Upload
ramuberlin14047592
View
213
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
8/19/2019 Bildtheorien
1/30
Bildtheorien aus Frankreich
ine
Anthologie
Emmanuel Alloa Hg.)
8/19/2019 Bildtheorien
2/30
ie
zwei assungen
des Imaginären
Maurice Blauehot
Was aber ist das Bild? Wenn nichts ist findet das Bild zu seiner
Bedingung geht
d rin
aber zugrunde. Das Bild verlangt die Neu-
tralität und den Rücktritt der Welt s will dass alles in den unter-
schiedslosen Grund zurückkehrt
wo
sich nichts behauptet
s
sucht
die Nähe zu dem was noch in der Leere bleibt:
d rin
liegt seine
Wahrheit. Doch diese Wahrheit geht über es hinaus; was das Bild
möglich macht ist die Grenze an der
s
endet. Daher auch dessen
dramatische Seite daher die Ambiguität von der das Bild kündet
und daher auch der schillernde Trug den
m n ihm
anlastet. Eine
wundersame Kraft sagt Pascal die aus der Ewigkeit ein Nichts
und
aus dem Nichts eine Ewigkeit werden lässt.
Das Bild spricht zu uns
und
s scheint als spräche s zu-
innerst von uns. Zu sagen zuinnerst ist hier noch zu wenig; zuin-
nerst bezeichnet jene Schwelle an der die Innerlichkeit der Person
zerbricht und die in dieser Bewegung die bedrohliche Nähe eines
vagen und leeren Außen aufscheinen lässt das dem Bild zum trüben
Grund wird vor dem
s
die Dinge im Augenblick ihres Verschwin-
dens weiter behauptet. In Bezug
uf
jedes Ding spricht das Bild we-
niger vom Ding als vielmehr von uns
und
in Bezug
uf
uns von
weniger als von uns als vielmehr von diesem weniger als nichts das
übrig bleibt wenn nichts mehr ist.
88189
8/19/2019 Bildtheorien
3/30
Das Glück des Bildes liegt darin, dass es eine Grenze am
Unbestimmten ist. Eine feine Umrandung, die allerdings weniger
die Dinge aufAbstand hält, als sie uns von dem blinden Andrang
dieses Abstands bewahrt. Durch die Umrandung verfügen wir über
ihn. Durch das, was in einem Spiegelreflex ungebrochen erscheint,
meinen wir die
zum
Intervall gewordene Absenz zu beherrschen,
und selbst die verdichtete Leere scheint sich so dem Widerschein
eines anderen Lichts zu öffnen.
Auf diese Weise erfüllt das Bild eine seiner Funktionen,
die darin besteht, jenes formlose Nichts, das der untilgbare Überrest
des Seins uns aufdrängt, zu besänftigen, zu zivilisieren. Das.Bild be-
reinigt das Nichts, eignet
es an, lässt es annehmbar und rein werden
und macht uns in einem glücklichen Traum, zu dem die Kunst allzu
oft verleitet, glauben,
es
läge abseits vom Realen
und
unmittelbar
jenseits davon,·gleichsam als reines Glück und als höchste Befriedi-
gung, als durchsichtige Ewigkeit des Irrealen.
»Was in diesem Schlaf des Todes für Träume kommen
mögen«, sagt Hamlet, »wenn
wir
diese sterblich Hülle abgeschüt-
telt
«.
1
Das Bild, das hinter jedem Ding steht, gleichsam als des-
sen Auflösung und als Fortbestand inmitten der Auflösung, hat
Jiederum jenen schweren Schlaf des Todes hinter sich, in dem uns
die Träume kommen mögen. Wenn
es
erwacht oder wenn wir er-
wachen, zeigt das Bild dann das Ding in einer lichthaften or -
Aureole; verbunden ist es mit dem Grund mit der elementaren
Materialität; mit der noch unbestimmten Absenz von Form (der
Welt, die zwischen dem objektiven und dem subjektiven Genitiv
schwankt), bevor es in die formlose Weitschweifigkeit der Unbe-
stimmtheit hinabsinkt. Die ihm eigene Passivität
rührt
daher:
Sie
bewirkt, dass auch wir ihr ausgesetzt sind, selbst dann, wenn wir die
Passivität selbst herbeirufen,
und
auch dessen flüchtige Transparenz
gehört damit zum dunklen Schicksal des Bildes, in seinem Wesen
schattenhaft zu
i n ~
Doch wenn wir vor den Dingen selbst stehen, wenn wir
auf
ein Gesicht blicken,
auf
eine Mauerecke, sind wir
dann
nicht
a uch
zuweilen dem, was wir sehen, hingegeben, ausgeliefert, ohn-
mächtig angesichts dieser plötzlich so stummen und passiven Prä-
senz? In der Tat, aber das bedeutet dann, dass das angeschaute Ding
in seinem Bild zusammengesunken ist, dass das Bild jenen Grund
der Ohnmacht erreicht hat, an dem alles .zusammenfällt. Das »Re-
ale« ist dasjenige, wozu wir eine stets lebendige Beziehung haben
und
was uns stets den Vorrang lässt, indem es
in
uns
an
jene Macht
aurice ienehot
8/19/2019 Bildtheorien
4/30
8/19/2019 Bildtheorien
5/30
Hierseins. Der Tod suspendiert die Beziehung zum Ort, sodass der
Tote sich
darauf
schwermütig abstützt wie auf den einzigen Boden,
der ihm noch bleibt. Denn, eben: Dieser Boden fehlt, der
Ort
ver-
sagt, die Leiche ist nicht
an
ihrem Platz. Wo ist sie? Sie ist nicht hier,
aber auch nicht anderswo; nirgendwo?
Dann
ist nirgendwo hier. Die
leichenhafte Ähnlichkeit stiftet zwischen Hier
und
Nirgendwo eine
Beziehung. Im Totenzimmer und
auf
dem Totenbett zeigt schon die
Ruhe, die zu wahren ist, wie prekär das Stellungnehmen schlechthin
ist. Hier ist die Leiche, doch das Hier wird seinerseits
zur
Leiche:
absolut gesprochen
zum
»Hiernieder«, ohne dass sich
darum
schon
irgendein »Dort oben« ankündigte. Der Ort, an dem
man
stirbt, ist
kein beliebiger. Den Leichnam transportiert
man
ungern von hier
nach dort: Der Tote klammert sich eifersüchtig
an
seinen Ort
und
verbindet sich mit
ihm
bis in den Grund, sodass sich die Indifferenz
dieses Ortes, die Tatsache, dass er gleichwohl
nur
ein beliebiger Ort
ist,
in
die Tiefe seiner Präsenz als Toter verwandelt,
in
die Träger-
schaft von Indifferenz, in die klaffende Innigkeit eines differenz-
losen Nirgendwo, das aber dennoch hier verortet werden muss.
Die Bleibe ist dem Hinscheidenden verwehrt. Der Verstor-
bene ist, so heißt es, nicht
mehr
von dieser Welt, er ließ sie hinter
sich, doch hinten ist eben jene Leiche, die, obwohl zweifellos hier,
ebensowenig von dieser Welt ist, sie ist vielmehr hinter der Welt,
sie
ist das, was der Lebende und nicht etwa der Verstorbene) hinter
sich. ließ und was jetzt, von hier aus, die Möglichkeit einer Hinter-
welt, einer Rückkehr, einer undefinierten, unbestimmten, indif-
ferenten Fortexistenz behauptet, von der
man
lediglich weiß, dass
ihre Präsenz
und
Nähe von der menschlichen Wirklichkeit, wenn
sie endet, wiederhergestellt wird. Dieser Eindruck ist, wenn man so
sagen darf, vertraut: Wer gerade gestorben ist,
kommt
dem ding-
liche n Zustand
am
nächsten-etwas
Vertrautes,
mit
dem
man um
geht
und
dem
man
sich nähert, etwas, das einen nicht
auf
Distanz
hält und dessen formbare Passivität nicht die traurige Ohnmacht
verrät. Freilich ist das Sterben ein unvergleichliches Ereignis und
sollte jemand einmal »in unseren Armen« gestorben sein, wird er
·gleichsam
auf
ewig zu unserem Vertrauten; nun aber ist er tot.
