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372 reportpsychologie ‹29› 6|2004 Helmut Heyse, Günter Krampen, Gabriel Schui, Margit Vedder Berufliche Belastungen und Belastungs- reaktionen früh- versus alterspensionierter Lehrkräfte in der Retrospektive WOGE

Berufliche Belastungen und Belastungs- reaktionen früh- · 2017. 3. 16. · 372 r eport psychologie ‹29› 6|2004 Helmut Heyse, Günter Krampen, Gabriel Schui, Margit Vedder Berufliche

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■ Nicht nur wegen seiner hohen Anzahl, sondernauch aus demografischen Gründen ist der vorzei-

tige Übergang in den Ruhestand in den letzten Jahrenneben den damit verbundenen persönlichen Problema-tiken zu einem gesellschaftlichen, sozialpolitischen Pro-blem geworden. Dies gilt auch – freilich nicht nur – fürdie Berufsgruppe der Lehrkräfte aller Schultypen. DenGründen dafür wird seit längerem nicht nur in der Pä-dagogischen Psychologie sowie in der Arbeits- und Or-ganisationspsychologie, sondern zunehmend auch inder Klinischen Psychologie (siehe etwa Hillert et al.,1999, 2001) empirisch nachgegangen, wobei stress- und»coping«-theoretische Ansätze aus der psychologischenBelastungs- und Gesundheitsforschung sowie die Kon-zepte des »burnout«, des »mobbing«, zum Teil auchpersönlichkeitspsychologische Konstrukte (wie etwaSelbstwirksamkeits- und Kontrollüberzeugungen) for-schungsleitend sind (vgl. hierzu im Überblick etwa Kör-ner, 2003; Schwarzer & Greenglass, 1999; van Dick,1999; Vandenberghe & Huberman, 1999; Hillert &Schmitz, 2004). Eingebunden ist dies in empirischeAnalysen der beruflichen Belastungen und der daraufbezogenen Bewältigungsversuche, deren Misslingensich am deutlichsten in Frühpensionierungen aufgrundberufsbezogener, chronifizierter Belastungen und Be-rufsunfähigkeit manifestiert. Hervorgehoben sei, dasses sich dabei keineswegs allein um ein nationales Phä-nomen und Problem in der Bundesrepublik Deutsch-land handelt. Entsprechende auf den beruflichen Stressund seine Folgen bei Lehrkräften bezogene empirischeAnalysen sind international weit verbreitet. Darauf ver-weist nicht zuletzt ein Themenheft der Zeitschrift »Psy-chology and Health« (Band 18(4), 2003), in dessen Bei-trägen Befunde zum berufsbedingten Stress und zurGesundheit von Lehrkräften aus Griechenland, Italien,Deutschland, Spanien, Belgien, den Niederlanden,Großbritannien und Finnland vorgelegt werden. Weite-re neuere einschlägige empirische Befunde liegen etwafür Österreich (Buschmann & Gamsjäger, 1999; Gamsjä-ger & Sauer, 1996), Norwegen (Mykletun & Mykletun,1999), die Schweiz (Stöckli, 1999), Finnland (Santavirta,2003) und auch für Deutschland (Schmitz, 2001;Schmitz & Leidl, 1999; van Bür & Squarra, 1998; vanDick & Wagner, 2001; van Dick, Wagner & Petzel, 1999;Weber, 2004) in großer Zahl vor.Die Kriterien dieser empirischen Analysen beruflicherBelastungen von Lehrkräften beziehen sich in aller Re-gel auf Indikatoren ihrer psychischen und psychosoma-tischen Beschwerden, ihres Befindens sowie ihrer Be-rufszufriedenheit, nur selten dagegen auf das »harte«Kriterium der Berufsunfähigkeit und der Frühpensio-nierung. Uns ist lediglich der Beitrag von Schmitz, Hil-lert, Lehr, Pecho und Deibl (2002) bekannt, in dem »un-realistische Ansprüche an den Lehrerberuf« als ein spe-zifischer Risikofaktor der Dienstunfähigkeit von 79Lehrkräften mit psychischen und/oder psychosomati-schen Beschwerden untersucht wurden. Im Vergleichzu einer Stichprobe von 96 berufstätigen Lehrkräftenzeigte sich, dass die dienstunfähigen Lehrkräfte bei Be-rufsbeginn signifikant mehr unrealistische Ansprüchehatten als die berufstätigen. Sie erwarteten beim Start

