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Beschämung statt Bildung? Wie im Beratungsgespräch aus Missachtungserfahrungen Selbstwirksamkeit konstruiert wird „Die Stimme der Scham ist leise, ihre Sprache aber konkret“ schreibt Sighard Neckel (1991, S. 23) und stellt diesen Satz in seinem Buch „Status und Scham“ den sozialen und interaktionistischen Betrachtungen voran. Die Stimme ist leise, weil es aussichtslos scheint, dem normierenden Blick derjenigen, welche die Privilegien legitimierter Dominanz der Gesellschaft besitzen, zu entrinnen. Sie ist leise, weil die Lebensweisen von Menschen in der westlichen Kultur von Herrschaftserfahrungen durchdrungen sind, die diese zu einer Dominanz- kultur machen (Rommelspacher 1995) – auch, was von wem wie gehört wird. Wenn in lebensweltlichen Situationen Beschä- mung stattfindet, so ist immer sowohl Indivi- duelles wie Gesellschaftliches im Spiel. Durch die ungleiche Interaktionsmacht der AkteurIn- nen werden mit unterschiedlichen Strategien unsichtbare Hierarchisierungskategorien herge- stellt und Machtasymmetrien reproduziert. Be- schämungen finden sowohl offensichtlich, ganz oft aber scheinbar unbemerkt statt, weil sie im- mer auch in alltäglichen Routinen praktiziert werden. Sie erscheinen so selbstverständlich, weil sie in traditionellen Normalisierungs- und Denormalisierungspraxen symbolisch gefasst sind. Auch der Widerstand gegen diese Formen der Beschämung wird selbst wieder zum Gegen- stand von Stigmatisierung gemacht. Beschämung ist soziales Geschehen Beschämung ist ein zutiefst soziales Geschehen, das in konkreten Situationen, beim konkreten Sprechen zwischen Menschen in einer Gesell- schaft stattfindet, wobei die in Ideologien ge- fassten Ungleichheitsstrukturen – auf die sich beide AkteurInnen beziehen – wirksam werden. Den interaktiven Akt der Beschä- mung wie auch Formen des Umgangs und Versuche der Bewälti- gung gilt es, in ihrem konkreten Geschehen in der konkreten Le- benswelt nachzuvollziehen. So konkret die Sprache derjenigen ist, die die symbolische Ge- walt zum Aussprechen stigmatisierter Bewertungen haben, so schwer ist es, darüber zu sprechen, wenn man sich gegen Angriffe auf die eigene Selbstachtung schützen muss, um inmitten erlebter Missach- tungserfahrung noch ein positives Selbstbild zu begründen. Spricht man als Einzelne(r) da- rüber, wiederholt dies das Gefühl der Beschä- mung, da man sich als zu Verletztende(r), als Diskreditierbare(r) in den Augen der Anderen zu erkennen gibt. Aber auch als kollektive Ge- genmacht in Form von gruppenbezogenen Arti- kulationsformen und Gegenwehr führen Beschä- mungsaktivitäten zu weiteren Stigmatisierungen und zur Entpersönlichung, da die AkteurInnen durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit gruppenbezogenen Eigenschaftszuschreibungen stereotypisiert und stigmatisiert werden. Die Scham „brennt“ von innen – wie Neckel (1991, S. 25) in seiner Einleitung schreibt – die Wunden durch die Flammen zeigen sich aber meist indirekt, sie müssen aus dem konkreten Lebensalltag heraus interpretiert werden. Insbesondere, weil sich beschämt zu fühlen in der Folge von Individualisierung, Leistungskonkur- renz und tradierter „hegemonialer“ Männlichkeitsnorm (Connell 1995/2006) „selbst eine beschämende Angelegenheit geworden ist“ (Neckel 1991, S. 77). In einer Gruppendiskussionen, die wir mit Studierenden der Hochschule RheinMain an verschiedenen Schulen (Schulze/Wi- tek 2013) durchgeführt haben, beschrieb ein Junge, wie leise, ja gänzlich unhörbar die Stimme der Beschämung sein kann: „Wenn ich wegen meiner Hautfarbe gemobbt werde, versuche ich, aus der Abstract / Das Wichtigste in Kürze Gegenstand ist ein Beratungsgespräch, in dem ein Beschämungsszenario von einem Jugendlichen erzählt wird. Verschiedene Facetten von Verarbeitungsstrategien werden herausgearbeitet. Als „Nebenbei-Produkt“ einer an Kinderrechten orientierten Forschungspraxis entstand ein selbsttätiger Bildungsprozess hin zu Selbstvergewisserung und personaler Agency. Keywords / Stichworte Dominanzkultur, Interaktionsmacht, Gruppenzugehörigkeitszuweisung, Alltagsrassismus, asymmetrischer Beschämungskampf, Anerkennung. Heidrun Schulze *1958 Dr., Diplom-Sozialthera- peutin, Diplom-Sozialpä- dagogin, Professorin an der Hochschule Rhein- Main University of Ap- plied Sciences Wies- baden, Fachbereich Sozialwesen, Arbeits- schwerpunkte: Metho- dologie und Methoden qualitativer Forschung, Kontextuelle Kinderfor- schung, rekonstruktive Beratungsforschung, Bio- grafieforschung, Trau- ma und Gesellschaft, In- stitution und Interaktion, Narrative Beratung und Therapie. heidrun.schulze@ hs-rm.de Kathrin Witek *1980 MA Soziale Arbeit, Wis- senschaftliche Mitarbei- terin im Forschungspro- jekt „BeKinBera - Betei- ligung und Befähigung von Kindern und Jugend- lichen im Beratungspro- zess“, Hochschule Rhein- Main, Fachbereich Sozi- alwesen. Kathrin.Witek@ hs-rm.de 50 Sozial Extra 3 2014: 50-53 DOI 10.1007/s12054-014-0068-z Durchblick Scham und Beschämung