Man
weiß es Es muss schnell gehen, weniger, weil gleich die Leichenstar-
re unsere Handlungen wird schwieriger werden lassen, sondern weil
jede menschlicheTat
dann
»fehl
am
Platze« sein wird. Gleich wird
der Tote, unverrückbar und unberührbar, durch eine merkwürdig
anmutende Umarmung an das Hier. geschweißt sein und wird doch
abschweifend bleiben,
immer
niedriger, immer tiefer hinab gerissen,
•
aurice ienehot
8/19/2019 Bildtheorien
6/30
und
dahinter wird es nicht
mehr
ein unbeseeltes Ding etwa geben
sondern Jemanden das unerträgliche Bild die unerträgliche Ge-
stalt des Einzelnen der zu Irgendetwas wird.
ie leichenhafte Ähnlichkeit
Auffallend ist dass der Leichnam wenn
es
soweit ist
in
der Fremdheit seiner Einsamkeit als dasjenige erscheint was sich
verächtlich aus uns zurückgezogen hat wenn der Moment gekom-
men ist wo das Gefühl einer zwischenmenschlichen Beziehung zer-
bricht der Moment wo unsere Trauer unsere Fürsorge und die
Vorherrschaft unserer vormaligen Leidenschaften ziellos geworden
auf uns zurückfallen zu uns zurückkehren und wenn die leichen-
hafte Präsenz vor uns zur Präsenz des Unbekannten wird
in
diesem
Moment beginnt der beklagte Verstorbene
sich
selbst
zu
ähneln.
Sich selbst: Ist das nicht eine falscher Ausdruck? Müsste
man nicht eher sagen: dem der er als Lebender war? Und doch war
>sich
selbst< die richtige Formulierung.
>Sich
selbst< bezeichnet das
unpersönliche ferne und unerreichbare Wesen das die Ähnlich-
keit um jemandes Ähnlichkeit sein zu können an den Tag bringt.
Ja er ist
es
tatsächlich der liebe Lebende und doch ist er mehr als ·
er selbst er ist schöner imposanter monumentaler schon und so
absolut er selbst dass er sich gleichsam selbst
verdoppelt
durch Bild
und Ähnlichkeit ist er mit der ehrfürchtigen Unpersönlichkeit des
Ichs vereint. Dieses stattliche Wesen bedeutend
und
fabelhaft das
die Lebenden beeindruckt als das bislang ignorierte Urbild dieses
Urteil des Jüngsten Gerichts das dem Wesen grundsätzlich einge-
schrieben ist und das nun mithilfe der Ferne triumphal
zum
Aus-
druck kommt: vielleicht gemahnt es aufgrund seiner souveränen
Erscheinung
an
die großen Bilder der klassischen Kunst. Doch wenn
dieser Anschein begründet ist
dann
wirkt die Frage
nacp.
dem Idea-
lismus jener Kunst recht hohl; dass der Idealismus letztlich nur eine
Leiche
zum
Garanten hat mag vielleicht herhalten
um
zu zeigen
wie sehr die scheinbare Geistigkeit wie sehr die rein formale Jung-
fräulichkeit des Bildes ganz originär
an
die elementare Fremdheit
und an die in der Absenz formlose Schwere des Seins gebunden ist.
Man möge es weiter anschauen dieses fabelhafte Wesen
das nmut ausstrahlt: Es ist sich ich kann es sehen vollkommen
ähnlich
.es
ähnelt
sich.
Die Leiche ist
ihr
eigenes Bild. Zur Welt in
der sie noch erscheint unterhält sie nur mehr bildliehe Verhältnisse
sie wird zur dunklen Möglichkeit zum Schatten der die lebendige
Form jederzeit begleitet und der sie
nun
weit davon entfernt sich
Dia 2wai Fassungen das
Imaginären
92 93
8/19/2019 Bildtheorien
7/30
von dieser Form zu trennen, vollends zum Schatten werden lässt.
Die Leiche ist jene Widerspiegelung, die vom widergespiegelten
Le-
ben .ßesitz ergreift, es aufsaugt, sich wesentlich damit identifiziert,
indem
sie
dessen Gebrauchs- und Wahrheitswert in etwas Unglaub
liches
überführt in
etwas Unübliches und Neutrales. Und wenn die
Leiche so ähnlich ist,
dann
deshalb, weil sie in einem bestimmten
Augenblick die Ähnlichkeit schlechthin ist, eine Ähnlichkeit ohne
Rest, aber auch nichts darüber hinaus. Die Leiche ist der Ähnliche
[le
semblable],2 er ist bis zu einem absoluten Grad ähnlich, über
wältigend und wundersam. Doch wem oder was ähnelt
er
Nichts.
Daher entbehrt jeder lebende Mensch in Wirklichkeit
noch der Ähnlichkeit. Jeder Mensch scheint uns,
in
den seltenen
Augenblicken, in denen er eine Ähnlichkeit mit sich selbst aufweist,
allenfalls noch ferner, einer gefährlichen neutralen Region näher,
in
sich
verirrt
und
gleichsam als sein eigener Wiedergänger, ohne
jedes andere Leben als das der Wiederkehr. Analog dazu lässt sich
daran erinnern, dass ein Werkzeug, beschädigt, zu seinem eigenen
ild wird (und manchmal gar zum ästhetischen Objekt: »diese aus
der Mode gekommenen, zersplitterten, unbenutzbaren, fast unver
ständlichen, perversen Gegenstände«, die Andre Breton liebte).
3
Das Werkzeug, das in diesem Fall nicht mehr in seinem Gebrauch
aufgeht, geht uns
nun
als
Erscheinung
auf.
4
Diese Erscheinung des
Gegenstands ist eine der Ähnlichkeit und der Widerspiegelung:
deren Double gleichsam. Die Kategorie der Kunst ist an die Mög
lichkeit der Gegenstände gebunden, zu »erscheinen«, sich also an
die reine und schlichte Ähnlichkeit hinzugeben, hinter der nichts
ist als Sein. Nur das erscheint, was sich dem Bild [l image] hingab
und insofern ist all das, was erscheint, imaginär [imaginaire].
Die leichenhafte Ähnlichkeit ist eine Heimsuchung, die
gleichwohl nicht in der irrealen Heimsuchung durch das Ideal be
steht:5 Was heimsucht, ist vielmehr das Unzugängliche, von dem
man sich nicht lösen kann, das, was sich nicht finden und deshalb
nicht vermeiden lässt. Das Unfassbare ist das, wovor es kein Ent
kommen gibt. Das starre Bild ist rastlos, besonders insofern, als es
~ n i h t s setzt, nichts aufstellt. Die Starre des Bilde ist, wie auch die
der Leiche, die Anordnung dessen, was bleibt, weil die Stätte fehlt
(die fixe Idee ist kein Ausgangspunkt, keine Stellung, von der man
sich entfernen
und
vorankommen könnte; nicht Anfang, sondern
Neuanfang). DieLeiche, die wir angezogen haben, die wir, indem
wir die durch die Krankheit verursachten Verunstaltungen besei
tigten, so sehr wie möglich der normalen .Erscheinung angeglichen
•
Mauries lanchot
8/19/2019 Bildtheorien
8/30
haben; wir wissen dennoch, dass sie
in
ihrer ruhigen
und
beherrs
chten Unbeweglichkeit nicht ruht. Der Platz, den sie einnimmt,
wird von der Leiche fortgerissen, geht mit
ihr
zugrunde, und in die
ser Auflösung zersetzt sich, selbst für uns Verbliebenen, die Mögli
chkeit der
Bleibe
Man weiß es Zu einem »bestimmten Zeitpunkt«
führt
die Macht des Todes dazu, dass er nicht mehr
an
dem Platz
verharrt, den man ihm zugewiesen hat. Die Leiche mag in aller Ru
he auf ihr,em Bett aufgebahrt sein, sie ist a uch im ganzen Zimmer,
im ganzen Haus. Jederzeit kann sie anderswo sein als dort, wo sie
ist, dort,
wo
wir ohne sie sind, dort,
wo
nichts ist, eine bedrängende
Präsenz, eine dunkle und sinnlose Fülle. Der Glaube, dass der Tote
zu einem bestimmten Zeitpunkt umherzuirren beginnt, muss
auf
die Ahnung jener Irre zurückgeführt werden, die er jetzt darstellt.
