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Quartier 14 | 15 « VIEL BESSER ALS IHR RUF» 1| Verwurzelt mit der Bernstrasse: Armando Oetterli. 2| Der Kreisel Kreuzstutz aus Sicht des Künstlers Christoph Fischer. Am Ein- und Ausfallstor von Littau und Luzern verkehren täglich 20’000 Fahrzeuge. 3| Schöner Wohnen: An bevorzugter Lage an der Reuss oder in einer Idylle neben der Bernstrasse. Rund um den Kreuzstutz gibt es heute noch Lebens- raum für unterschied- liche Geschmäcker und Budgets. Armando Oetterli raucht, hustet, flucht. Dann reisst er die Tür auf und tritt hinaus auf den kleinen Balkon. Unter ihm die Bernstrasse. Stossstange an Stossstange. LKW gegen vbl. Lit- tauer gegen Luzerner. Viel zu we- nig Platz für viel zu viel Verkehr. Oetterli schüttelt die Rechte in der Luft: «Und am Wochenende Tatüü-tatüü, Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen. Und immer wie- der Raser, mit Karacho sLoch ab, Spinner das.» Sein halbes Leben verbringt Oetterli schon hier. Hier, wo nach Ansicht vieler nur lebt, wer sonstwo keinen Unter- schlupf gefunden hat: Ausländer, Aussenseiter, Ausgesteuerte. Die Rechnung ist schnell gemacht: Bernstrasse = Getto. Getto! Fredy Schumacher will das so nicht gelten lassen. Natürlich kann auch er die Au- gen vor der Realität nicht ver- schliessen, nicht vor dem hohen Ausländeranteil, nicht vor dem vielen Verkehr, dem Rotlichtmi- lieu und den verlotternden Im- mobilien. «Wir sind hier nicht das Wesemlinquartier oder der Wür- zenbach, das ist schon klar», sagt der 65-Jährige, «aber uns deshalb gleich zum Elends- und Problem- viertel zu degradieren, kommt einer Beleidigung gleich.» In vierter Generation führt die Fa- milie Schumacher mittlerweile das stadtbekannte Weinhan- delsgeschäft Schubi Weine, heu- er konnte das 100-Jahr-Jubiläum begangen werden. Während in den letzten 20 Jahren ein gutes Dutzend Detailhandelsgeschäfte ihre Auslagen definitiv geräumt haben, hält Schubi der Bern- strasse die Treue. «Schauen Sie sich doch mal um hier oben, es entstehen Wohnungen, das bringt neue Leute ins Quartier, was wiederum für eine bessere Durchmischung sorgen wird.» Wie mit stolz geschwellter Brust markiert ein kürzlich hochge- zogenes Mehrfamilienhaus sei- nen Anspruch auf einen Teil der Durchgangsstrasse. Oberhalb der Stollbergstrasse plant die Stadt zudem eine grosse Über- bauung.* Und oben, wo die Bern- strasse nicht mehr Bernstrasse, sondern Luzernerstrasse heisst, entstehen drei neue Mehrfami- lienhäuser. «Das hier ist doch beste Lage», sagt Fredy Schuma- cher und lacht, «wo da unten in der City finden Sie denn noch freie Parkplätze wie bei uns?» Problem Nummer 1: Verkehr Unten am Kreuzstutz herrscht Aufruhr. Einer aus Richtung Em- menbrücke hat einem aus Rich- tung Littau den Weg abgeschnit- ten. Christoph Fischer greift zur Kamera, hetzt über die knarren- den Dielen seines Ateliers und bringt sich auf dem Balkon, der einer Schiffsbrücke gleich in den tobenden Verkehrsstrom ragt, in Position. Der Illustrator hat es sich schon fast zur Lebensauf- gabe gemacht, die Szenerie rund um das Einfallstor zur Stadt akri- bisch mit Fotoapparat, Videoka- mera, Pinsel und Stift festzuhal- ten. Bei täglich mehreren 10000 Autos geht ihm der Stoff so schnell nicht aus. «Der Verkehr, das ist das wesentliche Problem der Bernstrasse», sagt der 33-Jäh- rige. «All die Abgase, der Dreck, dieser Gestank und der Lärm, das macht auf Dauer krank.» Fischer weiss, wovon er spricht. Vier Jahre hat er an dieser pro- minenten, wenngleich wenig 1 2 Viel Verkehr, hoher Ausländeranteil, zerfallende Häuser – das Gebiet rund um die Bernstrasse hat mit einem schlechten Image zu kämpfen. Ein Augenschein vom geografischen Zentrum der vereinigten Stadtgemeinde.

Bernstrasse

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Reportage aus dem Quartier Bernstrasse in Luzern. Erschienen im Stadtmagazin Luzern.

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Page 1: Bernstrasse

Quartier14 | 15

«VieL BeSSer aLS ihr ruf»

1 | Verwurzelt mitder Bernstrasse:Armando Oetterli.

2 | Der Kreisel Kreuzstutzaus Sicht des KünstlersChristoph Fischer.Am Ein- und Ausfallstorvon Littau und Luzernverkehren täglich20’000 Fahrzeuge.

