradbury sowie den Werken von Jane Austen und Charles Dickens aufgewachsen. Sie hat jeweils einen Abschluss in Mathe-matik und Computerwissenschaften, und es ist ihr gelungen, ihre Karriere als Softwareentwicklerin mit ihrer Lust am Schreiben unter einen Hut zu

bringen. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Colorado.

Weitere Informationen über die Autorin auch unter: www.sff.net/people/carolberg

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Carol Berg

Tor der OffenbarungFantasie-Roman

Aus dem Englischen von Tim Straetmann und Simone Heller

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Die englische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »The Rai-Kirah-Saga 2. Revelation« bei Roc, New York.

Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100Das für dieses Buch verwendete fsc-zertifizierte Papier

Holmen Book Cream liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.

1. AuflageDeutsche Erstausgabe Februar 2008

Copyright © der Originalausgabe 2002 by Carol BergCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by

Blanvalet, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.Umschlaggestaltung: HildenDesign München

Umschlagfoto: © Eigenarchiv HildenDesign und Bullaugenmotiv © Markus Gann

Redaktion: Doris Bampi-HautmannUH · Herstellung: Heidrun Nawrot

Satz: Uhl + Massopust, AalenDruck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in GermanyISBN: 978-3-442-24362-4

www.blanvalet.de

SGS-COC-1940

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Für Ginny, Jane und Shirley – allesamt Freundinnen und Handwerkerinnen –

meine Augen und mein Gewissen.

Und für Andrew, den ersten wahren Überzeugten.

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Verdonne war eine holde Maid des Waldvolks, eine Sterb-liche, die die Aufmerksamkeit und das Herz des Gottes errang, der über die Waldländer der Erde herrschte. Der Herr der Wälder nahm Verdonne zur Frau, und sie ge-bar ihm ein Kind, einen hübschen, gesunden Knaben na-mens Valdis. Und die Sterblichen, die in den Ländern der Bäume wohnten, erfreuten sich an dem Bündnis zwischen ihrer eigenen Art und den Göttern.

– Die Geschichte von Verdonne und Valdis, wie sie den Ersten Ezzariern erzählt wurde, als sie in die Länder der Bäume kamen

Ich bin kein Seher. Was kommen mag – nun, da ich das Undenk bare getan habe –, vermag ich nicht zu sagen. Ich glaube – ich hoffe –, dass es Ganzheit sein wird. Sechzehn endlose Jahre lang hatte ich gedacht, ich würde verrückt wer-den – als ich ein Sklave und davon überzeugt gewesen war, das Leben, das ich liebte, sei für mich auf ewig verloren. Aber mittlerweile glaube ich, dass die Götter uns Streiche spielen. Denn kaum hatte ich meinen gesunden Geist und meine Zu-versicht wiedererlangt, da fing meine Welt an auseinanderzu-fallen, und sobald ich den Pfad zu meiner eigenen Vernich-tung erst einmal eingeschlagen hatte, war es mir nicht mehr möglich innezuhalten.

»Haltet still«, sagte die zierliche, spröde junge Frau, die mir die blutende Schulter verband. Sie betupfte den tiefen Schnitt

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mit einem in Teravin getränkten Tuch – einem beißenden Heil-mittel, das gewiss von einem Folterknecht der Derzhi zusam-mengebraut worden war. Für jemanden mit ihrem kindli-chen Körperbau wog ihre Hand überraschend schwer, aber schon damals wusste ich, dass Fionas zerbrechliche Gestalt so schmerzhaft trügerisch wie ein Eisensplitter war.

»Alles, was ich im Augenblick will, ist ein Schluck Wasser und mein eigenes Bett«, sagte ich, schob ihre Hand weg, de-ren Pflege mir ohnehin keine Linderung brachte, und griff nach dem grauen Umhang, der auf dem Boden lag. Das herab-gebrannte Feuer verlieh den glatt geschliffenen Steinfliesen ei-nen warmen, orangefarbenen Schimmer. »Die Blutung ist ge-stillt. Ysanne wird sich um die Heilung kümmern.«

»Es ist unverantwortlich, von der Königin zu erwarten, dass sie sich um eine nicht verbundene Wunde aus einem Dämo-nenkampf kümmert. Erst recht, so lange ihr Kind nicht gebo-ren ist.«

»Dann mache ich es selbst. Ich würde das Kind – unser Kind – niemals in Gefahr bringen.«

Es war alles andere als angenehm, jeden wachen Augen-blick mit einem Menschen zu verbringen, der einen für eine Abscheulichkeit hielt. Möglicherweise wäre es mir leichter ge-fallen, Fiona einfach nicht zu beachten, wenn sie nicht bei allem, was sie tat, so gut gewesen wäre. Sie wob ihre Zauber präzise und klug, und sie war vollkommen, wenn es darum ging, sich an unsere Gesetze und Sitten zu halten. Jede Hand-bewegung, jeder Blick, jedes Wort, zu dem sie sich mir gegen-über herabließ, war ein Vorwurf, der mich an meinen eigenen Mangel an Tugend erinnerte, so dass ich mich dabei ertappte, mich dafür schuldig zu fühlen, dass ich dauernd wütend und frustriert war.