in den Beruf mehr soziale Anerkennung und stellten er-höhte Leistungsansprüche an die eigene Person. DieVergleichsgruppe war bei Berufsbeginn dagegen selbst-kritischer als die später Dienstunfähigen. Für die mitdem Beruf verbundene Begeisterung fanden sich keinebedeutsamen Gruppenunterschiede. Demnach können überhöhte Leistungsansprüche an dieeigene Person, überhöhte Rollenerwartungen und einereduzierte Bereitschaft zu beruflicher Selbstkritik perso-nale Risikofaktoren der Dienstunfähigkeit von Lehrkräf-ten sein (siehe auch Lehr, 2004). Dies ist konsistent zudem nicht nur, aber gerade auch für Lehrkräfte vonSchaarschmidt und Fischer (1996, 1998; siehe auchSchaarschmidt, Kieschke & Fischer, 1999; Schaarschmidt,2004a und 2004b) empirisch beschriebenen beruflichen»Risikomuster A«, das durch Selbstüberforderungs- undVerausgabungstendenzen sowie Perfektionsstreben imBeruf und mangelnde Distanzierungsfähigkeit gegenüberberuflichen Problemen charakterisiert ist. Immerhin gut40% der berufstätigen Lehrkräfte gehören nachSchaarschmidt und Fischer diesem Risikomuster A an,weitere 32% einem »Risikomuster B« (gekennzeichnetdurch geringes Arbeitsengagement und erhöhte Resig-nationstendenz bei ebenfalls eingeschränkter Distanzie-rungsfähigkeit) und nur mehr 28% der berufstätigenLehrkräfte weisen keine berufsbedingten Gesundheitsri-siken auf, da sie entweder dem »Muster G« (hohe Be-rufszufriedenheit, hohes Erfolgserleben und hohe erleb-te soziale Unterstützung bei mittlerem beruflichem En-gagement) oder dem »Muster S« (mittlere Berufszufrie-denheit bei eher geringer Arbeitsmotivation mit Tenden-zen der »Schonung« im Beruf) angehören.Im Rahmen des Projektes Lehrergesundheit Rheinland-Pfalz (Heyse, 2004) wurde eine umfassende vergleichen-de Querschnittsbefragung früh- und alterspensionierterLehrkräfte in Bezug auf ihre retrospektiven Einschätzun-gen der persönlichen und beruflichen Situation in den(letzten fünf) Jahren vor der Pensionierung durchge-führt. Unter Bezug auf stress- und bewältigungstheore-tische Ansätze stehen dabei Variablen im Vordergrund,die Bezug zu beruflichen Risiko- und Schutzfaktorenvon Frühpensionierungen bei Lehrkräften haben. Aufdie Berücksichtigung persönlichkeitspsychologischerKonzepte (wie etwa Selbstwirksamkeits- und Kontroll-überzeugungen) wurde dagegen explizit verzichtet, dafür sie retrospektive Daten kaum sinnvoll zu erhebensind. Dieser relativ breit gestreute Variablensatz soll hel-fen, spezifische Gruppenmerkmale von Früh- versus Al-terspensionierten zu identifizieren.Dabei wurde auch der Frage nach dem Differenzie-rungswert der von Schaarschmidt und Fischer (1996,1998) vorgelegten berufbezogenen Risiko- und Ge-sundheitstypologie für früh- versus alterspensionierteLehrkräfte nachgegangen. Zusätzlich wird geprüft,welche Unterschiede sich zwischen früh- und alters-pensionierten Lehrkräften in ihren aktuellen psy-chischen und psychosomatischen Beschwerden zei-gen. Hinweise auf mögliche berufsbezogene Risiko-und Schutzfaktoren für Frühpensionierungen werdenüberdies durch Fragen zu weiteren Erinnerungen andie letzten Jahre der Berufstätigkeit erwartet.

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MethodenStichprobenDie Stichprobenrekrutierung erfolgte aus den Datender Schulaufsichtsbehörde Rheinland-Pfalz (Aufsichts-und Dienstleistungsdirektion in Trier). Sie umfasste 726Lehrkräfte, die in der Zeit von 1998 bis 2001 aus Krank-heitsgründen vorzeitig in den Ruhestand versetzt wor-den waren, und die für selben Zeitraum vorhandeneDatei von 206 Alterspensionierten. An den anonymen,in den Jahren 2001 – 2003 durchgeführten Fragebogen-erhebungen1 beteiligten sich 419 der frühpensionierten(Fragebogenrücklauf: 58%) und 129 der alterspensio-nierten Lehrkräfte (Fragebogenrücklauf: 63%)2. Bei denRückläufen der frühpensionierten Lehrkräfte gaben 32Personen an, aufgrund von schweren Unfällen undakuten körperlichen Erkrankungen vorzeitig in den Ru-hestand versetzt worden zu sein; weitere vier habendie Teilnahme ausdrücklich mit der Begründung ver-weigert, dass die Fragen sie zu sehr an ihre Dienstzeiterinnerten und sie dies psychisch nicht ertragen könn-ten. Diese Untergruppe (8,6%) wird aus den folgendenAnalysen ausgeschlossen. Auch bei den Alterspensio-nären konnten 10 Rückläufe nicht berücksichtigt wer-den. Die folgenden Analysen beruhen demnach aufden Angaben von 383 frühpensionierten Lehrerinnenund Lehrern (179 Lehrerinnen und 201 Lehrer; 3 ohneAngabe des Geschlechtes) und 119 alterspensioniertenLehrkräften (33 Lehrerinnen und 85 Lehrer; 1 ohne An-gabe des Geschlechtes). Für beide Gruppen entspricht die Verteilung der Rück-läufe nach den Schularten, an denen unterrichtet wor-den war, und in etwa auch nach dem Geschlecht denim Bundesland gegebenen Verhältnissen. Tabelle 1 gibteinen Überblick.Die Alterspensionierten erreichten nach durchschnitt-lich 35,8 Dienstjahren (SD = 5.2) mit 64 bzw. 65 Jah-ren den regulären Altersruhestand. Die Frühpensio-nierten wurden im Durchschnitt im Alter von 58,1 Jah-

ren (SD = 3,6) nach 32,7 Dienstjahren (SD = 5,0) in denRuhestand versetzt, haben somit bei einer durch-schnittlich sechs bis sieben Jahre vorgezogenen Pen-sionierung eine durchschnittlich um nur drei Jahre kür-zere Dienstzeit als die Alterspensionierten.

