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Solhdju · Vedder (Hg.) Das Leben vom Tode her

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TRAJEKTE

Eine Reihe des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin

Herausgegeben von

Sigrid Weigel und Karlheinz Barck (†)

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Katrin Solhdju · Ulrike Vedder (Hg.)

Das Leben vom Tode her

Zur Kulturgeschichte einer Grenzziehung

Wilhelm Fink

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Die Drucklegung dieses Bandes wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UG1412 gefördert.

Umschlagabbildung: Hugo Simberg, Th e Garden of Death, 1896,

watercolour and gouache on paper, glued on etchingspaper, 15,8 x 17,5 cm, Ateneum Art Museum, Finnish National Gallery/Jouko Könönen

Bibliografi sche Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über

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und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und

andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

© 2015 Wilhelm Fink, Paderborn(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fi nk.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany.

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-5746-2

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Inhaltsverzeichnis

KATRIN SOLHDJU, ULRIKE VEDDER

Das Leben vom Tode her. Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

SAMUEL WEBER

Eine andere Aufteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

SIGRID WEIGEL

Jenseits des Todestriebs. Freuds Lebenswissenschaft an der Schwelle von Natur- und Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

NITZAN LEBOVIC

Lebensphilosophie und deutsch-jüdische Biopolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

FALKO SCHMIEDER

Leben jenseits des Lebens. Die Transformation der Beziehung von Leben und Tod durch den Nationalsozialismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

DANIEL WEIDNER

Bis heute kennt niemand sein Grab. Moses’ Tod und sein Nachleben . . . . . . 77

KRISTIN MAREK

Das Bild vom Tod her gedacht. Erneut zu Hans Holbeins d. J. Christus im Grabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

TATJANA PETZER

Auferweckung als Programm. Entgrenzungen des Lebendigen in der russischen Moderne . . . . . . . . . . . . . . 117

CORNELIUS REIBER

Natürliche Auferstehungen. Wiederbelebung unter dem Mikroskop . . . . . . . 139

KERSTIN PALM

Jenseits von Leben und Tod – Geschlechterimaginationen biologischer Lebensbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . 151

KATRIN SOLHDJU

Konzepte des Lebendigen und Kulturen des Interesses.Von einer Physiologie der Organe zur Transplantationsmedizin. . . . . . . . . . . 163

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6 INHALTSVERZEICHNIS

HENRI ATLAN

Lebendig und nichtlebendig versus Leben und Tod. Biologische und ethische Perspektiven – Ein Vortrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Dieser Mantel wird als Patchwork gewoben. Ein Gespräch mit dem Palliativmediziner Günther Spahn . . . . . . . . . . . . . . 193

Zu den Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

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KATRIN SOLHDJU, ULRIKE VEDDER

Das Leben vom Tode her.

Zur Einleitung

Grenzverläufe: Das Leblose, das Lebendige

Stein ist ein totes Ding und steinern der Tod. Kann dasselbe Ding dann nicht zuvor lebendig gewesen sein, gar der Tod nicht steinern? Das Gespräch zwischen d’Alembert und Diderot (1769), das in Diderots Schriften dem berühmter gewordenen Traum d’Alemberts vorausgeht, beginnt mit einer Diskussion über die Verteilung des Emp-fi ndungsvermögens in der Materie. Die eine Figur namens Diderot schlägt vor: „wenn es eine allgemeine und wesenhafte Eigenschaft der Materie ist, dann muß der Stein empfi nden.“ Der anderen Figur namens d’Alembert hat Diderot die Rolle des Skeptikers und radikalen Physikalisten zugewiesen, dem es schwerfällt, „das zu glau-ben“. „Ja“, meint daraufhin Diderot, für denjenigen, der den Stein „schneidet, be-haut, zermahlt und ihn nicht schreien hört“1, sei es natürlich unmöglich, sich den Stein als empfi ndendes Wesen vorzustellen, basiert doch seine Praxis auf der An-nahme, es handele sich bei Steinen nicht um lebendige, sondern um leblose Mate-rie. Diderot scheint hier also zunächst zu behaupten, dass wir die Steine nicht schreien hören, weil andere Prioritäten uns zu sehr in Anspruch nehmen, um ihnen die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, und dass wir sie demnach als unbelebt einstufen, weil wir ihre Perspektive sowie ihre Ausdrucksformen ignorieren.

Allerdings geht es Diderot mit seiner herausfordernden Rede nicht vorrangig um die Frage, ob Marmor wirklich ein lebendiges Wesen sei, das empfi ndet, schreit oder spricht; sein Argument ist zumindest nicht primär ein animistisches. Vielmehr lässt sich seine Behauptung – wer den Stein bearbeite, höre ihn nicht schreien – auch als eine kritische Befragung der sich zeitgenössisch institutionalisierenden Normierung dessen lesen, was in der Moderne unter einer wissenschaftlichen Haltung zu verste-hen ist: eine kühle Neutralität des Forschers, die es der Natur ermöglichen soll, für sich selbst zu sprechen; eine unparteiische Beurteilung, die der Natur die Gelegen-heit gibt, auf genau die Fragen zu antworten, die der Experimentator ihr stellt. Die wissenschaftliche Perspektive beginnt mit einer objektivierenden Distanz zum Ge-genstand. Die Wissenschaften nehmen vieles nicht wahr, ließe sich demnach mit Diderot sagen, weil ihre eingeübten Imaginationen, theoretischen Annahmen und begriffl ichen Konstruktionen über die Wirklichkeit und ihre Praktiken im Umgang mit dieser Wirklichkeit solche Wahrnehmungen kaum zulassen, die die Gegenstände

1 Denis Diderot: „Gespräch zwischen d’Alembert und Diderot“, in: Ders.: Erzählungen und Gesprä-che, Leipzig 1953, S. 355–372, hier S. 355.

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des Wissens und Forschens als empfi ndsame, lebendige, bewusste Wesen in Erschei-nung treten lassen. Die modernen, physikomathematisch formatierten Wissenschaf-ten beanspruchen für sich, jene besondere Perspektive zu sein, die es ermöglicht, die einzige und richtige Wahrheit darzustellen. Dieser Anspruch aber immunisiert gegen andere Sichtweisen, er macht taub und blind gegenüber möglichen neuen, überra-schenden Existenzweisen innerhalb der Wirklichkeit. Dagegen, so argumentiert Di-derot für seine Version des Materialismus, gilt es Frageperspektiven zu kultivieren, die zwar nicht physikalistisch sein mögen, denen es aber gelingt, aus Sicht derjenigen Wesen, die eine Forschungspraxis in den Blick nimmt, Relevanzen zu produzieren.