»Die Wunde sollte verbunden werden, bevor Ihr den Tem-pel verlasst. Das Gesetz besagt …«

»Es wird kein Gift hineingelangen, Fiona. Du hast sie

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gründ lich gesäubert, und dafür bin ich dir wie immer dank-bar. Aber es ist mitten in der Nacht, ich habe in drei Tagen ebenso viele Kämpfe ausgefochten, und wenn ich mich be-eile, könnte ich mich noch woanders als auf diesem harten Boden hier zum Schlafen legen, bevor ich erneut kämpfen muss. Auch du brauchst Ruhe. Wir dürfen uns keinen Fehler erlauben.«

Ich warf mir den Umhang um meine Schultern und schnür-te ihn zu. Obwohl die Nacht angenehm warm war, würde mich der Regen, der in den Bäumen rund um den zu den Sei-ten hin offenen Tempel flüsterte, schnell auskühlen lassen – und dann bestand die Gefahr, dass ich Krämpfe bekam. Ich war noch überhitzt von einem wilden Kampf in einer Land-schaft, die den Schmelzofen im Herzen der Azhaki-Wüste wie einen Garten im Frühling erscheinen ließ.

»Wie Ihr wünscht, Meister Seyonne«, sagte die junge Frau. Ihre schmalen Nasenflügel blähten sich vor Abscheu, und ihr ein wenig zu groß geratener Mund wurde zu einem schmalen Strich – ein mir inzwischen vertrauter Ausdruck der Missbil-ligung. Sie suchte ihre Beutel mit Kräutern und Heilmitteln zu-sammen, ebenso wie die Rolle aus sauberem Leinen und die Holzkiste, in die ich das Silbermesser und den ovalen Spiegel gelegt hatte, mit denen ich gegen Dämonen kämpfte. »Ich werde die Säuberung und die Gebete zu Ende führen.«

Fast wäre es ihr gelungen, dass ich mich schuldbewusst ge-nug fühlte, um zu bleiben und ihr bei all dem zu helfen, was die ezzarischen Sitten vom Wächter und der Aife verlangten, um dafür zu sorgen, dass keine Spur der Dämonen im Tempel zurückblieb – und ich konnte mir gut vorstellen, wie sie die-sen neuerlichen Verstoß auf die wachsende Liste meiner Feh-ler setzen würde. Aber für die Aussicht, Fionas Blick auch nur kurze Zeit zu entgehen, hätte ich auf noch viel mehr ver-zichtet als auf ein paar bedeutungslose Rituale. Es gab einen Punkt, an dem man nicht mehr heucheln konnte, selbst wenn

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man wusste, dass die Entscheidungen, die man traf, einem das Leben schwer machen würden. Ich war sehr müde.

Mit einer selbstgerechten, schwungvollen Geste warf Fiona eine Handvoll Jasnyrblätter auf die glimmende Asche des Tem-pelfeuers, und der stechend süßliche Rauch trieb hinter mir in die regnerische Nacht davon.

Trotz des beständigen Nieselregens, der späten Stunde und meines innigen Wunsches, mit meiner Frau im Bett zu liegen, ging ich langsam den ausgetretenen Pfad durch das offene Waldland entlang. Ich atmete tief ein – der frische Duft der Nacht war Balsam für Schmerzen und Prellungen und ein schweres Herz. Regen … junges Gras … fruchtbare schwar-ze Erde … modernde Eichenblätter. Melydda – wahre Macht, Zauberkraft – in jedem Blatt und Stängel. Ezzaria. Unser ge-segnetes Land. Wie jedes Mal, wenn ich die vertrauten Wald-pfade entlangwanderte oder oben auf einem der samtig grü-nen Hänge saß, entbot ich dem zukünftigen Kaiser der Der-zhi meinen Dank.

