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II. Die Grundgedanken seiner Philosophie a) Der kritische Ausgangspunkt Yorck hatte in starkem Maße das Gefühl, am Ende einer Geschichtsperiode zu stehen. „Unsere Zeit, schreibt er 1892 an Dilthey, hat etwas von dem Ende einer Epoche. Ein Zei- chen dafür ist das Schwinden der elementaren Freude an der historischen Gegebenheit." Aber bei dieser Feststellung bleibt er nicht stehen, sein ganzes denkerisches Bemühen geht viel- mehr darauf aus, diese Krise zu verstehen und sie durch „Selbstbesinnung" überwinden zu helfen. Wie für jeden großen Denker ist auch für Yorck die Philosophie kein Selbstzweck, vielmehr erscheint ihm „das Praktisch-werden-Können . . . (als) der eigentliche Rechtsgrund aller Wissenschaft" (B, S.42), und weiter schreibt er dem Freunde: „Die praktische Ab- zweckung unseres Standpunkts ist die pädagogische, im wei- testen und tiefsten Wortsinne. Sie ist die Seele aller wahren Philosophie und die Wahrheit des Piaton und Aristoteles." Umgekehrt erblickt Yorck in der herrschenden pädagogischen und vor allem auch politischen Praxis die notwendigen Folgen einer „Bewußtseinsstellung", die rein und reflektiert in der zeitgenössischen Philosophie zum Ausdruck kommt (vgl. S. 107, 127, B, 98f.). Wie Dilthey sucht auch Yorck nach einer leben- digeren geisteswissenschaftlichen Psychologie, die zur Grund- lage des Erfassens der historischen Wirklichkeit werden kann. Aber energischer als sein Freund drängt er über das bloße Verstehen hinaus zum Neubau, einem Neubau freilich, der wesentlich in und durch historisches Verstehen sich vollziehen soll. Denn mit dem Schwinden eines Verständnisses für ge- schichtliche Dimensionen hat die Gegenwart auch das innere Verhältnis zum Staat und seinem Leben verloren. Die Wieder- gewinnung eines (bewußteren und reiferen) Verhältnisses zur Geschichte impliziert damit auch die Wiederherstellung des gestörten Verhältnisses der Menschen zum Staat und damit eine Gesundung der Politik., 8 Brought to you by | Columbia University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 11/24/13 1:13 PM

Bewusstseinsstellung und Geschichte (ein Fragment aus dem philosophischen Nachlass) || EINLEITUNG. II. Die Grundgedanken seiner Philosophie

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Page 1: Bewusstseinsstellung und Geschichte (ein Fragment aus dem philosophischen Nachlass) || EINLEITUNG. II. Die Grundgedanken seiner Philosophie

II.

Die Grundgedanken seiner Philosophie

a) Der kritische Ausgangspunkt

Yorck hatte in starkem Maße das Gefühl, am Ende einer Geschichtsperiode zu stehen. „Unsere Zeit, schreibt er 1892 an Dilthey, hat etwas von dem Ende einer Epoche. Ein Zei-chen dafür ist das Schwinden der elementaren Freude an der historischen Gegebenheit." Aber bei dieser Feststellung bleibt er nicht stehen, sein ganzes denkerisches Bemühen geht viel-mehr darauf aus, diese Krise zu verstehen und sie durch „Selbstbesinnung" überwinden zu helfen. Wie für jeden großen Denker ist auch für Yorck die Philosophie kein Selbstzweck, vielmehr erscheint ihm „das Praktisch-werden-Können . . . (als) der eigentliche Rechtsgrund aller Wissenschaft" (B, S.42), und weiter schreibt er dem Freunde: „Die praktische Ab-zweckung unseres Standpunkts ist die pädagogische, im wei-testen und tiefsten Wortsinne. Sie ist die Seele aller wahren Philosophie und die Wahrheit des Piaton und Aristoteles." Umgekehrt erblickt Yorck in der herrschenden pädagogischen und vor allem auch politischen Praxis die notwendigen Folgen einer „Bewußtseinsstellung", die rein und reflektiert in der zeitgenössischen Philosophie zum Ausdruck kommt (vgl. S. 107, 127, B, 98f.). Wie Dilthey sucht auch Yorck nach einer leben-digeren geisteswissenschaftlichen Psychologie, die zur Grund-lage des Erfassens der historischen Wirklichkeit werden kann. Aber energischer als sein Freund drängt er über das bloße Verstehen hinaus zum Neubau, einem Neubau freilich, der wesentlich in und durch historisches Verstehen sich vollziehen soll. Denn mit dem Schwinden eines Verständnisses für ge-schichtliche Dimensionen hat die Gegenwart auch das innere Verhältnis zum Staat und seinem Leben verloren. Die Wieder-gewinnung eines (bewußteren und reiferen) Verhältnisses zur Geschichte impliziert damit auch die Wiederherstellung des gestörten Verhältnisses der Menschen zum Staat und damit eine Gesundung der Politik.,

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Yorcks Gedankengang kann man in zwei Seiten zerlegen; einmal wird der Nachweis geführt, daß die in seiner Gegenwart herrschende „Bewußtseinsstellung" an ihr Ende gekommen ist, zum anderen sucht Yorck zu zeigen, daß allein eine bewußte Wiederaneignung des reformatorisch gereinigten Christentums eine lebendige Auffassung der lebendigen Ge-schichte ermöglichen kann.

Bei seiner Beurteilung der Gegenwart geht Yorck davon aus, „daß das Zeitalter des Mechanismus: Galilei, Descartes, Hobbes virtuell Gegenwart ist" (B, S.68). Der Mechanismus ist für das moderne konstruierende Bewußtsein noch immer kennzeichnend und, was als „Gegenbewegung" sich ausgibt, stellt in Wahrheit nur eine „Nebenströmung" dar. Das gilt z.B. für die „sogenannte historische Schule", die Yorck „eine bloße Nebenströmung innerhalb desselben Flußbettes" nennt und die er richtiger als „ästhetisch-antiquarische" bezeichnen möchte. Ja die Romantik insgesamt erscheint als eine solche Nebenströmung, oder auch als bloß äußerliches „Komplement des Mechanismus". Es hat sich aber gezeigt, „daß das ästhe-tische Komplement der Mechanik bankrott gemacht hat" (B, S. 128). Während Dilthey sich immer als einen Nachfahren der deutschen Bewegung zu begreifen bestrebt ist, will Yorck auch mit der „deutsch-nationalen Nebenströmung" radikal brechen. Die Neufundierung der Geisteswissenschaften und vor allem die Wiederherstellung des gestörten Verhältnisses zur geschichtlichen Wirklichkeit erfordert - nach Yorck - eine viel tiefgreifendere Wendung. „Es muß eben von Neuem wie-der einmal hinabgestiegen werden zum tiefen Quell des Be-wußtseins um neues Lebenswasser zu schöpfen" (B, S.244). Diese Wendung, die sich in dem „tiefen Vergänglichkeits-gefühl" andeutet, das unsere Zeit erfaßt hat, soll durch „Selbst-besinnung" ins Bewußtsein gehoben und befördert werden. Durch Aufweis der Unfähigkeit der bislang herrschenden „Bewußtseinsstellung" zum Erfassen des lebendigen geschicht-lichen Geistes und zur Herstellung des dauerhaften politischen Verbandes will Yorck die notwendige „Wendung" herbei-führen. Darin besteht sein pädagogisches Ziel. „Daß (aber)

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. . . radikal nur Pädagogik helfen kann, das wird immer mehr zum Allgemeingefühl'' (B, S. 138).

