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Bill Bryson Frühstück mit Kängurus

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Bill BrysonFrühstück mit Kängurus

BILL BRYSON

Frühstück mitKängurus

Australische Abenteuer

Deutschvon Sigrid Ruschmeier

Goldmann Verlag

eISBN 978-3-641-09056-2

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel»In a Sunburned Country« bei Broadway Books, New York

1. AuflageCopyright © der Originalausgabe 2000

by Bill BrysonCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH

Satz: Uhl+Massopust, Aalen

www.goldmann-verlag-de

Für David, Felicity,Catherine und Sam

ERSTER TEIL

Ins Outback

Erstes Kapitel

I

Auf dem Flug nach Australien fiel mir wieder nicht ein, wie derPremierminister heißt. Ich seufzte. Das passiert mir immer –ich will mir den Namen merken, vergesse ihn (meist mehroder weniger prompt) und fühle mich dann schrecklich schul-dig. Denn ich finde, dass ihn wenigstens ein Mensch außer-halb Australiens kennen sollte.

Es ist aber auch schwer, sich einigermaßen über das Landauf dem Laufenden zu halten. Als ich vor ein paar Jahren zumersten Mal von London aus dorthin flog, vertrieb ich mir dievielen Stunden mit der Lektüre einer Geschichte der australi-schen Politik des zwanzigsten Jahrhunderts und stieß auf dieerstaunliche Tatsache, dass der Premierminister Harold Holtim Jahre 1967 an einem Strand in Victoria entlangspazierte, indie Brandung hechtete und verschwand. Von dem armenMann ward nie wieder etwas gesehen. Ich fand das doppelt er-staunlich – erstens, weil Australien einfach so einen Premier-minister verlor (also, wo gibt’s denn so was?), und zweitens,weil es mir nie zu Ohren gekommen war.

Was nur einmal mehr beweist, wie schmählich wenig Be-achtung wir unseren Brüdern und Schwestern am anderenEnde der Welt – down under – schenken. Doch das hat seineGründe: Australien ist sehr weit weg und großenteils unbe-wohnt. Sein Anteil an der Weltbevölkerung ist verschwindendgering: nur neunzehn Millionen Menschen leben dort – um

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mehr als diese Zahl wächst ja China schon jedes Jahr. Und miteiner Wirtschaftskraft, die in etwa dem US-Bundesstaat Illinoisentspricht, spielt es im weltweiten Vergleich auch nur eine Ne-benrolle. Es schickt uns zwar ab und zu nützliche Dinge –Opale, Merinowolle, Errol Flynn und Bumerangs –, dochnichts, das wir unbedingt zum Leben bräuchten. Der wich-tigste Grund dafür, dass es ständig übersehen wird, scheintmir jedoch darin zu liegen, dass es sich nie daneben benimmt.Die politischen Verhältnisse sind stabil, die Leute friedlich undgut. Australien kennt keine Staatsstreiche, überfischt nichtrücksichtslos die Weltmeere, verkauft keine Waffen an fieseDespoten, baut nicht in frechen Mengen Koka an oder führtsich in nassforscher oder sonst wie ungebührlicher Weise auf.

Doch selbst all dessen eingedenk, ist unsere Ignoranz ge-genüber dem, was dort passiert, schwer zu erklären. Wie Siesich denken können, ist sie vor allem in den Vereinigten Staa-ten verbreitet. Kurz bevor ich zu meiner Reise aufbrach, gingich in die Stadtbücherei meines Heimatorts Hanover, NewHampshire, und schaute Australien im New York Times Indexnach. Ich wollte sehen, wie viel Aufmerksamkeit es in den letz-ten Jahren in meinem Heimatland erregt hatte. Nur weil derBand von 1997 aufgeschlagen auf dem Tisch lag, begann ichmit diesem Jahr. Über das ganze Spektrum möglicher Interes-sensgebiete verteilt – Politik, Sport, Reise, die anstehendenOlympischen Spiele in Sydney, Essen und Trinken, die schö-nen Künste, Nachrufe und dergleichen –, hatte die New YorkTimes 1997 zwanzig Artikel gebracht, die sich überwiegendoder ausschließlich mit australischen Angelegenheiten be-schäftigten. Nur zum Vergleich: Im selben Zeitraum gab eseinhundertundzwanzig Beiträge über Peru, etwa einhundert-undfünfzig über Albanien und Kambodscha, jeweils mehr alsdreihundert über Nord- und Südkorea und weit über fünf-hundert über Israel.Alles in allem war Australien gleichauf mitWeißrussland und Burundi. Mehr zu lesen gab es selbst über

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Themen wie Freiluftballons und deren Fahrer, die Scientolo-gy-Kirche, Hunde (ausgenommen Hundeschlitten-Fahren)und über Pamela Harriman, die Ex-Botschafterin und Party-löwin, deren Ableben im Februar 1997 offenbar eine Katas-trophe darstellte, die zweiundzwanzigmal in der Times er-wähnt werden musste. Grob gesagt, war Australien denAmerikanern 1997 unwesentlich wichtiger als Bananen, aberbei weitem nicht so wichtig wie Speiseeis.

Und dabei war 1997 sogar noch ein gutes Jahr für Nach-richten aus dem fünften Kontinent. 1996 war er Thema in ge-rade einmal neun Berichten und 1998 nur in sechs. Anderswoauf dem Globus schreibt man vielleicht häufiger über ihn –aber das liest doch keiner! (Bitte alle melden, die erstens denderzeitigen australischen Premierminister nennen können undzweitens wissen, in welchem Bundesstaat Melbourne liegt,oder überhaupt eine Frage zu Australien beantworten können,die nichts mit Cricket, Rugby oder Mel Gibson zu tun hat.)Die Australier hassen es, dass die Welt sie so wenig beachtet,und das kann ich gut verstehen. Denn es ist ein Land, in deminteressante Dinge passieren. Am laufenden Band!

Bester Beweis dafür ist eine der Geschichten, die es 1997 indie New York Times schaffte, wenn auch unter die Rubrik »Ver-mischtes«. Im Januar ebendieses Jahres, schreibt der Times-Re-porter, untersuchten Wissenschaftler ernsthaft, ob das myste-riöse Erdgrummeln im äußersten australischen Outback vierJahre zuvor tatsächlich die Explosion einer Atombombe gewe-sen war, die Mitglieder der japanischen WeltuntergangssekteAum Shinrikyo gezündet hatten. Um dreiundzwanzig Uhrdrei (Ortszeit) des achtundzwanzigsten Mai 1993 zucktenund kritzelten nämlich in der gesamten Pazifikregion die Na-deln der Seismografen los, nachdem es in der Nähe des OrtesBanjawarn Station in der Großen Victoriawüste in Westaustra-lien offenbar heftig gebebt hatte. Ein paar Fernfahrer und Pro-spektoren, das heißt, Leute, die Öl und sonstige Bodenschätze

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suchen, im Grunde die einzigen Menschen, die sich in diesereinsamen Weite aufhalten, berichteten, dass sie plötzlich einenBlitz am Himmel gesehen und das Donnern einer mächtigen,doch sehr entfernten Detonation gehört beziehungsweise ge-spürt hätten. Einem war in seinem Zelt eine Dose Bier vomTisch gehupft.

Man fand keine eindeutige Ursache. Die seismografischenAufzeichnungen hatten ein anderes Profil als die eines Erdbe-bens oder einer Explosion in einem Bergwerk, wobei dieDruckwelle ohnehin einhundertundsiebzigmal stärker war alsdie der heftigsten Bergwerksexplosion, die je in Westaustralienregistriert wurde. Die Aufzeichnungen passten eher zu einemgroßen Meteoriteneinschlag, doch der hätte einen Krater vonmehreren hundert Metern Durchmesser schlagen müssen,und einen solchen Krater fand man nicht. Letztendlich zer-brachen sich die Wissenschaftler ein, zwei Tage lang den Kopfund legten das Ganze dann als unerklärliche Kuriosität adacta. So was passierte eben von Zeit zu Zeit.

1995 allerdings erlangte die Aum-Sekte jäh traurige Be-rühmtheit, als sie in der Tokioter U-Bahn in großzügigenMengen das Nervengas Sarin versprühte und zwölf Men-schen starben. Bei den nachfolgenden Ermittlungen fand manheraus, dass die Sekte über beträchtlichen Landbesitz ver-fügte, unter anderem auch über ein Fünfhunderttausend-Morgen-Wüsten-Areal in Westaustralien unweit der Stelle, ander sich das mysteriöse Beben zugetragen hatte. Die Behördenentdeckten dort ein ungewöhnlich gut ausgestattetes Spezial-labor sowie den Beweis, dass die Sektenmitglieder Uran geför-dert hatten. Unabhängig davon wurde bekannt, dass die Sektezwei Atomwissenschaftler aus der früheren Sowjetunion inihre Reihen rekrutiert hatte. Da das erklärte Ziel der Gruppedie Zerstörung der Welt ist, hat es den Anschein, als sei derZwischenfall in der Wüste eine Trockenübung dafür gewesen,Tokio in die Luft zu jagen.