Seit der Nacht, in der Aleksander gesalbt worden war, hatte ich nicht mehr mit ihm gesprochen. Während meine Tage mit der Wiederbesiedelung Ezzarias und der Wiederaufnahme des Dämonenkrieges ausgefüllt gewesen waren, hatte sein Leben ihn in die entferntesten Gebiete seines ausgedehnten Kaiserrei-ches geführt. Fast zwei Jahre waren vergangen, seit wir seine Stärke mit meiner Macht vereint hatten, um den Gai Kyal let zu besiegen, den Herrn der Dämonen, und den Plan der Khe-lid zu vereiteln, einen von Dämonen besessenen Kaiser auf den Löwenthron zu bringen. Ich musste immer noch lächeln, wenn ich an den wilden, arroganten Prinzen dachte – und das war vielleicht die seltsamste Folge unseres seltsamen Abenteu-ers. Wie oft geschieht es schon, dass ein Sklave seinen Herrn lieben lernt wie einen Bruder und dass der Herr seine Liebe er widert, indem er ihm sein erneuertes Herz und das wunder-barste der schönen Länder auf Erden zum Geschenk macht?

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Der Pfad erreichte den Gipfel eines Hügels, und ich blickte hinab in das baumbestandene Tal, wo die Lichter der Lam-pen glänzten wie winzige Juwelen, die sich in eine Falte aus schwarzer Seide schmiegten. Ich hätte den Pfad hinablaufen und mich eine Viertelstunde später vom Licht des Feuers um-schmeicheln lassen können, von trockenen Decken, schlan-ken, liebenden Armen und dunklen, im Feuerschein rotgol-den aufblitzenden Haaren. Aber wie immer, wenn ich diesen besonderen Pfad entlangging, kletterte ich auf die Kalkstein-klippe, die auf dem Hügel thronte wie ein weißer Zahn im Kiefer der Erde, und setzte mich dort oben eine Zeit lang hin. Obwohl ich nie wie wieder glauben würde, ich könnte auch nur eine einzige Schlacht ohne Hilfe schlagen – dies zumin-dest hatte mich meine Prüfung im Innern von Aleksanders Seele gelehrt –, so brauchte ich doch immer noch einige Zeit für mich allein, wenn der Kampf erst einmal vorüber war. Zeit, in der das Feuer der Zauberei in meinem Blut abkühlen konnte. Zeit, in der die immense Konzentration, die für die Jagd auf Dämonen erforderlich war, abklingen, sich wieder in die gewöhnliche Wahrnehmung der friedlichen Welt verwan-deln konnte. Zeit, um die Last zu lindern, den ein Leben vol-ler Gewalt – einerlei, wie ehrenwert die Ziele auch sein moch-ten – von der Seele forderte. Und nachdem ich sechzehn Jahre lang ein Leben in Fesseln geführt hatte – sechzehn Jahre, in denen ich ausschließlich im Hier und Jetzt gelebt hatte, um nicht an meinem leidvollen Dasein zu zerbrechen –, war es ein ganz besonderes Vergnügen, mich hinzusetzen, auf diese Lichter hinabzublicken und die Vorfreude zu genießen.

Und wie in den Monaten zuvor gab mir diese kurze Pause auch Zeit, meinen Verdruss, meine Enttäuschung und meine Entrüstung abzuschütteln, bevor ich heim zu Ysanneging. Mein halbes Leben lang war ich ein Sklave der Der-zhi gewe sen, war mit achtzehn Jahren gefangen worden, als das sich immer weiter ausbreitende derzhische Kaiserreich

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Ezzaria letzt endlich verschlungen hatte. In diesen Jahren vol-ler Schmerz und Erniedrigung hatte all das mein Dasein aus-gemacht, was die Ezzarier für verderbt hielten. Das ezzarische Gesetz betrachtete eine Unreinheit wie die meine als erwie-senes Einfallstor für die Macht der Dämonen, und deshalb sollte ich gemieden werden, sollte ich eigentlich tot sein – so-gar nachdem Aleksander mir die Freiheit gewährt hatte. Kein Ezza rier durfte mit mir sprechen, meine Existenz anerken-nen oder auch nur ein Wort aus meinem Mund vernehmen, denn sonst würde ich womöglich jemanden mit meiner Ver-derbtheit anstecken und unseren geheimen Krieg gefährden. Nur die offenkundige Macht der Enkelin meines verstorbe-nen Mentors und die meiner Frau, der Königin von Ezzaria, hatte meine Landsleute davon überzeugen können, dass mein Kampf gegen den Herrn der Dämonen unter so außergewöhn-lichen Umständen stattgefunden hatte, dass ich eine Ausnah-me von unserem Gesetz verdient hatte.