Der Mechanismus ist außerstande, Geschichtlichkeit (le-bendigen Geist) zu erfassen. Konstruktion ist sein universales Bedürfnis und daher wird „Handlichkeit" als Ergebnis der Analyse erstrebt, die Gegebenheit in „Atome" zerlegt und nur „willentlich", durch „souveräne Aktivität" (S. 155) wieder zu-sammengefügt. Jede Ganzheit, jedes Konkretum wird als ein Kompositum verstanden, aller Syndesmos, alle Bindung geht verloren und an seine Stelle tritt künstliche, äußerliche Syn-these. Parallel mit der Entwicklung des konstruktiven Den-kens entfaltet sich der neuzeitliche Nominalismus, der die objektive, anschauliche Gestaltlichkeit der Ideen und des νοϋς selbst zum formellen Schema verblassen läßt. Allein das Ein-zelne, Individuelle erscheint als Realität. Gegenüber diesem nominalistischen und individualistischen Denken begrüßt Yorck den Realismus von Schmoller und Gierke, der „die Realität der (juristischen) Gesamtperson gegen jede Fiktions-lehre zu verfechten suchte" (K, S.81). Doch darf dieser von Yorck begrüßte Realismus keineswegs mit dem mittelalter-lichen Ideenrealismus verwechselt werden (K, S. 80), den Yorck gerade als eine Form der zur Erfassung des sich wandelnden Lebens unfähigen Gestaltsmetaphysik ablehnen mußte. Auch offenbart sich ja geschichtlichem Verstehen die Auflösung des mittelalterlichen Realismus zum Nominalismus als eine not-wendige Zersetzung der überkommenen antiken Bewußtseins-stellung durch die mit ihr amalgamierte christliche. Wenn der Gedanke der Schöpfung ernstgenommen wurde, fiel der νους als ein Inbegriff ewiger Wesenheiten fort. Im Gegensatz zu diesem alten Realismus basiert der Yorcksche nicht auf der Schau einer Ideenhierarchie, sondern auf dem Innewerden des lebendigen konkreten Zusammenhangs, auf der gefühlten, un-mittelbaren Erfahrung der „Zugehörigkeit" des Einzelnen zu Geschichte und geschichtlicher Gemeinschaft. „Historische Wirklichkeit (ist) Empfindungsrealität" (B, S. 113) und daher auch nur vom Empfinden her, durch das Empfinden aufzu-nehmen. Das heißt nicht, daß der Intellekt ausgeschaltet

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werden soll, sondern nur, daß ihm eine bloß vorbereitende, sichtende und klärende Aufgabe zufällt, während die eigent-liche und entscheidende „Aneignung" im Empfinden ge-schieht, für das allein „Person, Gemeinschaft, Charakter" wirklich sind. Die mechanistische Einstellung hat aber auch auf ihrem begrenzten Gebiete durchaus ihre Berechtigung: „Wo es sich um Willensdaten, um Wirklichkeit im engeren Sinne, populär gesprochen: um äußere Natur und Welt han-delt, da ist die Konstruktion - der Provenienz (vom Willen) wegen - dem Objekte adäquat, aber schon wo es sich um die Erfassung des Somatischen handelt, das mit dem Psychischen eng verbunden ist, wird der ,Befund nicht nur reduziert, son-dern alteriert" (B, S. 179). Als durchgehende Lebenshaltung aber befriedigt der Metdianismus selbst zeitgenössische Denker, die von den Naturwissenschaften ausgehen, nicht mehr. So fügen „Fechner und Lotze, die letzten bedeutenden Syste-matiker, dem festgehaltenen Mechanismus . . . als ein äuße-res Komplement aus Gemütsbedürfnis den Rahmen des ä s the t i s chen Ideal i smus hinzu" (S. 127, vgl. B, S.70f.).

Diese klare kritische Position Yorcks gegenüber seiner Zeit und sein hohes geschichtliches Einfühlungsvermögen wurden durch seine eigentümliche lutherische Christlichkeit ermöglicht. Nur weil Yorck überzeugt war, in dem reformatorisch gerei-nigten Christentum eine „Bewußtseinsstellung" zu haben, die «ine volle Erfassung des geschichtlichen Lebens ermöglicht, konnte er zugleich den historischen Wandel begreifen und den-noch gegenüber relativistischen Anfechtungen eine feste Stel-lung beziehen. Für Yorck ist das Christentum nicht allein ein historischer Gegenstand unter anderen, sondern zugleich auch „Leben", ja „des Lebens Leben" und als solches das Subjekt der Erfassung lebendiger Wirklichkeit par excellence. Auf diese reine und radikale Bewußtseinsstellung des Christentums drängt aber die gesamte Entwicklung hin, denn alle meta-physischen Versuche der „Äternisierung", der Flucht aus der Vergänglichkeit sind fehlgeschlagen und haben sich als illu-sorisch erwiesen. Gegenüber aller selbstherrlicher Metaphysik erkennt Yorck die befreiende Haltung christlicher Transzen-

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denz, die ein lebendiges Erfassen der sich wandelnden Empirie ermöglicht, weil sie keinen festen Halt mehr suchen muß, son-dern einen jenseitigen immer schon besitzt.

b) Transzendenz gegen Metaphysik

Eine ablehnende Haltung gegenüber der Metaphysik ist im 19. Jahrhundert keine Seltenheit, aber Yorcks Ablehnung ist mit einem tiefen historisch-psychologischen Verstehen ver-bunden, das die verschiedenen Gestalten antiker und moderner Metaphysik als Ausprägungen des jeweiligen Lebensgefühls -also aus ihren lebendigen Motiven heraus in ihrer Notwendig-keit - begreift.

Am deutlichsten spricht Yorck das Motiv allen meta-physischen Verhaltens in seiner Heraklitarbeit aus: „Inmitten des Vergänglichkeitsgefühls sucht der Mensch einen unver-gänglichen Halt behufs Selbsterhaltung" (Herakli t , 13b). In dem vorliegenden Fragment kennzeichnet Yorck die Hal-tung des Metaphysikers sogar als „Selbstbehauptung", der die religiöse „Selbsthingabe" diametral entgegengesetzt ist (S.44). Die Metaphysik erscheint als eine „Setzung der Willens-energie", Religion als ein „Resultat der Willensohnmacht, (als) Gefühlsbedürfnis".