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Sie verstehen natürlich, worauf ich hinaus will.Australien istein Land, das Premierminister verliert und so riesig und dünnbesiedelt ist, dass ein Trupp enthusiastischer Laien in derWüste die erste Nichtregierungsatombombe der Welt zündenkann und fast vier Jahre vergehen, bis es jemand merkt. Klar,dieses Land musste ich kennen lernen!

Aber weil wir so wenig über es wissen, sind vielleicht ein paarVorbemerkungen angebracht.

Australien ist das sechstgrößte Land der Erde und diegrößte Insel. Es ist die einzige Insel, die auch ein Kontinent ist,und der einzige Kontinent, der auch ein Land ist. Es ist der ers-te und der letzte Kontinent, der vom Meer aus erobert wurde.Es ist die einzige Nation, die als Gefängnis angefangen hat.

Es ist die Heimat des größten lebenden Wesens auf Erden,des Great Barrier Reef, und des berühmtesten und eindrucks-vollsten Monolithen, des Ayers Rock oder Uluru, um den nunoffiziellen, respektvolleren Aborigine-Namen zu benutzen. Esgibt dort mehr Lebewesen, die einen umbringen können, alsirgendwo sonst. Die zehn giftigsten Schlangen leben alle inAustralien. Fünf seiner tierischen Bewohner – die Trichter-spinne, die Würfelqualle, die Blauringkrake, der Steinfisch undeine bestimmte Zeckenart – sind tödlich für den Menschen. Indiesem Land können selbst die flauschigsten Raupen Sie miteinem giftigen Kniepen außer Gefecht setzen, und Muschelnpieksen hier nicht nur, sondern attackieren Sie manchmal so-gar. Heben Sie an einem Strand in Queensland zufällig eineharmlose Kegelschnecke auf, wie das unschuldige Touristen jagern tun, dann werden Sie erleben, dass der kleine Rackerdarin nicht nur erstaunlich fix und unwirsch reagiert, sondernauch überaus giftig ist.Wenn Sie aber nicht plötzlich und un-erwartet zu Tode gestochen oder gespießt werden, werden Sievielleicht von Haien oder Krokodilen gefressen, von tücki-schen Meeresströmungen hilflos zappelnd in den Ozean hi-

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nausgetragen, oder Sie taumeln mutterseelenallein im brütendheißen Outback in einen kläglichen Tod. Ein hartes Land.

Und alt. Seit sechzig Millionen Jahren, seit Bildung derGreat Dividing Range hat sich Australien geologisch praktischnicht verändert und konnte dadurch viele der ältesten Dingebewahren, die man je auf Erden fand, die urältesten Felsenund Fossilien, die frühesten Tierspuren und Flussbetten, ja,die ersten schwachen Zeichen des Lebens selbst. Und zu ei-nem unbestimmten Zeitpunkt in Australiens unendlich langerVergangenheit – vielleicht vor fünfundvierzigtausend, viel-leicht vor sechzigtausend Jahren, aber ganz gewiss, bevor esmoderne menschliche Wesen in Nord- und Südamerika oderEuropa gab – drang heimlich, still und leise ein zutiefst rätsel-haftes Volk ein, die Aborigines. Sie weisen keine eindeutige ras-sische oder sprachliche Verwandtschaft mit den Völkern imumliegenden asiatischen Raum auf, und eigentlich ist ihre An-wesenheit auf dem Kontinent nur dann plausibel, wenn manannimmt, dass sie mindestens dreißigtausend Jahre vor allenanderen Menschen hochseetüchtige Schiffe ersannen, bauten,sich auf einen Exodus begaben und dann fast alles, was sie ge-lernt hatten, vergaßen oder sich nicht mehr dafür interessier-ten, ja sich überhaupt kaum noch mit dem offenen Meer ein-ließen.

Diese Leistung ist so einzigartig und außergewöhnlich, soschwer zu erklären, dass die meisten Geschichtsbücher sie mitein, zwei Absätzen abtun und dann gleich zur zweiten, besserdokumentierten Invasion übergehen, die 1770 mit der An-kunft Captain James Cooks und seiner tapferen kleinen Jolle,der HMS Endeavour, in der Botany Bay begann. Macht nichts,dass Captain Cook Australien nicht entdeckt hat und zur Zeitseines Besuchs nicht mal Kapitän war. Die meisten Leute,auch die meisten Australier, glauben, dass mit ihm alles an-fängt.

Die Welt, die diese ersten Engländer vorfanden, war be-

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rühmt dafür, dass alles verkehrt herum war – statt Winter warin Australien Sommer, die Sternbilder standen auf dem Kopf.Es war einfach völlig anders als irgendetwas, das sie vorherschon einmal gesehen hatten, selbst in den benachbarten Brei-ten des Pazifik. Die Lebewesen schienen sich entwickelt zu ha-ben, als hätten sie die Gebrauchsanleitung nicht gelesen. Dastypischste von ihnen rannte, hoppelte oder galoppierte nicht,sondern sprang durch die Landschaft wie ein Gummiball. Dieseltsamsten Geschöpfe tummelten sich dort: Fische, die aufBäume kletterten, fliegende Füchse (in Wirklichkeit sehr großeFledermäuse) und derart umfängliche Krustentiere, dass einerwachsener Mann in die Schalen kriechen konnte.

Kurz und gut, ein solches Land gab es auf der Welt nichtnoch einmal. Gibt es immer noch nicht. Achtzig Prozent allerTiere und Pflanzen in Australien existieren nur dort. Ja mehrnoch, sie existieren in einer Vielzahl, die zu den harschen Le-bensbedingungen gar nicht zu passen scheint. Australien istder trockenste, flachste, heißeste, ausgedörrteste, unfrucht-barste, klimatisch aggressivste aller bewohnten Kontinente.Nur die Antarktis ist lebensfeindlicher. Das Land ist geolo-gisch so inaktiv, dass, genau genommen, der Erdboden selbstein Fossil ist. Und dennoch wimmelt er von Leben in unzäh-ligen Formen. Schon allein bei den Insekten haben die For-scher keinen blassen Schimmer, ob die Gesamtzahl der Arteneinhunderttausend oder mehr als das Doppelte beträgt. EinDrittel davon ist der Wissenschaft bisher vollkommen unbe-kannt. Bei Spinnen sogar bis zu achtzig Prozent.

Ich erwähne Insekten insbesondere deshalb, weil ich eineGeschichte über ein Krabbeltier namens Nothomyrmecia ma-crops erzählen will, die, wenn auch ein wenig indirekt, hervor-ragend zeigt, was für ein außergewöhnliches Land Australienist.

Als im Jahre 1931 ein paar Amateurnaturforscher auf derHalbinsel Cape Arid an der Südküste in der struppigen Ein-

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öde herumwühlten, fanden sie ein Insekt, das noch nie jemandgesehen hatte. Es erinnerte vage an eine Ameise, war aber un-gewöhnlich blassgelb und hatte seltsam starrende, eindeutigbeunruhigende Augen. Sie nahmen ein paar Exemplare mit,die auf dem Schreibtisch eines Experten im National Museumof Victoria in Melbourne landeten und sofort als Nothomyr-mecia identifiziert wurden. Das verursachte große Aufregung,weil ein solches Lebewesen nach menschlichem Ermessen seiteinhundert Millionen Jahren gar nicht mehr existierte. Es war eine Ur-Ameise, ein lebendiges Relikt aus der Zeit, als sichdie Ameisen aus den Wespen entwickelten. In der Insekten-kunde war der Fund so fantastisch, als hätte man auf einer abgelegenen Grassteppe eine äsende Triceratops-Herde ent-deckt.

Man organisierte sofort eine Expedition, doch trotz peni-belster Suche fand man die Kolonie auf Cape Arid nicht wie-der.Auch weitere Erkundungen verliefen erfolglos.Als fast einhalbes Jahrhundert später ruchbar wurde, dass ein US-ameri-kanisches Forscherteam eine erneute Suche nach der Ameiseplante, und zwar garantiert mit all dem High Tech-Schnick-schnack, dem gegenüber die Australier amateurhaft undschlecht organisiert ausgesehen hätten, bestellte die Regierungein paar Wissenschaftler in Canberra, die den Amerikanernmit einem letzten Versuch zuvorkommen sollten, die Ameisenlebendig zu finden. Ein Konvoi machte sich quer übers Landauf den Weg.

Als sie am zweiten Tag durch die Wüste in Südaustralienfuhren, fing ein Fahrzeug an zu stottern und zu qualmen, undsie mussten in Poochera, einem einsamen Halt an der Straße,eine unvorhergesehene Übernachtung einschieben. Abendsging ein Mitglied des Suchtrupps, Bob Taylor, hinaus, um einbisschen frische Luft zu schnappen, und leuchtete ohne be-sonderen Grund mit dem Strahl seiner Taschenlampe den Bo-den ab. Sie können sich seine Überraschung vorstellen, als er

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sah, wie über einen Eukalyptusbaumstumpf eine propereMarschkolonne ebender Nothomyrmecia krabbelte.