Im Herbst des Jahres, in dem ich die Freiheit wiedererlangt hatte und heimgekehrt war, waren wir in das abgelegene Land im Süden, das Aleksander uns zurückgegeben hatte, heimge-kehrt und hatten unsere Wacht – von der die wenigsten Men-schen jenseits unserer Grenzen etwas ahnten – wieder aufge-nommen. Ich war aufs Neue ein Wächter von Ezzaria gewor-den, der auf von der Aife aus Zauberei gewobenen Pfaden gequälte Seelen betrat, um sich dort dämonischen Kreaturen zu stellen, die ihre menschlichen Opfer in den Wahnsinn trie-ben oder sich an deren Bösartigkeit labten und stärkten. Und so hatte ich mit fünfunddreißig Jahren mein Leben dort wie-der aufgenommen, wo es mit achtzehn sein Ende gefunden hatte.

Wie ich erwartet hatte, waren einige aus meinem Volk nicht mit meiner Wiedereinsetzung einverstanden und schwo-ren, ich würde Unheil über Ezzaria bringen. Aber ich wäre nie mals auf die Idee gekommen, ihre Stimmen könnten so

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laut werden, dass es ihnen gelingen würde, einen Aufpasser auf mich anzusetzen, der mir tagtäglich auf Schritt und Tritt folgte, meine Arbeit überprüfte, jedes meiner Worte beur teilte und darauf wartete, dass mir ein Fehler unterlief, dass ich mich irrte, dass sich unauffällige Hinweise auf eine dämoni-sche Besessenheit zeigten. In dem Jahr, das gerade vergangen war, hatte ich über zweihundert Kämpfe gegen Dämonen aus -gefochten. Es hatte Tage gegeben, da war ich noch blutend vom letzten Gefecht erneut durch das Portal der Aife getreten. Tage wie die letzten drei, an denen ich mich in meinem Um-hang auf dem Boden des Tempels zusammengerollt hatte, um ein bisschen Schlaf zu ergattern, weil wir die Nachricht erhal-ten hatten, dass ein weiterer Kampf angesetzt war, dass eine weitere Seele Qualen erlitt und unserer Hilfe bedurfte. Wie lange würde es noch dauern, bis ich endlich bewiesen hatte, dass ich nur war, was ich zu sein behauptete – ein Mann, we-der besser noch schlechter als alle anderen, der versuchte, in dieser höchst seltsamen Lebensweise einen Daseinszweck zu finden? Bis zu jenem Tag würde Fiona da sein.

Als hätte ich meine Nemesis aus dem Gewebe der Nacht heraufbeschworen, störten entschlossene Schritte die Stille, und ein blendendes gelbes Licht flackerte durch die Bäume und zerriss die sanfte Dunkelheit. Die Schritte verharrten un-ten am Fuße meines Hügels, obwohl Fiona mich vom Pfad aus bestimmt nicht sehen konnte.

»Die Riten sind abgeschlossen, Meister Seyonne. Ich werde beim ersten Tageslicht an der Brücke sein.«

Natürlich würde sie das. Ich musste nicht daran erinnert werden. Nachdem es noch einen Augenblick lang still ge-blieben war, nahmen die Schritte ihren Rhythmus wieder auf und verloren sich dann rasch in der Nacht. Ich seufzte und zog meinen Umhang über die Schultern hoch, um den Regen abzuhalten.

Die starke, junge Aife war vom Rat der Mentoren zu mei-

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nem Schatten ernannt worden. Es war ziemlich schlimm, sie immer dabeizuhaben, wenn ich unsere Schüler unterrichte-te, die zukünftigen Wächter, und zu sehen, wie sie sich emsig Notizen machte, wenn ich Rituale überging, die ich für sinn-los hielt, oder wenn ich davon sprach, wie mein Glaube sich in all den Jahren, die ich in Fesseln verbracht hatte, verändert hatte, während meine Hingabe größer und mein Vertrauen stärker geworden war. Ich konnte nicht verbergen, dass ich mittlerweile die Antworten auf die Fragen, was gut und böse, was rein und verderbt war, für weitaus komplizierter hielt als die präzisen Definitionen der ezzarischen Traditionen. Aber dann war der Tag gekommen, an dem meine Frau nicht län-ger an meiner Seite stehen konnte, der unvergleichliche Tag, an dem ich erfuhr, dass wir ein Kind haben würden. Eine Frau, die ein Kind unter dem Herzen trug, konnte es nicht riskieren, von einem Dämon befallen zu werden – denn das Kind hatte keine Schutzwälle. Und deshalb musste das Zu-sammenspiel, das wir im Alter von fünfzehn Jahren begon-nen hatten, bis zur Geburt ein Ende haben. Und der Tag, der so vielversprechend begonnen hatte, war rasch wirklich bit -ter geworden, als ich erfuhr, dass ich mir Ysannes Ersatz nicht selbst aussuchen konnte.