Dieses Argument wird im Rahmen des Gesprächs vor allem an der Stelle über-deutlich, an der die beiden Enzyklopädisten den Gegenstand wechseln und sich ihr Gespräch nicht länger um Steine, sondern um ein Ei dreht – genauer darum, wie aus der ‚toten‘ Ei-Materie ein lebendiges Küken werden könne. „Sehen Sie dieses Ei“, verkündet Diderot, „damit kann man alle Th eologenschulen und Tempel der Welt umstürzen.“2 Dieser Kampfesruf ist aber off ensichtlich nicht nur gegen die Th eologie gerichtet, sondern zudem gegen eine jüngere Autorität, eben gegen jene der physikomathematischen Wissenschaften (in diesem Sinne: „Tempel der Welt“), welche sich der Herausforderung, die das Ei unausweichlich aufgibt, verweigern – und zwar im Namen des Materialismus. Sie verweigern sich nämlich der Frage, wie es möglich sein kann, vom Ei zum Küken und das heißt, von unbelebter, gefühllo-ser Materie zu Leben, Empfi ndung, Leidenschaft und Gedächtnis zu kommen. Diderot fordert d’Alembert hier als Stellvertreter heraus: Er soll das Ei und die Vorgänge, die sich in ihm abspielen, sowie das Küken, das schließlich schlüpft, nicht schlicht empirisch zur Kenntnis nehmen, sondern sich über diese Vorgänge wundern.3 Schon Aristoteles hatte mit der Verwunderung das Philosophieren be-ginnen lassen. Und so geht es Diderot darum, den rationalen Empiriker aus seiner erkenntnistheoretischen splendid isolation zu locken und ihn an die unausweichli-chen Fragen zu erinnern, von denen Kant in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft einige Jahre später sprechen wird, Fragen, die man nicht durch Selbstbe-schränkung zum Verschwinden bringen oder gar beantworten kann. Anders for-muliert: D’Alembert soll dem Ei die Macht zusprechen, seine wohldefi nierten Ka-tegorien in Frage zu stellen: „Hören Sie auf sich“, sagt Diderot zu d’Alembert, „und Sie werden Mitleid mit sich selbst haben, Sie werden fühlen, Sie sind im Begriff , nur um eine einfache Voraussetzung, die alles erklärt, nicht annehmen zu müssen, nämlich die Empfi ndung als allgemeine Eigenschaft der Materie [...], auf den ge-sunden Menschenverstand zu verzichten und sich in den Abgrund von Geheimnis, Widerspruch und Sinnlosigkeit zu stürzen.“4

Dass die von Diderot hier vertretene Position gleich in zweierlei Hinsicht als fundamental materialistisch verstanden werden kann, mag ein Umweg über die

2 Ebd., S. 365. 3 Siehe hierzu: Isabelle Stengers: „Diderot’s Egg. Divorcing materialism from eliminativism“, in:

Radical Philosophy (2007), Nr. 144, S. 7–16. 4 Diderot: „Gespräch“ (Anm. 1), S. 367.

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englische Sprache verdeutlichen. Während wir uns mit der deutschen ‚Materie‘ auf relativ eindeutigem und stoffl ichem Boden befi nden, ist das englische Substantiv matter zumindest doppelbödig, schillert doch neben ihm das Verb to matter. Als Gegenfi gur zum neutralen Wissenschaftler, der einer ebenso neutralen, sich gleich-bleibenden Welt gegenübertritt und damit selbst ‚wie versteinert‘ erscheint, erin-nert Diderot uns daran, dass die Materie und das, was von Bedeutung ist, what matters, aufs engste miteinander verknüpft sind.5 Nimmt man dieses Argument ernst, so müssen die Fragen danach, wo Leben beginnt und wann es endet, was als lebendig und was als leblos zu gelten hat, von der prinzipiellen Ebene auf konkrete Konstellationen hin gewendet werden. Zentral ist dann weniger, ob es eine prinzi-pielle Grenze gibt, als vielmehr, welche Art von Grenzverlauf es in dieser oder jener Situation erlaubt, einen sinnvollen Zugriff auf Wirklichkeit zu vollziehen, der Re-levanzen produziert.

Für aktuelle Debatten – etwa um die ethische Zulässigkeit des Klonens oder die Verwendung von „embryoähnlichen Artefakten“6 im Rahmen genetischer For-schungen – ließe sich daraus die Maxime ableiten, alle Fragen, die apriorische Ant-worten evozieren sollen, hintanzustellen. In diesem zugleich epistemischen und ethischen Problemfeld hat beispielsweise Henri Atlan versucht, den bioethischen Diskurs dafür zu sensibilisieren, die spezifi schen Kontexte moderner biologischer und medizinischer Praxis zu berücksichtigen, statt mit schlichter Ablehnung auf neue Technologien zu reagieren. So setzt er an die Stelle des verbreiteten Refl exes, für die Rechtfertigung ethischer Normen auf traditionelle Kategorien etwa von Leben und Tod zurückzugreifen, eine Ethik, die als situativ bezeichnet werden kann und ihre Begriff e in der konkreten Auseinandersetzung mit den Realitätsef-fekten zeitgenössischer Praktiken entwickelt.

Spannungsfelder: Zwischen Leben und Tod

Die Beiträge des vorliegenden Bandes setzen sich in historischer Perspektive und im Bezug auf aktuelle Umgangsformen mit einem Wissen vom Tod und dessen Verhältnissen zum Leben – und andersherum – auseinander. Sie zeigen anhand von Fällen aus ganz verschiedenen Epochen, Praxis- und Denkzusammenhängen die Vielfalt möglicher Formen, Begründungen und Strategien der Grenzziehung zwi-schen Leben und Tod, Lebendigkeit und Leblosigkeit, Lebenden und Toten auf. Und sie refl ektieren ebenso über die Produktivität sowie die Schwachstellen solcher Grenzziehungsverfahren. Drei der Spannungsfelder, die den vorliegenden Band durchziehen, seien hier kurz beschrieben.