ErhebungsinstrumenteVerwendet wurde ein auf die spezielle Situation pen-sionierter Lehrkräfte bezogener Fragebogen (der kos-tenfrei beim Erstautor angefordert werden kann), indem unter anderem Daten zu den folgenden Varia-blen(-gruppen) erhoben wurden:1) Soziodemographische Angaben (wie Geschlecht,Ruhestandsalter, Familienstand);2) Angaben zur beruflichen Biographie (Dienstjahre inVollzeit- und Teilzeitarbeit; Beurlaubungen; Zusatz-qualifikationen; Anzahl der Schulen und Schultypen,an denen unterrichtet wurde; Unterrichtsfächer; schu-lische Funktionen, Tätigkeiten in extracurricularen Be-reichen etc.);3) Entwicklung der Beschwerden, deretwegen dieFrühpensionierung erfolgte (nur bei den Frühpensio-nären); 4) subjektive Belastung durch psychische und psycho-somatische Beschwerden zum Erhebungszeitpunkt. Siewurde mit einer 48 Items umfassenden, standardisier-ten Symptomliste (AT-SYM; Krampen, 1991) erfasst, dieneben einem Gesamtpunktwert für die Problembelas-tetheit und Beschwerden (interne Konsistenz nachCronbachs Alpha: α = .95) Auswertungen nach denSubskalen der (a) körperlichen und psychischen Er-schöpfung, (b) Nervosität und inneren Anspannung,(c) psychophysiologischen Dysregulationen, (d) Leis-tungs- und Verhaltensschwierigkeiten, (e) Schmerzbe-lastungen und (f) Probleme in der Selbstbestimmungund -kontrolle gestattet;5) für den Zeitpunkt der Pensionierung erinnerte sub-jektive Belastungen durch psychische und psychoso-matische Beschwerden (mit derselben standardisiertenSymptomliste wie für den aktuellen Zeitpunkt (AT-SYM; α = .96)); 6) Arbeitsverhalten und -erleben: Anhand von jeweilseinem Markier-Item wurden auf sechsstufigen Ant-wortskalen die elf Subskalen des Inventars zum »Ar-beitsbezogenen Verhaltens- und Erlebensmuster«(AVEM; Schaarschmidt & Fischer, 1996) für die aktiveDienstzeit operationalisiert. Sie beziehen sich auf (a)die subjektive Bedeutsamkeit der Arbeit, (b) den be-ruflichen Ehrgeiz, (c) die Verausgabungsbereitschaft,(d) das Perfektionsstreben, (e) die Fähigkeit zur Distan-zierung von beruflichen Problemen, (f) die Resignati-onstendenz, (g) die offensive Problembewältigung, (h)die Ausgeglichenheit, (i) das Erfolgserleben, (j) die Le-benszufriedenheit und (k) das Erleben sozialer Unter-stützung;7) für die letzten fünf Berufsjahre erinnerte tätigkeits-spezifische Anforderungen, und zwar über 23 Itemswie z.B. Belastung versus Befriedigung durch Fachun-terricht, Klassenleitung, Schulleitung, kollegiale Ko-operation, Schulfahrten, Wandertage, Unterrichtsvor-bereitung etc.( α = .86);

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Schularten undGeschlechtAngaben in %

Alterspensionäre Frühpensionäre

Stichprobe 1999 - 2001N=117

Grund-gesamtheit 2001N=166

Stichprobe1998 - 2001N=382

Grundgesamtheit2001N=313

Grund- undHauptschulen1 28 27 54 53

BerufsbildendeSchulen 20 18 14 10

Gymnasien 33 34 17 15

Sonderschule 4 8 4 7

Realschulen 13 11 10 10

KooperativeSchulen 1 2 0,5 5

Sonstige, Seminare 0,3 1 0,3 0

männlich 72 71 53 38

weiblich 28 29 47 62

Tab. 1: Vergleich der Untersuchungsstichproben mit der Grundgesamtheit der früh- und alterspensionierten Lehrkräfte im Jahre 2001 in Rheinland-Pfalz

1 Der Fragebogen warzuvor an 50 frühpen-sionierten Lehrkräftenauf seine Verwendbar-keit geprüft worden.

2 Eine Analyse derRücksende- bzw. Ver-weigerungsmotivationwäre interessant, konn-te aber nicht vorge-nommen werden.

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8) Ausmaß des für die letzten fünf Dienstjahre erinner-ten beruflichen Stress. Dies wurde mit jeweils sechs-stufigem Antwortformat bzw. als Auswahlantwort er-fragt durch

a) 13 Items zu allgemeinen Arbeitsbedingun-gen (mangelnde Transparenz von Regelungen und Ent-scheidungen, Konflikte im Kollegium, mangelnderRückhalt durch Schulleitung, Einengung durch Lehr-pläne, Vertretungseinsatz, »mobbing« etc.);