Das Leben eines Wächters hing ganz und gar von der Aife an seiner Seite ab – von ihrer Fähigkeit, den Zauber zu weben, der eine greifbare Wirklichkeit aus dem Stoff der mensch-lichen Seele schuf, von ihrem Verständnis dafür, welche Vor-gehensweise für ihn die beste war, von ihrer Ausdauer, das Portal aufrechtzuerhalten, bis er sich siegreich zurückziehen oder bei einer Niederlage fliehen konnte. Und der Rat hatte mir nicht nur die Möglichkeit genommen, selbst zu wählen, son dern hatte mir darüberhinaus ausgerechnet Fiona zur Sei-te gestellt. Ich war außer mir vor Zorn. Doch wenn ich mich weigerte zu kämpfen, würde ich dadurch den Beweis für ge-nau das Übel liefern, das man mir nachsagte.

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»Fiona ist eine höchst fähige Aife«, sagte Ysanne jedes Mal, wenn der Ruf erklang und ich sie verlassen musste, um den Tempel und Fiona aufzusuchen. »Ich würde keine andere die Zauber für dich weben lassen. Nur noch eine kleine Weile.«

Und als ich auf die Lichter hinabblickte, die mir aus dem in mitternächtlicher Stille liegenden Wald zublinzelten, ver-bannte dieser Gedanke alles bis auf die Freude. Schon bald, in einer der nächsten Nächte, würde ich von diesem Hügel hinunter in das Tal gehen, wo unser Haus sich zwischen die Bäume schmiegte, und dort den Beweis finden, dass ich wirk-lich mit all dem beschenkt worden war, was ein Mann sich er hoffen konnte. Unser Kind würde in Ezzaria geboren wer-den. Wenn ich daran dachte, gab es für die Wut keinen Platz mehr.

Ich sprang von meinem felsigen Sitzplatz auf und ging den Hügel hinab. Auf halber Strecke blieb ich stehen, um Fionas lockeren Verband zu überprüfen. Die Wunde hatte wieder angefangen zu blu ten, und ich konnte spüren, wie das Blut warm und feucht in mein Hemd sickerte. Aber es gab keinen Grund, Ysanne we gen dieser Kleinigkeit in Sorge zu versetzen.

Als ich so still da stand, drang von weit her ganz schwach ein Schrei an mein Ohr – er war kaum hörbar, da der Regen immer heftiger auf den Pfad trommelte, dünne Wasserfäden aus dem dichten Laubdach über mir herabrannen und sich mehr und mehr Pfützen auf dem Boden bildeten. Ich strich mir mit dem Handrücken über die Augen, stellte meine Sinne auf feinere Wahrnehmungen um, die dazu ausgerichtet wa-ren, über größere Entfernungen hinweg und ungeachtet ir-gendwelcher Hindernisse oder Zauber zu hören und zu se-hen. Aber alles, was ich hörte, war ein Pferd, das weit hinter unserem Haus davongaloppierte.

Beunruhigt ging ich schneller. Ich verließ den schlammi -gen Feldweg, der sich anmutig um das Tal herumwand, und marschierte geradewegs durch das dichte, nasse Blattwerk die

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steile Hügelflanke hinab. Das beunruhigende Prickeln zwi-schen meinen Schulterblättern wurde drängender. Während ich Bäumen auswich und immer wieder im Schlamm aus-rutschte, schien mich das blinkende Lampenlicht zu verspot-ten. Ich ließ die Holzbrücke links liegen und nahm stattdessen den kürzesten Weg, sprang über den Bach, öffnete mit einem Flüstern die aus Zaubern gewobenen Sperren und rannte schließlich eine hölzerne Treppe hinauf. Atemlos stürmte ich durch die Tür, platzte in den großen, gemütlichen Raum, unse-ren ganz persönlichen Bereich im weitläufigen Haus der Köni-gin. Niemand war da.

Die rotbraunen und dunkelgrünen Stuhlkissen, der kleine Webteppich, der wie ein Brotlaib geformte Trauerstein, die schlichten Eichen- und Kiefernmöbel, die Wandbehänge, auf denen die Geschichten Ezzarias erzählt wurden, die wertvol-len Bücher über Geschichte und die Überlieferungen, die ins Exil mitgenommen und wieder mit zurückgebracht worden waren – alles war noch genau so wie drei Tage zuvor, als ich es zum letzten Mal gesehen hatte. Die Lampe aus rosafar-benem Glas neben dem Fenster brannte, wie immer, wenn ich fort war. Es war alles in Ordnung. Ysanne würde im Bett lie-gen. In den letzten Wochen wurde sie schnell müde, und sie wusste, dass ich nicht länger wegbleiben würde als unbedingt notwendig.