Ermögl icht wird aber die metaphysische Position durch die Struktur der „psychischen Lebendigkeit selbst", näher durch den eigentümlichen Charakter des Prozesses der Vor-stellung (Ver-räumlichung). „Jeder Akt des Denkens, welches, so abstrakt es angenommen werden möge, als Vorstellung bildend in der Anschauung wurzelt, hebt aus der bewegten Lebendigkeit ein Bild oder einen Begriff absondernd heraus als ein Festes und relativ Bleibendes, und diese allgemeine Natur des Denkvorgangs ist der Ursprung, die psychische Möglichkeit aller Metaphysik. Die Konkurrenz (d.h. Bei-hilfe I.F.) des wertenden Wollens äternisiert den der Zeitlich-keit in dem Vorstellungsvorgange zeitweilig enthobenen Vor-stellungsinhalt. Es ist aber jene Willenskonkurrenz, jene Wer-

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tung kein Akt der Willkür, vielmehr ein Postulat der Leben-digkeit selbst" (Heraklit, 13b). An anderer Stelle wird der gleiche Gedanke noch klarer formuliert: „Das vorstellende Verhalten als solches ist ein Festhalten, eine Fixation, ein Herausheben und Absondern aus der zeitlich ablaufenden Zu-ständlichkeit. Hier liegt die psychische Wurzel aller Meta-physik, welche nur die wi l lent l iche Stabi l i s ierung, Äternis ierung der re lat iven Zei t los igkei t jeder Vor-s te l lung - έπιστήμη - i s t" (Heraklit , 30a, Sperrungen von mir). Dieser Zusammenhang von Vorstellen, Verräum-lichen und Metaphysik wird auch im vorliegenden Fragment immer wieder hervorgehoben (SS. 44, 64f., 129f., 174,177 usf.), die Analyse der Raumvorstellungen und ihrer Geschichte steht hiermit in engstem Zusammenhang (SS. 76-82, 100-105, 128-131, 149, 176f. usw.).

Metaphysisch ist für Yorck soviel wie „metapsychisch", d.h. absehend von dem lebendigen psychischen Motivations-zusammenhang (vgl. B, S. 196). Hierzu bemerkt Kaufmann ,,an dieser Doppelwortbildung . . . wird sehr deutlich, was Yorck methodologisch unter Metaphysik versteht: das Ver-lassen psychischen Bodens; den Versuch, den Zusammenhang der Lebenswirklichkeit nicht aus den Grenzen des Lebens, sondern aus der Abstraktion, in Beschränkung auf eine Le-benskomponente und in einseitiger Auswirkung von deren Tendenz zu erfassen. Das ergibt, wo der Intellekt als Funktion des Willens auftritt thetische Konstruktion statt ursprüng-lichen Zusammenhangs" (K, S.212).

Der Inbegriff der Metaphysik ist für Yorck der Platonis-mus (B, S. 256), das moderne, nachchristliche Denken hat im Grunde alle metaphysische Gestaltlichkeit zerstört, jedenfalls nachdem die Reformation das „antik-christliche Amalgam" des Mittelalters zersetzt hatte. Die Tendenz der Neuzeit geht auf souveräne Konstruktion, nicht auf gestalthafte Anschau-ung. Solange der Konstruktionsgedanke mit der konkreten Praxis verbunden blieb, konnte er die Menschen auch „be-friedigen", aber mit der Erhebung zur reinen Theorie und deren Isolierung ging das Wirklichkeitsgefühl (allein für Wille

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und Empfindung ist Wirklichkeit als Widerstand oder Emp-findungsrealität) verloren. Im deutschen Idealismus, vor allem bei Hegel findet Yorck den Versuch, die verlorengegangene Realität durch eine Aufnahme der gestalthaften Anschaulich-keit des Denkens zurückzugewinnen, wozu freilich die spe-zifisch-modernen (dynamischen) Momente dieses Denkens in unüberbrückbarem Gegensatz stehen. Dieser Gegensatz wird durch die beiden Hauptbegriffe der Hegeischen Philosophie Begriff und Idee gekennzeichnet. Der begreifende Begriff (als Tun) entstammt der modernen Denkentwicklung, während die (gestalthafte und geschaute) Idee dem antiken Philoso-phieren entspringt. Die von Hegel behauptete Deckung bzw. Identifizierung beider muß - nach Yorck - wegen der grund-sätzlich verschiedenen „Ver-haltung", der sie entspringen, scheitern. In der Tat gehe Hegel zumeist von der geschauten Gestalt aus, um erst nachträglich die dialektische Bewegung zu konstruieren, die diese Gestalten erzeugt hat (S. 125).

Die christliche Bewußtseinsstellung (radikaler Transzen-denz) hat ursprünglich durch ihre Weltfreiheit das moderne mechanistische konstruktivistische Bewußtsein ermöglicht. Dieses aber vermag, von seiner historischen (und psychischen) Wurzel losgelöst, die Menschen nicht zu befriedigen. „Ergän-zungen" durch andere (ästhetische) Einstellungen, wie sie die Romantik und Hegel versucht haben, sind notwendig zum Scheitern verurteilt. Es bleibt bei einem bloß äußerlichen „Komplement". Metaphysik ist streng genommen nicht mehr möglich, weil sie der modernen Bewußtseinshaltung wider-spricht. Für dieses souverän konstruierende Verhalten kann es keine gestalthaften Einheiten (von Staaten, Familien usw.) geben, sondern nur „handliche" Atome, deren Auffindung ein Postulat seines Vorgehens ist. Damit wird jeder geschichtlich-staatliche Verband in Frage gestellt und als Gegenkraft gegen die Atomisierung (Sandkörner) die diktatorische Gewalt (die „Faust") auf den Plan gerufen.

Jetzt, nachdem sich das Daseinsgefühl nicht mehr im gestalthaften Schauen unmittelbar bejaht und wiederfindet, kann und muß das Leben selbst unmittelbar fühlend erfaßt

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werden. Das aber ist allein von einem „transzendenten Stand-punkt" aus möglich, wie ihn das Christentum gewährt. Wäh-rend „die Verräumlichung als eine radikale funktionelle Ab-straktion von der Empfindung . . . die Manifestation des Ande-ren als eines das Selbst konstituierenden Momentes" darstellt (S. 177), ist die Erfassung der lebendigen geschichtlichen Wirk-lichkeit umgekehrt eine Manifestation des Selbst als eines das Andere konstituierenden Momentes. Es zeigt sich nicht mehr das Andere als Moment des Selbst, sondern das Selbst als Moment des Anderen, das Andere wird als ein Selbst, als lebendig strukturierte Kraft (d.h. Gott wird als Person) un-mittelbar erfahren. Der „Geist der Geschichte . . . ist. . . brü-derlich und verwandt" (B, S. 133).