Schließlich muss dem Unabschließbaren ein Ende be
reitet werden: Mit den Toten lässt sich nicht zusammenleben, will
man nicht Gefahr laufen, das Hier in ein unergründliches Nirgend-
wo kollabieren zu lassen, ein Fall, den der des Hauses Usher ver- ·
anschaulicht.
6
Der werte Verstorbene wird also an einen anderen
Ort gebracht, und vermutlich handelt es sich um einen Bereich, der
nur symbolisch fern liegt und keineswegs unverortbar ist. Dennoch ·
stimmt es, dass das mit Namen, mit festen Konstruktionen und
mit
Identitätsbekundungen ausgefüllte Hier des »Hier
ruht
«
den anonymen und unpersönlichen Raum schlechthin darstellt,
so als sei innerhalb der gezogenen Grenzen und unter dem hohlen
Anschein einer gegen alles gewappneten Überlebensfähigkeit ein
unendlicher Verfall
am
Werk, der die für den Ort konstitutive le
bendige Wahrheit verwischen und sie der absoluten Neutralität
des Todes angleichen soll.
(Dieses langsame Verschwinden, diese endlose Verschlei
fung vom Ende; vielleicht wirft
es
ein Licht
auf
die bemerkenswerte
Leidenschaft bestimmter Giftmörderinnen: Ihr Glück liegt nicht
etwa darin, jemanden leiden zu lassen, schmoren zu lassen oder
gar auf kleiner Flamme zu töten, sondern an das Unbestimmte
des Todes zu rühren, indem sie die Zeit vergiften und sie in einen
unauffälligen Verzehr verwandeln; sie streifen dabei das Entset
zen, insgeheim leben sie über jedem Leben, in der reinen Zerset
zung, von der nichts kündet,
und
das Gift ist die weiße Substanz
jener Ewigkeit. Feuerbach berichtet
von
einer Giftmörderin, der .
das Gift zum Freund geworden war, zum Gefährten, zu dem sie
sich leidenschaftlich hingezogen fühlte; als
man ihr
nach einer
mehrmonatigen Haftstrafe einen Beutel, Arsen, der ihr gehört hatte,
ie zwei Fessungen
des
Imaginären
94 95
8/19/2019 Bildtheorien
9/30
zur Wiedererkennung vorlegte, zitterte sie vor Freude und wurde
von Ekstase ergriffen).
7
Das
ild
und dessen edeutung
Der Mensch ist nach seinem Bilde geschaffen: das lehrt
uns die Unheimlichkeit der leichenhaften Ähnlichkeit. Doch die
Formel muss zunächst wie folgt verstanden werden:
der Mensch
wird
nach
seinem ild abgeschafft
Das Bild hat nicht zu
tun
mit der
Bedeutung, mit dem Sinn, so wie sie in der Existenz der Welt voraus
gesetzt sind, im Streben nach Wahrheit, im Gesetz und in der Helle
des Tages. Nicht nur ist das
ild
eines Gegenstandes nicht dessen
Sinn und trägt zu dessen Verständnis nichts bei;
es
neigt sogar dazu,
dem Gegenstand den Sinn zu entziehen und ihn in der Starre einer
Ähnlichkeit festzuhalten, die nichts mehr hat, dem
sie
ähnelt.
Freilich können wir das Bild immer neu erfassen und es
in den Dienst der Wahrheit von Welt stellen; doch dann kehren wir
sein konstitutives Verhältnis
um
das Bild wird in diesem Fall dann
zur Gefolgschaft des Gegenstandes, zu dem, was nach ihm kommt,
zu dem, was bleibt und uns gestattet, darüber zu verfügen, wenn
nichts mehr davon übrig bleibt, eine fabelhafte Ressource, eine
fruchtbare und vernünftige Macht. Das p r k t i s c h ~ Leben und die
Verwirklichung wahrer Aufgaben verlangen eine solche Umkeh
rung. Auch die klassische Kunst verlangte sie, zumindest in ihrer
Theorie, und suchte ihre; _ Ruhm darin, dass sie eine Ähnlichkeit
auf eine Gestalt und das Bild auf einen Körper zurückführte, der
sie neu verkörpern sollte: Das Bild wurde zur verlebendigenden Ne
gation, zur idealen Arbeit, durch die der Mensch der Natur, die er
nicht negieren kann, zu einem höheren Sinn verh.ilft, sei es, um sie
zu erkennen, sei es,
um
sie in Bewunderung zu genießen.
Auf
di-
• ese Weise war die Kunst sowohl ideal als auch wahr, treu sowohi
der Gestalt als auch der gestaltlosen Wahrheit. Die Unpersönlich
keit bewahrheitete letztlich die Werke. Dennoch war die Unpersön
lichkeit auch der verstörende Begegnungsort, an dem das edle, auf
Werte bedachte Ideal und die anonyme, blinde und unpersönliche
Ähnlichkeit sich austauschten, sich in gegenseitiger Täuschung für
einander ausgaben. »Welch Eitelkeit liegt in der Malerei, die für ihre
Ähnlichkeit mit Dingen bewundert wird, deren Vorbild man nicht
achtet «.
8
Kaum verwunderlich also, jener Vorbehalt für die Ähn
lichkeit, von der Pascal ahnt, dass sie die Dinge an die Souveränität
der Leere und an den hohlsten Fortbestand ausliefert, eine Ewigkeit,
die, wie er sagt, Nichts und ein Nich s, das Ewigkeit ist.
Maurice Blanchot
8/19/2019 Bildtheorien
10/30
ie zwei assungen
Es gibt somit zwei Möglichkeiten des Bildes zwei Fas
sungen des Imaginären und diese Ambivalenz rührt vom anfäng
lichen Doppelsinn her den die Macht des Negativen mit sich bringt
und
der dazu führt dass sich der Tod mal als Arbeit der Wahrheit
in
der Welt darstellt mal als Ununterbrochenheit dessen was weder
Anfang noch Ende verträgt.
Es
ist also wahr dass im Menschen wie
es
die zeitgenös
sischen Philosophien so wollen Verstand
und
Erkenntnis
an
das
gebunden sind was
man
Endlichkeit nennt doch wo ist das Ende?
Zweifellos ist das Ende in dieser Möglichkeit des Todes enthalten sie
ist darin aber auch »zurückgenommen« wenn sich im Tod noch jene
Möglichkeit auflöst die der Tod ist. Und obwohl die Menschheitsge
schichte für die Hoffnung steht diese Zweideutigkeit zu übersteigen
wirkt es nach wie vor so als berge die Entscheidung oder Überwin
dung in die eine wie in die andere Richtung die größten Gefahren
in sich: so als sei die Entscheidung zwischen dem Tod als Möglich
keit des Verstehens und dem Tod als Entsetzen über die Unmöglich
keit immer auch die Entscheidung zwischen der sterilen Wahrheit
und
der Weitschweifigkeit des Unwahren so als sei das Verstehen
stets an die Knappheit und die Fruchtbarkeit stets an das Entsetzen
gebunden. Daher bleibt obwohl
nur
sie die Entscheidung überhaupt
erst möglich werden lässt die Ambiguität in der Entscheidung stets
gegenwärtig. Doch wie äußert sich
in
diesem Fall die Ambiguität
Was geschieht etwa wenn
man
ein Ereignis
im
Bild durchlebt?
Ein Ereignis im Bild durchleben besteht nicht etwa darin
dass man dem Ereignis gegenüber Abstand nimmt und ihm gegen
über interesselos wird wie es die ästhetische Fassung des Bildes
und
das Erhabenheitsideal der klassischen Kunst wollen ebenso wenig
aber darin aus freien Stücken
darauf
zuzugehen: vielmehr besteht
es darin sich vom Bild ergreifen zu lassen von der Region des Re
alen in der
wir
die Dinge
auf
Distanz halten um besser über sie
verfügen zu können überzugehen zu jener anderen in der es die
istanzist die uns hält diese Distanz der unlebendigen unverfüg
baren Tiefe eine unschätzbare Ferne die gleichsam zur souveränen
und letztgültigen Macht der Dinge wurde. Eine solche Bewegung
weist unendliche Abschattungen auf. So sagt etwa die Psychoana
lyse dass das Bild weit davon entfernt
uns
nicht anzugehen
und
uns im Modus der freien Phantasie leben zu lassen uns vielmehr
grundsätzlich
an
uns selbst auszuliefern scheint. Das Bild ist zuin
nerst weil es aus unserer Innerlichkeit-eine äußere Macht
r ~ n
ie zwei
assungen
des Imaginären
n ~ • . . .