Bedenken Sie, wie die Chancen dafür standen. Taylor undseine Kollegen waren achthundert Meilen von der Stelle ent-fernt, wo sie suchen wollten. Auf den fast drei Millionen Qua-dratmeilen Wüste, aus denen Australien besteht, hatte einMann gerade eines der seltensten, am meisten gesuchten In-sekten der Erde gefunden und erkannt – ein Insekt, das nureinmal, und zwar ein halbes Jahrhundert zuvor, lebend gesich-tet worden war. Und das alles nur, weil zufällig an der Stelleein Auto einen Motorschaden gehabt hatte. Die Nothomyr-mecia ist im Übrigen bis zum heutigen Tage nicht mehr andem ursprünglichen Fundort entdeckt worden.

Ich bin sicher, Sie wissen wieder ganz genau, worauf ich hi-naus will. Dieses Land ist gleichzeitig atemberaubend leer undvoll gepackt mit Zeugs. Interessantem Zeugs, uraltem Zeugs,Zeugs, das man nicht auf Anhieb versteht. Zeugs, das man so-gar noch finden muss.

Glauben Sie mir, es ist ein interessantes Land.

II

Jedes Mal, wenn man von Nordamerika nach Australien fliegtund die internationale Datumsgrenze überquert, kriegt maneinen Tag abgezwackt – ohne dass einen auch nur irgend-jemand fragt, wie man das findet. Ich verließ Los Angeles amdritten Januar und kam vierzehn Stunden später am fünftenJanuar in Sydney an. Für mich hatte es keinen vierten Januargegeben. Absolut keinen. Wo genau er sich hin verkrümelthatte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich offenbar für einenZeitraum von vierundzwanzig Stunden in der Weltgeschichtenicht existiert hatte.

Ich finde das ein wenig gespenstisch. Will sagen: Wenn Sie

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Ihre Reiseunterlagen durchblättern und eine Bemerkung fol-genden Wortlauts läsen: »Wir möchten unsere Fluggäste da-rauf aufmerksam machen, dass bei einigen Flügen ein vier-undzwanzigstündiger Existenzverlust eintreten kann« (Eswäre natürlich so formuliert, als geschehe es nur ab und zu.),würden Sie doch sicher am liebsten jemanden von der Flug-gesellschaft energisch am Ärmel packen und »Moment mal«sagen.

Andererseits liegt ein gewisser metaphysischer Trost in demWissen, dass man aufhören kann, in materieller Form zu exis-tieren, und dass es gar nicht wehtut, und man muss auch an-standshalber sagen, dass sie einem den Tag wiedergeben, wennman auf dem Rückflug die Datumsgrenze in umgekehrterRichtung überfliegt und es dadurch irgendwie schafft, in LosAngeles anzukommen, bevor man Sydney verlassen hat, wasauf seine Art natürlich ein noch pfiffigeres Kunststück ist.

Ich verstehe ja in etwa, worum es hier geht. Ich sehe ein,dass es eine gedachte Grenze geben muss, an der ein Tag en-det und ein neuer beginnt, und dass notwendigerweise etwasMerkwürdiges mit der Zeit passiert, wenn man diese Grenzeüberschreitet. Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dassman auf jedem Trip zwischen Amerika und Australien eine Er-fahrung macht, die unter allen anderen Bedingungen eineschiere Unmöglichkeit wäre: Denn wie hart man auch trainiertoder sich konzentriert oder Kalorien zählt; egal, wie vielSchritte man auf dem Stepper macht, man wird nie so fit, dassman vierundzwanzig Stunden lang keinen Raum bean-sprucht.

Man hat also schon, wenn man in Australien landet, ein ge-wisses Gefühl, etwas geleistet zu haben – mit Freude und Ge-nugtuung stellt man fest, dass man aus dem Flughafenge-bäude in den blendenden australischen Sonnenschein trittund all die vielen Atome, von denen man eben noch nichtwusste, wie und wohin sie verschwunden waren, beinahe nor-

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mal wieder zusammengefügt sind (außer circa einem halbenPfund Gehirnmasse, die man beim Ansehen eines Bruce-Wil-lis-Actionfilms verloren hat). Unter diesen Umständen ist mannatürlich froh, überhaupt irgendwo angekommen zu sein; dasses Australien ist, ist dann noch besonders schön.

Gleich hier möchte ich betonen, dass ich Australien liebe –über alle Maßen – und jedes Mal, wenn ich es sehe, von neuemhingerissen bin. Eben deshalb, weil man es so wenig beachtet,ist man bei der Ankunft immer wieder auf höchst angenehmeWeise überrascht. Eigentlich erwartet man ja nach einer soweiten Anreise, zuallermindest Menschen auf Kamelen vorzu-finden. Auf den Straßen- und Ladenschildern sollten unent-zifferbare Buchstaben stehen und dunkelhäutige Männer inlangen Gewändern aus fingerhutgroßen Tässchen Kaffee trin-ken und Wasserpfeifen schmauchen. Man stellt sich auf klapp-rige Busse und Schlaglöcher in den Straßen ein und dass manvon allem, was man anfasst, die Seuche kriegt. Aber nein, soist es nicht. Hier ist alles bequem, sauber und vertraut. Bis aufdie Tatsache, dass Männer ab einem gewissen Alter mit Vor-liebe Kniestrümpfe und kurze Hosen tagen, sind die Men-schen wie du und ich. Prima! Klasse! Deshalb bin ich ja sogern in Australien.

Natürlich auch noch aus anderen Gründen, und die möchteich hier einmal festhalten. Die Leute sind ungeheuer liebens-würdig – fröhlich, extrovertiert, schlagfertig und stets zuvor-kommend. Ihre Städte sind sicher und sauber und fast alle amWasser gebaut. Die Gesellschaft reich, wohlorganisiert undvon Natur aus egalitär. Das Essen hervorragend. Das Bier kalt.Die Sonne scheint fast immer. An jeder Straßenecke gibt esKaffee. Und Rupert Murdoch wohnt nicht mehr hier.Viel bes-ser kann das Leben nicht werden.

Auf dieser – meiner fünften – Reise wollte ich zum erstenMal das echte Australien sehen, das unendliche, brütend heißeInnere, die grenzenlose Leere, die zwischen den Küsten liegt.

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Ich habe nie ganz begriffen, warum einen die Leute, die einendrängen, ihr »echtes« Land zu sehen, immer in die verlassens-ten Gegenden schicken, wo kein Mensch, der seine fünf Sinnebeisammen hat, freiwillig leben würde, aber bitte schön, so istes. Man kann eben nicht sagen, man sei in Australien gewesen,wenn man nicht durch das Outback gefahren ist.

Am allerbesten war, dass ich es auf die smarte Tour, näm-lich mit der Eisenbahn machen würde, der sagenhaften IndianPacific von Sydney nach Perth. Zweitausendsiebenhundert-undzwanzig Meilen lang windet sie sich gemächlich durch dasuntere Drittel Australiens, durch die Bundesstaaten NewSouth Wales, South Australia und Western Australia. Sie istzweifellos die Königin unter den Eisenbahnen der südlichenErdhalbkugel. Nach Sydney klettert sie langsam durch dieBlue Mountains, rumpelt dann durch endloses Schafsland,folgt dem Darling River bis zum Murray River und diesemRichtung Adelaide und durchquert anschließend die riesigeNullarbor Plain bis zu den Goldfeldern um Kalgoorlie, bevorsie zum wohlverdienten Halt in dem weit entfernten Perthkommt.Vor allem die Nullarbor Ebene, eine fast unvorstellbarweite, mörderische Halbwüste, wollte ich sehen.

Ich hatte schon seit längerer Zeit vorgehabt, herzufliegenund ein Buch zu schreiben, doch als die Farbbeilage der Mailon Sunday eine Spezialnummer über Australien plante und icheine Reportage dazu beisteuern sollte, kriegte ich den Tripauch noch geschenkt – ich konnte das Land auf überaus be-queme Weise und auf Kosten von jemand anderem durchque-ren. Das war ganz nach meinem Geschmack. Etwa eine Wochelang sollte ich zusammen mit dem aus London einfliegendenjungen englischen Fotografen Trevor Ray Hart reisen. AmMorgen nach meiner Ankunft wollten wir uns treffen.

Zuerst aber hatte ich einen Tag nur für mich allein, und dasfreute mich ungeheuer. Bisher war ich immer nur auf Lese-reise in Sydney gewesen, meine Bekanntschaft mit der Stadt

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gründete sich fast ausschließlich auf Taxifahrten durch obs-kure Viertel wie Ultimo oder Annandale. Nur bei meinem ers-ten Besuch vor etlichen Jahren hatte ich überhaupt etwas vonder Stadt gesehen. Ein freundlicher Vertreter meines australi-schen Verlages machte mit mir, seiner Frau und seinen beidenkleinen Töchtern einen Tagesausflug mit dem Auto. Ich saßvorn auf dem Beifahrersitz und blamierte mich bis auf dieKnochen. Denn ich schlief ein. Glauben Sie mir, nicht ausDesinteresse oder mangelnder Wertschätzung, sondern weilder Tag warm und ich gerade erst angekommen war und michzu einem unglücklichen und reichlich frühen Zeitpunkt derJetlag übermannte. Hilflos sank ich in ein Koma.