c) Geschichtsphilosophie als Psychologie der Geschichte

Wie Dilthey, nur mit größerer Bewußtheit und Radikalität, sucht Yorck nach einer „neuen Erkenntnistheorie" ge-schichtlichen Erkennens (B, S. 180). Diese weist nach, „daß der Intellekt aus seinen Voraussetzungen und seiner Verhal-tung . . . nicht ausreichend . . . zur Erklärung der gewiß soma-tisch bedingten, aber nicht somatisch gearteten Geschichtlich-keit, . . . nicht ausreichend zum Ergreifen der Persönlichkeit . . . in ihrer Lebendigkeit. . ." ist (a.a.O.). Allein das „Leben (ist) das Organon für die Auffassung der geschichtlichen Leben-digkeit" (B, S. 167). Oder konkreter formuliert: „Das Erkennt-nisorgan ist und bleibt der Mensch und die Erkenntnis-mittel sind in dem psychischen Capitale strukturierter Leben-digkeit beschlossen" (S.223). „Trenne ich den lebendigen Vor-gang" geschichtlichen Erkennens, „so kommen auf die eine Seite die psychischen Kategorien zu stehen, von denen man sagen könnte, daß sie an den Stoff herangebracht werden, wenn nicht der Stof f eigen Fleisch und Blut wäre" (a.a.O.). Die psychische Lebendigkeit des ganzen Menschen und das geschichtliche Leben erscheinen Yorck als „zugehörig"

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und „verwandt", allein diese Zugehörigkeit ermöglicht und garantiert echte und volle Erkenntnis. Der Ausgangspunkt ist daher immer die Analyse des „Selbstbefundes". Zugleich aber hat diese innere Verwandtschaft zur Folge, daß die hingebende Beschäftigung mit der Geschichte für den Forscher eine innere Bereicherung bedeutet. Wird das Selbst (scheinbar) „aus-gelöscht und die Sache zum Reden gebracht", so ist „zugleich . . . das Selbst in höchstem Grade lebendig gewesen, indem es die Sache erlebte" (B, S.2). „Die Aneignung (geschichtlichen Lebens) ist zugleich eine erweiternde Entäußerung " (a.a.O., S. 223). In der Selbstbesinnung erfasse ich mich als h is tor isch best immt. „Gerade so wie Natur bin ich Geschichte . ." Daraus aber folgt für Yorck, „daß Geschichte als Wissenschaft nur Psycholog ie der Geschichte sein kann" (B, S.71f.). Was als Vergangenes gewußt wird, aber in der Gegenwart nicht mehr lebt, ist nicht eigentlich geschichtlich, sondern von bloß „antiquarischem Interesse". „Ich möchte von meinem Stand- und Gesichtspunkte aus bemerken, daß die wissen-schaftlich adäquate Darstellungsweise regressiv sein würde. Die Geschichtserkenntnis, welche von der e igenen Leben-digkei t aus sich rückwärts wendet zu dem der Erscheinung nach Vergangenen, der Kraft nach Aufbehaltenen würde in der Darstellung eine Analysis der Gegenwart der Vergangen-heit vorausschicken und damit zugleich eine Kontrolle bieten für das Geschichtliche gegenüber dem Antiquarischen" (B, S. 167).

Alle Erkenntnis, soweit sie in Urteilsform auftritt, ist für Yorck eine Beziehung von zwei Gliedern verschiedener psy-chischer Provenienz. Das wird in dem Heraklitmanuskript an dem Satz: „Die Linie ist die kürzeste Verbindimg zwischen zwei Punkten" erläutert. „Kürze und Länge sind Zeitbestim-mungen. Die Strecke ist kurz, welche mit Blick oder Fuß zu durchmessen geringe Zeit erfordert." Die Zeitlichkeit aber ent-stammt nach Yorck dem Gefühl der Vergänglichkeit. „Die Linie aber ist eine okulare Bildlichkeit," (Heraklit. 58b) ent-stammt also der Vorstel lung. „Diese Beziehung aber zweier Positionen von verschiedener psychischer Provenienz ist ein

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Urteil" (a.a.O.). „Nicht im Subjekt ist das Prädikat, ebenso-wenig in dem Prädikate das Subjekt. Vielmehr Effekte der strukturierten Lebendigkeit sind beide und keines vor dem anderen. Die Bildung des okularen Bildes ist beg le i te t von einem Gefühls- oder Empfindungswerte und die konkrete Genesis in einen diskreten Bezug setzen, heißt Urteilen. Keine Aussage, welche der lebendigen Differenz ihrer Glieder ermangelt, ist ein Urteil" (Heraklit., 59a). Damit bleibt aber die urteilsmäßige Erkenntnis notwendig immer partikular, weil sie an die abstrakte Vereinzelung der psychischen Funk-tionen gebunden ist und eine einzelne Funktion nie adäquat (sondern höchstens symbolisch) die „Fülle der konkreten Le-bendigkeit" wiederzugeben vermag. Die Lebendigkeit kann sich so nie „voll und ganz zum Ausdruck bringen" (S. 84). Eine Befriedigung aber gewährt derartiges partikulares Er-kennen solange, als das „Einheitsgefühl" in der psychischen Besonderung sich findet. Wenn im Erkenntnis Vorgang eine „Rücknahme der diskreten Äußerlichkeit in die Einheit des Gefühls" (Heraklit. , 30b) stattfindet, so wandelt sich die Er-kenntnis mit dem Wandel des je bestimmenden historischen Verhaltens. Für die Griechen war z.B. das Gesta l tgefühl die Art, wie sie ihre eigene Lebendigkeit erfaßten. Ihr „leben-diges Selbstbewußtsein" war plastischer Natur. Deshalb be-friedigte sie auch eine Erkenntnis, in der ein Projektum auf ein innerlich empfundenes Gestaltverhältnis zurückgeführt wird. Faßt sich nun das lebendige Selbstbewußtsein nicht als Ge-staltsgefühl, sondern als Zweckempfindung, so werden naturgemäß ganz andere Erkenntnisse als befriedigend er-fahren.

Drei Grundtypen historischer Lebendigkeit, geschichtli-chen Selbstbewußtseins unterscheidet Yorck. Bei den Griechen (und etwas abweichend bei den Indern) ist das anschauend-vorstellende Verhalten dasjenige, was als Betätigung des eigen-sten Wesens erfahren wird, worin sich die Menschen frei und befriedigt fühlen. Das Selbstgefühl ist anschauend-vorstellend. Bei den Römern (und wiederum abweichend bei den Juden) ist das historische Selbstgefühl willentlich bestimmt. Willens-