Beschämung statt Bildung?

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Page 1: Beschämung statt Bildung?

Beschämung statt Bildung?Wie im Beratungsgespräch aus Missachtungserfahrungen Selbstwirksamkeit konstruiert wird

„Die Stimme der Scham ist leise, ihre Sprache aber konkret“ schreibt Sighard Neckel (1991, S. 23) und stellt diesen Satz in seinem Buch „Status und Scham“ den sozialen und interaktionistischen Betrachtungen voran. Die Stimme ist leise, weil es aussichtslos scheint, dem normierenden Blick derjenigen, welche die Privilegien legitimierter Dominanz der Gesellschaft besitzen, zu entrinnen. Sie ist leise, weil die Lebensweisen von Menschen in der westlichen Kultur von Herrschaftserfahrungen durchdrungen sind, die diese zu einer Dominanz-kultur machen (Rommelspacher 1995) – auch, was von wem wie gehört wird.

Wenn in lebensweltlichen Situationen Beschä-mung stattndet, so ist immer sowohl Indivi-duelles wie Gesellschaftliches im Spiel. Durch die ungleiche Interaktionsmacht der AkteurIn-nen werden mit unterschiedlichen Strategien unsichtbare Hierarchisierungskategorien herge-stellt und Machtasymmetrien reproduziert. Be-schämungen nden sowohl o­ensichtlich, ganz oft aber scheinbar unbemerkt statt, weil sie im-mer auch in alltäglichen Routinen praktiziert werden. Sie erscheinen so selbstverständlich, weil sie in traditionellen Normalisierungs- und Denormalisierungspraxen symbolisch gefasst sind. Auch der Widerstand gegen diese Formen der Beschämung wird selbst wieder zum Gegen-stand von Stigmatisierung gemacht.