b) 9 Items zum Verhalten von Schülern/innen(wie mangelnde Lernbereitschaft, Respektlosigkeit,Rücksichtslosigkeit, Unruhe, Aggressivität etc.; α =.81);

c) 7 Items zu Verhalten und Einstellungen derElternschaft (wie deren Gleichgültigkeit, Kritik an derSchule, Aggressivität etc.; α = .76);9) erinnerte Stresssymptome und Stressreaktionen inder Dienstzeit: Dazu wurden neun Items vorgegeben,die sowohl palliative (wie Ärger, Selbstvorwürfe, Baga-tellisieren) als auch problemzentrierte Verarbeitungs-strategien abbilden (wie aktive Problemlösung, Refle-xion und Neubewertung der Situation);10) für die letzten fünf Dienstjahre erinnerte persönli-che Bedeutung und Wichtigkeit von Arbeitsbereichen(Unterricht, extracurriculare Arbeit mit Schülern/in-nen, kollegiale Kooperation, Elternarbeit, Außendar-stellung der Schule etc.; α = .83) sowie die emotiona-len Bewertungen von Arbeitsbereichen ( α = .78) überjeweils zehn Items; 11) in den letzten Dienstjahren erlebte Unterstützungdurch unterschiedliche Bezugsgruppen bzw. -personen(Schüler/innen, Kollegen/innen, Schulleitung, Schul-aufsicht, Schulpsychologen/innen, Elternschaft, Famili-enangehörige etc.; neun Items; α = .75); 12) Häufigkeit der Teilnahme an Fortbildungsveranstal-tungen und deren Themenbereiche.

ErgebnisseBefindlichkeit und Belastung durch Beschwerden Für ihre Dienstzeit erinnern die Frühpensionierten sig-nifikant stärkere Stress-Symptome als die Alterspen-sionierten (Kanonische Korrelation der Diskriminanz-funktion: Rc = . 40; p < .01), z. B. vegetative Störun-gen (66% der Frühpensionierten versus 35% der Al-terspensionierten), Nacken-Schulter-Rückenschmer-zen (58% versus 28%), Verspannungen (29% versus6%) (Abbildung 1).Anhand der mit der standardisierten Symptomliste fürden Pensionierungszeitpunkt erfassten psychischenund psychosomatischen Beschwerden kann dies bestä-tigt werden. Durch die entsprechende Diskriminanz-funktion (Rc = .54; p < .01) werden a posteriori 74%der Stichprobe korrekt den Gruppen der Früh- versusAlterspensionierten zugeordnet. Die höchsten diskri-minanzanalytischen Gewichte weisen dabei Symptomeaus den Bereichen der psychischen und körperlichenErschöpfung, der psychophysiologischen Dysregulatio-nen sowie der Schmerzbelastungen auf, die von denFrühpensionierten als für den Pensionierungszeitpunktstärker ausgeprägt erinnert werden als von den Alters-pensionierten.

Ein analoger, jedoch quantitativ abgeschwächterGruppenunterschied zwischen den früh- und alters-pensionierten Lehrkräften zeigt sich für die Belastungdurch Beschwerden zum Erhebungszeitpunkt. Anhandder resultierenden Diskriminanzfunktion können nurmehr 68% der Stichprobe a posteriori der korrektenGruppe zugeordnet werden (Rc = .34; p < .01). Dies istprimär wohl dadurch begründet, dass sich der für denPensionierungszeitpunkt von den Frühpensioniertenangegebene sehr hohe Wert für die psychische undkörperliche Erschöpfung (T = 68 unter Bezug auf dieNormierungsstichprobe) zum Erhebungszeitpunkt nor-malisiert hat und im Vergleich zur Normierungsstich-probe mit T = 48 leicht unterdurchschnittlich ist. Auchfür die Alterspensionierten zeigt sich eine Reduktionder subjektiven psychischen und körperlichen Er-schöpfung, dessen retrospektiv erfasstes Ausgangsni-veau aber bei T = 50 (also im exakten Durchschnitt derNormierungsstichprobe) und zum Erhebungszeitpunktbei T = 41 (also deutlich niedriger) liegt. Die mit derPensionierung verbundene Reduktion in diesem zen-tralen Belastungsbereich beträgt bei den Alterspensio-nierten somit knapp 10 T-Wertpunkte, bei den Früh-pensionierten dagegen 20 T-Wert-Punkte (Tabelle 2).

Belastungsreaktionen: Erinnerter Umgangmit Belastungen im Beruf Deutliche und statistisch signifikante Zusammenhängezwischen erinnerten Belastungsreaktionen und der Zu-gehörigkeit zur Gruppe der Früh- versus Alterspensio-nierten zeigen sich für sechs der neun erfragten »co-ping«-Strategien. Für eher körperorientierte Versucheder Belastungsbewältigung (durch körperliche Aktivi-tät, Essen und Trinken sowie Schlafen und Entspan-nen; Chi2 < 0,98) liegen keine bedeutsamen Gruppen-unterschiede vor. Die Frühpensionierten erinnern aber

Tab. 2: Einschätzung der psychischen und körperlichen Erschöpfung

Gruppe zum Pensionie-rungszeitpunkt

zum Erhebungs-zeitpunkt

Frühpensionierte T = 68 T = 48

Alterspensionierte T = 50 T = 41

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vegetative Störungen

Nacken-Schulter-Rücken-Schmerzen

Angst, Aggression, Gereiztheit, Nervosität, Unruhe

Müdigkeit/Zerschlagenheit

Verspannungen, Muskelzucken, Krämpfe

Leistungsstörungen, Tagträumen, Zerfahrenheit, Vergesslichkeit

■ FP N = 379■ AP N = 118

Abb. 1: Vergleich

frühpensionierter und

alterspensionierter

Lehrkräfte in Bezug auf

Stresssymptome

«Wie haben sich Stress und

Belastungen bei Ihnen

gewöhnlich bemerkbar

gemacht?«

(* p < .05 und ** p < .01.)