Doch meine Unruhe wollte nicht verschwinden. Das Haus schlief nicht. Im Kamin pufften leise Funken aus der orange-farben glimmenden Kohlenglut. Weniger als eine Stunde zu-vor war jemand hier gewesen. Ein Gehstock aus Eschenholz stand neben der Eingangstür. Der Geruch fremder Körper hing noch in der Luft. Und andere Düfte – das stechende Aro-ma von Wacholderbeeren und der dunkle, erdige Geruch von schwarzer Haselwurz – einer Heilpflanze. Ysanne …

Ich blies die Lampe aus und schlich auf Zehenspitzen in unser Schlafgemach. Es war dunkel, und durch die offenen

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Fenster drang sanft das Rauschen des Regens. Ysanne lag auf der Seite, und ich atmete auf, als ich meine Hand an ihre Wange legte und feststellte, dass sie warm und weich war. Aber sie schlief nicht. Ihr Atem ging flach, angespannt. Ich kniete mich neben ihr auf den Boden, strich ihr das dunkle Haar aus dem Gesicht und küsste sie.

»Geht es dir gut, Liebste?« Sie gab keine Antwort, und als ich ihren Arm streichelte

und ihre Handfläche küsste, spürte ich ein unruhiges Beben un mittelbar unter ihrer Haut.

»Lass mich diese nassen Sachen loswerden und dich wär-men«, sagte ich. Sie antwortete noch immer nicht.

Ich warf meine durchnässten Kleider auf einen Haufen und machte einen halbherzigen Versuch, die Schlammspritzer ab-zuwischen und mir einen sauberen Leinenstreifen um die ver-letzte Schulter zu wickeln. Dann kroch ich neben meine Frau ins Bett, legte meine Arme um sie – und bemerkte, dass sie kein Kind mehr trug.

»Süße Verdonne!«Ich glaubte, jetzt alles zu verstehen, und bereitete mich auf

Tränen und Kummer vor, auf den langen Weg vom Schmerz zur Akzeptanz. Ich flüsterte einen Zauberspruch und ließ ein sanftes, silbernes Licht entstehen. Ysanne sah mich mit ihren violetten Augen blinzelnd an, als hätte sie geschlafen, strich mir dann mit der Hand über die Wange und lächelte.

»Du bist endlich wieder zu Hause! Ich habe dich so ver-misst. Als Garen mir erzählt hat, sie hätten eine dritte Schlacht angesetzt und du hättest keine Zeit heimzukommen, hätte ich beinahe unsere Decken und Kissen zusammengepackt und in den Tempel gebracht, damit wir zumindest dort zusammen hätten schlafen können.«

»Ysanne …«»Was ist das?« Sie setzte sich auf und nahm mir den behelfs-

mäßigen Verband ab. »Du hast Fiona das nicht behandeln

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lassen. Das solltest du aber, wie du weißt. Nicht, weil ich mir irgendwelche Sorgen um das Dämonengift mache, sondern damit es schneller heilt … Und hier regnet es auch noch, und dir ist so kalt.«

»Ysanne, sag mir, was geschehen ist. Jemand hätte mich holen sollen. Wie konnten sie dich nur allein lassen?«

Sie sprang aus dem Bett, zündete die Lampe an und brachte die Schachtel, in der sie ihre Heilmittel aufbewahrte. Ich ver-suchte sie davon abzuhalten, sie dazu zu bringen, mit mir zu sprechen, aber sie bestand darauf, die Wunde zu verbinden, und rezitierte dabei Wort für Wort sämtliche Beschwörungen und Reinigungsgebete. Als sie fertig war, wollte sie abermals aufstehen und die Unordnung aufräumen, aber ich nahm ihre blutigen Hände und hielt sie fest.