5 Vgl. J. Scott Jordan: „Wilde Körper. Über die selbsterhaltende Natur der Bedeutung“, in: Erik Porath/Tobias Robert Klein (Hg.): Kinästhetik und Kommunikation. Ränder und Interferenzen des Ausdrucks, Berlin 2013, S. 75–93.

6 Henri Atlan: L’uterus artificiel, Paris 2005.

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1. Die Unerträglichkeit der Totenstille hat in der Kultur-, Philosophie- und Litera-turgeschichte zum unaufhörlichen Sprechen über Tod und Sterben herausgefor-dert, um nicht die Sprachlosigkeit der Gestorbenen als das letzte Wort hinnehmen zu müssen.7 Es ist aber nicht nur diese Redefl ut, die aus dem Tod, so eine prägnante Formulierung von Th omas Macho, das „ästhetische wie philosophische Th ema der Moderne par excellence“8 gemacht hat; vielmehr ist es die Schärfe der Grenzziehung zwischen Leben und Tod, die die Moderne kennzeichnet. In welch großem Maße das Leben, die Kultur und das Wissen vom Menschen in der Moderne unter dem Zeichen des Todes stehen, und zwar eines irreversiblen Todes, hat Michel Foucault mit Blick auf den medizinischen Diskurs um 1800 und dessen Defi nition des Le-bens als das Andere des Todes festgehalten: „Es ist von entscheidender und bleiben-der Bedeutung für unsere Kultur, daß ihr erster wissenschaftlicher Diskurs über das Individuum [der medizinische Diskurs] seinen Weg über den Tod nehmen mußte.“9 Es ist bedenkenswert, dass die Ausformung bürgerlicher Individualität als zentrales Kennzeichen moderner westlicher, rechtsstaatlicher und demokratischer Gesell-schaften mit dieser epistemologischen Bindung an Tod und Sterblichkeit einher-geht und im 20. Jahrhundert durch Martin Heideggers Daseinsanalytik sogar die ontologische Weihe eines thanatologischen Existentials erhielt.

Zugleich und parallel zur Redefl ut ist für die Moderne aber auch immer wieder eine Verdrängung des Todes konstatiert worden – gerade durch dieses unaufhörli-che Sprechen. Eine solche Verdrängung gilt allerdings wohl eher den Sterbenden und den Toten, weniger dem Tod; ist doch die Gegenwart der Toten, die noch die Vormoderne geprägt hat, nicht nur nicht länger vorgesehen, sondern auf allen Ebe-nen (religiös, juristisch, medizinisch, ökonomisch und psychologisch) sorgfältig beendet worden. Diese umfassende ‚Befreiung‘ von den Toten stellt ein Signum der Moderne dar, möglicherweise sogar deren unbewussten Fluchtpunkt, wie Walter Benjamin ihn für die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vorschlägt. Diese habe, so Benjamin im „Erzähler“-Aufsatz, „mit hygienischen und sozialen, privaten und öff entlichen Veranstaltungen einen Nebeneff ekt verwirklicht, der vielleicht ihr unterbewußter Hauptzweck gewesen ist: den Leuten die Möglichkeit zu verschaff en, sich dem Anblick von Sterbenden zu entziehen. [...] Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sa-

7 Vgl. Thomas Macho: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a. M. 1987, S. 10. Vgl. zum Folgenden auch Ulrike Vedder: „ungleichzeitigkeiten: Zum aktuellen Grenzverlauf zwi-schen Leben und Tod. Eine kulturwissenschaftliche Intervention“, in: H. Knoblauch, A. Esser, D. Groß, B. Tag, A. Kahl (Hg.): Der Tod, der tote Körper und die klinische Sektion, Berlin 2010, S. 309–319.

8 Thomas Macho: „Religion, Unsterblichkeit und der Glaube an die Wissenschaft“, in: Konrad Paul Liessmann (Hg.): Ruhm, Tod und Unsterblichkeit. Über den Umgang mit der Endlichkeit, Wien 2004, S. 261–277, hier S. 272.

9 Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1976, S. 207.

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natorien oder Krankenhäusern verstaut.“10 Die hier deutlich hervortretende Entge-gensetzung von Sterbenden und Lebenden verweist auf jene Schärfe der Grenzzie-hung zwischen Leben und Tod, die die Moderne kennzeichnet: Seit der Tod nicht mehr als Jenseits-Passage fi rmiert, wie noch in der Vormoderne, sondern als Grenze, gilt diese Grenze als absolut. Ihre Festigkeit verhält sich proportional zur „Wucht der Entscheidung [...], der Tod sei das absolute Ende“.11

Allerdings produziert die moderne Etablierung dieser absoluten Grenze des Todes zugleich ihre eigene Durchlässigkeit, ja Krise. Denn die Sicherung der Grenze – als Abdichtung des Lebens gegen den Tod und des Todes gegen das Leben – ist auf eine Eindeutigkeit der Todeszeichen angewiesen, die, wie beispielsweise die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Scheintoddebatte zeigt, keineswegs gewährleistet werden kann. So herrscht also weniger eine ‚Todesamnesie‘ als vielmehr eine Unterbrechung der Kommunikation mit den Toten – deren Stimmen aber in der Literatur und an-deren Künsten noch zu vernehmen sind. In ähnlicher Weise tritt an die Stelle der (individuellen wie kollektiven) Sorge um die Vergangenheit deren schnellstmögliche Entsorgung – bei einer gleichzeitig beständigen, ja obsessiven Aufarbeitung der immer schon historisierten Vergangenheit. Was anstelle religiöser Rituale die psycho-therapeutische Arbeit bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für Indivi-duen leistet, das wird auf politisch-gesellschaftlicher Ebene als Arbeit am ‚kulturellen Erbe‘ institutionalisiert und funktionalisiert.