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Setzungen und Zwecksbestimmungen werden als wesensver-wandt erfaßt. Erkenntnis kommt zur Ruhe, wenn sie bei einem Zweckverbande angelangt ist. Während das zentrale Gefühl bei den Griechen gewissermaßen an die Schau der Gestaltlich-keit fixiert ist und bei den Römern an der Willensbestimmung und Zwecksetzung hängt, ist es endlich im Christentum „gegen sich (selbst) gewandt und damit frei von aller Gegebenheit" (S. 44). Damit ist die Sonderstellung des Christentums als Bewußtseinshaltung erklärt. Eine Haltung, die freilich rein erst durch die Luthersche Reformation herausgearbeitet wurde und in ihrer prinzipiellen Bedeutung von Yorck erst-malig erfaßt worden ist. Das (zentrale) Gefühl ist nicht mehr wie bei der griechischen oder römischen Bewußtseinsstellung wesenhaft (es zum Wesen machend, denn der Wesensbegriff entspringt ja erst bestimmtem Fühlen) auf ein anderes ge-richtet (Vorstellen, Wollen), sondern auf sich selbst, es wird hinter die Ur-teilung des Selbstbewußtseins zurückgegangen. Die gesamte Lebendigkeit wird hiermit erstmalig erfaß-bar, und zwar gerade dadurch, daß ,,in der Projektion der Empfindung eine radikale Selbstentäußerung stattfindet" (S. 134). Das heißt aber, daß allein von dieser durchs Christen-tum herrührenden „Bewußtseinsstellung" aus ein lebendiges Erfassen der Geschichte, d. h. eine „philosophische Geschichte der Philosophie" (S. 33) möglich ist. Denn die Geschichte ist die lebendige Bewegung der menschlichen Gesamtpsyche in der Zeit. „Übergreifend, weil das Zentrum der Lebendigkeit (das zentrale Gefühl) essential bestimmend ist das Christen-tum. Es ist, soweit menschliches Bewußtsein in seiner gegebe-nen strukturellen Verfassung in Frage kommt, die t ie fs te und äußerste Möglichkeit historischer Bewußtseinsstel-lung. Hier findet in der Projektion der Empfindung eine radi-kale Selbstentäußerung statt, so daß die lebendige Verhaltung . . . rein transzendenter Artist" (S. 134). Hier wird „hinter das Zentrum aller Gegebenheit, hinter das Gefühl zurück-gegangen . . . auch dieses sofern es gegeben, damit aber das Leben selbst dem Anderen zuweisend" (S. 138). Die christliche Bewußtseinstellung ist die letzte psychisch mögliche und die

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historisch zuletzt auftretende - zugleich aber auch die einzige, welche „volle Erkenntnis" geschichtlicher Lebendigkeit er-möglicht (S. 43). Diese geschichtliche Erkenntnis verfährt aber nicht mehr in der Form des Urteils, sondern erfaßt die historische Lebendigkeit unmittelbar als „zugehörig". „Das rein Ontische wird erkannt mittelst einer Übertragung des (innerseelischen) Zusammenhangs (auf den äußeren). Das Menschliche oder Historische bedarf einer solchen Übertragung nicht. Hier ist das Verhältnis ein unmittelbares. Ein Mensch wird dem anderen nie zur Sache" (B, S.203). Aus unseren eigenen Motivationsmöglichkeiten heraus verstehen wir, un-vermittelt die historische Person und ihre Taten, die verglei-chende Methode kann dabei nur eine untergeordnete Rolle spielen (gegen Dilthey B, S. 193, 202 usw.).

Yorck versteht alle geschichtlichen Gestaltungen aus ihren „Motiven" heraus, aus dem innerpsychischen Motivations-zusammenhang, den man durch „Transposition" nach- und mitvollziehen kann. Will man das mit den etwas simplifizieren-den Begriffen Basis und Überbau ausdrücken, so müßte man sagen: Basis ist das psychische Reich der Motive in seiner Ent-wicklung und Wandlung, Überbau alles, was als kulturelle Ge-staltung und Organisationsform sich manifestiert. Die Äuße-rungen einer Zeit bilden so eine aus den Motiven heraus zu verstehende Einheit. „Alles Denken und Handeln (sind) Mani-festationen einheitlichen Lebens. Es klingt paradox und ist doch wahr, daß z.B. die Strategie des 17. Jahrhunderts depen-diert von dem Geiste, der in Galilei typisch Fleisch geworden" (B, S.48). „Der locus des geschichtlichen Problems ist die Einheit der Motive, die in gleicher Weise die Handlung und den Gedanken bestimmen, so daß der Gedanke aus der Handlung klar wird und umgekehrt" (B, S.131). Ganz ent-sprechend heißt es auch in dem vorhegenden Fragment: „Erst dann wird z.B. die griechische Religion und Mythologie, Staat-lichkeit und Staatswissenschaft, Kunst und Kunstlehre, Me-chanik und Mathematik und insbesondere die griechische Phi-losophie begriffen sein, wenn ihrer aller Zusammenhang auf Grund der ihn bewirkenden besonderen Bewußtseins-

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Stellung eingesehen, und damit in die komplexe Einheitlichkeit der Motive dieser Gestaltungen Einsicht gewonnen ist" (S. 56 bis 57).

Wie alle anderen kulturellen Äußerungen ist daher auch die Philosophie ein „Ausdruck der Lebendigkeit" (Herakli t . , 31a), sie ist genauer gesagt „die gedankliche Fassung der jeweiligen Lebendigkeit" (Heraklit., 6b), „die feinste, weil ab-strakteste Marke der jeweiligen Bewußtseinsgestalt (S. 40), ein Wetterglas der psychischen Atmosphäre" (S. 57). Eine „philosophische Geschichte der Philosophie", wie sie Yorck zu geben versucht, erfaßt daher zugleich den Nerv des ge-schichtlichen Lebens (d.h. des Motivationszusammenhanges, aus dem die geschichtlichen Gestaltungen hervorgehen). „Eine philosophische Geschichte der Philosophie (ist) eine Heraus-stellung der lebendigen Denkan läs se , damit aber, weil Mo-t i v e nur mittels der Lebendigkeit zu erfassen sind, eine Ver-lebendigung des früher Erlebten . . wonach eine Geschichte der Philosophie selbst Philosophie ist, im Gegensatz zu einer literargeschichtlichen Darstellung philosophischer Systeme als selbständiger Entitäten" (Heraklit, 5b). „philosophieren aber ist leben" (S. 70) und eine philosophische Aneignung ver-gangener Denksysteme durch Rückgang auf ihre Denkanlässe ist damit echte Ver-lebendigung. Nur durch Ver-lebendigung aber kann Geschichte in ihrer eigentümlichen Wirklichkeit -als Leben - erkannt werden. Dieses lebendige Erfassen ge-schichtlichen Lebens und geschichtsmächtiger Kraft ist das eigentliche und zentrale Anliegen der Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg.

d) Graf Yorck und Wilhelm Dilthey,

Übereinstimmung und Widerspruch

Übereinstimmungen und Unterschiede der Positionen von Dilthey und Yorck werden am deutlichsten, wenn man beider Behandlung der neuzeitlichen Geistesgeschichte miteinander

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vergleicht. Dabei treten die Standpunkte vor allem bei der Bewertung der Reformatoren und bei der Beurteilung des deutschen Idealismus und der Romantik auseinander.