»Sag mir, was mit unserem Kind geschehen ist, Ysanne. Wurde es … tot geboren? Du musst es mir sagen.«

Aber ihre violetten Augen weiteten sich und sie starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Hast du dir auch den Kopf verletzt, mein Liebster? Was für ein Kind?«

»Sie will nicht darüber sprechen, Catrin. Sie hat mich weg-gestoßen und gesagt, ich wäre so müde, dass ich träumen würde, dass ich Garen und Gwen und ihr neugeborenes Kind im Kopf hätte. Und dann wollte sie nicht mehr darüber spre-chen. Ich fürchte um ihren Verstand.«

Ich schob den Weinbecher beiseite, der unberührt vor mir auf dem Tisch stand. »Sag mir, was ich tun soll. Das über-steigt alles, was ich weiß.«

Die dunkelhaarige junge Frau im weißen Nachthemd klopf-te sich mit den Fingern gegen den Mund. »Hast du mit irgend-jemand anderem darüber gesprochen?«

»Ich habe es versucht – mit Nerya. Sie hat behauptet, sie hätte in den letzten drei Tagen kein Kind zur Welt gebracht. Aleksander hat einmal zu mir gesagt, ich wäre der schlech-

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teste Lügner der Welt – dass ich gelb anlaufen und meine Lider zucken würden. Aber diese Frauen sind viel schlimmer. Daavi hat gesagt, sie hätte keine Erlaubnis, mit irgendjeman-dem über die Gesundheit der Königin zu sprechen. Mit irgend-jemandem? Catrin, ich bin ihr Ehemann. Weshalb sagen sie es mir nicht? Sie benehmen sich, als wäre sie nie schwanger ge-wesen.« Ich rieb mir heftig den Kopf und versuchte verzwei-felt, den erstickenden Nebel aus Unsicherheit zu durchdrin-gen.

Catrin stand auf, verschränkte die Arme und starrte aus dem Fenster auf das wässrige Grau der Morgendämmerung. »Und was ist deiner Meinung nach die Wahrheit?«

»Ich glaube natürlich, dass unser Kind eine Totgeburt war … oder lebend geboren wurde und gestorben ist. Ich weiß es nicht. Was soll ich denn glauben?«

»Vielleicht ist das die Frage, auf die du als Erstes eine Ant-wort brauchst.«

In meinem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. Ich hatte überhaupt nicht geschlafen, hatte es gar nicht erst ver-sucht, und war zu Catrin gegangen, als Ysanne eine Stunde vor Morgengrauen eingeschlafen war, ohne auch nur auf eine meiner Fragen geantwortet zu haben. Und nun tänzelte auch Catrin, auf deren aufrichtige Antworten ich gezählt hatte, um die Sache herum.

»Komm, mein alter Freund, streck dich beim Kamin aus und schlaf ein bisschen. Du musst dich ausruhen, sonst wirst du irgendwann umfallen wie ein nasser Sack. Die Antworten werden sich einstellen, wenn du aufhörst, sie dir selbst auszu-denken.«

»Catrin, war meine Frau schwanger oder nicht? Antworte mir.«

Ihre dunklen Augen waren klar, aber voller Mitgefühl.»Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, Seyonne.

Aber ich werde dir Folgendes sagen: Sie ist nicht verrückt.

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Und nun schlaf ein wenig, dann geh nach Hause und sag ihr, wie sehr du sie liebst.« Sie legte mir eine Hand auf die Stirn, und eine Woge der Erschöpfung rauschte durch mich hin-durch, nahm meine letzten Kräfte mit.

Und natürlich hatte Catrin wie so oft Recht. Sobald ich meine Angst und meinen Kummer so weit losließ, dass ich schlafen konnte, wusste ich, was geschehen war. Das Kind war tot, einerlei, ob es noch atmete oder nicht. Unser Kind war als Dämon zur Welt gekommen.

2

Wir Ezzarier wussten sehr wenig von unseren Ursprüngen. So verfügten wir über so gut wie keine Überlieferungen von un seren Anfängen – und das war mehr als erstaunlich für ein Volk, bei dem geheime Lehren und Handlungen eine so große Rolle spielten; alles, was wir besaßen, waren die Mythen unse-rer Götter und zwei Schriftrollen, die vor läppischen tausend Jahren zu Beginn des Dämonenkrieges geschrieben worden waren. Irgendwie hatten wir in den verlorenen Jahren vor dem Beginn unserer Aufzeichnungen den Weg nach Ezzaria gefunden – ein warmes, grünes Land mit dunklen Wäldern und offenen Hügeln, das die außergewöhnliche Kraft zu näh-ren schien, die wir Melydda nannten. Und irgendwie hatten wir in diesen Jahren außerdem entdeckt, wie man die Seele ei-nes Menschen von den Verheerungen dämonischer Besessen-heit befreit.