Beschämung ist soziales GeschehenBeschämung ist ein zutiefst soziales Geschehen,

das in konkreten Situationen, beim konkreten Sprechen zwischen Menschen in einer Gesell-schaft stattndet, wobei die in Ideologien ge-

fassten Ungleichheitsstrukturen – auf die sich beide AkteurInnen beziehen – wirksam werden. Den interaktiven Akt der Beschä-mung wie auch Formen des Umgangs und Versuche der Bewälti-gung gilt es, in ihrem konkreten Geschehen in der konkreten Le-benswelt nachzuvollziehen.So konkret die Sprache derjenigen ist, die die symbolische Ge-

walt zum Aussprechen stigmatisierter Bewertungen haben, so

schwer ist es, darüber zu sprechen, wenn man sich gegen Angri­e auf die eigene Selbstachtung schützen muss, um inmitten erlebter Missach-tungserfahrung noch ein positives Selbstbild zu begründen. Spricht man als Einzelne(r) da-rüber, wiederholt dies das Gefühl der Beschä-mung, da man sich als zu Verletztende(r), als Diskreditierbare(r) in den Augen der Anderen zu erkennen gibt. Aber auch als kollektive Ge-genmacht in Form von gruppenbezogenen Arti-kulationsformen und Gegenwehr führen Beschä-mungsaktivitäten zu weiteren Stigmatisierungen und zur Entpersönlichung, da die AkteurInnen durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit gruppenbezogenen Eigenschaftszuschreibungen stereotypisiert und stigmatisiert werden. Die

Scham „brennt“ von innen – wie Neckel (1991, S. 25) in seiner Einleitung schreibt – die Wunden durch die Flammen zeigen sich aber meist indirekt, sie müssen aus dem konkreten Lebensalltag heraus interpretiert werden. Insbesondere, weil sich beschämt zu fühlen in der Folge von Individualisierung, Leistungskonkur-renz und tradierter „hegemonialer“ Männlichkeitsnorm (Connell 1995/2006) „selbst eine beschämende Angelegenheit geworden ist“ (Neckel 1991, S. 77). In einer Gruppendiskussionen, die wir mit Studierenden der

Hochschule RheinMain an verschiedenen Schulen (Schulze/Wi-tek 2013) durchgeführt haben, beschrieb ein Junge, wie leise, ja gänzlich unhörbar die Stimme der Beschämung sein kann: „Wenn ich wegen meiner Hautfarbe gemobbt werde, versuche ich, aus der

Abstract / Das Wichtigste in Kürze Gegenstand ist ein Beratungsgespräch, in dem ein Beschämungsszenario von einem Jugendlichen erzählt wird. Verschiedene Facetten von Verarbeitungsstrategien werden herausgearbeitet. Als „Nebenbei-Produkt“ einer an Kinderrechten orientierten Forschungspraxis entstand ein selbsttätiger Bildungsprozess hin zu Selbstvergewisserung und personaler Agency.

Keywords / Stichworte Dominanzkultur, Interaktionsmacht, Gruppenzugehörigkeitszuweisung, Alltagsrassismus, asymmetrischer Beschämungskampf, Anerkennung.

Heidrun Schulze *1958

Dr., Diplom-Sozialthera-peutin, Diplom-Sozialpä-dagogin, Professorin an der Hochschule Rhein-Main University of Ap-plied Sciences Wies-baden, Fachbereich Sozialwesen, Arbeits-schwerpunkte: Metho-dologie und Methoden qualitativer Forschung, Kontextuelle Kinderfor-schung, rekonstruktive Beratungsforschung, Bio-grafieforschung, Trau-ma und Gesellschaft, In-stitution und Interaktion, Narrative Beratung und Therapie.

[email protected]

Kathrin Witek *1980

MA Soziale Arbeit, Wis-senschaftliche Mitarbei-terin im Forschungspro-jekt „BeKinBera - Betei-ligung und Befähigung von Kindern und Jugend-lichen im Beratungspro-zess“, Hochschule Rhein-Main, Fachbereich Sozi-alwesen.