Leider bin ich kein diskreter, reizender Schläfer. Die meis-ten Leute, die einnicken, sehen aus, als könnten sie eine Deckegebrauchen; ich, als bräuchte ich ärztlichen Beistand.Als hätteman mir aus Experimentiergründen ein starkes, Muskel ent-spannendes Mittel gespritzt, fallen meine Beine in einer gro-tesk einladenden Weise auseinander; meine Arme hängen af-fenartig bis zum Boden. Alles, was in mir ist – Zunge, feuchteLuftbläschen aus meinem Darm –, beschließt zu entweichen.Wie bei einem Wackeldackel kippt mein Kopf von Zeit zu Zeitnach vorn, ein Viertelliter zähflüssigen Sabbers ergießt sich aufmeinen Schoß, dann fällt mein Kopf wieder nach hinten, undich lade mich geräuschvoll auf wie ein Klo-Spülkasten. Dazu– ich kann nicht anders – schnarche ich lautstark wie eineTrickfilmfigur und stoße aus gummiartig flappenden Lippenausgiebig Dampf aus. Lange Phasen bleibe ich unnatürlich ru-hig, sodass die Zuschauer sich besorgte Blicke zuwerfen undüber mich beugen, dann versteife ich mich dramatisch und be-ginne nach einer schier endlosen quälenden Pause mit demganzen Körper zu zucken und zu zappeln, als läge ich auf demelektrischen Stuhl, kurz nachdem der Schalter umgelegt wor-den ist. Zum Schluss kreische ich ein-, zweimal gellend undtuntig und wache auf. Nur um festzustellen, dass in einem

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Umkreis von einhundertundfünfzig Metern alles menschlicheTreiben zum Erliegen gekommen ist und sich sämtliche Kin-der unter acht an die Rocksäume ihrer Mütter klammern. Esist ein schweres Los.

Ich habe nie erfahren, wie lange ich damals in dem Auto ge-schlafen habe, aber kurz war es nicht. Ich weiß nur, dass einbleiernes Schweigen in der Luft hing, als ich wieder zu mirkam – eben die Art Schweigen, das Menschen überkommt, diein ihrer Heimatstadt einen zusammengesackten, zuckendenHaufen von einer Sehenswürdigkeit zur anderen karren under sie keines Blickes würdigt.

Einen Moment völlig unsicher, wer diese Leute waren,glotzte ich in die Runde, räusperte mich und hievte mich ineine aufrechtere Haltung.

»Wir haben gedacht, dass Sie vielleicht ein wenig zu Mittagessen wollen«, sagte mein Stadtführer leise, als er sah, dass ichfürs Erste meine dringenden Ambitionen aufgegeben hatte,seinen Wagen mit Spucke zu überschwemmen.

»Das wäre sehr schön«, erwiderte ich mit dünnem, demüti-gem Stimmchen und entdeckte zugleich mit einem mir vertrau-ten inneren Entsetzen, dass sich, während ich geschlummerthatte, offenbar eine Vierhundertpfundfliege über mir erbrochenhatte. In dem Versuch, die Aufmerksamkeit von dem unnatür-lich feuchten Glanz auf mir abzulenken und gleichzeitig meinInteresse an der Stadtrundfahrt wieder kundzutun, fügte ichfröhlicher hinzu: »Ist das immer noch die Neutral Bay?«

Ich vernahm einen unwillkürlichen kurzen Japslaut, wie ereinem entfährt, wenn ein Getränk den falschen Weg nimmt,und dann mit einer gewissen gezwungenen Artikuliertheit:»Nein, das ist Dover Heights. In Neutral Bay waren wir –« EineSekunde Pause, damit mir die Bedeutung dieser Aussage auchganz klar war: »Vor einer ganzen Weile.«

»Aha.« Ich machte ein ernstes Gesicht, als versuchte ich he-rauszufinden, was in der Zwischenzeit passiert war.

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»Das heißt, vor einer ziemlich langen Weile.«»Aha.«Den Rest des Weges bis zum Lunch legten wir schweigend

zurück. Der Nachmittag verlief netter. Wir speisten in einembeliebten Fischlokal am Kai in Watsons Bay und betrachtetendann von den hohen, gischtgepeitschten Klippen über der Ha-feneinfahrt den Pazifik. Auf dem Heimweg erwischten wir im-mer wieder einen Blick auf den fraglos schönsten Hafen derWelt – blaues Wasser, dahergleitende Segelboote, in der Ferneden stählernen Bogen der Harbour Bridge und das fröhlichdaneben hockende Opernhaus. Aber ich hatte natürlich kaumwas von Sydney mitgekriegt und musste früh am nächstenMorgen weiter nach Melbourne.

Wie erpicht ich darauf war, nun mehr zu sehen, können Siesich leicht vorstellen. Und da offenbar alle Sydneysiders, wiesie drolligerweise genannt werden, das unstillbare Verlangenhaben, Besuchern ihre Stadt vorzuführen, hatte ich wieder einfreundliches Angebot, diesmal von einer Journalistin des Syd-ney Morning Herald, Deirdre Macken, einer hellwachen, fröh-lichen Dame um die vierzig. Sie holte mich zusammen mitdem jungen Fotografen Glenn Hunt im Hotel ab, und wir lie-fen zu Fuß zum Museum of Sydney, einer modisch schicken,neuen Einrichtung, die es schafft, interessant und lehrreichauszusehen, ohne es zu sein. Man starrt auf raffiniert schlechtbeleuchtete Exponate – eine Kiste mit Gegenständen von Ein-wanderern, ein Zimmer, vollgekleistert mit Seiten aus belieb-ten Illustrierten der Fünfzigerjahre –, weiß aber eigentlich nie,was man daraus schließen soll. Doch wir tranken einen sehr le-ckeren Milchkaffee im Museumscafé, wo Deirdre uns ihrePläne für unser umfangreiches Tagesprogramm darlegte.

Als Erstes wollten wir zum Circular Quay spazieren und mitder Fähre durch den Hafen zum Taronga Zoo-Pier fahren. Inden Zoo selbst wollten wir nicht, sondern um die Little SiriusCove herum und durch die steilen, üppig grünen Hügel von

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Cremorne Point zu Deirdres Haus hinaufwandern, wo wir einpaar Handtücher und Boogie Boards einpacken und mit demAuto nach Manly fahren wollten, einem Vorort am Strand mitPazifikblick. Dort wollten wir einen Happen zu Mittag essen,danach ein Stündchen Leibesertüchtigung, nämlich BoogieBoarding betreiben, uns trocken rubbeln und dann nach –

»Entschuldigung, wenn ich unterbreche«, unterbrach ich,»was genau ist Boogie Boarding?«

»Ah, es macht Spaß. Es wird Ihnen gefallen«, sagte Deirdrewohlgemut, wenngleich ein wenig ausweichend, fand ich.

»Ja, aber was ist es denn?«»Es ist eine Wassersportart. Macht irrsinnig Spaß. Macht es

nicht irrsinnig Spaß, Glenn?«»Ja, irrsinnig«, meinte auch Glenn, der, wie alle Leute, die

ihre Filme bezahlt kriegen, unbekümmert drauflosknipste.Bi’siet, bi’siet, bi’siet, sang seine Kamera, als er drei rasche,kunstvoll identische Schnappschüsse von Deirdre und mir imGespräch machte.

»Aber was genau muss man machen?« Ich ließ nicht locker.»Man nimmt eine Art Miniatursurfbrett, paddelt aufs Meer

hinaus, sieht zu, dass man eine schöne große Welle erwischt,und reitet damit zurück zum Ufer. Es ist leicht. Sie werden estoll finden.«

»Was ist mit Haien?«, fragte ich beklommen.»Ach, die gibt’s hier kaum. Glenn, wie lange ist es her, dass

hier jemand einem Hai zum Opfer gefallen ist?«»Ewigkeiten«, sagte Glenn und überlegte genauer. »Mindes-

tens ein paar Monate.«»Monate?«, kreischte ich.»Mindestens. Haie werden als Gefahr bei weitem über-

schätzt«, fügte Glenn hinzu. »Bei weitem. Die Strömungen, diehaben’s in sich.« Er knipste noch ein paar Bilder.

»Strömungen?«»Unterwasserströmungen, die schräg zum Ufer verlaufen

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und manchmal Leute ins Meer hinaustragen«, erklärte Deir-dre. »Aber keine Bange. Das passiert Ihnen schon nicht.«

»Warum nicht?«»Weil wir auf Sie aufpassen.« Mit einem gütigen Lächeln

trank sie ihre Tasse leer und ermahnte uns zur Eile.

Drei Stunden später, nachdem wir alles nach Plan erledigt hat-ten, standen wir auf einem gottverlassen wirkenden Strandnamens Freshwater Beach bei Manly, an einer großen u-för-migen Bucht, eingerahmt von niedrigen, Gestrüpp überwu-cherten Hügeln und mit, wie ich fand, entsetzlich großen Wellen, die von einer unendlichen, launischen See hereindon-nerten. Ungefähr in der Mitte surften ein paar tollkühne Ge-schöpfe in Taucheranzügen auf schaumbedeckte Felsvor-sprünge am Rande der Bucht zu; näher am Strand ließ sich einHäuflein Wasserfreunde, wie es schien, heitersten Sinnes, vonkrachenden Brechern verschlingen.