3 | Schöner Wohnen:An bevorzugter Lagean der Reuss oder ineiner Idylle neben derBernstrasse. Rund umden Kreuzstutz gibt esheute noch Lebens-raum für unterschied-liche Geschmäcker undBudgets.

Armando Oetterli raucht,hustet, flucht. Dann reisst erdie Tür auf und tritt hinaus aufden kleinen Balkon. Unter ihmdie Bernstrasse. Stossstange anStossstange. LKW gegen vbl. Lit-tauer gegen Luzerner. Viel zuwe-nig Platz für viel zu viel Verkehr.Oetterli schüttelt die Rechte inder Luft: «Und amWochenendeTatüü-tatüü, Polizei, Feuerwehr,Krankenwagen. Und immer wie-derRaser,mitKarachosLochab,Spinner das.» Sein halbes Lebenverbringt Oetterli schon hier.Hier, wo nach Ansicht vieler nurlebt, wer sonstwo keinen Unter-schlupfgefundenhat:Ausländer,Aussenseiter, Ausgesteuerte. DieRechnung ist schnell gemacht:Bernstrasse =Getto.

Getto! Fredy Schumacherwill das so nicht gelten lassen.Natürlich kann auch er die Au-gen vor der Realität nicht ver-schliessen, nicht vor dem hohenAusländeranteil, nicht vor demvielen Verkehr, dem Rotlichtmi-lieu und den verlotternden Im-mobilien.«WirsindhiernichtdasWesemlinquartier oder derWür-zenbach, das ist schonklar», sagtder65-Jährige, «aberunsdeshalbgleich zum Elends- und Problem-viertel zu degradieren, kommteiner Beleidigung gleich.» Invierter Generation führt die Fa-milie Schumacher mittlerweiledas stadtbekannte Weinhan-delsgeschäft Schubi Weine, heu-er konnte das 100-Jahr-Jubiläumbegangen werden. Während inden letzten 20 Jahren ein gutesDutzendDetailhandelsgeschäfteihre Auslagen definitiv geräumthaben, hält Schubi der Bern-strasse die Treue. «Schauen Siesich doch mal um hier oben,es entstehen Wohnungen, dasbringt neue Leute ins Quartier,was wiederum für eine bessereDurchmischung sorgen wird.»Wie mit stolz geschwellter Brustmarkiert ein kürzlich hochge-zogenes Mehrfamilienhaus sei-nen Anspruch auf einen Teil derDurchgangsstrasse. Oberhalbder Stollbergstrasse plant dieStadt zudem eine grosse Über-

bauung.*Undoben,wodieBern-strasse nicht mehr Bernstrasse,sondern Luzernerstrasse heisst,entstehen drei neue Mehrfami-lienhäuser. «Das hier ist dochbeste Lage», sagt Fredy Schuma-cher und lacht, «wo da unten inder City finden Sie denn nochfreie Parkplätzewie bei uns?»

Problem Nummer 1: VerkehrUntenamKreuzstutzherrscht

Aufruhr.Einer ausRichtungEm-menbrücke hat einem aus Rich-tungLittaudenWegabgeschnit-ten. Christoph Fischer greift zurKamera, hetzt über die knarren-den Dielen seines Ateliers undbringt sich auf dem Balkon, dereinerSchiffsbrückegleichindentobendenVerkehrsstromragt, inPosition. Der Illustrator hat essich schon fast zur Lebensauf-gabegemacht, die Szenerie rundumdas Einfallstor zur Stadt akri-bischmit Fotoapparat, Videoka-mera, Pinsel und Stift festzuhal-ten. Bei täglichmehreren 10’000Autos geht ihm der Stoff soschnell nicht aus. «Der Verkehr,das ist das wesentliche ProblemderBernstrasse», sagtder33-Jäh-rige. «All die Abgase, der Dreck,dieser Gestank und der Lärm,dasmacht aufDauer krank.»

Fischer weiss, wovon er spricht.Vier Jahre hat er an dieser pro-minenten, wenngleich wenig

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Viel Verkehr, hoher Ausländeranteil, zerfallende Häuser – das Gebiet rundum die Bernstrasse hat mit einem schlechten Image zu kämpfen. Ein Augenscheinvom geografischen Zentrum der vereinigten Stadtgemeinde.

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*StädtischeLiegenschaftenZwischen Stollbergstras-se und der Grenze zuLittau besitzt die StadtLuzern verschiedeneLiegenschaften. Die indie Jahre gekommenenund baufälligen Häuseran der Bernstrasse solleneiner Überbauung mitWohnungen weichen.Die Stadt erhofft sichdavon einen «wichtigenImpuls fürs Quartier»,wie Beat Heggli, LeiterImmobilien, betont.Noch in diesem Jahrwerden mit verschiede-nen Baugenossenschaf-ten Gespräche geführt;mit einem Baubeginnrechnet Heggli nichtvor dem Jahr 2012.