2. Ein weiteres Spannungsfeld wird durch die „neue Sichtbarkeit des Todes“12 er-öff net, die allenthalben zu konstatieren ist: In den Massenmedien, v.a. im Fernse-hen, aber auch in den Künsten, in neuen Bestattungspraktiken, in Debatten um Sterbehilfe oder Transplantationsmedizin, in biotechnologischen Versprechen auf Langlebigkeit oder Unsterblichkeit wird der Tod unübersehbar thematisiert, wer-den die toten Körper in allen denkbaren Stadien inszeniert und so ein ausdiff eren-ziertes Wissen über sie medial verbreitet. Andererseits kommen dieser massenhaf-ten Sichtbarmachung aber die Toten selbst, die Verstorbenen als Individuen, oft abhanden. Symptomatisch dafür mag die einfache Beobachtung sein, dass bei aller visuellen Annäherung an tote Körper und ihre Details, etwa in den zahlreichen TV-Erfolgsserien um Patholog/innen, forensische Anthropolog/innen und Bestat-ter/innen, die Geschichten dieser Toten kaum mehr erzählt werden, oder dass die ‚Überpräsenz‘ von toten Körpern in den visuellen Medien mit der ‚Unsichtbarkeit‘ bzw. der fehlenden Erfahrung eines alltäglichen Umgangs mit Leichnamen korres-pondiert. Dabei sind es vielleicht am ehesten die Leichname, die mit ihrer merk-würdigen Gleichzeitigkeit von An- und Abwesenheit sowie mit ihrer „paradoxe[n]

10 Walter Benjamin: „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: ders.: Gesam-melte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.2, Frankfurt a. M. 1991, S. 438–465, hier S. 448.

11 Hans-Dieter Bahr: Den Tod denken, München 2002, S. 11.12 Vgl. Thomas Macho/Kristin Marek (Hg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007.

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Materialität“13 einen Zugang zur Abstraktion des Todes erlauben: „Das provozie-rende Rätsel des Todes besteht nicht allein darin, daß der Tote ‚fortgeht‘, sondern daß er ‚bleibt‘: als ein veränderliches, aber auch beständiges ‚Material‘ [...], als ele-mentare Widersprüchlichkeit des ‚Bleibenden‘: Fleisch verwest, die Knochen dau-ern, Haut läßt sich konservieren, die Eingeweide hingegen nicht.“14

Es ist also zu fragen, was die neue Sichtbarkeit mit ihren Verfügungsansprüchen über die Toten bedeutet: für die subjektive Erfahrung des Konfrontiertseins mit Sterben und Tod, für bild- oder medientheoretische Konzeptionen einer Ästhetik des Todes, für eine Ethik im Umgang mit Sterbenden und Toten. Handelt es sich hierbei doch um dasselbe Phänomen wie die vielfach analysierte „Todesamnesie der Moderne“, die sich durch die „gleichzeitige Überproduktion von Schriften über Tod und Sterben“15 ausgezeichnet hat?

3. Ein drittes Spannungsfeld stellen die gegenwärtig zu beobachtenden Ungleichzei-tigkeiten dar: zwischen medizinisch-technischer Entwicklung, gesetzgeberischen Maßnahmen, Kulturtechniken rund um den Tod, philosophisch-bioethischen Kon-zeptionen und moralischen Übereinkünften, die das Sterbendürfen, Sterbenkönnen oder Sterbenwollen – bzw. das Nichtsterbendürfen, -können oder -wollen – betref-fen. Denn die technische Entwicklung und der soziokulturelle Wandel führen in Bereiche des Umgangs mit Leben und Tod als Bereiche des Handelns, die gesetzge-berisch geregelt werden müssen. Die damit einhergehende Politisierung des Ster-bens und des Todes macht es unmöglich, den Tod als ‚natürlich‘ zu denken, er wird vielmehr – zugespitzt formuliert – zum Kampf darum, wann man sterben darf.

Zugleich aber wird deutlich, welche Konsequenzen es hat, dass die Grenze zwi-schen Leben und Tod seit Beginn der Moderne einerseits absolut ist, unhintergeh-bar gezogen und von großer Wucht, andererseits aber verschiebbar und in defi nito-rischer, technologischer und kultureller Hinsicht unscharf. Die Todesgrenze kann mithin zu einer mehr oder weniger ausgedehnten Zone werden, die zwischen Leben und Tod anzusiedeln ist: jene Zone, in der hochtechnologische Intensivmedizin auf unterschiedliche Konzeptualisierungen von Bewusstsein, Wahrnehmung und Kommunikationsfähigkeit triff t, jene Zone, die die umstrittenen Fragen nach Pal-liativmedizin, Sterbehilfe, Patientenwürde hervorbringt und die aufs Neue das Pro-blem aufwirft, wie mit den Grenzziehungen zwischen Leben und Tod umzugehen ist. Je weiter und diff erenzierter die Stadien des Übergangs sind, desto dringlicher stellt sich die Frage nach klaren Unterscheidungen, und dies nicht nur im Sinne einer Praxis, in der gehandelt werden muss, sondern auch im erkenntnistheoreti-schen Sinne.

13 Thomas Macho: „Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich“, in: Jan Assmann: Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten, m. e. Beitrag v. Tho-mas Macho, Frankfurt a. M. 2000, S. 89–120, hier S. 113.

14 Ebd., S. 103.15 Bernhard H.F. Taureck: Philosophieren: Sterben lernen? Versuch einer ikonologischen Modernisierung

unserer Kommunikation über Tod und Sterben, Frankfurt a. M. 2004, S. 20f.

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Ein konfl iktreiches Beispiel für diese neue Zone zwischen Leben und Tod stellen Komatöse dar, deren Existenz sich erst der technologisch hochgerüsteten Intensiv-medizin verdankt. Auf sie beziehen sich eine Reihe gegenwärtiger Diskussionslinien und off ener, vielleicht unlösbarer Fragen, aber auch eine Faszinationsgeschichte, die in Medizin und Neurowissenschaften, in Sozial- und Pfl egewissenschaften und auch in Literatur und Film sichtbar wird.16 So stellt das Koma sicherlich eine beson-dere Provokation des Subjekts in der Moderne dar, indem es das Individuum mit seinem Anspruch auf Selbstbestimmung in eine schlechthinnige Abhängigkeit befördert,17 und indem es die doch längst abgeschaff te Gegenwart der Toten in Gestalt von liminalen Komatösen als nahezu Tote wieder präsent werden lässt. Das wirkt sich auf medizinische und pfl egerische Diskurse und Praktiken aus, wenn etwa trotz des gleichen äußeren Erscheinungsbildes von beatmeten Hirntoten (deren Organe zur Transplantation entnommen werden sollen) und Komapatienten (auf deren Erwachen gehoff t wird) diesen ein grundverschiedener Status – tot und lebendig – zugeschrieben wird, woraus ihnen gegenüber unterschiedliche Haltun-gen sowie pfl egerische Handlungen seitens des medizinischen Personals resultie-ren.18 Darüber hinaus fasziniert das Phänomen Koma angesichts des Rätsels, wie weit die Wahrnehmungs- und Gedächtnisfähigkeiten Komatöser reichen, und wel-che Erfahrungen der Todesnähe sie nach ihrem Aufwachen den Lebenden vielleicht zu überbringen haben. So entwerfen beispielsweise literarische Texte Parallelwelten, in denen die gewissermaßen entrückten Komatösen leben. Darin wird das Koma als „Schattenzone“19 oder als „Zwischenreich“20 bezeichnet, mithin als eine Topogra-phie der Latenz entworfen, eine Topographie, für die nur mehr schwer zu sagen ist, ob sie „zwischen Leben und Tod [...] oder jenseits von beidem“ anzusiedeln ist.21