8/19/2019 Bildtheorien
11/30
lässt, die wir passiv erleiden: außerhalb von uns, in jenem Rücktritt
der Welt, den sie selbst verursacht, haust, irrend
und
schillernd, die
Tiefe unserer Leidenschaften.
Von dieser Verwandlung zehrt die Macht der Magie. Mit
tels einer methodischen Technik werden die Dinge dazu gebracht,
als Widerspiegelungen zu erwachen
und
das Bewusstsein dazu, sich
zum Ding zu verdichten. Ab dem Augenblick, an dem wir
außer
uns sind-in
dieser Ekstase, die das Bild ist-
tritt
das »Reale«
in
ein mehrdeutiges Zwischenreich ein, in dem
es
keine Grenzen mehr
,gibt, kein Intervall und keine Augenblicke mehr, und in dem sich je
des Ding, in der Leere seiner Widerspiegelung aufgesogen, dem Be
wusstsein angleicht, welches selbst wiederum von einer anonymen
Fülle eingenommen wurde. Die universelle Einheit scheint damit
wiederhergestellt. Hinter den Dingen gehorcht die Seele eines jeden
Dings den Zauberkünsten, über die der ekstatische, dem »Univer
sum« hingegebene Mensch
nun
verfügt. Dabei
tritt
das Paradoxe
der Magie
zum
Vorschein: Sie behauptet von sich, initiativ und frei
verfügend zu sein, doch dabei lässt sie sich, um überhaupt zu sein,
auf
das Reich der Passivität ein,
auf
dieses Reich,
in
dem
es
keine En
den und Ziele fins] gibt. Dennoch bleibt ihre Intention maßgeblich:·
Was die Magie will, ist
auf
die Welt einwirken in ihr verfahren) zu
können, ausgehend von einem Sein, das der Welt vorgängig ist, das
ewige Diesseits,
in
dem jede Einwirkung unmöglich ist. Aus diesem
Grund
wendet sie sich mit Vorliebe der leichenhaften Unheimlich
keit zu und ihr einziger ernstzunehmender Name ist Schwarzmagie.
Ein Ereignis
im
Bild durchleben bedeutet weder, von
dem Ereignis ein Bild zu haben, noch, dem Bild die Willkür des
Imaginären zu verleihen. Das Ereignis findet in diesem Fall wirk
lich s,tatt, doch findet
es »wirklich« statt? Was uns zustößt, ergreift
uns
so, wie
uns
das Bild ergreifen· würde, nämlich indem
es uns
ent-setzt, vom Ereignis und von uns, indem
es uns
außen vorhält
und
aus diesem Außen eine Präsenz macht, wo
» I ~ l «
»sich« nicht
wiedererkennt. »Eine solche Bewegung weist unendliche Abschat
tungen auf«. Was
wir
als die zwei Fassungen des Imaginären be
Y.eichneten, die Tatsache also, dass das Bild
uns
freilich helfen mag,
das Ding idealiter zu begreifen, wodurch sie zu dessen verlebendi
genden Negation wird, das Bild
auf
derjenigen Ebene aber, auf die
uns
die
ihm
eigentümliche Schwere hinab zieht, auch ständig nicht
etwa
auf
das abwesende Ding, sondern
auf
die Absenz als Präsenz
zu verweisen droht, auf das neutrale Double des Gegenstandes, in
dem jede Zugehörigkeit
zur
Welt dahinschwand: Diese Ambivalenz
aurica lanchot
8/19/2019 Bildtheorien
12/30
lässt sich durch kein Entweder-Oder besänftigen, das zur Entschei
dung befähigte
und
der Entscheidung die sie ermöglichende Ambi
guität nähme. Diese Ambivalenz verweist vielmehr selbst
auf
eine
stets ursprünglichere Doppeldeutigkeit zurück.
Die Ebenen
der mbiguität
Wenn das Denken einen Augenblick lang diese Ambigu
ität aushalten könnte, wäre
es
versucht, zu sagen, dass sie sich
auf
drei Ebenen anbahnt. Auf der Ebeneder Welt steht die Ambiguität
noch für die Möglichkeit des Einvernehmens; der Sinn entweicht
immer auf
einen anderen Sinn hin; das Missverständnis dient dem
Verstehen,
es
drückt die Wahrheit des Einvernehmens aus, das da
rin besteht, dass
man
sich niemals ein für allemal verstehen kann.
Eine andere Ebene
kommt
in
den
zwei Fassungen des
Imaginären
zum
Ausdruck.
Es
handelt sich hier nicht länger
um
eine endlose Zweideutigkeit, um das Missverständnis, das dem Ver-
ständnis dient oder das Verständnis täuscht. Was hier
im
Namen
des Bildes spricht, kündet
»mal«
noch von der Welt,
»mal«
führt
es
uns schon in den unbestimmten Zwischenraum der Faszination ein,
»mal« gibt
es
uns die Macht, über die Dinge in ihrer Abwesenheit
und
über die Fiktion zu verfügen, wodurch es uns in einem sinn-
. trächtigen Horizont zurückhält,
»mal«
lässt
es
uns dorthin gleiten,
wo
die Dinge vielleicht gegenwärtig sind, doch
im
Bild,
dorthin
wo
da s Bild das Moment von Passivität darstellt,
wo
es weder ei
nen sinnhaften noch einen affektiven Wert mehr besitzt
und
Lei
denschaft der Indifferenz ist. Das, was wir
mit
einem »mal
...
mal«
unterschieden, sagt die Ambiguität jedoch
auf
gewisse Weise immer
beides, sie sagt das sinnhafte Bild
im
Herzen der Faszination
und
fasziniert uns doch schon kraft der reinsten, der ausgeprägtesten
Klarheit des Bildes. Hier entweicht der
Sinn
nicht auf einen anderen,
er entweicht auf das ndere des Sinns
hin und
aufgrund der Ambi
guität hat nichts mehr Sinn: alles scheint unendlich Sinn zu haben.
Der Sinn ist nur mehr Schein
und
dieser Schein
führt
dazu, dass
der Sinn unendlich ~ e i c h h a l t i g wird, dass dieser unendliche Sinn
nicht weiterentwickelt zu werden braucht
und
unmittelbar ist, dass
er nicht weiterentwickelt werden kann
und
unmittelbar leer ist.*
Die zwei Fassungen das Imaginären
IRI ICI
8/19/2019 Bildtheorien
13/30
• Kann
man
weiter gehen? Die Ambiguität sagt das Sein
als Verborgenes,
es
sagt, das Sein west als Verborgenes.
Damit das Sein ins Werk gesetzt werden kann, muss
es
verborgen sein:
es
wirkt, indem
es
sich verbirgt,
es
ist
durch die Verborgenheit vorenthalten und einbehalten,
entzieht sich ihr aber auch; die Verborgenheit neigt dann
dazu, sich in die Reinheit der Negation umzukehren. Zu-
gleich sagt die Ambiguität aber, wenn alles verborgen ist
und dieses Sagen ist die Ambiguität schlechthin): alles
Sein ist kraft Verborgenheit, Sein heißt wesentlich in der
Verborgenheit sein.
Die Ambiguität besteht
dann
also nicht
nur
in der
un-
ablässigen Bewegung, durch die das Sein zum Nichts
zurückkehrt und das Nichts auf das Sein verweist. Die
Ambiguität besteht nicht mehr
im
ursprünglichen a
und Nein, in dem Sein und Nichts reine Identität wären.
Die wesentliche Ambiguität besteht vielmehr darin, dass
das Nichts vorursprünglich mit dem Sein nicht gleich
ist, es ist nur der Schein von Seinsverborgenheit oder,
anders gesagt, die Verborgenheit ist »ursprünglicher« als
die Negation. Sodass man sagen könnte: umso
wesentlicher
ist die Ambiguität
je weniger sich
die
Verborgenheit
als
Ne-
gation
fassen
lässt
8/19/2019 Bildtheorien
14/30
nmerkungen
Anm. d.