[email protected]

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Sozial Extra 3 2014: 50-53 DOI 10.1007/s12054-014-0068-z

Durchblick Scham und Beschämung

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Situation rauszugehen, weil, ich will ja net als schwach gelten, al-so als Weichei, aber innerlich tut‘s halt schon weh, dann weine ich halt zu Hause.“Deutlich wurde uns nach den Gruppendiskussionen, dass es den

Kindern und Jugendlichen oftmals leichter el, über die eigene TäterInnenschaft zu sprechen als die eigene Beschämung darü-ber, „Opfer“ geworden zu sein, zu äußern. Ein weiterer Schüler sagt dazu Folgendes: „Ja, man fühlt sich groß, weil man da ja ei-nen runtermacht und der dann also immer kleiner wird und so.“

Scheinbare Unentrinnbarkeit alltagsrassistischer BeschämungspraxisDie potenzielle Befähigung und Beteiligung von Kindern und Ju-

gendlichen – insbesondere jener, die im familialen Umfang Gewalt erlebt haben – in Beratungs- und Interaktionsprozessen ist Gegen-stand des laufenden Forschungsprojekts BeKinBera („Beteiligung und Befähigung von Kindern und Jugendlichen im Beratungspro-zess“; www.bekinbera.de), für das Gespräche mit Kindern und Ju-gendlichen geführt, aufgezeichnet und bezüglich interaktiver Phä-nomene gesprächsanalytisch analysiert werden. Dabei haben wir auch den 15-jährigen Cem türkischer Abstam-

mung kennengelernt, der sich zurzeit des aufgenommenen und später transkribierten Gesprächs (Schulze 2012; vgl. www.bekin-bera.de) nach der Flucht aus einer anderen Stadt im Frauenhaus be-fand. Die Sozialpädagogin, die das Gespräch mit ihm führte, be-gann mit einer Anmerkung zu seiner neuen Schulsituation, da die Ortsveränderung einen Schulwechsel erfordert hatte (B = Bera-terin, C= Cem): B: Und heute warst du nicht in der Schule?C: Nein, also gestern war ich halt draußen, ja, und dann ging‘s

mir halt heute morgen nicht gut, also, ich hatte bisschen Kopf-schmerzen, und heute morgen hatte ich dann keine Lust, also ich konnte nicht aufstehen.

B: Hmm.C: Aber sonst ist die Schule echt ok.

B: Ja?C: Ja – also, ich gewöhn‘ mich dran.Seine Begründungen, warum er nicht in der Schule gewesen

sei, begann Cem zugleich mit einer Entproblematisierungsakti-vität („Aber sonst ist die Schule echt ok“), ohne dass die Schule „an sich“ von der Beraterin problematisiert wurde. Ihre anzwei-felnde Nachfrage veranlasste Cem jedoch, die vorauseilende De-problematisierung zurückzunehmen, indem er ganz vorsichtig ei-ne Selbstthematisierung seiner – nicht reibungslos erscheinenden – Erfahrung ansprach, allerdings beschwichtigend und leicht zö-gernd („Ja – also, ich gewöhn‘ mich dran“). Durch interessegeleitetes Fragen der Beraterin nach Cems Erfah-

rungen und seinen persönlichen Bedeutungszuschreibungen – und nicht nach Gründen der Entschuldigung, warum er nicht zu Schu-le gegangen sei –, schilderte Cem eine Lehrende-SchülerInnen-Interaktion, die eine Form alltagsrassistischer Äußerungen eines Lehrers aufzeigt. Diese Form des Rassismus scheint so alltäglich, weil sie sich durch Zuschreibung auf eine biograsch-geograsche Herkunft einer gesellschaftlich minorisierten Gruppe bezieht, mit der sich der Lehrer selbst in der Identität des „Etablierten“ kons-truiert und die SchülerInnen als „AußenseiterInnen“, als minder-wertig aufgrund der Konstruktion von Kulturzugehörigkeit stig-matisiert (Elias/Scotson 1965/1993).