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signifikant häufiger palliativ ausgerichtete Belastungs-reaktionen wie Ärger, Wut und Angst (50% der Früh-pensionierten versus 29% der Alterspensionierten; Chi2

= 16,16; p < .01), Selbstvorwürfe (23% versus 7%; Chi2 =15,46; p < .01), Bagatellisieren und Verdrängen (19%versus 9%; Chi2 = 6,81; p < .01) sowie die Suche nachsozialer Unterstützung (33% versus 21%; Chi2 = 5,31; p< .05). Dem entgegen liegt der Schwerpunkt der erin-nerten Belastungsreaktionen bei den Alterspensionier-ten auf Versuchen der aktiven Problemlösung (62% derAlterspensionierten versus 39% der Frühpensionier-ten; Chi2 = 20,09; p < .01) sowie der Reflexion und

Neubewertung der Stress-Situation (58% versus 40%;Chi2 = 11,35; p < .01) (Abbildung 2)Erinnerte Beanspruchungsmuster im Beruf: Risiko- und GesundheitstypenMithilfe der elf Markier-Items, die in enger Anlehnungan die elf Skalen des Inventars zum »ArbeitsbezogenenVerhaltens- und Erlebensmuster« (AVEM; Schaarsch-midt & Fischer, 1996, 1998) spezifisch für die Lehrertä-tigkeit formuliert wurden, wurden alle Befragten nachdem Kriterium »Mittelwert ± 1 Standardabweichung«anhand ihrer individuellen Item-Beantwortungen denGruppen der stark dem Item Zustimmenden (= hoch),der stark das Item Ablehnenden (= niedrig) und derdem Item im mittleren Ausmaß zustimmenden Perso-nen (= mittel) zugeordnet. Die individuellen Zuwei-sungen zu den AVEM-Mustern erfolgte nach den vonSchaarschmidt und Fischer (1996) beschriebenen spe-zifischen Dimensionen und ihren spezifischen Ausprä-gungen. Für die Profilzuordnung wurden nur Dimen-sionen mit niedriger oder hoher Ausprägung berück-sichtigt. Nach diesem Verfahren ließen sich 85% derStichprobe einem der vier Risiko- und Gesundheits-muster eindeutig zuordnen.«Risikomuster A« (gekennzeichnet durch Selbstüber-forderungs- und Verausgabungstendenzen sowie Per-fektionsstreben im Beruf und mangelnde Distanzie-rungsfähigkeit gegenüber beruflichen Problemen) istin der Gruppe der Frühpensionierten mit 43% gegen-über 29% in der Gruppe der Alterspensionierten signi-fikant überrepräsentiert (Chi2 = 5,86; p < .05). Für das

»Risikomuster B« (gekennzeichnet durch geringes Ar-beitsengagement und erhöhte Resignationstendenzbei ebenfalls eingeschränkter Distanzierungsfähigkeit)finden sich keine Zusammenhänge mit der Gruppen-zugehörigkeit (Chi2 = 0,61; 29% der Früh- und 25% derAlterspensionierten). Dies gilt auch für die »Gesund-heitsbewussten«, Muster G (gekennzeichnet durch eingesundheitsdienliches Verhalten, hohe Berufszufrie-denheit, hohes Erfolgserleben und hohe soziale Unter-stützung bei mittlerem beruflichem Engagement), dem12% der Früh- und 16% der Alterspensionierten ange-hören (Chi2 = 1,31). Für das »Muster S«, das durch einemittlere Berufszufriedenheit bei eher geringer Arbeits-motivation und Tendenzen der »Schonung« im Berufcharakterisiert ist, findet sich dagegen eine signifikan-te Überrepräsentation der Alterspensionierten (30%)

im Vergleich zu den Frühpensionierten mit 12% (Chi2 =8,60; p < .01) (Abbildung 3).

Risiko- und Schutzfaktoren der Frühpensionierung in der RetrospektiveWeder für die Häufigkeit der Teilnahme an beruflichenFortbildungsmaßnahmen (Chi2 = 3,98) noch für diedurch Bezugspersonen und -gruppen erinnerte sozialeUnterstützung (Rc = 0.01), die als potentielle Schutz-faktoren der Entwicklung chronifizierter Belastungs-störungen und der Dienstunfähigkeit erfasst wurden,konnten statistisch bedeutsame Zusammenhänge mitder Zugehörigkeit zur Gruppe der Früh- versus Alters-pensionierten ermittelt werden. Lediglich bei den In-halten der Fortbildungsmaßnahmen zeigen sich einigesignifikante Gruppenunterschiede: Frühpensioniertehaben im Vergleich zu Alterspensionierten vermehrtan fachspezifischen Fortbildungsmaßnahmen (91%versus 84%; Chi2 = 5,21; p < .05) und an solchen zu psy-

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Abb. 2: Coping-Strategienvon frühpensionierten

und alterspensionierten Lehrkräften

(* p < .05 und ** p < .01. )

FP % AP %

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70

80

90

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0

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17

30

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16

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Abb. 3: Vergleich Frühpensionierung und Alterspensionierung in Bezug auf das Arbeitsverhalten-und -erleben (* p < .05 und ** p < .01.)