**TeufelskreiselWeit über zweihundertSkizzen, Notizen, Zeich-nungen und Illustrati-onen hat der KünstlerChristoph Fischer in sei-nem Buch «Teufelskrei-sel» (Edition Patrick Frey,ISBN 978-3-905509-76-2)zusammengetragen. ImFokus seiner akribischenBetrachtungen stehtdas Geschehen rund umden Kreisel Kreuzstutzzwischen Basel- undBernstrasse – und dasreicht von ganz Alltäg-lichem über Romanti-sches bis hin zu Kuri-osem und Abstrusem.Quasi als Zugabe hatsich Fischer die Mühegemacht, auf einemLeporello jene AnzahlAutos zu zeichnen, dietäglich über den Kreiselfahren – es sind 20’000!www.teufelskreisel.ch

beliebtenLagenichtnurgearbei-tet, sondern auch gelebt. Dannfing der Juckreiz an. Donnertennachts drei Autos in seine Haus-türe, kam die Schlaflosigkeithinzu.Heutewohnt derKünstlerim ruhigeren Brambergviertel.Zum Arbeiten allerdings ziehtes ihn weiterhin jeden Morgenhinunter an seinen «Teufels-kreisel».** «Die Gegend hier, dieeigentlichmehrStrassealsQuar-tier ist, inspiriert ungemein.»Man müsse sich bloss Zeit neh-men, dann erkenne man auchdie schöneren und spannende-ren Seiten der Bernstrasse. DieHühner im Hinterhof etwa. Dieeinst stolzen Häuser. Die Men-schen aus aller Herren Ländern.Multikulti. «Ich freue mich überjede Pflanze, die den Asphaltsprengt.» Fischer senkt die Ka-mera. «Luzern ist nirgendwo sourban wie an der Basel- und derBernstrasse.» An der Fassade ge-genüberprangteinRiesenplakat:«La dolce vita» – das süsse Leben.

Viel Freiraum, wenig GewaltIm Schulhaus Grenzhof er-

tönt das Pausenzeichen. Kinderaus drei Dutzend Nationen strö-men ins Freie. Schulleiterin Mo-nikaPortmann istdesLobes voll:«Wir haben die tollsten Kids hier– und die farbenfroheste Scharder ganzen Stadt.» Sie kennt dieNachteile des Viertels, nervt sichaber, wenn die Bernstrasse bloss

durch die – wie sie sagt – «De-fizitbrille» betrachtet wird. «Esgibt altersgerechte Freizeitan-gebote, Spielplätze, den Wald,insgesamt hats hier mehr Frei-flächen als etwa in der Altstadt.Jugendgewalt? Das ist bei unskein Thema.» Auch Quartierpo-lizist Walter Christen, dessen re-gelmässige Tour beim Grenzhofendet, stellt der Bernstrasse eingutesZeugnisaus. «DieProblemesinddieselben,wiees sieauch inanderen Quartieren gibt. BlossEinbrüche, die gibt es hier weni-ger – wohl, weil es auch wenigerzu stehlen gibt als anderswo.»Anders als an der Baselstrassemit 70 Prozent halte sich der An-teil von Ausländern und Schwei-zernanderBernstrasse (45bis55Prozent) etwa dieWaage.

Leben und leben lassen«Die Bernstrasse ist sicher

viel besser als ihr Ruf. Viel zurBesserung beigetragen hat ganzbestimmt das Quartierentwick-lungsprojekt BaBeL», sagt Chris-ten, macht kehrtum und nimmtdenWeg zurück zum Kreuzstutzin Angriff. Vorbei am Schubi, amBeck Habermacher, am Denner,vorbei an roten Lichtern, amTattoo-Atelier, am Biker-Treff,vorbei an spielenden Kindern,lauten Lastern, keuchendenVelofahrern. Vorbei auch an Ar-mando Oetterli, der eben seineBalkontüre schliesst. «Hier drin

haben schon Politiker gesessen,Künstler und Rechtsanwälte,wir haben diskutiert, gelacht,gegessen und getrunken», sagter und drückt seine Zigarette imAschenbecher aus. An denWän-den hängen Bajonette, Bilder inÖl und Kreide, Fotos von Men-schen. Leben und leben lassen,das sei seinMottounddasjenigeso vieler, die an der Bernstrassezu Hause seien, meint Oetterliund kramt in einem Stapel Pa-pier nach einem Geschenk fürseinenBesuch.EinSelbstporträtsolls sein, Bleistift auf A5, hand-signiert, mit besten Wünschenfür die Zukunft.

Die Zukunft? Sie hält einigeVeränderungen bereit für dieBernstrasse. Mit der Fusionrückt die Durchgangsstrassenächstes Jahr ins Zentrum derStadt Luzern. Auch OetterlisZuhause dürfte früher oderspäter vom Wandel betroffensein. Er tätschelt seinem HunddenKopf. Dann schnauft er auf.«Schräge Vögel wie ich einerbin, die kann man doch nichteinfach ineinesdiesernormier-ten, herausgepützeltenMehrfa-milienhäuserverpflanzen», sagter und wendet sich an seine Ge-fährtin: «Gell du, das ist nichtsfür uns, da gehen wir null Kom-maplötzlich ein!»

Flavian CajacobFreier Journalist

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