B: Was heißt, du „gewöhnst dich daran“?C: Also meine Klasse ist halt sehr chaotisch. Ich wurde, glaub‘ ich,

in die asozialste Klasse von allen gesteckt.B: Was bedeutet „asozial“?C: Ja, zum Beispiel, also, die meisten Schüler sind Ausländer und

sind halt total unhö¯ich gegenüber dem Lehrer. Und der ist halt sehr sarkastisch, spricht halt immer sehr ausländerfeind-lich gegenüber uns. Der spricht halt immer die türkischen Sit-ten an, mit der Zwangsehe und so, dass es ihm nicht gefällt ... Und dann halt allgemein, spricht er halt meistens nur über türkische Sachen und so. Aber das ist ja halt normal, weil wir haben in unserer Klasse ja viele Türken und Ausländer – also, was heißt „viele“: so vier, fünf –, aber die sind halt, wie soll ich sagen, halt asozial.

B: Fühlst du dich angesprochen, wenn er über Ausländer spricht?C: Ja klar, der spricht ja immer wieder die Schwarzköpfe an, also –B: WAS sagt er? C: „Schwarzköpfe“, so die schwarzhaarigen Leute, das sind ja meist

die Ausländer, die Südländer. Klar fühlt man sich da angespro-chen. Wenn ich zum Beispiel mit den Jungs mal rumlaufe, so mit den Asozialen – und ich mach‘ eigentlich gar nichts, ich lauf‘ nur mit denen rum –, dann scheißt der mich halt an, dass ich nicht mit denen rumlaufen soll und so, obwohl ich gar nichts mache, halt Schlimmes sozusagen, aber ab und zu lauf‘ ich halt mit denen rum, weil die halt nett zu mir sind.

Plakat einer Veranstaltung zum Thema „Gewalt und Kinderrechte im

Kinderschutz“

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Alltagsrassische Beschämung als Gewalterfahrung Nachdem er über viele Jahre familiale Gewalt erlebt hatte, hat

Cem im Frauenhaus einen Ort gefunden, an dem diese Erlebnis-se nicht tabuisiert sind. Im Rahmen des Beratungsprozesses zeig-te sich, dass bei der Bewältigung seiner Erfahrungen die deutli-che gesellschaftliche Anerkennung von häuslicher Gewalt und ih-ren Folgen für Betro­ene Kinder und Jugendliche eine große Rolle gespielt hat. Dazu beigetragen haben die Strafanzeige, die gegen seinen Vater gestellt wurde, und die damit verbundenen polizei-lichen Interventionen. Die klare Benennung der physischen und psychischen Gewalt, deren Versprachlichung, konnte dazu beitra-gen, dass Cem sich zu den Gewalthandlungen des Vaters positi-onieren und eine für sich positive Identitätsarbeit in Abgrenzung zum Gewalttäter vollziehen konnte. Opfer körperlicher Gewalt-handlungen geworden zu sein, war kein Makel mehr für ihn, da er intersubjekte Anerkennung und strukturelle Unterstützung er-fahren hatte. Anders stellt sich die Beschämung durch die abwertende und

identitätsaufzwingende Gruppenzugehörigkeitszuweisung dar, die er in der machtvollen Interaktion in der Schule erlebt. Cem kämpft hier dagegen an, zugleich in den Augen des Lehrers und in der Wechselwirkung verschiedener Di­erenzkonstruktionen als „asozial“ und als „Türke“ gesehen und damit als minderwertig im Gegensatz zum höherwertigem „Deutschsein“, „Nicht-schwarz-köpg-sein“ (Blond-Sein?) stigmatisiert zu werden. Die Mitschü-ler_innen versuchen, mit einer Gegenbeschämung des Lehrers für ihren Selbstwert zu kämpfen, nämlich im asymmetrischen Be-schämungskampf nicht die „Unterlegenen“ zu sein und sich nicht auf die ihnen zugeschriebene Identität reduzieren zu lassen. Cems Weg hingegen entkommt der „unhintergehbaren Gleichzeitigkeit“ (Mecheril/Melter 2009, S.16) und der Wechselwirkung kon-textspezischer interaktiver, institutioneller und diskursiv ver-wobener Di­erenzkonstruktionen“ mit einer Selbstdistanzierung, indem er die MitschülerInnen als „Türken und Ausländer – also, was heißt ‚viele‘: so vier, fünf –, aber die sind halt, wie soll ich sa-gen, halt asozial“. Gleichzeitig versucht Cem, die Perspektive des Lehrers zu ver-