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chologischen Themen teilgenommen, die den Umgangmit Schülerinnen und Schülern betrafen (61% versus47%; Chi2 = 6,60; p < .01). In beiden Gruppen habenüberwiegend Lehrerinnen derartige psychologischeFortbildungen besucht (Frühpensionäre: m 50%, w72%; Alterspensionäre: m 39%, w 70%). Für die Fort-bildung in Bereichen der Allgemeinen Pädagogik, Ge-sellschaftspolitik und psychologischer Themen, die diePerson des Lehrers selbst betreffen (etwa zum Zeitma-nagement o.ä.), existieren dagegen keine signifikantenZusammenhänge mit der Gruppenzugehörigkeit (Chi2 <1,69).Ganz anders ist die Befundlage bei den Risikofaktorender erinnerten beruflichen Belastungen: Sowohl die für23 Bereiche erfragten tätigkeitsspezifischen Anforde-rungen (Rc = .16; p < .01) als auch allgemeine Arbeits-bedingungen (Rc = .16; p < .01), das Verhalten vonSchülern und Schülerinnen (Rc = .17; p < .01) sowie be-stimmte Verhaltensweisen und Einstellungen in der El-ternschaft (Rc = .17; p < .01) werden von den Frühpen-sionierten für die letzten fünf Dienstjahre als stärkerbelastend erinnert als von den Alterspensionierten.Dies ist konsistent mit negativeren Bewertungen dereigenen Berufstätigkeit (Rc = .21; p < .01) in den letz-ten fünf Dienstjahren durch die Frühpensionierten. Fürdie retrospektiven Einschätzungen der Bedeutung undWichtigkeit der Tätigkeitsbereiche zeigen sich dagegenkeine signifikanten Unterschiede zwischen früh- undalterspensionierten Lehrkräften (Rc = .07).Im Zusammenhang mit den Gruppenunterschiedenzwischen den früh- und den alterspensionierten Lehr-kräften in den Stress-Symptomen sowie der psy-chischen und psychosomatischen Beschwerdenbelas-tung (siehe oben) ist der relative Diskriminationswertdieser Risikofaktoren aber vergleichsweise gering. Dieszeigen die Befunde einer Diskriminanzanalyse, in diealle intervallskalierten Erhebungsvariablen eingegan-gen sind (siehe Tabelle 3). Der Prozentsatz der anhandder Diskriminanzfunktion a posteriori korrekt klassifi-zierten Personen übersteigt mit knapp 75% nur mini-mal den von 74%, der alleine durch die Beschwerden-belastung erreicht wird, die für den Pensionierungs-zeitpunkt erinnert wird (siehe oben). Für diesen sehrgeringen Zuwachs der Diskriminationsstärke sind zu-dem alleine die für den Pensionierungszeitpunkt erin-nerten Stress-Symptome und die zum Erhebungszeit-punkt gegebene Beschwerdenbelastung verantwort-lich. Der zusätzliche Diskriminationswert aller erhobe-nen Risiko- und Schutzfaktoren für die Unterscheidungvon frühpensionierten und alterspensionierten Lehr-kräften bleibt im Kontext dieser symptomatischen Va-riablen also sehr gering (siehe Tabelle 3).

DiskussionAnhand retrospektiver Einschätzungen früh- und alters-pensionierter Lehrkräfte konnten die starken, massiv er-höhten subjektiven psychischen und psychosomati-schen Belastungen von Lehrern und Lehrerinnen belegtwerden, die vorzeitig in den Ruhestand versetzt wur-den.3 Nach der Frühpensionierung zeigen sich Verbesse-rungen des subjektiven Gesundheitsstatus, die aller-

dings auch dann noch von dem Gesundheitsstatus deralterspensionierten Lehrkräfte deutlich abweichen. Dieskann bei den Frühpensionierten in Einklang mit ihrenerhöhten beruflichen Selbstüberforderungs- und Ver-ausgabungstendenzen sowie einem erhöhten Perfekti-onsstreben bei mangelnder Distanzierungsfähigkeit ge-genüber beruflichen Problemen gebracht werden (Risi-komuster A nach Schaarschmidt & Fischer, 1996, 1998).Im Vergleich zu den alterspensionierten Lehrkräften istbei den frühpensionierten weder die Kombination vongeringem Arbeitsengagement und erhöhter Resignati-on noch die von mittlerem beruflichem Engagementund hoher Berufszufriedenheit häufiger zu beobach-ten. Dagegen ist bei den Frühpensionierten seltenerals bei den Alterspensionierten das berufliche »Scho-nungs-Muster S« (nach Schaarschmidt & Fischer, 1996)vertreten, das dem massenmedialen Stereotyp der we-nig motivierten Lehrkraft entspricht. Immerhin 30%der Alterspensionierten sind nach unseren Befundendiesem Typus zuzurechnen. Der Befund, dass die Frühpensionierten zwar imDurchschnitt sechs bis sieben Jahre vor Erreichen derüblichen Altersgrenze in den Ruhestand versetzt wur-den, dabei aber im Durchschnitt lediglich eine um drei