0.: Im
Original : For
in
hat sleep
of
death what dreams may come/When we
have shuffled off this mortal coil (Akt III, Szene
1 .
Blanchot zitiert hier aus Andre Gi
des Shakespeare-Obersetzung: »Car, echappes des Iiens charnels/si dans
ce
sommeil du
trepas, il nous vient de songes« (William Shakespeare, Hamlet, übers. v.Andre Gide, Pa-
ris 1946). ·
2
Anm.d.
0.:
le
semblable
bedeutet
auf
Französisch ebenfalls
>der
Mitmensch<
und
hat
religiöse Konnotationen (das biblische reacha »der Nächste«, wird auf Französisch mit
le semblable
wiedergegeben).
3 i\.nm.d.0.: Blanchot zitiert hier aus Andre Bretons Roman Nadja (1928) (Andre Bre
ton,
CEuvres
completes, hg. v. Marguerite Bannet, Paris 1988, Bd.I,
S.
676).
4 Anm.d. 0.: Anspielung
auf
die Zeuganalyse aus Martin Heidegger, Sein
und
Zeit, Tü-
bingen 1927,§
16.
5 Anm. d.
0.:
Anspielung
auf
Sartres Theorie des Imaginären. Laut Sartre muss das Ge
mälde als ein »materielles Ding verstanden werden, das von Zeit zu Zeit (jedesmal
wenn
der
Betrachter die imaginierende Haltung einnimmt von einem Irrealen heim
gesucht wird« (Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der
Einbildungskraft, übers.
v.
Hans Schöneberg, überarbeitet
v.
Vincent von Wroblewsky,
Harnburg 1994,
S.
293 ), Im Original: »Ainsi Je tableau doit etre
o n ~ u
comme une cho
sematerielle visitee de temps
a
utre (chaque fois que Ie spectateur prend l'attitude ima
geante) par un irreei« (L'imaginare. Psychologie phc nomenologique de l'imagination,
Paris 1940, S.364).
6
Anm.
d. 0.:
Edgar Allan Poe, The Fall
of
the Hause
of
Usher, Erstveröffentlichung in:
Burtons Gentleman's Magazine 5 (1839), S.145-152.
7 Anm.d. 0.: Es handelt sich hierbei nicht
um
den Philosophen Feuerbach, sondern
um
den bayrischen Rechtsgelehrten Paul Johann Anselm Feuerbach (1775-1833), der den
Fall der Giftmörderin Anna Margaretha Zwanziger in seiner Aktenmässigen Darstel
lung merkwürdiger Verbrechen (Frankfur t 1849) schildert, vgl. besonders
S.
22.
8 Anm.d.O.: Pascal, Pensees no.40 (Edition Lafuma) (134 in der Edition Bruschvicg):
•Quelle vanite que Ia peinture qui attire l'admiration par Ia ressemblance des choses,
dont
on
n'admire point es originaux «
Dia zwei Fassungen das
Imaginären
1 11 1
8/19/2019 Bildtheorien
15/30
8/19/2019 Bildtheorien
16/30
Natura
pictrix.
Anmerkungen
zur figurativen
und
nicht figurativen » alerei«
in Natur
und
Kunst
Roger Caillois
Unabhängig davon, ob Schmetterlingsflügel
und
Bilder einander
tatsächlich so ähnlich sind wie behauptet, ist nicht zu leugnen, dass
sich
in
der Geschichte der Malerei kaum Beispiele für eine beson
dere Vorliebe der Maler für diese buntschillernden und ihre Arbeit
offenbar vorwegnehmenden Oberflächen entdecken lassen.
Im
Ge
genteil, sie scheinen sie zu meiden
und nur
ausnahmsweise, etwa
als untergeordnetes Beiwerk eines Stilllebens, wiederzugeben. Es
kommt ihnen nicht in den Sinn, beispielsweise den Ausschnitt eines
beliebigen Schmetterlingsflügels zum Vorwurf zu nehmen,
ihn auf
die Größe einer Leinwand zu bringen
und
dabei peinlich genau Mo
tive, Proportionen
und
Farben beizubehalten. Ich stelle diese Zu
rückhaltung
fest
ohne
sie
zu kommentieren. Ich vermute allerdings,
dass sie davon rührt, dass der Flügel bereits als Bild wahrgenommen
wird; ihn zu malen hieße daher weniger, die Natur darzustellen als
einem Werk ein Duplikat zur Seite zu stellen. [Abb.l].
Jedenfalls scheint
es
möglich; die Flügel der Schmetter
linge als ihr Bilder oder, wenn
man
so will, als das genaue Gegen
teil der menschlichen Bilder in Betracht zu ziehen, sind sie doch
die einzigen· ästhetischen Gebilde, die bei Lebewesen vorstellbar
sind, die zum Automatismus verurteilt-
und
nur
als Gattung, nieht
1 211 3
8/19/2019 Bildtheorien
17/30
Saturnia
Pavonia aber als freie Individuen zu kreativen Leistungen
in
der Lage sind.
Eine Parallele hierzu bilden die Gesteine
mit
ihren natürlichen
Zeichnungen, deren Ähnlichkeit mit den Werken der Malkunst die.
Einbildungskraft der Betrachter oft derart beeindruckt hat, dass ih
nen die Natur bisweilen selbst als eine Art Künstler vorkam.
Solange-wie es heute
heißt-
figurativ gemalt wurde, so
lange Malen
darin
bestand, Wesen, Szenen, Landschaften o r
Gegenstände darzustellen, so lange glaubte
man
auch, dieselben
Darstellungen in den Zeichnungen des Marmors, des Jaspis oder der
Achate wiederzuerkennen. Es handelt sich zwar um trügerische, fast
gäntl ich willkürliche Deutungen, die jedoch um so aufschlussrei
cher
siJ?.d
als die behauptete Analogie kaum tragfähig
und
schwer
zu entschlüsseln ist. [Abb.2].
· Dadurch, dass die Formen in der zeitgenössischen nicht-fi
gurativen Malerei ihre Gestalthaftigkeit eingebüßt haben
und
keine
bestimmten Wesen oder Gegenstände mehr darstellen, ist die Ähn
lichkeit heutiger Bilder mit den Zeichnungen und Farben gewisser
Gesteine bisweilen so offensichtlich, dass man meinen könnte, die
· Maler legten es darauf an, den Stein zu kopieren. Selbstverständ
lich ist dem nicht so. Dem Künstler ist das Mineral, dessen getreues
Duplikat sein Bild zu sein scheint, völlig unbekannt. Außerdem ver
meidet er tunliehst alles, was auch nur entfen1t an irgendeine Form
von Wiedergabe erinnert. Und doch
kann man
sich des Eindrucks
oger Caillois
8/19/2019 Bildtheorien
18/30
nicht erwehren, als zielte seine
Kunst
ohne dass
ihm
dies bewusst
wäre darauf
ab, über eine Vielzahl tastender
und
immer auch man
gelhafter Versuche letztendlich doch das perfekte Gegenstück zu je
nen Motiv-
und
Farbkompositionen zu schaffen, die vor Jahrmillio
nen von den unveränderlichen und blind wirkenden Gesetzen der
Geologie hervorgebracht wurden. Oberdies lassen sich vielfältige
Oberkreuzungen, Interferenzen, ja sogar Fälschungen zwischen
den beiden Ordnungen, dem Natürlichen und
dem Künstlichen,
fests tellen, Überschneidungen, die widerstreitenden,
immer
aber
auch verlockenden Herausforderungen entsprechen, so dass es wohl
der Mühe wert ist, am Beispiel der mineralischen Welt die verschie
denen Formen von Einverständnis oder Konkurrenz zwischen der
Natur
und
dem Künstler genauer zu untersuchen.
Seit der Antike haben sich die Menschen bemüht, die
Flecken und Äderungen der Steine zu deuten
und
darin Tiere, Per
sonen, Landschaften, ja ganze Szenen wiederzuerkennen. Plini
us der Ältere berichtet, dass Pyrrhus einen Achat besaß, der,
ohne
dass die Kunst dazu beigetragen hätte
Apollon darstellte, eine Lyra
in der Hand, begleitet von den neun Musen, jede mit ihren jewei-
ligen Attributen.