stehen. Er fühlt sich nicht in der Lage, die Situation zu ändern, nimmt jedoch – entsprechend der Dynamik der Beschämungsspi-rale – eine sensible, von außen betrachtende, analytische wie em-pathische Haltung ein: B: Also, für mich – du hast ja gesagt, der nimmt euch nicht ernst

–, ich nde, naja, dass das schon einen Schritt weitergeht, der wertet euch ja richtig ab, also, das ist ja richtig –

C: Ja, aber ich kann ihn auch einerseits verstehen, also die Schü-ler sind halt nicht gerade hö¯ich zu dem, und es gibt ja auch, die beleidigen den schon auch, aber würde der sich mal ändern, vielleicht würden die sich auch ändern – ich weiß es nicht. ... Der merkt das, also, der sieht also ziemlich verzweifelt aus, al-so auch, wenn man‘s ihm nicht ansieht, den juckt das meiste halt nicht, was man macht – Hauptsache, er verbringt irgend-wie den Tag, also, er kommt irgendwie durch.

Indem Cem die alltagsrassistischen Entwertungen und Praktiken in der Herstellung sozialer Ungleichheit des Lehrers übernimmt, zeigt sich seine Bestrebung, sich von der Gruppe einerseits ab-zugrenzen, von der er aber gleichzeitig Zugehörigkeit und Aner-kennung erfährt. Zugleich wird deutlich, dass Cem sich vom Ras-sismus des Lehrers zutiefst in seinem Selbstwert beschämt fühlt. Ein Gegenmittel hierzu zeigt sich in seinem Absetzungs- und Di-stanzierungsjargon, indem er das Konstrukt „Herkunft“ mit der Bedeutungszuschreibung „asozial“ aufgrund sozialer Verhaltens-weisen wie „unhö¯ich sein“ verknüpft. Cem äußert das Bedürfnis nach Anerkennung in seiner ihm zugeschriebenen minderwerti-gen, homogenisierten Gruppenzugehörigkeit. Indem er die hierar-chisierende Minderwertigkeitskategorie „asozial“ als Abgrenzung zu den anderen SchülerInnen aufgreift, übernimmt er die auf Ab-wertung zielende Herrschaftsnorm, die ihn selbst zum „Unterle-genen“ macht. Er übernimmt die Zuschreibung aus der ungleich-heitsherstellenden Perspektive des „zum Anderen machen“ von „normal“ versus „anders“ , „zugehörig“ versus „fremd“ und ver-sucht, sich von der durch kulturrassistische Verallgemeinerung entwerteten Herkunftsgemeinschaft zu distanzieren, um als In-dividuum gesehen und anerkannt zu werden – und um, wie sich zeigen wird, seinen eigenen Bildungswunsch und -weg voranzu-bringen. Nach der Auswertung des Gesprächs wurden – entsprechend

dem Forschungsparadigma der neuen Kindheits- und Kinderfor-schung (Beteiligung von Kindern im Forschungsprozess) und den Forderungen der Kinderrechtskonvention (Art. 12) – die Inter-pretationen anschließend mit Cem besprochen. Seine Meinung dazu wurde ebenfalls aufgenommen und transkribiert. Anschlie-ßend sagte Cem: „Ich will jetzt nicht unbedingt dazugehören, ich