Gedrängt von Deirdre, die offenbar sehr erpicht daraufwar, in das schaumige Nass zu kommen, zogen wir uns – ichlangsam und bedächtig, sie in Windeseile – bis auf die Bade-klamotten aus, die wir auf ihre Instruktionen hin unter derKleidung trugen.

»Wenn Sie in eine Strömung kommen«, sagte Deirdre, »be-steht der Trick darin, nicht in Panik zu geraten.«

Ich schaute sie an. »Sie wollen mir erzählen, ich soll ruhigertrinken?«

»Nein, nein. Behalten Sie nur klaren Kopf und versuchenSie nicht, gegen den Strom zu schwimmen. Schwimmen Siequer durch. Und wenn Sie dann immer noch Probleme haben,winken Sie einfach. So.« Mit weit ausholender Bewegung, beider nur ein Australier auf die Idee kommen konnte, man zeigedamit auf angemessene Weise eine Seenotsituation an, wedeltesie lässig mit dem Arm. »Und dann warten Sie, bis die Ret-tungsschwimmer kommen.«

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»Was ist, wenn die Rettungsschwimmer mich nicht sehen?«»Die sehen Sie schon.«»Aber was, wenn nicht?«Doch Deirdre watete schon in die Brandung, ein Boogie

Board unter den Arm geklemmt.Genierlich ließ ich mein Hemd auf den Sand fallen und

stand bis auf meine ausgeleierte Badehose nackt da. Glenn, dernoch nie etwas so einzigartig Groteskes an einem australischenStrand erblickt hatte, jedenfalls nichts,das noch lebte, schnapptesich seinen Fotoapparat und begann aufgeregt, Nahaufnah-men von meinem Bauch zu machen. Bi’siet, bi’ siet, bi’ siet, bi’siet, sang seine Kamera fröhlich, als er mir in die Wellen folgte.

Hier möchte ich eine kurze Pause machen und zwei kleineGeschichten einschieben. 1935 fingen nicht weit von dort, wowir waren, Fischer einen vier Meter zwanzig langen Hai undbrachten ihn in ein öffentliches Aquarium in Coogee, wo manihn anschauen konnte. Ein, zwei Tage war der Hai in seinemneuen Zuhause herumgepaddelt, da spie er plötzlich und zueiner gewissen Überraschung der anwesenden Massen einenmenschlichen Arm aus. Als man den zuletzt gesehen hatte,hing er an einem jungen Mann namens Jimmy Smith, der, dazweifelte ich nicht, seine Notlage mit einer weit ausholenden,lässigen Armbewegung signalisiert hatte.

Nun die zweite Geschichte: Drei Jahre später wälzten sichan einem sonnig klaren und ruhigen Sonntagnachmittag inBondi Beach, auch nicht weit von unserem Aufenthaltsort ent-fernt, aus dem Nichts vier abnorme, extrem hohe Wellen he-rein, bis zu sieben Meter fünfzig hoch. In ihrem Sog wurdenmehr als zweihundert Menschen ins Meer hinausgezogen.Gott sei Dank waren an dem Tag fünfzig Rettungsschwimmerim Einsatz, und sie schafften es, bis auf sechs Leute alle zu ret-ten. Mir ist klar, dass wir hier über Vorfälle reden, die sich vorvielen Jahren zugetragen haben, aber das ist mir egal. Ich habetrotzdem Recht: Der Ozean ist hinterhältig.

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Seufzend stapfte ich in die blassgrünen, gelblich weißen ge-sprenkelten Fluten. Die Bucht war überraschend flach. Nachdreißig Metern ging uns das Wasser immer noch kaum übersKnie. Doch es herrschte eine außergewöhnlich starke Strö-mung – so stark, dass es einem die Beine weghaute, wenn mannicht gut aufpasste. Nach weiteren fünfzehn Metern – dareichte uns das Wasser über die Taille – brachen schon die Wel-len. Wenn man von ein paar Stunden an den lagunenstillenGestaden der Costa del Sol in Spanien und einem eiskalten,sofort bereuten kurzen Bad vor Jahren in Maine absah, hatteich so gut wie keine Erfahrung mit dem Meer und fand es des-halb, ehrlich gestanden, verstörend, in eine Aqua-Achterbahnzu waten. Deirdre kreischte vor Lust.

Dann zeigte sie mir das Boogie-Boarding. Im Prinzip sah esganz einfach aus. Wenn eine Welle kam, sprang sie auf dasBrett und glitt viele Meter weit auf dem Wellenkamm mit.Dann durfte Glenn auch mal und ritt noch weiter. Es sah wirk-lich aus, als ob es Spaß machte. Jedenfalls nicht allzu schwer.In Maßen neugierig, wagte ich einen Versuch.

Ich stellte mich für die erste Welle in Positur, sprang auf dasBoogie Board und versank wie ein Klotz.

»Wie machen Sie das?«, fragte Glenn bass erstaunt.»Keine Ahnung.«Ich wiederholte die Übung. Mit demselben Resultat.»Irre«, sagte er.Es folgte eine halbe Stunde, während derer Deirdre und

Glenn zuerst mit verhaltenem Amüsement, dann wachsen-dem Staunen und schließlich etwas, das an Mitleid grenzte,beobachteten, wie ich immer wieder zwischen den Wellen ver-schwand, über ein Stück Meeresboden von etwa der Größevon Polk County, Iowa, schrammte, beziehungsweise nach un-terschiedlich langen, nie aber kurzen Phasen irgendwo in ei-ner Entfernung von einem Meter bis zu einer Meile nach Luftschnappend und orientierungslos wieder auftauchte und so-

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fort von der folgenden Welle mitgerissen wurde. Schon baldwaren alle Leute am Strand auf den Beinen und fingen an zuwetten, weil man allgemein der Meinung war, dass das, was ichda machte, physisch unmöglich sei.

Aus meiner Sicht passierte immer wieder das Gleiche. Ichahmte die zierlichen Tretbewegungen, die Deirdre mir gezeigthatte, eifrig nach und versuchte die Tatsache zu ignorieren,dass ich nirgendwo ankam und die meiste Zeit ertrank. Da ichja nicht wusste, wie es richtig ging, dachte ich, ich machte esganz gut. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich amüsierte,aber mir ist es ja ohnehin ein Mysterium, wie überhaupt je-mand in ein so gnadenloses Element wie Wasser gehen kannund sich dabei amüsiert. Doch in dem Bewusstsein, dass es ir-gendwann vorbei sein würde, ergab ich mich in mein Schick-sal.

Vielleicht war es der Sauerstoffmangel, jedenfalls war ichganz in meiner eigenen kleinen Welt versunken, als Deirdremich, bevor ich wieder einmal wegsackte, plötzlich am Armpackte und mit heiserer Stimme sagte: »Passen Sie auf! Das isteine Bluey.«

Glenn war schon auf Alarmstufe Eins. »Wo?«»Was ist eine Bluey?«, fragte ich, entsetzt, dass hier eine wei-

tere Gefahr lauerte, die man mir verschwiegen hatte.»Eine Bluebottle«, erklärte sie und deutete auf eine kleine

Qualle, die auch als »Portugiesische Galeere« bekannt ist (wieich später einem fetten Wälzer entnahm, der, wenn ich michrecht erinnere, den Titel trug: Pflanzen und Tiere, die Sie inAustralien auf bestialische Weise umbringen). Mit zusammenge-kniffenen Augen beobachtete ich, wie das Viech an mir vorbei-schwebte. Ein sonderlich gewinnendes Äußeres besaß esnicht, es sah aus wie ein blaues Kondom mit Schnüren.

»Ist es gefährlich?«, fragte ich.Bevor ich die Antwort wiedergebe, die Deirdre mir, jenem

wehrlosen und verschrammten, zitternden, halb nackten und

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halb ertrunkenen Häuflein Elend zuteil werden ließ, möchteich aus dem Artikel im Herald zitieren, den sie danach schrieb.

»Der Fotograf hält fest, wie Bryson und das Boogie Board voneiner Strömung vierzig Meter am Strand entlanggezerrt wer-den. Die Küstenströmung verläuft von Süden nach Norden,im Gegensatz dazu die Strömung weiter draußen von Nordennach Süden. Das weiß Bryson nicht. Er hat das Warnschild amStrand nicht gelesen.« (Anmerkung des Betroffenen: Dasstimmt. Ich möchte freilich hier zu Protokoll geben, dass ichkeine Brille auf hatte, meinen Gastgebern vertraute, das Meernach Haien absuchte und mich die ganze Zeit bemühte, meineBadehosen nicht voll zu machen.) »Er weiß auch nicht, dasseine Portugiesische Galeere in seine Richtung getrieben wird,ja, nun weniger als einen Meter von ihm entfernt ist, ein glib-briger, übler Geselle mit einem Stachel, der Bryson zwanzigMinuten grässliche Qualen bereiten und, wenn er Pech hat, zueiner unschönen allergischen Reaktion führen kann, derenHinterlassenschaft er sein Leben lang auf dem Leib tragenwird.«

»Gefährlich? Nein«, erwiderte Deirdre, als wir die Portugiesi-sche Galeere anstarrten. »Aber vermeiden Sie jegliche Berüh-rung.«

»Warum?«»Könnte ein klitzekleines bisschen ungemütlich werden.«Ich schaute Deirdre mit einem Interesse an, das schon an

Bewunderung grenzte. Lange Busreisen sind ungemütlich.Holzbänke sind ungemütlich. Gesprächspausen sind unge-mütlich. Der Kontakt mit einer Portugiesischen Galeere be-deutet – und das wissen selbst Leute aus Iowa – Todesqualen.Doch ich begriff, dass die Australier derart von Gefahren um-geben sind, dass sie ein völlig neues Vokabular entwickelt ha-ben, um damit umzugehen.