1
•
Man
diskutierte J,ahrhunderte lang über den mysteri
ösen Achat:
im
16 Jahrhundert meint G Cardano, dass es sich
um
eine dem Stein hinzugefügte Malerei)landle,2 im 17 Jahrhundert
Natura pictrix
2 Augenjaspis
Madagaskar.
Sammlung
Claude
Boullt e, Paris.
1041105
8/19/2019 Bildtheorien
19/30
behauptet Gaffarel Bibliothekar von Richelieu und Kaplan des Kö
nigs es handle sich um ein spontanes Wunder.
3
Tatsächlich werden
seit langem die Bildersteine gesucht katalogisiert verschönert ver
vollständigt gefälscht ja sogar künstlich hergestellt. Zwischen dem
13
und
dem 17.Jahrhundert entwickelt sich bei gewissen Kunstlieb
habern oder Einzelpersonen eine regelrechte Leidenschaft für diese
Bilder die die
atur in
Achate Marmor Jaspis
und
Porphyre ein
geschlossen zu haben scheint. Jurgis Baltrusaitis der die Geschichte
dieser Mode nachgezeichnet hat
4
stellt ihr nicht zu Unrecht den
berühmten Ratschlag Leonardo da Vincis voran: »Betrachtest du
von Flecken bedeckte oder aus Steinen aller Art zusammengesetzte
Mauern um dir irgendeine Szene vorzustellen so kannst du darauf
etwas den Landschaften
mitdem
Schmuck ihrer Gebirge Flüsse Fel
sen Ebenen tiefen Täler
und
Hügel Entsprechendes
in
vielfältiger
Weise angeordnet erkennen. Sehen
kannst
du
dort
auch Schlach
ten und Figuren in rascher Bewegung merkwürdige Gesichter
und
Kleider
und
eine Unzahl von Dingen die du in eine klare
und
voll
~ t ä n i g e Form bringen kannst. Und dies erscheint verworren
auf
den Mauern wie im Klang der Glocken: in ihren Schlägen kannst
du alle Klänge
und
Worte finden die du dir vorstellen magst.«
5
Philipp Hainhofer;
ein
Augsburger Kaufmann trieb so
gar Handel
mit
diesen Bildersteinen die er aus Italien kommen ließ.
Zu seinen Kunden zählten der H-erzog von
Pommern
und der Kö
nig von Schweden. Der Stein gibt den Bildgrund ab: Wolkensäulen
Roger aillois
8/19/2019 Bildtheorien
20/30
3 Ruin
marbles
Toskana. Sammlung
Claude Boulle Paris.
zusammenbrechende Wogen eines aufgewühlten Meeres, das ganze
Dekor, das die Zeichnungen des Minerals
ohne
jedes Zutun darzu
bieten scheinen. Der Künstler begnügt sich damit, menschliche Ge
stalten hinzuzufügen. Johann König malt auf einen Achat in dieser
Manier den Durchzug durch das Rote Meer
und
das Jüngste Ge
richt; Antonio Carracci auf eine Alabasterplatte die Verkündigung
und eine Szene mit Maria mit dem Kind und dem hl. Franziskus.
»Der Maler«, sagt Baltrusaitis, »hat seine anmutigen Gestalten mit
Bedacht angeordnet, doch das übernatürliche Element, der Hauch
des Geheimnisses, verdankt sich der Natur«
6
Sie
verdanken sich den
träge dahinfließenden Mäandern des Alabasters, dessen milchig- .
trüberi Windungen das Ganze in ein jenseitiges Licht tauchen.
Wir haben
es
also mit einer regelrechten Zl sammenar
beit zwischen dem Künstler und
der Natur zu tun In der Mehr
zahl der Fälle ist der Anteil des Künstlers sehr gering; häufig fehlt
er, wie bei einigen bemerkenswerten Stücken aus der Sammlung
des Kopenhagener Arztes Olaus Worm, sogar ganz. In dem 655
in Leyden veröffentlichten Sammlungskatalog wird namentlich ein
ungeschliffener Marmor erwähnt, dessen Adern eine Stad,t an zwei
Ufern,
mitTürmen
und Ruinen, zeigen, »fein umrissen, als wären
sie
vom Pinsel eines Künstlers gemalt«. Diese Beschreibung bezieht
sich zweifellos
auf
einen jener Ferrareser Marmorsteine, deren Risse
die Ansicht zerstörter Städte wiedergeben [Abb. 3]. Die Engländer
nennen sie
ruin
marble ? Ihre vertikakn Linien, die von anderen
Natura
plctrix
1061107
8/19/2019 Bildtheorien
21/30
Bruchlinien spitzwinklig durchkreuzt werden, erinnern gelegent
lich an jene dichtgedrängten Stadtansichten
mit
ihren schemati
sierten Wolkenkratzern, wie wir sie von Bernard Buffet kennen. Im
allgemeinen unterscheiden die Kataloge jener Zeit sorgfältig zwi
schen Steinen, die vom Künstler vervollständigt wurden und mit
der Formel bezeichnet werden: »künstlerisch bearbeitet«
ars
adap-
tavit) und
Mineralien, die unverändert belassen wurden urid durch
folgende Beschreibung definiert werden:
»von
der Natur gemalt«
a
natura
depzcti)
oder »natürlich, ohne jedes künstlerische Einwirken«
a natura
sine omni
artis
ministerio . s
gibt indes bei diesen.natür
lichen Bildern eine Zwischenform, die in den Katalogen offenbar
nicht berücksichtigt wurde
und
die auch Baltrusaitis nicht erwähnt.
Sie entsteht dadurch, dass
man
Marmor- oder Porphyrplatten mit
vielversprechenden Adern senkrecht durchschneidet. Anschließend
»öffnet« der Künstler den Stein, indem er so wie man ein Buch auf
schlägt
die beiden Hälften
um
eine Achse
herum
aufklappt
und
dadurch eine Symmetrie schafft, die die Natur selbst nicht aufweist.
Das gesuchte Bild entsteht allein durch diese hinzutretende Symme
trie. Nicht anders machen
es
Kinder, wenn sie ein Blatt Papier falten,
auf dem sie zuvor einen Tintenklecks verteilt haben. Die Stein tafeln,
die
denNarthex und
den Hauptbau der Sophienkirche inKonstan
tinopel im
Innern
schmücken, sind
in
dieser Technik ausgeführt.
Die Adern der Steinplatten, verdoppelt
und
nebeneinandergestellt,
stellen Kamele, Dämonen
und
etliche andere,
mehr
oder weniger
unbestimmte Gestalten dar, die der Einbildungskraft des Betrach
ters das eine Mal relativ deutlich die Richtung vorgeben, die
ihr
das
andere Mal aber auch wieder genug Raum l s s e n ~
um
selbst heraus
zufinden,
was
sie in ihnen wahrnehmen möchte.
In diesem letzten Fall bereichert der Künstler die Natur
nicht, noch verändert er die Formen, die sie
ihm
bietet, sondern er
kombiniert sie entsprechend einer Symmetrie, die den trügerischen
Eindruck einer bestimmten Gestalt vermittelt. Er verändert die Ele
mente nicht, sondern isoliert sie,
um
sie anschließend mittels ei
ner geschickten Verdopplung des gewählten Motivs zu figurativen
wecken zu verwenden.
Im
Fall der Sophienkirche handelt es sich
um
eine ausge
klügelte Manipulation, die die Ausschmückung des Innenraums
zum
Ziel hat
und
sich dabei überaus effektiv der Geometrie
und
ihrer Eigenschaften bedient.
Im
westlichen Teil Europas hat
man
sich hingegen eher von den Wundern der
tinerklärlichen und
überdies willkürlichen
und
folgenloseJL-Analogie leiten lassen,
Roger
Caillois
8/19/2019 Bildtheorien
22/30
die man bisweilen in den Zeichnungen gewisser Steine zu er
kennen glaubte, in denen sich die verschiedensten Dinge aus aller
Herren Länder abzeichnen.