Gegenwärtig, das heißt nach der Moderne, die die Lebenden von den Toten ent-pfl ichtet hat, kündigt sich also eine Reihe von Verschiebungen jener Koordinaten an, an denen sich Nachdenken und Handeln bezüglich des To des orientieren. Selbst wenn der Tod eine Erkenntnisgrenze darstellt, weil Totsein immer die ande-ren betriff t und ein wissenschaftlicher Blick auf ihn nur aus externer Perspektive möglich ist, so ist doch die produktive Emphase einer wissenschaftlichen und künstlerischen Beschäftigung mit dem Tod und seinen Verhältnissen zum Leben nicht zu unterschätzen – man denke nur an das vielzitierte „desire to speak with the

16 Vgl. dazu Ulrike Vedder: „Hirntot, untot, komatös – Störfälle zwischen Leben und Tod“, in: Zeit-schrift für Kulturwissenschaft 5 (2011) 2, S. 101–112.

17 Vgl.: „Vor dem Hintergrund eines bioethischen Personkonzeptes, das Personsein vom Besitz ge-wisser Fähigkeiten abhängig macht[ ], [kommt] Hirntoten, aber auch schon Apallikern, also Wachkomatösen, deren Großhirn geschädigt [ist] und bei denen nicht vorhersehbar [ist], ob sie je wieder in ein selbstbestimmtes Leben zurückkehren werden, nur der Status von Sektionsleichen und keineswegs mehr von Personen mit Wert und Würde zu.“ (Monika Wogrolly-Domej: Abbil-der Gottes. Demente, Komatöse, Hirntote, o.O. 2004, S. 17.)

18 Vgl. ebd.19 Ulrike Kolb: Diese eine Nacht. Roman, Stuttgart 2003, S. 47.20 Roger Willemsen: Kleine Lichter. Roman, Frankfurt a. M. 2004, S. 21.21 Petra Gehring: Theorien des Todes zur Einführung, Hamburg 2010, S. 176.

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14 KATRIN SOLHDJU, ULRIKE VEDDER

dead“, mit dem Stephen Greenblatt die Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung motiviert,22 oder an die von Robert Harrison mit ähnlichem Tenor postulierte „do-minion of the dead“.23

Das Leben vom Tode her

Spätestens mit der Gründung der pathologischen Anatomie um 1800, so argumen-tiert Michel Foucault in seiner Geburt der Klinik, ließ sich ein Forschungsprinzip in Bezug auf das Lebendige erkennen, das von dessen ‚Nicht-mehr-Funktionieren‘, also von seinem Tod ausging: „Mit Bichat“, formuliert Foucault, „fi ndet die Er-kenntnis des Lebens ihren Ursprung in der Zerstörung des Lebens, in seinem äu-ßersten Gegensatz. Die Krankheit und das Leben sagen dem Tod ihre Wahrheit. Seit Bichat steht dieses Wissen neben dem Leben; es ist von ihm durch die unüber-schreitbare Grenze des Todes getrennt. Der Tod ist der Spiegel, in dem das Wissen das Leben betrachtet.“24 Leben soll in der hier beschriebenen Herangehensweise der pathologischen Anatomie ganz explizit vom Tode her gedacht und verstanden werden, indem aus den Geweben nachträglich eine zeitliche Chronologie des Le-bendigen und seiner Krankheiten herausgelesen wird.

Für das 19. Jahrhundert ist auf dem Feld der wissenschaftlichen Erforschung des Lebendigen eine Ausweitung dieser epistemischen Haltung festzustellen, kommen doch die Formen der Wissensproduktion physiologischer Experimentalpraktiken am Lebendigen ihrerseits keineswegs ohne das Sterben und schließlich den Tod der von ihnen untersuchten Organismen aus, was sich nicht zuletzt an den lebhaften Vivisektionsdebatten der Zeit ablesen lässt. Sterben und Tod der Organismen kön-nen dabei, wollte man zynisch sein, als Nebenwirkungen ihrer epistemischen Aus-richtung bezeichnet werden. Was aber im Labor als Praxis des kontrollierten Ein-griff s in die Lebensfunktionen einzelner Organismen erscheint, kann auf dem Feld der politischen Machtausübung als ein Wechsel vom klassischen Regime, das sich durch das „Recht, sterben zu machen“ auszeichnete, hin zu einem Regime biopoli-tischer „Lebensmacht“ beschrieben werden, „die das Leben in ihre Hand nimmt, um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren [...]. Man stellt ganze Völker auf, damit sie sich im Namen der Notwendigkeit ihres Lebens gegenseitig umbringen. Die Massaker sind vital geworden.“25 In Medizin, Bevölkerungspolitik und Kriegswesen gilt nunmehr, so Foucault, das Prinzip „Töten um zu leben“.26

Die Beiträge des vorliegenden Bandes setzen sich mit der epistemologischen Produktivität der Grenze zwischen Leben und Tod auseinander, indem aus unter-

22 Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Oxford 1988, S. 1.

23 So der Originaltitel von Robert P. Harrison: Die Herrschaft des Todes, München 2006.24 Foucault: Die Geburt der Klinik (Anm. 9), S. 160.25 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M. 1977, S. 162f.26 Ebd., S. 164.