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»Hey, da ist noch eine«, sagte Glenn.Auch die schwebte an uns vorbei. Deirdre inspizierte das

Wasser genauer.»Manchmal kommen sie in Scharen«, sagte sie. »Wär viel-

leicht nicht schlecht, wenn wir jetzt rausgingen.«Das brauchte sie mir nicht zweimal zu sagen.

Weil ich laut Deirdre noch etwas sehen musste, damit ichüberhaupt etwas von australischer Lebensart und Kultur be-griff, fuhren wir, als der späte Nachmittag der blassen Abend-röte wich, durch die weit sich hinziehenden, glitzernden Vor-orte Sydneys bis fast zu den Blue Mountains zu einem Ortnamens Penrith. Unser Ziel war ein enorm großes, elegantesGebäude, das von einem noch größeren, proppenvollen Park-platz umgeben war. Ein Neonschild wies es als die PenrithPanthers World of Entertainment aus. Die Panthers, infor-mierte mich Glenn, seien ein Rugby Club, der in der erstenLiga spielte.

Australien ist ein Land der Clubs – Sportclubs, Arbeiter-clubs, Veteranenclubs, Clubs, die verschiedenen politischenParteien nahe stehen –, und sie widmen sich formal undmanchmal auch tatsächlich alle dem Wohlbefinden bestimm-ter Teile der Gesellschaft. Doch in Wirklichkeit sind sie dazuda, mit Alkohol und Glücksspiel immense Geldsummen zuverdienen.

Ich hatte schon in der Zeitung gelesen, dass die Australierdie größten Zocker auf diesem Planeten sind. Eine der faszi-nierendsten Statistiken besagt, dass das Land weniger als einProzent der Weltbevölkerung, aber mehr als zwanzig Prozentder Spielautomaten hat, und dass die Australier zusammen imJahr elf Milliarden australische Dollar oder fünfhundertund-achtzig Dollar pro Kopf der Bevölkerung für Glücksspiele al-ler Art ausgeben. Doch wo sie diesem risikoreichen Hobbyfrönen, erfuhr ich erst, als ich die World of Entertainment be-

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trat. Riesengroß, überwältigend und mit wahnsinnig vielenSpielautomaten ausgestattet. Hauptsächlich mit dem Typ, derim Volksmund Pokie heißt.

Ich hatte ja gedacht, dass wir tricksen müssten, um einge-lassen zu werden, schließlich war es ein Club. Aber dann er-lebte ich, wie gern man es in australischen Clubs sieht, dass alleMenschen Spaß und Unterhaltung mit den Pokies haben, undihnen sofortige Mitgliedschaft gewährt. Man braucht sichbloß in ein Buch für Mitglieder auf Zeit einzuschreiben, undschwupps, ist man drin.

Die Oberaufsicht über die Massen führte ein Mann mit ei-nem gütigen, fröhlichen Blick und einem Schildchen, das ihnals Peter Hutton, Dienst habender Manager, auswies.Wie fastalle Australier war er ein lockerer, umgänglicher Bursche. DerClub habe sechzigtausend Mitglieder, erzählte er mir, und vondenen rückten an Hochbetriebsabenden wie zum Beispiel Sil-vester zwanzigtausend an. Bei unserem Besuch waren es wohleher um die zweitausend. Es gab unzählige Kneipen und Res-taurants, Sportanlagen, einen Kinderspielbereich, Nachtclubsund Theater. In Kürze sollten außerdem ein Kino mit dreizehnLeinwänden und eine Kinderkrippe für vierhundert Säug-linge gebaut werden.

»Wow«, sagte ich, mächtig beeindruckt. »Dann ist das wohlder größte Club in Sydney.«

»Der größte auf der südlichen Halbkugel«, sagte Mr. Hut-ton stolz.

Wir schlenderten durch die weiten, glitzernden Hallen. Inlangen, geraden Reihen standen hunderte von Pokies, und vorfast jedem saß eine Gestalt, die entschlossen das Geld hinein-steckte, das eigentlich für die nächste Rate auf das Haus be-stimmt war. Im Prinzip funktionierten die Pokies wie alleSpielautomaten, sie besitzen ein verwirrendes Sammelsuriuman Tasten und blitzenden Lämpchen, die einem eine Vielzahlvon Optionen gestatten – eine bestimmte Farbe zu behalten,

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den Einsatz zu verdoppeln, einen Teil des Gewinns herauszu-nehmen, und weiß Gott, was sonst noch. Aus diskretem Ab-stand studierte ich etliche Leute beim Spielen, verstand aberums Verrecken nicht, was sie da taten, außer eine Münze nachder anderen in eine flimmernde Kiste zu stopfen und grimmigauszusehen. Deirdre und Glenn waren gleichermaßen unver-traut mit dem Ganzen. Nur um zu sehen, was passierte, steck-ten wir eine Zwei-Dollar-Münze in einen Pokie und bekamenprompt siebzehn retour.Wir waren hocherfreut.

Erschöpft, aber überglücklich ging ich wie ein Junge nacheinem sehr langen Tag auf dem Rummel ins Hotel zurück. Ichhatte die Todesgefahren des Meeres überlebt, einen hochfeu-dalen Club besucht, geholfen, fünfzehn Dollar zu gewinnen,und konnte zwei neue Freunde mein Eigen nennen. Dass ichdas Gefühl hatte, Sydney wirklich gesehen zu haben, konnteich nicht behaupten, aber der Tag würde auch noch kommen.Jetzt musste ich erst mal eine Nacht ausschlafen und amnächsten Morgen pünktlich am Zug sein.

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Zweites Kapitel

Dass ich das australische Outback toll finden würde, merkteich zum ersten Mal, als ich las, dass die Simpson Desert, eineWüste, die größer ist als manches europäische Land, 1932nach einem Waschmaschinenhersteller benannt worden ist,genauer: nach einem gewissen Alfred Simpson, der ihre Ver-messung aus der Luft finanziert hat. (Das Jahr 1932 gibt deraustralische Historiker Geoffrey Blainey an; die National Geo-graphic nennt 1929. Es gibt kaum einen Fakt über Australien,dem nicht von irgendjemandem irgendwo heftig widerspro-chen wird.) Mich allerdings beeindruckte weniger das ange-nehm Unheroische der Namensgebung als vielmehr die Tat-sache, dass ein mehr als einhunderttausend Quadratmeilengroßes Stück Australien bis vor knapp siebzig Jahren nicht maleinen Namen hatte! Ich habe nahe Verwandte, die schon län-ger einen Namen tragen.

Aber so ist das ja mit dem Outback, er ist derart riesig und unwirtlich, dass vieles kartografisch immer noch kaum er-fasst ist. Selbst den Uluru hatte bis vor wenig mehr als einemJahrhundert außer seinen Aborigine-Hütern niemand ge-sehen. Man kann nicht einmal genau sagen, wo das Outbackist. Für Australier ist alles auch nur annähernd Ländliche der»Busch« und ab irgendeinem nicht näher bestimmbaren Punktwird aus dem »Busch« der »Outback«. Fährt man noch zwei-tausend Meilen weiter, kommt man schließlich wieder zumBusch und dann zu einer Stadt und dann zum Meer. Das istAustralien.

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In Begleitung von Trevor Ray Hart, eines liebenswerten jun-gen Mannes in Shorts und ausgebleichtem T-Shirt, fuhr ich imTaxi zum Sydneyer Hauptbahnhof, einem imposanten Ziegel-steinklotz in der Elizabeth Street. Durch seine trüb beleuch-tete, altehrwürdige Bahnhofshalle gingen wir zu unserem Zug.

Der Indian Pacific, der, fast einen halben Kilometer lang,am Bahnsteig stand, hielt alles, was die Prospektbilder verspra-chen; silbrig elegant, niegelnagelneu glänzend, verbreitete ermit seinem Summen dieses Gefühl unmittelbar bevorstehen-den Abenteuers, das einen am Beginn einer Reise mit einermächtigen Eisenbahn befällt.Wagen G, einer von siebzehn desZuges, stand unter Obhut eines launigen Zugbegleiters na-mens Terry, der wohl bedacht jeder seiner Bemerkungen dasnötige Lokalkolorit verlieh, indem er sie mit einer optimisti-schen Aussie-Wendung versah.

Man braucht ein Glas Wasser?»Kein Problem, Kumpel. Kommt sofort.«Man hat soeben erfahren, dass Mutter gestorben ist?»Kein Drama. Geht in Ordnung.«Er brachte uns zu unseren Schlafabteilen, zwei schmalen

Einzelzellen zu beiden Seiten eines engen, holzverkleidetenGangs. Sie waren erstaunlich klein – wenn man sich vor-beugte, blieb man stecken.