Das Thema der neuzeitlichen Geistesgeschichte in ihrer Bezogenheit auf die jeweils herrschenden „Bewußtseinsstel-lungen" ist sowohl von Yorck wie von Dilthey behandelt wor-den. Bei Dilthey handelt es sich um eine Reihe von größeren Abhandlungen, unter anderem über „Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert" (1891/92), über „Das natürliche System der Geisteswissenschaft im 17. Jahr-hundert" (1892/93) sowie weitere Arbeiten zur Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Von diesen Aufsätzen ist zweifellos die Anregung zu Yorcks eigenen und in wesentlichen Punkten abweichenden Formulierungen ausgegangen. In den Briefen vom 26. 10. 1891 und vom 8. 6. 1892 setzt sich Yorck mit den beiden Teilen der ersten Arbeit auseinander, und der große Brief vom 15. 12. 1892 enthält die zugespitzteste polemische Formulierung seiner abweichenden Wertung vor allem in bezug auf Luther und die übrigen Reformatoren. Die Frage der Priori tät jedoch in denjenigen Punkten, die beide gemein-sam vertreten, wird wohl kaum je exakt beantwortet werden können, da die beiden Freunde seit dem Jahre 1877 in engem, meist mündlichem Gedankenaustausch standen. Nach den Formulierungen der Briefe zu schließen, handelt es sich jedoch wohl um eine ursprüngliche Verwandtschaft, die sich dann auch naturgemäß in einer wechselseitigen Übernahme der Terminologie zeigen konnte, ohne daß der eine oder der andere hierbei für sich die Priorität beansprucht haben würde. Daß Yorck selbst bereits an eigener Arbeit sich versucht hatte, scheint aus einem Satz im Brief vom 8. 6. 1892 hervorzu-gehen, in dem es heißt: „ . . . wer einmal den Versuch unter-nommen hat, eine große historische Bewußtseinsstellung zu analysieren, der vermag die Schwierigkeit und die Kunst ihrer Überwindung zu ermessen . . (B, S. 143). Daß er aber an-dererseits gerade durch Diltheys große Darstellung zu eigener Arbeit angeregt wurde, bestätigt er nicht nur im Brief vom 22. 7. 1891, sondern auch ausdrücklich in dem großen Schrei-

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ben zum „natürlichen System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert". Dort heißt es: „Eine Darstellung der Ver-schiedenheit (von Yorcks eigener Auffassung gegenüber der-jenigen Diltheys) würde der umfangreichen Arbeit schrittweise folgen müssen, selbst eine erhebliche Arbeit sein" (B, S. 152). Ohne sich streng an den Aufbau der Diltheyschen Studien zu halten, hat Yorck im vorliegenden Fragment diese hier als zu erheblich zurückgestellte Arbeit teilweise durch-geführt. Sehen wir uns Übereinstimmung und Widerspruch kurz an.

Seine Abhandlung über „Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert", eröffnet Dilthey mit einer Skizzierung der drei Motive, die in der mittelalterlichen Metaphysik-Theologie verbunden waren: das (jüdisch-christ-liche) religiöse, das ästhetisch-wissenschaftliche der Griechen und die „Stellung des Willens", wie sie im Römertum ent-wickelt worden war. Diltheys Formulierungen stimmen hier weithin mit denjenigen Yorcks überein. „Der Kern des reli-giösen Motivs ist das im Gemüt erfaßte Verhältnis zwischen der Menschenseele und dem lebendigen Gott" (GS II, 1). Ganz ähnlich faßt auch Yorck das Wesen der Religiosität als ein ge-fühltes Verhältnis zwischen der Person, die ich bin, und der göttlichen Person auf, allerdings betont Yorck dabei stets, daß es sich um ein „Abhängigkeitsverhältnis" handelt und um „Selbsthingabe" von seiten des Menschen, die dem ethisch-philosophischen Willen zur Selbstbehauptung entgegengesetzt ist (vgl. T, S. 47, S.222, 44f. usw.). Vom „wissenschaftlichen Verhalten" der Griechen sagt Dilthey, daß es „den Zusatz des Ästhetischen habe, der gleichsam jeden Satz griechischer Den-ker tingiere (GS II, S.7, vgl. damit Yorck, S. 60f.). In Hin-blick auf Rom endlich heißt es: „Vom Rechte aus werden für den römischen Geist Willensherrschaft, Zweckmäßigkeit, Utili-tät und Regel zu Organen für das Gewahren und Begreifen schlechthin" (GS II, S. 10). Auch diese Charakterisierung des (ewigen) Römertums finden wir bei Yorck namentlich in seinem Italienischen Tagebuch (T, S.43, 50, 125 usw.; S. 43, 60, 180).

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Diese drei einander vielfach widersprechenden Motive bil-deten zusammen die mittelalterliche (christliche) Metaphysik und traten zu Beginn des Zeitalters der Renaissance und der Reformation auseinander. Das reformierte Christentum ging „auf die religiöse Stellung des Bewußtseins in ihrer natürlichen freien Lebendigkeit zurück; Machiavelli erneute den römi-schen Herrschaftsgedanken; Grotius, Descartes, Spinoza auf der Grundlage der Stoa die Autonomie der sittlichen und wissenschaftlichen Vernunft" (GS II, S. 16). Ganz entspre-chend charakterisiert Yorck das mittelalterliche Denken als ein „christlich-antikes Amalgam", und zwar sowohl in der meta-physischen katholischen Dogmatik, die griechische Elemente aufgenommen hat, wie in der „Willensgestalt" der Kirche, die nicht ohne die römische Tradition zu denken ist (S. 35 und 139). So erscheint das Christentum für den mittelalter-lichen Katholizismus nur als „Zutat" zu der natürlichen Gege-benheit, die dadurch nicht negiert, sondern lediglich „kom-plettiert" wird (S. 135,166 Anm., T, S. 226f. usw.). Die Renais-sance ist auch bei Yorck durch die Befreiung der Bestandteile dieses „Amalgams" gekennzeichnet, nur, daß es ihm in erster Linie auf die Herauslösung des spezifisch christlichen Momentes ankommt, nicht wie Dilthey auf das eines „allge-mein religiösen". Im Gegensatz zu Dilthey setzt Yorck den Beginn der Renaissance etwa um das Jahr 1300 an (B, S. 83). Deutsche und romanische Mystik, Franziskaner und Domini-kaner ebenso wie die nominalistischen Lehren von Occam und Duns Scotus sind ihm „Elemente derselben Bewegung", die für die neue Zeit bestimmend ist (B, S. 83, B, S. 131; S. 35). Noch deutlicher werden die verschiedenen Standpunkte, wenn man die Wertungen in Betracht zieht, die bei Dilthey immer wieder zum Ausdruck kommen. So sieht Dilthey etwa ein „bleibendes unschätzbares Gut der Menschheit" in der Feststellung der großen Wahrheit von einem moralischen Grundgesetz des Willens, nach welchem dieser aus eigenen inneren Kräften zur Herrschaft über die Passionen zu gelangen vermag (GS II, S. 18). Ein Urteil, dem sich Yorck keinesfalls angeschlossen haben würde. Überhaupt ist bei Dilthey die Hochschätzung

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von Renaissance und Humanismus ausgeprägter als seine -wie wir sehen werden sehr eingeschränkte - Würdigung na-mentlich der Lutherschen Reformation. „Der Mensch ist nicht zum Brüten über Ursprung, Individualität, Schuld und Zu-kunft geboren (GS II, S.23)", heißt es polemisch gegen die Weltschmerzstimmung - aber doch wohl auch gegen gewisse Züge der reformatorischen Frömmigkeit.