World Café an Schulen zum Thema „Gewalt und Diskriminierung“ im

Rahmen eines Lehrforschungsprojektes an der Hochschule RheinMain

Wiesbaden

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Durchblick Scham und Beschämung

Page 4: Beschämung statt Bildung?

will halt einfach nur sozusagen nicht als Außenseiter dastehen, aber trotzdem ich selbst sein – ich will doch nur akzeptiert wer-den.“ Cems Aussage macht deutlich, wie er sich selbst als zerrissen und

gedemütigt wahrnimmt, in einer Situation kulturrassistisch her-gestellter Inferiorität, die auf der symbolischen Gewalt der Inter-aktionsmacht des Lehrers und des institutionellen Kontextes, der Schule, basiert. Während der familialen Gewaltsituation war die Schule für ihn ein „sicherer Ort“. Mit dem Eintritt in die neue Schule ist er in eine erneute Gewaltsituation geraten, die er als sol-che aber nicht benennen kann, da es sich bei der Sozialerfahrung von Alltagsrassismus um eine nicht anerkannte bzw. eine unsicht-bar gemachte Form von Gewalt handelt. Die damit verbundene so-ziale Praxis der Stigmatisierung, Minderwertigkeitszuschreibung, Erniedrigung und Diskriminierung mittels der Begri­e „Kultur“, „Ausländer“, „Schwarzköpfe“ gerät damit außerhalb der ö­entli-chen Wahrnehmung. Für Erfahrungen wie diese gibt es – nicht nur für Cem – keinen

kollektiv anerkannten Sprachraum, vielmehr zeigt sich die Ten-denz, das Erleben rassistischer Praxis gesellschaftlich zu bagatel-lisieren, weil es sich bei der Diskriminierung durch Rassismus, dem alltäglich praktizierten und machtvollen Zugehörigkeitsma-nagement, um eine die Gesellschaft grundlegend strukturieren-de Form der Gewalt handelt. Nicht die Tatsache, dass mit Rassis-mus vielfältige Rassismen einhergehen, kennzeichnet den institu-tionellen und gesamtgesellschaftlichen Alltag, sondern, dass er als Gegebenheit verleugnet wird. Dies führt dazu, dass Beschämun-gen durch Anerkennungsentzug und dessen Nicht-gehört-Wer-den nicht als Gewalt wahrgenommen werden, die Beschädigun-gen der Personen „ungehört“ und die existenziellen Auswirkun-gen ungesehen bleiben.

Verharmlosung von Beschämung als BewältigungsstrategieWas den Schmerz ausmacht, darf nicht gefühlt werden, denn die

Verletzlichkeit der Betro­enen wird zur Zielscheibe erneuter Be-schämung, der Cem auch in einem Re¯exionsgespräch zur Aus-wertung des Beratungsgespräches (ähnlich wie der Junge in der Gruppendiskussion) zu entgehen versucht: „Also, es freut mich schon, dass die halt an meine Lage denken, das zaubert mir schon ein Lächeln ins Gesicht ... Also, wie gesagt, ich seh‘ des jetzt nicht so schlimm an ..., also, ich nehm‘ das Problem jetzt nicht so ernst, also, ich bin jetzt nicht so einer, der jetzt sofort in die Ecke geht und jetzt heult oder so.“In diesem Klima der Missachtung ist es Cems Strategie, dem Pro-

blem in den Augen der anderen keine große Bedeutung beizumes-sen. Als er gefragt wurde, wie die Rückmeldungen der „Interpre-tationsgruppe“ auf ihn gewirkt haben, antwortete er: „Also, ich wusste nicht mal, dass dieses Gespräch so ernst genommen wird, also, dass ihr jetzt ‘ne Stunde darüber so redet. Also, mir selbst ist das jetzt nicht so wichtig eigentlich.“Cem machte deutlich, dass er der Situation in der Schule vor dem