»Das ist’s?«, sagte ich gelinde bestürzt. »In seiner Gänze?«»Kein Problem«, strahlte Terry. »Es ist ein bisschen eng, aber

Sie werden feststellen, dass alles da ist, was Sie brauchen.«Und er hatte Recht. Alles, was man zum Leben in einem

Raum nur brauchen konnte, war da. Er war lediglich sehrdicht zusammengestellt und nicht viel größer als ein Kleider-schrank. Aber ein Wunder an Funktionalität. Es gab einen be-quemen Einbausessel, eine diskret verborgene Toilette mitWaschbecken, einen Minischrank, ein Regal über Kopfhöhe,auf dem man einen sehr kleinen Koffer unterbringen konnte,zwei Leselampen, zwei saubere Handtücher und einen Mini-

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kulturbeutel mit Shampoo und Seife. In der Wand befand sichein schmales Klappbett, das nicht herunterkippte, sondern wieein hastig verstauter Leichnam herausfiel, was ich und sicherauch viele andere experimentierfreudige, unbesonnene Fahr-gäste entdeckten, nachdem ich nachdenklich die Tür betrach-tet und überlegt hatte: »Was wohl dahinter ist?« Aber es wareine interessante Überraschung, und dass ich die diversen vor-stehenden Teile meines Gesichts aus den Sprungfedern be-freien musste, half mir, die halbe Stunde bis zur Abfahrt zuvertreiben.

Endlich ging es los. Der Zug fing an zu schnurren, und wirglitten majestätisch aus dem Sydneyer Hauptbahnhof hinaus.

In einem durch dauert die Reise nach Perth fast drei Tage.Trevor und ich allerdings wollten in der alten Bergarbeiter-stadt Broken Hill aussteigen, um uns ein wenig im Outbackumzutun und zu sehen, was geboten wurde. Wir würden dieFahrt in zwei Etappen machen: Über Nacht bis Broken Hillund dann in einer Zwei-Tagesreise durch die Nullarbor Plain.

Zuerst zockelte der Zug durch die endlosen westlichen Vor-orte Sydneys – Flemington, Auburn, Parramatta, Doonsideund Rooty Hill (hinreißender Name) – und fuhr dann etwasschneller in die Blue Mountains, wo die Häuser allmählich we-niger wurden und wir lange spätnachmittagliche Aussichtenauf steile Täler und riesige Eukalyptuswälder genießen konn-ten, deren stilles Atmen den Bergen den Farbton verleiht, nachdem sie benannt sind.

Ich machte mich auf, den Zug zu erkunden. Unser Bereich,die erste Klasse, bestand aus fünf Schlafwagen, einem Speise-wagen in samtig feudaler Ausstattung, die man als »Fin-de-Siècle-Bordellbesitzerstil« bezeichnen konnte, und einem Sa-lonwagen in etwas modernerem Dekor. Dort gab es weicheSessel, eine kleine, viel versprechende Bar und leise, aber gna-denlos vor sich hin nudelnde Musik aus einer zwanzigteiligenKollektion, die wahrscheinlich »Songs, die Sie nie wieder hö-

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ren wollten«, hieß. Als ich durchlief, erklang gerade ein Klage-duett aus Phantom der Oper.

Nach der ersten kam die etwas billigere Holiday-Klasse; bisauf die Tatsache, dass der Speisewagen ein Büffetwagen mitnackten Plastiktischen war, war sie weitgehend identisch mitunserer. (Offenbar musste man den Leuten dort nach denMahlzeiten hinterherwischen.) Der hintere Ausgang der Holiday-Klasse war durch eine fensterlose abgeschlossene Türversperrt.

»Was kommt danach?«, fragte ich die Kellnerin im Büffet-wagen.

»Personenwagenklasse«, sagte sie schaudernd.»Ist die Tür immer verschlossen?«Sie nickte mit ernster Miene. »Immer.«Die Personenwagenklasse wurde zu meiner fixen Idee. Zu-

nächst jedoch gab’s Abendessen. Über Lautsprecher wurdedie erste Gruppe aufgerufen, und als ich durch den Ersterklas-sesalon zurückging, schmetterte Ethel Merman »There’s NoBusiness Like Show Business«. Sie können sagen, was Sie wol-len, die Frau hatte Lungen.

Trotz der kultivierten, altehrwürdigen Atmosphäre hat die In-dian Pacific noch nicht viele Jahre auf dem Buckel. Sie wurdeerst 1970 als neue normalspurige Strecke quer durchs Landgebaut. Davor benutzten australische Eisenbahngesellschaf-ten aus vielerlei abstrusen Gründen, die alle was mit Miss-trauen und Neid zwischen den Regionen zu tun hatten, ver-schiedene Spurweiten. In New South Wales betrug sie 14351mm,Victoria entschied sich für großzügigere 16002 mm undQueensland und Western Australia, sparsam, wie sie waren,für 10668 mm – so ungefähr der Spurweite von Karussellbah-nen auf dem Rummel. South Australia war mit allen drei Ma-ßen besonders originell. Auf Reisen von der Ost- zur West-küste mussten Fahrgäste und Fracht fünfmal aus einem Zug

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ausgeladen und in den anderen wieder hineingepackt werden,ein langwieriges idiotisches Unterfangen. Schlussendlich ob-siegte aber die Vernunft und eine völlig neue Strecke wurde ge-baut. Nach der Transsibirischen ist das nun die zweitlängsteEisenbahnstrecke der Welt.

Das weiß ich alles, weil Trevor und ich zum Essen mit ei-nem ruhigen Lehrerehepaar mittleren Alters aus dem länd-lichen Norden Queenslands zusammensaßen, Keith undDaphne. Für sie mit ihren Lehrergehältern war das eine tolleReise, und Keith hatte seine Hausaufgaben gemacht. Begeis-tert erzählte er von der Eisenbahn, der Landschaft, denBuschfeuern – wir fuhren durch Lithgow, wo erst kürzlichhunderte Morgen Busch verbrutzelt und zwei Feuerwehrleuteumgekommen waren –, aber als ich ihn nach den Aboriginesfragte (mögliche Landreformen wurden gerade viel in denNachrichten diskutiert), wurde er plötzlich nervös und einsil-big.

»Das ist ein Problem«, sagte er und starrte angelegentlichauf sein Essen.

»In der Schule, an der ich unterrichte«, erzählte Daphne zö-gernd, »also, wenn die Aborigine-Eltern ihr Arbeitslosengeldbekommen, vertrinken sie es und gehen walkabout, das heißtwochenlang auf Wanderschaft. Und die Lehrer müssen… wirmüssen den Kindern was zu essen geben.Aus unserer eigenenTasche bezahlen wir das. Sonst würden sie schlichtweg nichtskriegen.«

»Es ist ein Problem«, wiederholte Keith, immer noch aufsein Essen konzentriert.

»Eigentlich sind sie richtig nett.Wenn sie nicht trinken.«Und damit war das Gespräch mehr oder weniger beendet.Nach dem Essen unternahmen Trevor und ich einen Aus-

flug in den Salonwagen.Während Trevor zum Tresen ging undbestellte, sank ich in einen Sessel und betrachtete die dämm-rige Landschaft. Es war Farmland, ziemlich dürr. Die Hinter-

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grundmusik hatte gewechselt. Nach »Beliebten Showmelo-dien« kam nun »Party im Pflegeheim«. Gerade verklang »Rol-ling Out the Barrel« und wurde rasch gefolgt von »Toot TootTootsie Goodbye«.

»Interessante Musikauswahl«, bemerkte ich trocken gegen-über dem jungen Paar mir gegenüber.

»Ja, wunderschön!«, erwiderten beide, aufrichtig begeistert.Ich unterdrückte einen Aufschrei und wandte mich an den

Mann neben mir – einen gebildet aussehenden älteren Herrnim Anzug, was auffällig war, weil alle anderen im Zug legerergekleidet waren. Wir plauderten über dies und das. Er warpensionierter Anwalt aus Canberra und wollte seinen Sohn inPerth besuchen. Da er vernünftig und aufgeschlossen wirkte,erwähnte ich, streng vertraulich natürlich, mein verwirrendesGespräch mit den Lehrern aus Queensland.

»Ach, die Aborigines«, sagte er und nickte ernst. »Ein großesProblem.«

»Kann ich mir denken.«»Aufgeknüpft gehören die, alle miteinander.«Erschreckt schaute ich ihn an und stellte fest, dass er rich-

tig wütend war.»Alle miteinander, diese Mistkerle«, sagte er mit zitternden

Lefzen und entfernte sich ohne ein weiteres Wort.Da wurde mir klar, dass ich mich mit dem Problem der

Aborigines beschäftigen musste. Doch bis ich die Dinge ge-nauer durchschaute, plauderte ich wohl besser über simplereDinge: das Wetter, die Landschaft, beliebte Showmelodien.