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15DAS LEBEN VOM TODE HER. ZUR EINLEITUNG

schiedlichen disziplinären und historischen Perspektiven danach gefragt wird, was es heißt, das Leben vom Tode her zu denken und zu praktizieren. Sie fragen aber auch danach, an welchen Stellen diese Produktivität in Destruktion umschlägt, wenn in religions-, wissenschafts- und kulturgeschichtlicher Hinsicht die vielfälti-gen defi nitorischen Anstrengungen einer solchen Grenzziehung sowie die damit befassten Symbolsysteme, Kulturtechniken und Narrative analysiert werden. Wer gilt als tot, was kann als lebendig defi niert werden, welche Eff ekte zeitigt das jewei-lige Wissen um diese Unterscheidung? Und wie ist das Verhältnis zwischen den Lebenden und den Toten zu fassen?

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SAMUEL WEBER

Eine andere Aufteilung

In Aporien schreibt Derrida, „jede Kultur ist charakterisiert durch ihre Art und Weise, das Verscheiden aufzufassen, zu behandeln, ja man könnte sagen zu ‚leben‘“.1 Ein wenig später im selben Buch führt er diesen Gedanken weiter aus:

Die Kultur selbst, die Kultur im allgemeinen ist im wesentlichen vor allem, ja wir können sogar sagen a priori Kultur des Todes; und infolgedessen Geschichte des Todes. Es gibt keine Kultur ohne den Kult der Vorfahren, ohne die Ritualisierung der Trauer und des Opfers, ohne Orte und Modalitäten institutionalisierter Bestattung, und wäre es selbst für die Asche einer Verbrennung. [...] Der Begriff von Kultur selbst kann scheinbar gleichbedeutend sein mit Kultur des Todes, als ob im Grunde genom-men Kultur des Todes ein Pleonasmus oder eine Tautologie wäre. Aber eine solche Redundanz allein kann den kulturellen Unterschied und das Gitter der Grenzen sich abzeichnen lassen. Da jede Kultur eine Abhandlung oder Behandlung des Todes be-zeichnet, behandelt eine jede von ihnen das Ende entsprechend einer unterschiedli-chen Aufteilung [partition].2

Kulturen unterscheiden sich voneinander, und dieser Unterschied ist zum Teil, und vielleicht wesentlich, durch ihre Umgangsweisen mit dem Tod gekennzeichnet. Diese Umgangsweisen haben ihre je eigene Geschichte, die ihre Praxen, ihre Ein-stellungen und ihre Werte prägt. Und, so möchte ich hinzufügen, ihre ‚Politik‘ – nicht nur die je besondere Art, wie sie ihre Politik begreifen, sondern auch die Ins-titutionen, mittels derer sie Politik praktizieren.

Im selben Jahr, in dem Aporien veröff entlicht wurde – 1993 –, publizierte Der-rida auch Marx’ Gespenster, ein Buch, das in seiner Gesamtheit als Meditation über die besondere Prägung von Marx’ Denken durch die Frage der Sterblichkeit gelesen werden kann. Marx’ Antwort auf diese Frage ist, wie an Derridas Erörterung deut-lich wird, nicht nur für Marx selbst charakteristisch, sondern sie leitet sich von einer historischen, ja religiösen Tradition her, von der man billigerweise behaupten kann, dass sie die westliche Kultur im allgemeinen beherrscht hat.

Dieses religiöse Erbe wird natürlich in Marx’ Schriften, in denen die Religion bekanntlich oft auf eine scheinbar höchst unfromme Weise angegriff en wird, nicht explizit. Was Marx – vor allem den jungen Marx – in besonderer Weise auszeich-net, ist das Bemühen, zeitgenössische soziale Bewegungen weniger als Antwort auf die Vergangenheit denn als Antizipation der Zukunft zu deuten. Indem er dies tut, stellt er der Vergangenheit, als etwas wesentlich Totem und Vergangenem, häufi g

1 Jacques Derrida: Aporien: Sterben – Auf die „Grenzen der Wahrheit“ gefaßt sein, aus dem Französi-schen von Michael Wetzel, München 1998, S. 48.

2 Ebd., S. 77 f.

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eine Zukunft gegenüber, die ein erfülltes Leben verheißt. Diese Entgegensetzung von Vergangenheit und Zukunft im Sinne von Tod und Leben kommt in der fol-genden Passage aus dem 18. Brumaire besonders deutlich zum Ausdruck:

Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die frü-heren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhun-derts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzu-kommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.3

Marx’ Behauptung, dass die „Revolution des neunzehnten Jahrhunderts“ nicht mehr der „weltgeschichtlichen Rückerinnerungen“ bedürfe, welche die früheren Revolutionen benötigten, um sich sozusagen vor ihrem „eigenen Inhalt“ zu schüt-zen; dass die Revolutionen, die sich zu seinen Lebzeiten ereigneten, solcher histori-scher Identifi zierungen nicht mehr bedürften, um sich vor sich selbst zu schützen; und dass ihre Sprache ihren Inhalt nicht mehr transzendieren müsse, sondern selbst von ihm transzendiert werde – all diese Behauptungen setzen ein Verhältnis zwi-schen Vergangenheit und Gegenwart voraus, das Marx’ eigene „Phrase“ – um sei-nen Ausdruck zu benutzen – implizit in Frage stellt. Denn die denkwürdige Phrase, man solle „die Toten ihre Toten begraben lassen“, auf die Derrida in seinem Buch mehrfach zurückkommt, verweist selbst auf eine Vergangenheit, die auch Marx’ eigene Konzeption des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch prägt. Obschon weder bei Marx noch bei Derrida darauf hingewiesen wird, handelt es sich bei der Auff orderung, „die Toten ihre Toten begraben zu lassen“, um ein Zitat aus den Evangelien, genauer aus Lukas, der folgenden Wortwechsel zwi-schen Jesus und einem Mann erzählt, der ihn auf dem Weg nach Jerusalem an-spricht: „Er sprach aber zu einem anderen: Folge mir nach! Der antwortete: Er-laube mir, zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben. Da sprach er zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes.“ (Luk 9, 50–60) Marx’ ‚revolutionäre‘ Betonung der Zukunft auf Kosten der Vergangenheit, die zugleich eine Betonung des Lebens auf Kosten des Todes ist, nimmt also selbst eine viel ältere Tradition auf, die, wiewohl oft Gegenstand seiner polemischen Kritik, diese Kritik selbst in vieler Hinsicht geprägt hat: die Tradition des christlichen Evangeliums. Denn die Botschaft dieser Religion hat mit eben jenem Versprechen zu tun, dass man der Vergangenheit durch Glauben an die Zu-kunft entrinnen könne, und dem Tode durch die Verheißung ewigen Lebens. Aus der von Marx wiederholt zitierten Passage wird deutlich, dass diese Botschaft weder einfach noch frei von Widersprüchen ist, ob dialektisch oder nicht. Denn die An-weisung, „die Toten ihre Toten begraben [zu] lassen“, wird an einen Sohn gerichtet,

3 Karl Marx: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, zit. nach: Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, aus dem Französischen von Susanne Lüdemann, Frankfurt a. M. 2005, S. 183.