Ein Naturforscher aus Bologna, Ulisse Aldrovandi
1522
-1607) gibt in seinem
1648
von B. Ambrosini veröffentlichten
Werk über die Mineralogie,
Museum
Metallicum,
das für die dama
lige Zeit vollständigste Verzeichnis dieser Merkwürdigkeiten, die er
als Wunder der Natur ansieht. Mehr noch;
er
klassifiziert den Mar
mor nach seinen figürlichen Eigenschaften
und
unterscheidet Mar
mor mit religiösen Darstellungen, Marmor, der »Flüsse nachahmt«,
schäumenden Marmor, Marmor mit Wäldern, mit Gesichtern, mit
Hunden, Fischen, Drachen usw. Das Werk ist,
s i n ~ r
Bedeutung
entsprechend, reich illustriert.
Athanasius Kireher hat
in
seinem
undus subterraneus
Amsterdam, 1664) aus Aldrovandis Dokumentation viele Anre
gungen
und
Anleihen übernommen. Er stellt seinerseits eine
Klassifikation der Naturwunder auf
und
bietet für sie mehrere
unterschiedliche Erklärungen, die von allgemeinsten physischen
Eigenschaften bis zu göttlichen Verfügungen reichen. Denn Gott
verschmäht es
ihm
zufolge nicht, gegebenenfalls
mit
der Natur
zusammenzuwirken, wie etwa im Fall der chinesischen Krabben, in
deren Panzer er Kreuzzeichen einprägte,
oder
beim Splintholz ja
panischer Bäume.
8
[Abb.4]
- Wie die italienischen Kataloge seiner Zeit ist auch Kireher
voll des Lobes über die Vorzüge der von den Marmor- und Chalze
donsteinen spontan dargebotenen Bildern: so heißt es von einem
-eingeäscherten Troja, Xerxes hätte
es
nicht besser malen können;
von den Landschaften, Städten; Gebirgen und Himmeln, sie würden
von den Liebhabern höher geschätzt als gewöhnliche Kunstwerke.
Um diesen Überschwang etwas
zu
dämpfen, mag
es
an
gebracht sein, auf zwei Dinge hinzuweisen. Zum einen handelt es
sich stets um Deutungen von notwendigerweise unvollkommenen
und wirren Zeichnungen, in denen die Einbildungskraft vertraute
Formen wiedererkennt, deren Konfiguration sie jedoch vollenden
oder zumindest bestätigen muß, so daß der Künstler die ungenaue
Darstellung des Steins häufig berichtigt oder vervollständigt. ·Er
bereichert die Natur
um
seine Kunst, er spielt mit ihr, wie Hainhafer
im Briefwechsel
mit
seinem Bruder erklärt
ars
vnd
natur:a
mit
ain
ander spilen
9
. Analogie und Ähnlichkeit sind die Leitbegriffe die
ser Ästhetik und so erkennt man in den unerklärlichen Bildern in
Form religiöser Darstellungen-gerne das Wirken Gottes: Kruzifixe,
atura pictrix
1 811 9
8/19/2019 Bildtheorien
23/30
Anonym Bilder-
ln :
Kircher
subter-
Amsterdam
Bd.ll. S.
JO
•
\1
.
Jungfrauen, Heilige, Einsiedler, Ungläubige mit Turbanen werden
ebenso entdeckt wie Ansichten von zerstörten Städten, undurch
dringliche Wälder, lange Wüstenstreifen, aus denen sich unvor
stellbare Gebirgsketten erheben oder Schaumkronen, die auf Riffen
tanzen. s wird viel gerp.utmaßt, gerätselt
und
entschlüsselt, wobei
auch die Phantasie nicht zu kurz kommt.
Zum
anderen ist keiner dieser Steine signiert:
es
sind
Wunder der Natur. Was an ihnen interessiert, ist die formale
Ä -
lichkeit, nicht der eigentlich ästhetische Wert. Keiner der Künstler
kam-wie
später Marcel Duchamp mit seinen Ready-mades-auf
den insgesamt doch sehr fragwürdigen Gedanken, ihnen allein
durch die Gnade seiner Wahl zur Auszeichnung eines persönlichen
-Kunstwerks zu verhelfen. Eine solche Auszeichnung veränderte We
sen und Bestimmung der Objekte, auf die die Wahl nur deshalb
fiel, weil sie den Zuschauer zwingen, selbst noch die banalste Er
scheiming nach neuen Normen zu beurteilen. Duchamps Kühnheit
bedeutet, dass das Wesentliche
in
der Verantwortung liegt, die der
Künstler durch die Signatur eines beliebigen Gegenstands über
nommen hat, den er nicht einmal selbst hergestellt haben muss.
'
Roger Ceillois
8/19/2019 Bildtheorien
24/30
Dennoch eignet er
ihn
sich souverän an, indem er
ihn
als ein Werk
ausweist, das ebenso wie das Gemälde eines Meisters den Eindruck
von Kunst hervorzurufen vermag.
Marcel Duchamp ist nicht der erste, der diesen Weg gegan-
gen
is
Bereits
im
19.Jahrhundert gab es in China Künstler, die sich,
anstatt zu malen,
damit
begnügten, Marmorplatten zuzuschnei-
den, zu rahmen, ihnen einen Titel zu geben, sie zu signieren
und
sie
so, als handelte
es
sich
um
wirkliche Gemälde, dem Publikum zu
präsentieren. Eine dieser Platten, auf der der »Maler« neben seinem
Sigellediglich seinen Namen K iao Chan
und
einen Titel »Einsamer
Held« Ying
hiong
ton li) eingraviert hat, befindet sich in meinem
Besitz. Eine weitere, auch sie ein Marmorstein
und
ähnlich signiert,
befindet sich im
Londoner Natural History Museum. Ich erkenne
hier zwei Neuerungen, die zu der abendländischen Leidenschaft für
die Bildersteine
in
einem deutlichen Kontrast stehen: die erste ist
die Signatur; die zweite ist die Tatsache, dass hier
mehr
die Har-
monie der Formen und Farben gesucht wird als eine wundersame
und
flüchtige Ähnlichkeit mit irgendeinem besonderen Bild oder
einer Szene aus dem Bereich der Natur oder der Geschichte; n
Natura pictrix
1101111
8/19/2019 Bildtheorien
25/30
China
hatte zwar die Praxis
der
dekorativen Kalligraphie die Au
gen seit langem darin geschult, die Eigenschaften einer nicht-fi
gurativen Kunst zu beurteilen. Nicht dass die chinesischen Steine
ihrer Definition immer vollkommen entsprechen- allein der Titel
zwingt ihnen ein Sujet
auf
-, aber
es
ist doch offenkundig, dass
es
sich bei dieser Entsprechung sehr viel stärker
um
eine affektive
oder abstrakte als
um
eine morphologische handelt. Nachdem sich
im Westen die Maler von ihrer Bindung
an
das Sujet befreit haben,
legen sie
es nun darauf
an, die üblichen Formen zu zerstören.
ie
bemühen sich, sich so weit wie möglich vom Bestand der Figuren
zu entfernen, die dem Menschen durch die Wahrnehmung der
Welt der Festkörper vertraut geworden ist. Daherall diese Linien
und
Striche, Tupfen
und
Flecken, die der Feinstruktur der Mate
rie, wie sie die Präzisionsinstrumente (Mikroskope, Spektroskope
usw.) zeigen, sehr viel näher stehen als der üblichen Wahrnehmung.
Ein s ~ l h e s Bild ähnelt einem Gewebeschnitt, einer zwischen zwei
Glasplättchen zerquetschten
und
durch das Objektiv vergrößerten
Schicht Holundermark, einem Insektenfühler, einer ausgefaserten
Flamme oder weißglühendem Silber, einem jedem Bild, das die
Technik heute von der Materie gibt, sowie
es
ihr gelingt, ihre innere
Architektur offenzulegen. Das geht soweit, dass
es
selbst.für einen
erfahrenen Kunstkritiker schwierig sein dürfte, zwischen guten
Farbreproduktionen zeitgenössischer Bilder
und
wissenschaftlichen
oder industriellen Photographien zu unterscheiden, wie man sie in
großer Zahl in den entsprechenden Fachpublikationen findet.