Beratungsgespräch und dem wiederholten Hören durch die digi-

tale Aufnahme der ihm in Form eines Videos präsentierten Ana-lyse und dem danach mit ihm durchgeführten Interview keine große Bedeutung beigemessen hatte. Dass er sich durch die inter-aktive Gestaltung im Beratungsgespräch wie durch die „Interpre-tationsgruppe“ gehört und verstanden fühlte, freute ihn, gleich-zeitig war seine Beschämung weiterhin spürbar, wie auch seine Bewältigungsaktivität. Ein Nebene­ekt des Forschungsprojekts bestand darin, dass Cem

sich nicht auf die Interpretationen der ForscherInnen reduzieren lassen wollte. Cem setzte hier einen Bildungsprozess fort, der im Rahmen des Befähigungsansatzes als äußerst stärkend und gesund-heitsfördernd verstanden werden kann, da er abschließend selbst seine Handlungsmächtigkeit hervorhob. Das interaktive Gesche-hen zwischen Beraterin und Forschungsteam hat beigetragen zur „Stärkung der Lebenssouveränität von Heranwachsenden durch die Verminderung bzw. den gekonnten Umgang mit Risiken und eine Förderung von Verwirklichungschancen, Entwicklungs- und Widerstandsressourcen“ (BT-Drs-16/12860 2009, S. 17). In Cems eigenen Worten hört sich das so an: „Die haben halt erkannt, dass ich auch eine Chance haben will und dass ich nicht abgestem-pelt werden will halt, äh, als Ausländer, sondern dass ich bewei-sen will, dass ich auch was im Kopf habe, dass ich nicht so bin wie die, nur weil ich mit denen halt abhänge. So viele von denen sind halt so, dass die auf die Schule scheißen. Ich bin aber halt nicht so. Ich bin halt einer, der so auf meine Zukunft achtet. Ja, auch wenn man‘s halt nicht erkennen mag: Ich mach‘ mein Ding.“ s

Literatur

BT-DRS. 16/12860 (DEUTSCHER BUNDESTAG. DRUCKSACHE VOM 30.04.2009) (2009). Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. 13. Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung. Berlin. Online verfügbar: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/128/1612860.pdf [Zugri�: 31.03.2014]

CONNELL, ROBERT W. (2006). Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten (Reihe: Geschlecht & Gesellschaft, Bd. 8). 3. Au¡. Wiesbaden (engl. Orig. 1995)

ELIAS, NORBERT UND SCOTSON, JOHN L. (1993). Etablierte und Außenseiter. Taschenbuchausg. Frankfurt (engl. Orig. 1965)

MECHERIL, P. UND MELTER, C. (2009): Rassismustheorie und –forschung in Deutschland. Kontur eines wissenschaftlichen Feldes. In: Melter, C. und Mecheril, P. (Hrsg.): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und –forschung (S. 13-22). Schwalbach/Ts.

SIGHARD, NECKEL (1991). Status und Scham. Zur Symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit (Reihe: Theorie und Gesellschaft, Bd. 21). Frankfurt/New York

ROMMELSPACHER, BIRGIT (1995). Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin

SCHULZE, HEIDRUN (2012). Beteiligung und Befähigung von Kindern und Jugendlichen im Beratungsprozess (BeKinBera). Mikroanalyse von Beratungsprozessen zwischen Erwachsenen und Kindern/Jugendlichen zur Verbesserung der psychosozialen Praxis mit von Gewalterfahrung betro�enen Kindern und Jugendlichen. Forschungsantrag. Wiesbaden

SCHULZE, HEIDRUN UND WITEK, KATHRIN (2013). „Jetzt weiß ich endlich, dass ich sprechen sollte“. Ausstellungsplakate in der Ausstellung des Lehrforschungsprojektes „Kinderperspektiven zum Thema‚Gewalt und Kinderrechte im Kinderschutz“ an der Hochschule RheinMain Wiesbaden.

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