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Tabelle 3: Diskriminanzanalyse für die Stichproben der früh- versus alters-pensionierten Lehrkräfte anhand aller erhobenen Skalen

frühpensionierte .Lehrkräfte .

alterspensionierte Lehrkräfte

Skala M SD M SD rDiska

Beschwerdenbelastung zumErhebungszeitpunkt

51,31 10,0 43,16 8,57 .53

Beschwerdenbelastung zumPensionierungszeitpunkt

64,59 11,05 47,91#9,91

.97

Stress-Symptome zumPensionierungszeitpunkt

3,06 1,49 1,57 1,02 .67

Berufliche Anforderungenden letzten fünf Dienstjah(Skala negativ gepolt!)

3,96 ,64 4,25 ,70 .28

Beruflicher Stress durchArbeitsbedingungen

4,34 2,32 3,44 2,30 .24

Beruflicher Stress durchSchüler/Schülerinnen

4,69 ,87 4,35 ,83 .25

Beruflicher Stress durchElternschaft

4,30 1,0 3,86 1,0 .27

Subjektive Bedeutung undWichtigkeit der Arbeit

4,65 ,71 4,76 ,66 .09

Emotionale Bewertung derArbeit

3,75 ,72 4,14 ,70 .34

Erlebte soziale Unterstützung

3,41 ,79 3,47 ,88 .05

Kanonische Korrelation (Rc) .57**

Wilk’s lamba (γ) .67

Chi2 177.90**

Korrekte Klassifikationen (%) 74.89

**p < .01

a rDisk = Korrelation der Variable mit der Diskriminanzfunktion.

3 Dem Einwand, dassdie retrospektivenEinschätzungen ihrerBelastungssituationdurch nachträglicheRechtfertigungen ihrerFrühpensionierungverzerrt sein könnten,wäre an anderer Stellenachzugehen; er kannhier nicht widerlegtwerden. Es standjedoch für unsereErhebung nur dieMethode der Selbst-einschätzung zurVerfügung. Auch ist zuberücksichtigen, dassBelastungen subjektivempfunden werdenund zu individuellunterschiedlicherpsychischerBeanspruchung führen(Deutsches Institut fürNormung).

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Jahre kürzere Dienstzeit aufweisen als die Alterspen-sionierten, kann plausibel nur dadurch erklärt werden,dass die Alterspensionierten im Durchschnitt später inden Beruf eingetreten sind. In der Tat kommen 53%der Alterspensionäre in der Stichprobe aus Gymnasienund Berufsbildenden Schulen, wohingegen dieseSchularten bei den Frühpensionären nur 31% ausma-chen. Dies entspricht den Anteilen dieser Schulartenan den Alters- und Frühpensionierten in der Ruhe-standsstatistik für die Jahre 2000 und 2001. Es belegtdas erhöhte Risiko für Lehrerinnen und Lehrer insbe-sondere an Grund-, Hauptschulen vorzeitig in den Ru-hestand versetzt zu werden. Der impliziten Konfundie-rung von Pensionierungszeitpunkt, Dauer der Dienst-zeit und Schultyp sowie ihrer Bedeutung für die vonden pensionierten Lehrkräften erinnerten beruflichenBelastungen, kann anhand des vorliegenden Datensat-zes aufgrund von Stichprobenbeschränkungen empi-risch leider nicht weiter nachgegangen werden.Gegenüber den psychischen und psychosomatischenBeschwerden sowie den Stress-Symptomen, die fürden Pensionierungszeitpunkt erinnert werden, verfü-gen alle hier (freilich retrospektiv) erfassten Risikofak-toren der subjektiven beruflichen Anforderungen unddes beruflichen Stress über eine relativ geringe Diskri-minationsfähigkeit für die Gruppen der Früh- versusAlterspensionierten. Anhand der Einschätzungen fürjeden Risikobereich kann zwar statistisch signifikantzwischen den beiden Gruppen unterschieden werden,die praktische Signifikanz (d.h., die Quoten korrekterGruppenzuordnungen anhand der Diskriminanzfunk-tionen) bleibt aber vergleichsweise gering und steigtunter Bezug auf den gesamten Variablensatz erst durchdie Einschätzungen der für den Pensionierungszeit-punkt erinnerten und auch der aktuellen Beschwer-denbelastungen markant an.Frühpensionierte Lehrkräfte erinnern somit für ihreletzten Dienstjahre zwar mehr beruflichen Stress, hö-here berufliche Anforderungen und negativere Bewer-tungen ihrer Arbeit als die alterspensionierten, die Un-terschiede zwischen beiden Gruppen in diesen Risiko-faktoren sind aber im Vergleich zu den erinnerten undaktuellen Symptombelastungen relativ gering. Dies giltauch für die hier erfassten potenziellen Schutzfaktorender erinnerten sozialen Unterstützung und der Häufig-keit der Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen, an-hand derer keine statistisch bedeutsame Gruppenun-terscheidungen gelungen sind. Lediglich bei den The-men der absolvierten Fortbildungen zeigen sich Grup-penunterschiede darin, dass die Frühpensioniertenhäufiger als die Alterspensionierten Veranstaltungenzu fachspezifischen Themen und zu Lehrer-Schüler-In-teraktionen besucht haben. Dies mag auf den erstenBlick erstaunen, kann aber hypothetisch als Indikatorihres erhöhten beruflichen Engagements und Bemü-hens um eine Erweiterung ihrer Kompetenzen zur Pro-blembewältigung interpretiert werden – vielleicht,weil sie ihre eigene Verantwortung an den Problemenund ihrer Lösung höher einschätzen als die alterspen-sionierten Lehrkräfte. In diese Richtung können auchdie deutlichen Gruppenunterschiede in den erinnerten