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der seinen Vater begraben möchte. Aber die Anweisung an diesen Sohn ergeht durch einen anderen Sohn, der ihn dazu aufruft, sein Wesen als Sohn und mithin als Statthalter der Zukunft anzunehmen. Andererseits kann Jesus dem Mann nur deshalb befehlen, von der Beisetzung seines Vaters abzusehen und sich dem kom-menden Reich Gottes zu verschreiben, weil er selbst nicht einfach Menschensohn, sondern Gottes Sohn ist, der von einer Zukunft kündet, die nicht aus Tod und Endlichkeit besteht, sondern aus Auferstehung und Ewigem Leben. Dank der Doppelnatur dieses außergewöhnlichen Sohnes kann man es den irdischen Vätern überlassen, sich selbst zu begraben, was so viel heißt wie gar nicht begraben zu werden. Es ist nichts Geringeres als eine solche Menschwerdung des Göttlichen erforderlich, um die Vergangenheit als ‚tot und vergangen‘ auszumustern und die Zukunft zur Zukunft des lebendigen Selbst zu erklären. Denn es ist diese Kategorie eines lebendigen Selbst, die den gemeinsamen Horizont der Frohen Botschaft des Christentums und des Marx’schen revolutionären Versprechens zumindest in der zitierten Passage ausmacht – eines Selbst, das über jede endliche Bestimmung hin-ausgeht, so wie der Inhalt der „Phrase“ über ihre Formulierung hinausgeht.

Kurzum, „die Toten“ können nur dann angewiesen werden, „ihre Toten [zu] be-graben“, wenn „ihre Toten“ nicht mehr ‚unsere‘ sind – wenn zwischen ‚Vätern‘ und ‚Söhnen‘, Vergangenheit und Gegenwart, Tod und Leben scharf unterschieden wer-den kann. Unterscheidung heißt nicht Trennung oder Vereinzelung, und auf genau dieses Problem antwortet die christliche Vorstellung der Dreieinigkeit. Dennoch ist die Unterscheidung unverzichtbar, weil von ihr abhängt, wie man sich die Identität der beteiligten Elemente vorstellt. Wenn das Leben auf seine ursprüngliche Rein-heit zurückgeführt werden soll – auf seine Unabhängigkeit vom Tod, wie im Garten Eden –, dann muss diese Unterscheidung auch in ihrer Transzendierung aufrechter-halten werden. Genau dies behauptet die christliche Tradition mit der Ankunft Christi zu bewerkstelligen. Denn mit der Ankunft Christi verliert der Tod seinen Stachel, wie es heißt, seinen letzten Triumph über die sündige Menschheit. Christus im Glauben und in der Liebe zu folgen, heißt, einem Leben zu folgen, das sich vom Tode befreit: „Jesus redete nun wiederum zu ihnen und sprach: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern er wird das Licht des Lebens haben.“ (Joh 7,12) Das Versprechen Christi, das Leben vom Tod zu befreien – das Marx wiederholt, ohne seine Herkunft anzugeben –, richtet nicht nur den Blick in die Zukunft, sondern bestimmt diese Zukunft als Rückkehr zu einer ursprünglichen Vergangenheit: zu einem Leben, das, wie es in den ersten Büchern der Genesis heißt, ursprünglich und wesentlich die Ewigkeit seines Schöpfers wider-spiegelt. Denn erst durch sündige Übertretung tritt der Tod in die Schöpfung ein und wird der Mensch sterblich. Aber dieser Fall in die sündige Sterblichkeit wird in der christlichen Tradition als Glücksfall – als felix culpa – bezeichnet, weil er die Voraussetzung für eine Rückkehr zum Ursprung schaff t, zu einer Wiederherstellung des menschlichen Lebens in seiner ursprünglichen Form, soll heißen: zu einem Leben ohne Tod.

Wie immer bringt die Struktur des ‚Gegensatzes‘ – hier, in biblischer Tradition, zwischen Leben und Tod – sowohl eine hierarchische Struktur als auch eine Deon-

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tologie mit sich: Zuerst ist das Leben, und dann bricht, durch das Tun des Men-schen, der Tod ein. Es ist signifi kant, dass der Baum der Erkenntnis im Garten Eden einen Gegensatz impliziert – die Diff erenz zwischen Gut und Böse –, wäh-rend sein Pendant, der Baum des Lebens, kein anderes kennt. Leben ist reines Leben, völlig mit sich selbst identisch, es bedarf keines anderen.

Diese Selbstidentität des Lebens setzt ihrerseits ein Kontinuum zwischen dem Leben im Allgemeinen und der Singularität des Lebendigen, zwischen der Schöp-fung und ihren Geschöpfen voraus. Auf die Grundlage für dieses Kontinuum wird ausdrücklich in jener Phrase hingewiesen, die wiederholt mit der göttlichen Er-schaff ung lebendiger Geschöpfe verknüpft wird: Jedes dieser Geschöpfe, so wird gesagt, sei „nach seiner Art“ erschaff en (Gen 21,24, was sich übrigens nicht nur auf Tiere, sondern auch auf Pfl anzen bezieht: siehe Gen 11,2). Nur der Mensch ist nach dem Bild des Schöpfers geschaff en, sein Name bezeichnet sowohl das Indivi-duum wie die Gattung. Er kann daher als Ebenbild seines Schöpfers bezeichnet werden, der ebenfalls eins und doch universell ist.