Die prinzipiellen Gegensätze treten jedoch erst im zweiten Teil der erwähnten Abhandlung zu Tage. Dilthey behandelt hier die Reformation „als ein hochwichtiges Glied in der Ver-kettung der geistigen Vorgänge des 16. Jahrhunderts . . um zu erkennen, „wie die Menschheit aus der theologischen Meta-physik des Mittelalters so dem Werk des 17. Jahrhunderts, der Begründung der Herrschaft des Menschen über die Natur, der Autonomie des erkennenden und handelnden Menschen, der Ausbildung eines natürlichen Systems auf dem Gebiete von Recht und Staat, Kunst, Moral und Theologie entgegenge-schritten ist" (GS II, S.41). Die Reformation ist ihm also wesentlich eine Etappe, eine Übergangsphase, deren Wert in der Vorbereitung des natürlichen Systems der Geistes-wissenschaften im 17. Jahrhundert - nicht in ihr selbst -liegt. Für Yorck liegen die Verhältnisse von vornherein anders. Zwar untersucht auch er den Zusammenhang von Reformation und neuzeitlicher Geistesgeschichte, aber diese Entwicklung erscheint ihm keineswegs als eindeutiger „Fortschritt", weil über das in seiner Reinheit von Luther herausgearbeitete christliche Motiv grundsätzlich nicht hinausgegangen werden kann. Hier zeigt sich übrigens deutlich der oft schon fest-gestellte Zusammenhang zwischen historischer Erkenntnis und Bewertung der eigenen Gegenwart. In der Gegenwartsbewer-tung liegen denn auch letztlich die Wurzeln der Divergenzen zwischen den beiden Denkern. Dilthey bekämpft zwar wie Yorck den „Mechanismus" und „Materialismus" seiner Zeit-genossen, ihre Unfähigkeit, geistig-historische Gebilde leben-dig aufzufassen, aber er meint, durch eine Fortsetzung der „deutschen Bewegung", durch ein Anknüpfen an Lessing, Kant, Schleiermacher usf. diejenige Geisteshaltung entwickeln

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zu können, die der Gegenwart nottut. Dilthey begreift seine Begründung der Geisteswissenschaften im geschichtlichen Zu-sammenhang des „objektiven Idealismus" und seiner eigen-tümlichen panentheistischen Frömmigkeit. „Nur auf dem Standpunkt des Pantheismus ist (für Dilthey) eine Interpreta-tion der Welt möglich, welche ihren Sinn vollständig erschöpft" (GS IV, S.260). Yorcks religiös fundierte Weltanschauung ist dagegen „personalistisch" und führt zu der Überzeugung, daß allein vom Standpunkt christlichen Transzendenzbewußtseins aus (Luther) die geschichtliche Realität in ihrer konkreten Fülle erfahren werden kann. Die unterschiedliche Bewertung der großen Reformatoren bei Dilthey und Yorck ist eine un-mittelbare Folge dieser entgegengesetzten Ausgangspunkte. Für Dilthey ist ein Wertkriterium die Nähe oder Ferne zur Bewegung des „religiös-universalistischen Theismus" der Re-naissance. Diesem „universalistischen Theismus" warf sich Luther entgegen, während ihn „Zwingli in gewissen Grenzen aufnahm" (GS II, S.42). Dementsprechend bringt Dilthey Zwingli die größte Wertschätzung entgegen. Bei Yorck heißt es andererseits, in Zwingli zeige sich lediglich die Reaktion einer nationalen Willensgestalt gegen die andere, während Luther als die „tiefste Gestalt" der Reformation bezeichnet wird (B, S. 144, 153, T, S.100; S. 36). Düthey trennt „Altes und Neues" bei Luther und erblickt in Luthers Paulinismus und Augustinismus ausdrücklich etwas Zeitbedingtes und Ver-gängliches. Gegen Diltheys Ablehnung der Lutherschen Recht-fertigungslehre richtet sich denn auch Yorck in seinem Brief vom 8. 6. 1892 und betont, daß „Luthers Grundstellungnahme einer Transzendenz gegenüber aller, auch stoischer Meta-physik . . . als Aufgabe weit aktueller (sei) als der moralische Rationalismus" (B, S. 144). Dilthey sucht seinerseits an Luther auf, „was ihn rückwärts mit der deutschen Mystik, vorwärts mit unserem transzendentalen Idealismus verbindet" (GS II, S.55). Hier aber treffen auf einmal die Formulierungen Dil-theys wieder mit denen Yorcks zusammen, wenn es heißt: „Er (Luther) erst hat den religiösen Prozeß ganz losgelöst von der Bildlichkeit des dogmatischen Denkens und der regimentalen

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Äußerlichkeit der Kirche" (GS II, S.58). Doch verstand Dil-they wohl unter dieser Loslösung von der griechischen Bildlich-keit einen Schritt zur Befreiung vom christlichen Dogma über-haupt, in Richtung auf einen „dogmenfreien" universellen Theismus, während Yorck die fundamentalen Dogmen als Ausdruck der lebendigen Ich-Du-Beziehung von personalem Gott und menschlichem Gemüt verstanden wissen wollte und ihnen dementsprechend bleibende Bedeutung zumaß (vgl. B, S. 153 f.).

Diese in den jeweiligen religiösen Überzeugungen gegrün-deten Gegensätze interessieren uns hier vor allem wegen ihrer Bedeutung für das philosophische (und historische) Problem einer Fundierung der Geschichtswissenschaft. Beide Denker rechtfertigen ihre Position durch ihre Fruchtbarkeit für ge-schichtliches Erkennen. Wenn Dilthey (zustimmend) von einem „religiös universalen Panentheismus" spricht, „der nun auch Luthers positivistischem Tiefsinn gegenüber - sagen wir es heraus! - siegreich vorwärts dringt" (GS II, S.77), so meint er damit in erster Linie einen Fortschritt zu größerem Ge-schichtsverständnis. „In der Geschichtlichkeit der einzelnen Religionen, insbesondere des Christentums", wird von diesem Standpunkt aus die Manifestation „eines Bewußtseinszusam-menhanges" gesehen,,,welcher ewig in der Natur der Menschen und der Dinge gegründet ist" (a.a.O.). „Der religiös-univer-salistische Theismus oder Pantheismus, von den Alten beson-ders von der in der römischen Stoa vorliegenden letzten und menschlich höchsten Form ihres Denkens getragen, war damals (zur Zeit Sebastian Francks) das höchste und freieste Element der europäischen Bildung (GS II, S.81). An dieser Wertung übt Yorck im Brief vom 8. 6. 1892 Kritik. „Ich kann wohl nachempfinden", schreibt er. „eine nationale Vorliebe für das Frohgefühl persönlicher Selbstherrlichkeit, wie es Zwingiis Lebensodem ist. Aber anders steht es m.E. bei historischer Wertung - und Wertung für Historie (B, S. 144)." Die „Wer-tung für Historie", das heißt die Beurteilung und Bewertung dieser „Bewußtseinsstellung" in bezug auf ihre Fähigkeit, lebendige Geschichtlichkeit zu erfassen. „Sie vindizieren jenem