Die Schriftrolle der Rai-Kirah belehrte uns über die Dä-monen – seelenlose, körperlose Wesen, die nicht von Grund auf böse waren, aber ihren Hunger durch das Entsetzen, den Wahnsinn und den unheiligen Tod von Menschen stillten. Die Schrift besagte, dass die Dämonen in den gefrorenen Nord-

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landen hausten und dass sie dorthin zurückkehrten, um sich zu erholen, wenn wir sie aus ihren menschlichen Wirten ver-trieben. Sofern sie sich weigerten zu gehen, töteten wir sie – widerstrebend, denn wenn sie starben, wurde eine Kraft frei-gesetzt, und wir spürten, dass der Welt dadurch etwas verlo-ren ging, dass sie aus dem Gleichgewicht geriet.

Die Schriftrolle der Weissagung warnte uns vor Verderbt-heit und mahnte zur Wachsamkeit, damit die Rai-Kirah nicht unsere Schwächen ausnutzten und in unsere eigenen Seelen einfielen. In dieser Rolle hatte ein Seher namens Eddaus et-was über den Krieg geschrieben, in dem die Welt untergehen würde, und von der Schlacht, in der der Krieger der Zwei See-len dem Herrn der Dämonen entgegentreten würde. Nirgends hatte Eddaus erwähnt, dass der Krieger der Zwei Seelen in Wirklichkeit aus zwei Männern bestand, einem Prinzen der Derzhi und seinem Sklaven, einem Zauberer – aus Aleksan-der und mir. Gemeinsam waren wir in diese Schlacht gezogen und hatten gesiegt. Mit der Vorhersage dieses Kampfes en-dete die Weissagung. Schlagartig. Was immer unseren Vorfah-ren überdies an Visionen gewährt worden war, war verloren oder mit ihren anderen Schriften zerstört worden.

Abgesehen von den Schriftrollen waren nur noch zwei Arte-fakte aus dieser alten Zeit erhalten: die Originale des silber-nen Messers, das sich jenseits des Portals in jede Art von Waffe verwandeln konnte, und des Luthenspiegels, des ova-len Glases, das einen Dämon lähmen konnte, indem es dem Geschöpf sein eigenes Spiegelbild zeigte. Alles, was wir sonst noch wussten, hatten wir durch teilweise schmerzhafte Erfah-rungen gelernt. Obwohl wir uns so wenig von unserer Ge-schichte erklären konnten, sahen wir immer wieder mit eige-nen Augen, weshalb wir uns dem Kampf stellen mussten – we-gen der schrecklichen Folgen, die es hatte, wenn sich niemand einer dämonischen Besessenheit entgegenstellte. Nur wenige an dere Völker auf der Welt verfügten über wahre Zauber-

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kraft, und keines von ihnen schien etwas über die Rai-Kirah zu wissen. Wir hatten von unseren Fragen abgelassen, weil wir keine andere Wahl hatten.

Keine Schriftrolle, kein sonstiges Schriftstück und keine Erfahrung erklärte die Grausamkeit, die unseren Kindern in jenem besonderen Fall widerfuhr, der alle paar hundert Ge-burten einmal vorkam – wenn das Kind besessen geboren wurde. Ein kleines Kind hatte noch keine Schutzwälle gegen den Dämon, und deshalb waren Kind und Dämon nicht von-einander zu trennen. Und sogar, wenn wir gewusst hätten, wie man das Selbst des Kindes und den Dämon vonei nan der lösen konnte – es war unmöglich, ein beständiges Portal zur Seele eines Kindes zu erschaffen, denn es war noch so klein, so unerfahren, so chaotisch. Doch wir wagten es nicht, einen Dämon in unserer Mitte leben zu lassen, und daher verlangte unser Gesetz, dass wir uns des Kindes entledigten. Ich hatte über dieses Dilemma niemals allzu viel nachgedacht. Erst als ich selbst davon betroffen war.

»Sie hat unser Kind getötet.« Ich saß auf dem Teppich vor Catrins Kamin, und die nach-

mittägliche Sonne schien durch die Eingangstür. Ich hatte ein paar Stunden geschlafen und war mit einer Erkenntnis er-wacht, die ich mir lieber erspart hätte – selbst wenn das be-deutet hätte, gegen fünfzig Dämonen auf einmal zu kämpfen. Mein Körper fühlte sich taub an. In meiner Seele herrschte Trostlosigkeit. Man hätte mir mit einem Schwert den Arm abschlagen können, und ich hätte es nicht gespürt. Catrin drückte mir einen Becher in die Hand und zwang mich, etwas zu trinken, aber ich hätte nicht sagen können, ob der Trank heiß oder kalt, bitter oder süß war. Ich war verloren und trieb dahin wie die Staubteilchen, die in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen schwebten.

»Sie hat ihn nackt auf einem Felsen zurückgelassen, da-

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