Belastungsreaktionen verstanden werden: Frühpensio-nierte reagieren im Vergleich zu den Alterspensionier-ten verstärkt palliativ mit negativen Emotionen (wieWut, Ärger und Angst), Selbstvorwürfen, Bagatellisie-rungen und der Suche nach sozialer Unterstützung,seltener mit Versuchen der aktiven Problembewälti-gung sowie Reflexion und Neubewertung von Stress-Situationen. Hier mag neben »Screening«-Untersu-chungen mithilfe standardisierter Verfahren zur Erhe-bung der psychischen und psychosomatischen Be-schwerdenbelastung (Symptomfragebogen) und des»Burnout«-Risikos der entscheidende Ansatzpunkt fürprimär-präventive Bemühungen bei Lehrkräften lie-gen. Reflexionen akuter und chronifizierter beruflicherBelastungen sowie der darauf bezogenen Stressreak-tionen im Rahmen der Supervision und des »Coa-ching« von Lehrkräften (siehe hierzu etwa Kret-schmann, 1997, 2000; Schneider, 1996) können beizei-ten dazu beitragen, Symptomchronifizierungen unddamit einer drohenden Berufsunfähigkeit vorzubeu-gen. Der Befund, dass bei der Hälfte der stationär ineiner Fachklinik wegen psychosomatischer Erkrankun-gen behandelten Lehrkräfte der Wunsch nach einerFrühpensionierung im Vordergrund steht und berufs-bezogenen therapeutischen Ansätzen Grenzen setzt(siehe hierzu Hillert et al., 1999; Hillert und Schmitz,2004), verweist darauf, dass sekundär- und tertiär-prä-ventive Maßnahmen allzu häufig scheitern und Früh-pensionierungen beruflich engagierter und motivierterLehrkräfte die Folge sind.

Unter Bezug auf Stress- und »Coping«-theoretischeAnsätze werden die Beschwerden und die für die letz-ten Dienstjahre erinnerten beruflichen Anforderungen,Einstellungen, Belastungsfaktoren und Stressreaktio-nen von früh- versus alterspensionierten Lehrkräftenein Jahr bis vier Jahre nach der Pensionierung empi-risch analysiert. An Fragebogenerhebungen beteiligtensich 419 frühpensionierte (Fragebogenrücklauf: 58%;auswertbar 383) und 129 alterspensionierte Lehrkräfte(Fragebogenrücklauf: 63%; auswertbar 119). Signifikan-te Gruppenunterschiede zeigen sich in der für denPensionierungszeitpunkt erinnerten und in der aktuel-len Belastung durch Beschwerden zu Ungunsten derFrühpensionierten. Sie erinnern darüber hinaus für dieletzten fünf Dienstjahre stärkere Stress-Symptome, hö-here und belastendere berufliche Anforderungen, stär-keren beruflichen Stress durch allgemeine Arbeitsbe-dingungen, Schülerverhalten und Elternschaft sowieeine negativere Bewertung der eigenen Berufstätigkeitals die Alterspensionierten. Keine bedeutsamen Grup-penunterschiede konnten dagegen für die erinnertesoziale Unterstützung sowie die subjektive Bedeutungund Wichtigkeit der Arbeit festgestellt werden. DieBefunde einer multiplen Diskriminanzanalyse belegen,dass die für den Pensionierungszeitpunkt erinnertenBeschwerden im Kontrast zu allen erhobenen poten-ziellen Risiko- und Schutzfaktoren den höchsten Dis-kriminationswert für die Unterscheidung der früh- und

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alterspensionierten Lehrkräfte haben. Darüber hinausist ein dem Konzept des Arbeitsverhaltens- und -erle-bens von Schaarschmidt und Fischer (1996) entspre-chender beruflicher Risikotyp (Muster A) bei den Früh-pensionierten im Vergleich zu den Alterspensioniertensignifikant über- und ein beruflicher »Schonungs-Typ«(Muster »S«) signifikant unterrepräsentiert. Von denFrühpensionierten werden ferner verstärkt palliativausgerichtete Stressreaktionen erinnert, wogegen Al-terspensionierte häufiger Versuche der aktiven Pro-blembewältigung und der Neubewertung von berufli-chen Belastungssituationen angeben. Die Ergebnisseweisen auf die Bedeutung individueller und institutio-neller primär-präventiver Maßnahmen, um vorzeitigeBerufsunfähigkeit und Frühpensionierungen bei beruf-lich engagierten und motivierten Lehrkräften zu ver-

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