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Standpunkt bei Ihrer Besprechung Francks die Bedeutung eines Organs für Geschichtsauffassung. Ich kann auch den Begriff der Geschichte nicht finden bei einem ethischen Nomi-nalismus, dem alles Geschehen nur ein Paradigma" (a.a.O.). Yorck, der übrigens offenbar die von Dilthey herausgestellte Seite der religiösen Bewegung nicht recht zu Gesicht bekommt, faßt Zwingli unter der Kategorie des „ethischen Nominalis-mus" (von Nomos, den Yorck mit „nomen" etymologisch zu-sammenbringt; vgl. B, S. 153, K, S.85 usw.). Aller ethischen Willenstellung aber kommt die geschichtliche Wirklichkeit schon deshalb nicht zur Erfahrung, weil sie alle Energie an die Behauptung und Isolierung des Selbst setzt, während Person und Geschichte nur in der zentralen Bezogenheit auf das sich öffnende Gemüt (Gefühl) zum Wirken zu kommen vermag. Die Haltung, die sich so als fähig erweist, zum Organ für Ge-schichtsauffassung zu werden, ist zugleich die, welche ge-schichtsbildend wirkt. Luther muß als „geschichtlichesMotiv", als „historische Kraft" verstanden werden und soll und muß „der Gegenwart präsenter sein als Kant", „wenn sie eine historische Zukunft in sich tragen" will (B, S. 145). Yorcks Einwand wurzelt also letztlich darin, daß er e in anderes „Organon" für die E r f a s s u n g der G e s c h i c h t l i c h k e i t annimmt als Dilthey, was letzterem offenbar nicht ganz klar geworden ist. In seiner Antwort schreibt Dilthey: „Das aber bleibt ja letzte Differenz: die Positivität des Christentums, dann der lutherischen Glaubensform ist mir für sich kein letz-tes Datum; auch die Transposition des Gemüts hat mir die Begründung des Rechtes nicht in dem bloßen religiösen Erleb-nis der einzelnen Person; dessen Zeugniskraft reicht nicht über das Individuum hinaus', dasselbe kann sich geltend machen; aber gerade darin liegt die Schwierigkeit einer solchen Kraft-probe, weil die Mitmenschen, für welche man doch einmal schreiben muß, dem religiösen Erlebnis wenig Neigung und Anerkennung entgegenbringen" (B, S. 146). Darauf könnte man antworten Yorck versuche in seinem vorliegenden Frag-ment gerade den Nachweis zu bringen, daß das reformatorische Christentum nicht nur „positiv" gültige Wahrheit ist, sondern

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auch die Voraussetzung der geschichtlichen Erkenntnis durch seine rein transzendente, alle Metaphysik überflüssig machende „Bewußtseinsstellung" liefert.

Der gleiche Gegensatz entzündet sich an den der Reforma-tionszeit gewidmeten Abschnitten des „natürlichen Systems der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert". Auch hier heißt es wieder bei Dilthey: „Ich leugne durchaus, daß der Kern der reformatorischen Religiosität in der Erneuerung der paulinischen Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben ent-halten ist" (GS II, S.211), „die reformatorische Religiosität (ist) über das auf allen früheren Stufen des Christentums Ge-gebene hinausgegangen". Wesentlich und sympathisch an Luther erscheint ihm dessen „germanische Aktivität" (a.a.O., S.215), seine Berufsethik und die durch die Ablehnung der frommen Werke bewirkte Heiligung des gesamtenAlltagslebens. Wiederum wird Zwingli besonders herausgestrichen, denn „männlicher, gesunder, einfacher hat kein Mensch des Refor-mationszeitalters das Christentum aufgefaßt" (a.a.O., S.226).

Fassen wir zum Schluß noch einmal die Punkte der Diver-genz zusammen:

1. Dilthey begreift Luther als Verbindungsglied zwischen deutscher Mystik und transzendentalem Idealismus. Dem-entsprechend schätzt er an ihm weniger die Erneuerung der Dogmatik und der paulinischen Rechtfertigungslehre als viel-mehr den Befreier von religiöser Abhängigkeit, der dem selb-ständigen religiösen Fühlen den Weg bereitet hat und den „modernen Idealismus" inaugurierte.

2. Höher als Luther steht ihm - in vieler Hinsicht -Zwingli , dessen Nähe zum „religiös universalistischen Theis-mus oder Panentheismus" er lobt und dessen,, volleres, all-seitigeres, religiös-sittliches Lebensideal" er gegenüber Luther rühmend hervorhebt (GS II, S. 69).

3. Nicht ganz klar dagegen wird, worin Dilthey damals das spezifische Organon der Geschichtserfassung erblickt, ab-gesehen von der Dilthey und Yorck gemeinsamen These, daß „nur Leben Leben zu erfassen vermag". Gegenüber dem Christentum wird bei Dilthey auf einen „universalistischen

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Theismus" rekurriert, d.h. auf eine mit dem Wesen der Men-schennatur gegebene Religiosität, die erst die verschiedenen religiösen Gestaltungen ,,in ihrer Geschichtlichkeit" erkennen lasse. Hier trennen sich die Wege Yorcks am radikalsten von Dilthey; denn, was diesem als die Voraussetzung der Erkennt-nis von Geschichtlichkeit erschien, ist ja gerade ein über-geschichtlicher Standpunkt, „ein religiös Universelles" (B,S. 146), eine allgemeine Anthropologie. Zwar hat nun auch Yorck eine solche Anthropologie (oder Psychologie) im Ansatz entwickelt, aber das Entscheidende ist ihm doch, daß sich der Mensch, der sich in seinem zentralen Fühlen zur Geschichte verhält, damit selbst in und nicht über der Geschichte steht, daß das die Geschichte bewegende Motiv zugleich in und durch das Gemüt (das Gefühl) der Person wirkt. Nur der christliche Mensch, der in vollkommenem Vertrauen auf Gott lebt, ver-mag so radikal auf alle selbstherrlichen Konstruktionen der metaphysischen Selbstsicherung zu verzichten, daß er sich dem Walten der geschichtlichen Kräfte öffnen kann, ohne Gefahr ihnen zu erliegen. Im religiösen Gemüt aber ist zugleich selbst die schlechthinnige, geschichtliche Kraft'' lebendig. Kräfte sind für Yorck nicht Wesenheiten, die in und durch die Menschen hindurchwirken, sondern die Person (z.B. Luthers) selbst is t in ihrem Wesen eine solche Kraft, und in dieser Kraft Hegt ihr Wesen. Gegen Diltheys „objektiven Idealismus" stellt Yorck nicht etwa einen subjektiven, sondern einen „religiösen Per-sonalismus" (und „christlichen Empirismus"), der in das von Dilthey entworfene Schema der Weltanschauungen nicht paßt.

ZITIERTE WERKE

1. Briefwechse l zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg, herausgegeben von Sigrid von der Schulenburg, Halle 1923 (abgekürzt: B).

2. I ta l i en i sches Tagebuch, herausgegeben von Sigrid von der Schulenburg, Darmstadt 1927, 2. Aufl. Leipzig 1939 (abgekürzt: T).

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