Man vertausche
nur
einmal die Bildlegenden: kaum je
mand wird imstande sdn sie wieder richtig zuzuordnen. Den chi
nesischen Präzedenzfall vor Augen, machte ich mich einmal daran,
einige Mineralproben, die ich nach langer Suche
mit
Bedacht in na
turgeschichtlichen Kabinetten ausgewählt hatte, in Bilder zu ver
wandeln. Weder was die Komposition, noch was die Farben, noch
insbesondere was den unabdingbaren Erfolg angeht, der das We
sentliche des Kunstwerks ist, erscheinen sie mir als weniger gelungen
als die subtilsten Ergebnisse der atnbitionierten Malerei von heute.
Im
Gegenteil, sowie diese Steine (Septarien, Labradorite, Serpenti
ne, Utahite, Malachite, Korsite, orbiculare Granite, Achate, Kalk
steine mit Spuren von Meerlilien,
und
viele andere meh r) poliert
und
entsprechend zentriert
sind-der
menschliche Eingriffbeschrän
kt
sich
auf
diese. Kadrierung, das Ausschneiden eines passenden
Rechtecks-bezeugen sowohl ihre Komposition als auch ihre Fär
bung eine ergreifende Sicherheit, Delikatesse
und
Kühnheit.
ie
sind
oger
Caillols
8/19/2019 Bildtheorien
26/30
tatsächlich die »Bilder« der Natur. In derselben Weise habe ich neben
eine chinesische Skulptur, die nur aus einem einzigen polierten und
stark ausgehöhlten Bergkristall besteht
und in
sich tiefe Einbuch
tungen
und
mächtige Auswölbungen eines imaginären, komplexen
und
verwirrenden Torsos vereinigt, einen anderen, kaum weniger
abstrakten, ja fast schon geometrischen Kristall gestellt,
in
dessen
Transparenz sich ein schräg verlaufender Strahl feiner Rutilnadeln
abzeichnet etwas weniger transparent
in
diesem vollkommenen
Licht und gleichsam einschüchterner Vorbote der Dunkelheit. ·
AthanasiusKircher, der begeisterte Panegyriker der -
terirdischen Welt erklärt, die Natur sei ein Geometer, ein Astronom,
sogar ein Maler, der Polygone,
t e r n e ~
Landschaften
und
Gesichter
besser wiedergibt als ein Künstler dies könnte.
[Abb 5]
Er legt für
diese Behauptung mehr und leider auch sehr anfechtbare- Beweise
vor, als von
ihm
verlangt, hat dabei aber
nur
die figurative Malerei im
Auge,
und
hier wird man ihm wohl widersprechen m ü s s n ~ Anders
verhält es sich hingegen bei der nicht-figurativen Malerei, wenn die
Künstler die Darstellung des absolut Elementaren anstreben, jen
seits des Formalen
und
Distinkten,
und
unabhängig davon, ob sie
sich von den Beispielen aus der Mineralogie oder von den polychro
men Tafeln der technischen Fachliteratur inspirieren lassen oder
nicht. Wenn sie Stillleben vorlegen,
die häufig
ohne dass
es
ih
nen bewusst wäre-erstaunlich genau (manchmal zum Verwechseln
ähnlich) dem Bild entsprechen, das sich unsere Zeit zum ersten Mal
vom ionersten Gewebe der Materie macht, scheint ihnen die Na
tur
auf
diesem unerschlossenen Gebiet den Weg geebnet zu ha
ben. Im Ausschnitt eines Schmetterlingsflügels,
im
Motiv seltener
Steine zeigt sich, dass sie ihnen, lange bevor sie selbst zu malen be
gonnen haben, als »Maler« vorausging. Sowohl in der aleatorischen
Chemie der alljährlichen Verpuppungen als auch in den. geheimnis
vollen
und
langsamen Vorgängen der Geologie hat sie ihre Erfolge
vorweggenommen. Als sich die Maler von ihrem herkömmlichen
Anspruch. entfernten, das menschliche Universum darzustellen, ha
ben
sie offenbar einen Weg eingeschlagen, auf deiJ1 sie sich früher
oder später unweigerlich der schlimmsten Konkurrenz stellen mus
sten: nämlich der mit der Natur selbst.
Der Vergleich ist unvermeidlich: die Kriterien, die gestat
ten, Originalität, Reiz und Wert von Werken zu beurteilen, sind in
dem einen wie in dem anderen Fall die gleichen. Was sich unter
scheidet, ist allein die Art der Entstehung. Hier Idee
und
Ausfüh
rung eines selbständigen Werks durch
einen
absolut einzigartigen,
Natura
pictrix
1121113
8/19/2019 Bildtheorien
27/30
Ideale
montes
quaedam
Stich .
: Athanasius
.
Mundus
1664/65
. ll 5.180.
ja unersetzlichen Künstler.
Dort
die undurchsichtigen ganze Zeit
alter übergreifenden Vorgänge einer anonymen Physik. Man darf
jedoch nur nach den Ergebnissen urteilen auf der Grundlage der
reinen Ästhetik
und
ausschließlich nach den plastischen Qualitä-
ten der vorliegenden Werke.
Watum
also sollte man von vornher
ein Kompositionen von einer offensichtlichen und unbestreitbaren
Pracht häufig von einer erdrückenden Überlegenheit allein durch
das Argument herabwürdigen sie verdankten sich nicht der Initi
t i v ~
und
der Mühe eines intelligenten Wesens sondern der wir
ren Metamorphose eines anderen weniger differenzierten Teils
der Materie? Die Maler haben selbst diesen Wettbewerb und ein
so großes Risiko gesucht. Haben sie als sie das Formlose gewählt
haben bedacht dass in den urzeitliehen Verglasungen des tiefen
Laboratoriums der Lavamassen eine unfassbare Kraft am Werk
war die ihrer edlen und schwankenden Kühnheit mit einer traum
wandlerischen Sicherheit vorausging? Wie auch immer. Mensch
liche Größe bestand stets darin fehlbar
ZU
sein
und
tastend Neues
hervorzubringen.·
Roger Caillois
8/19/2019 Bildtheorien
28/30
atura pictrix
4 5
8/19/2019 Bildtheorien
29/30
nmerkungen
1
Pliniusd.Ä. Nat.Hist.XXXVII, 3.
Girolamo Cardano, De subtilitate, Nürnberg 1550.
3 Jacques Gaffarel, Curiositez inouyes sur
Ia
sculpture talismanique des Persans, Paris
1629.
4
)urgis Baltrusaitis, Aberrations. Les perspectives dtpravees, Paris 1957,
3. Teil
Pierres
imagees,
S.
47
72;
dt. Imaginäre Realitäten. Fiktion
und
Illusion produktive Kraft,
Köln 1984, Bilder im Stein,
S.SS 89.
Ich entnehme dieser aufschlussreichen Untersu
chung fast alle folgenden Angaben über Bildersteine.
Manuskript 2038 der Bibliotheque Nationale, Paris, S.22, verso. Vgl.Andre Chastel,
Leonard de Vinci par
u i - m ~ m e
Paris 1952, S.100f.
6 ·Baltrusaitis (Anm.4), S.56; dt.63 .
7 Eine andere Marmorart , auf der das Auge Bäume und Büsche zu sehen glaubt, wird
andscape marble genannt.
8 Athanasius Kircher, Mundus subterraneus, Amsterdam 1664/65,
Bd
.II, Buch VIII, Abt. I
Kap .8 und 9, S.22 45.
9 Baltrusaitis (Anm. 4),
S.
56; dt.
S.
63.
bbildungsnachweise
Saturnia Pavonia = Kaisermotte). Foto: Theo Groen, 2006 (Courtesy).
2 Augenjaspis, Madagaskar. Sammlung C1aude Boullee, Paris (nach )urgis Baltrusaitis,
3 Aberrations, Paris 1983, Tafel VIII,
S.
75)
Ruin marbles, Toskana. Sammlung Claude Boulle, Paris (nach )urgis Baltrusaitis, Ab
errations, Paris 1983, Tafel
V
S.64)
5 Anonym, Bildersteine, Stich. In: Athanasius Kircher, Mundus subterraneus, Amsterdam
1664/65,
Bd.
II
.,
S.
30.
6 Anonym, SystemaIdeale Pyro-Phylaciorum Subterraneorum, quorum montes Vulca
nii, veluti spiracula quaedam existant, Stich. In: Athanasius Kircher, Mundus subterra
neus, Amsterdam 1665, Bd. II,
S.
180.
Roger aillois
8/19/2019 Bildtheorien
30/30