Mit dem Fall in Sünde und Schuld verliert das einzelne Lebewesen jedoch diese unmittelbare Verbindung zu seinem göttlichen Ursprung: Die Lebewesen werden sterblich, ihr Leben durch den Tod begrenzt. Diese Entfremdung des menschlichen Lebens von seinem Ursprung stellt die Herausforderung dar, auf die das Christen-tum antwortet und die es aufzulösen trachtet. Und es stellt sich dieser Herausfor-derung in vollem Bewusstsein, wie der Fortgang der zitierten Passage aus dem Jo-hannesevangelium, in der Jesus sich selbst als „Licht des Lebens“ (Joh 8,12) be-zeichnet, eindeutig zeigt: „Da sagten die Pharisäer zu ihm: Du zeugst von dir selbst; dein Zeugnis ist nicht wahr. Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Auch wenn ich von mir selbst zeuge, ist mein Zeugnis wahr, denn ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe; ihr aber wisst nicht, woher ich komme oder wohin ich gehe.“ (Joh 8,13–14)

Mit dieser Antwort auf die Pharisäer beansprucht Jesus sowohl seine Individua-lität, sein Selbst, als auch eine Stellung in einem vollständig verständlichen Zeit-lauf, der implizit bis auf die göttliche Schöpfung selbst zurückführt. Entscheidend dabei ist, dass dieser Zeitlauf den ursprünglich göttlichen Charakter des Lebens wiederherzustellen verspricht, weshalb die sichere Erkenntnis der Vergangenheit – „denn ich weiß, woher ich gekommen bin“ – auch die Erkenntnis der Zukunft – „und wohin ich gehe“ – bestimmt. Die Verheißung eines Ewigen Lebens und Lichts bedeutet demnach nicht einfach, dass die Gattung ihre einzelnen Mitglieder überlebt, sondern dass das Individuum selbst überleben wird. Aus diesem Grund kann Jesus erwidern, dass sein Zeugnis, wiewohl es nur ihn selbst betreff e, dennoch wahr sei, was soviel heißt wie: wahr für alle anderen. In seiner Person ist das Schick-sal des Menschen im Allgemeinen enthalten. Aber der Mensch im Allgemeinen meint hier vor allem jedes einzelne Menschenwesen. Nur der Sohn Gottes, Schöp-fer des Universums und aller Lebewesen wie des Lebens selbst, kann beanspruchen, das einzelne Lebewesen mit dem Leben selbst zu vereinen. Und indem er dies tut, kann Jesus das ursprüngliche Schöpfungsversprechen einlösen, laut dem der Mensch als Ebenbild Gottes erschaff en und damit unsterblich ist. Jesus führt das

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Bild des Menschen zu seinem göttlichen Ursprung zurück – indem er dieses Bild durch Verschwinden und Wiederkehr, durch Tod und Auferstehung in die Zeit einschreibt. Was sich zwischen Adam und Jesus verändert hat, ist, dass die Bezie-hung zu Gott nicht mehr einem statischen Bild folgt, sondern einer dynamischen Filiation, bei der der Tod als ein Moment des Lebens ins Leben hineingenommen ist und letztlich einem Übergang auf dem Weg zur Erfüllung entspricht.

Wenn die Lebewesen anfänglich geschaff en wurden, um fruchtbar zu sein und sich zu mehren, so ist diese Vermehrung in der Welt nach dem Sündenfall dem Zahn der Zeit unterworfen. Zeitlich gesehen stellt die Filiation das Kontinuum wieder her, das Gott mit seiner Schöpfung und vor allem mit deren beherrschender Figur, dem Menschen, verbindet. Als Sohn Gottes kann Jesus – im Gegensatz zu den Pharisäern – feststellen, dass „ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe“. Sein Wohin ist ein Zurück zu seinem Ursprung, zu seinem Vater, zu einem zeitlosen Sein. Aber als Menschensohn muss sein Lebenslauf notwendiger-weise das sterbliche Leben durchqueren, um dem Tod eine Bedeutung zu geben, will heißen, ihn dem Leben unterzuordnen. Durch seinen freiwilligen Opfertod erhält das Leben potentiell seine ursprüngliche Reinheit zurück. Sein Tod macht den Weg frei für den Tod des Todes und die Wiedergeburt des Lebens als einem Ewigen. Es ist eine Negation der Negation lange vor der Hegel’schen Dialektik, die, wie Hegel nur zu gut wusste, der christlichen Dreieinigkeit nachgebildet war.

Hegel war sich dieser Antizipation wohlbewusst. In seinen frühen Schriften über das Christentum fi nden wir nachstehende Bewertung der Bezeichnung Jesu als ‚Sohn Gottes‘:

Das Verhältnis eines Sohnes zum Vater ist nicht eine Einheit, ein Begriff , wie etwa Einheit, Übereinstimmung der Gesinnung, Gleichheit der Grundsätze und derglei-chen, eine Einheit, die nur ein Gedachtes [ist] und vom Lebendigen abstrahiert, son-dern lebendige Beziehung Lebendiger, gleiches Leben; nur Modifi kationen desselben Lebens, nicht Entgegensetzung des Wesens, nicht eine Mehrheit absoluter Substanti-alitäten; also Gottes Sohn dasselbe Wesen, das der Vater ist, aber für jeden Akt der Refl exion, aber auch nur für einen solchen, ein besonderes.4

Hegel erkennt, dass die Vater-Sohn-Beziehung „eine lebendige Beziehung Leben-diger“ impliziert und nicht einfach nur eine begriffl iche Einheit. Aber in Abgren-zung zu dem, was er „Refl exion“ nennt und weitgehend mit Kant identifi ziert, müssen die getrennten Gegensätze als „Modifi kationen desselben Lebens, nicht Entgegensetzung des Wesens“ begriff en werden. In diesem Sinn lässt sich der Sohn letztlich genauso wenig vom Vater trennen wie das Leben des Lebendigen von die-sem Lebendigen, das heißt vom Leben selbst getrennt werden kann. Hegel zitiert Johannes 7,38 f.: „Wer an mich glaubt, aus dessen Leibe werden Ströme des Lebens quellen“.5

4 G.W.F. Hegel: „Der Geist des Christentums“, in: ders.: Werke in 20 Bänden, hg. von Eva Molden-hauer/Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, Bd. 1: Frühe Schriften, S. 317–418, hier S. 375 f.

5 Ebd., S. 384.

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