Züge sind im Vergleich zu Hotels deshalb so toll, weil sich –wen wundert’s! – der Ausblick ständig ändert. Am Morgenerwachte ich in einer neuen Welt: rote Erde, Gestrüpp, einriesiges Firmament, nur gelegentlich ragte ein skelettartigerEukalyptus in den Horizont. Als ich verschlafen von meinemengen Hochsitz lugte, sprang gar nicht weit von mir, aufge-

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schreckt von dem Zug, ein Kängurupaar daher. Ein aufregen-der Moment. Nun waren wir definitiv in Australien!

Wir kamen kurz nach acht in Broken Hill an und stiegenblinzelnd aus dem Zug. Über dem Land hing eine luftloseHitze – solch eine Hitze, die einem entgegenschlägt, wenn manden Ofen aufmacht, um nach dem schmurgelnden Puter zusehen. Auf dem Bahnsteig wartete Sonja Stubbing, einefreundliche junge Dame von der regionalen Tourismus-behörde, um uns abzuholen und dorthin zu bringen, wo wir ein Mietauto für eine Fahrt durchs Outback abholen woll-ten.

»Wie heiß wird es hier?«, fragte ich schon keuchend.»Also, der Rekord ist achtundvierzig Grad Celsius.« Sie

nickte heiter. »Gestern waren es zweiundvierzig.«»Das ist sehr heiß.«»Zu heiß«, sagte sie.Broken Hill war ein wirklich entzückendes kleines Gemein-

wesen – sauber, ordentlich, wohlhabend optimistisch. Nur lei-der nicht das, was wir wollten.Wir wollten das echte Outback:wo Männer voll im Saft stehen und Schafe bei ihrem Anblicknervös werden. In Broken Hill dagegen gab es Cafés und ei-nen Buchladen, Reisebüros, die verlockende Pauschaltourennach Bali und Singapur anboten. Im Bürgerhaus spielten siesogar ein Noel-Coward-Stück. Das war doch kein Outback.Das war ein verträumtes Provinzstädtchen mit hoch aufge-drehter Zentralheizung.

Etwas hoffnungsvoller gestalteten sich die Dinge, als wiruns zum Len Vodic Vehicle Hire begaben und einen Wagen mitAllradantrieb für unseren Zweitagestripp in die glühend heißeWildnis abholten. Der Len aus dem Firmennamen war eindrahtiger alter Bursche, zupackend und freundlich, und sahaus, als habe er jeden Tag seines Lebens in der freien Naturhart rangeklotzt. Er sprang hinters Steuer und gab uns eineschnelle, gründliche Einführung, die einem die Leute geben,

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wenn sie davon ausgehen, dass sie es mit intelligenten, kompe-tenten Zuhörern zu tun haben. Das Wageninnere bot sich alsverwirrende Vielfalt von Skalen, Hebeln, Knöpfen, Schalternund Messinstrumenten dar.

»Also, angenommen, ihr bleibt im Sand stecken und müssteuer Abseits-Differenzial vergrößern«, sagte Len bei einer derwenigen Gelegenheiten, zu denen ich mich in den Vortrag ein-klinkte. »Dann bewegt ihr diesen Griff nach vorn, also so,wählt den Hyperantriebsquotienten zwischen zwölf und sie-benundzwanzig, stellt die Querruder höher und zündet beideAntriebsmotoren – aber nicht den linken. Das ist sehr wichtig.Doch was ihr auch tut, achtet auf die Messinstrumente, undgeht in der Brennkammer nicht über hundertachtzig Grad.Sonst fliegt euch das Ding um die Ohren, und ihr hängt dadraußen fest.«

Er sprang heraus und übergab uns die Schlüssel. »Hintendrin sind fünfundzwanzig Liter zusätzlicher Diesel. Das solltemehr als genug sein, wenn etwas passiert.« Dann schaute eruns noch einmal genauer an und sagte: »Ich hol euch noch einbisschen Diesel.«

»Hast du irgendwas davon verstanden?«, fragte ich Trevorflüsternd, als Len weg war.

»Von der Stelle an, wie man den Schlüssel ins Zündschlosssteckt, nichts mehr.«

»Was ist, wenn wir stecken bleiben oder uns verirren?«, riefich Len hinterher.

»Dann sterbt ihr! Ist doch klar!« Na gut, das sagte er nicht,aber das dachte er. Ich hatte ja Berichte von Leuten gelesen,die sich im Outback verirrt hatten oder sonst wie dort hän-gen geblieben waren. Ernest Giles wanderte zum Beispieltagelang ohne Wasser und halb tot herum, bis er zufällig aufein Wallaby-Junges stieß, das aus dem Beutel seiner Mutter ge-fallen war. »Ich stürzte mich darauf«, berichtet Giles in seinenLebenserinnerungen, »und aß es lebend, roh, sterbend – Fell,

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Haut, Knochen, Schädel und alles.« Und das war noch eineder fröhlicheren Geschichten. Glauben Sie mir, sich im Out-back zu verirren ist kein Zuckerschlecken.

Allmählich beschlich mich ein ungutes Gefühl – das auchnicht verschwand, als Sonja beim Anblick eines Tierchens zuunseren Füßen einen entzückten Schrei ausstieß und rief: »He,schauen Sie, eine Rotrückenspinne!« Eine Rotrückenspinneist, falls Sie das noch nicht wissen, der Tod auf acht Beinen.Während Trevor und ich uns, kläglich wimmernd Halt anei-nander suchend, umklammerten, hob sie das Vieh auf undhielt es uns mit spitzen Fingern hin.

»Schon gut«, kicherte sie. »Sie ist tot.«Vorsichtig inspizierten wir das kleine Ding auf ihrer Finger-

spitze mit dem verräterischen roten Mal in Form einer Sand-uhr auf dem glänzenden Rücken. Es kam uns absolut un-wahrscheinlich vor, dass etwas so Winziges einem sofortigeTodesqualen bescheren kann, aber es stimmt – ein einzigerBiss mit den bösen Kauwerkzeugen einer Rotrückenspinnekann binnen Minuten zu »unkontrollierbaren Zuckungen füh-ren, heftigem Erguss von Körperflüssigkeiten und beim Aus-bleiben prompter ärztlicher Behandlung womöglich zumTod«, weiß die Fachliteratur zu berichten.

»Draußen sehen Sie wahrscheinlich gar keine Rotrücken«,beruhigte Sonja uns. »Das größere Problem sind die Schlan-gen.«

Diese Information wurde mit vier erhobenen Augenbrauenund Mienen aufgenommen, die »Welche? Welche?« besagten.

»Gewöhnliche Schwarzotter,Westlicher Blätterteig, Bückvi-per, Gelbrückenkieferklemme, Östlicher Klötengrabscher…«Genau weiß ich nicht mehr, was sie alles aufzählte, doch dieListe war lang. »Nur keine Panik«, sagte sie zum Abschluss.»Die meisten Schlangen tun einem nichts.Wenn Sie im Buschsind und eine Schlange kommt daher, bleiben Sie stocksteifstehen, und lassen Sie sie über Ihre Schuhe gleiten.«

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Donnerwetter, diesen Ratschlag würde ich ja nun von allen,die ich je bekommen hatte, am wenigsten befolgen.

Als wir unser zusätzliches Diesel verstaut hatten, klettertenwir an Bord. Mit knirschenden Gängen, ein paar Bocksprün-gen und einem lebhaften, wenn auch versehentlichen Salut derScheibenwischer machten wir uns auf den Weg. Unser Zielwar Menindee, einhundertundzehn Kilometer gen Osten, wowir uns mit einem Mann namens Steve Garland treffen woll-ten. Die Fahrt nach Menindee stellte sich als einigermaßenenttäuschend heraus. Das Land war flimmernd heiß und sa-genhaft unwirtlich, und wir sahen auch unsere erste willy-willy, eine etwa dreißig Meter hohe, sich drehende Staubsäule,die sich links von uns über die endlose Ebene bewegte. Dochdas war auch schon das Abenteuerlichste, das uns wider-fuhr. Die Straße war neu und relativ stark befahren. Wäh-rend Trevor Bilder machte, zählte ich vier vorbeikommendeAutos. Hätten wir also einen Unfall oder Motorschaden ge-habt, hätten wir nicht länger als ein paar Minuten dort gestan-den.

Menindee war ein bescheidenes Dörflein am Darling River:ein paar schattenlose Straßen mit Bungalows, eine Tankstelle,zwei Läden, dem Burke and Wills Motel (nach zwei Forschernaus dem neunzehnten Jahrhundert benannt, die sich im gna-denlosen Outback um Kopf und Kragen brachten) und demnicht ganz unbekannten Maidens Hotel, in dem selbige Burkeund Wills ihre letzte Nacht in der Zivilisation verbrachten, be-vor sie in der kargen Leere im Norden ihr unseliges Schicksalereilte.

Wir trafen Steve Garland im Motel, und um unsere sichereAnkunft und jüngste Entdeckung des fünften Ganges zu fei-ern, gingen wir über die Straße ins Maidens und mischten unsunter die fröhlichen Zecher dort. Der lange Tresen war vonAnfang bis Ende mit sonnengegerbten Männern in Shorts,schweißfleckigen Muskelshirts und breitkrempigen Hüten be-

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setzt. Es war, als beträte man einen Film, in dem Paul Hoganmitspielte. Nun kamen wir der Sache schon näher.

»Und durch welche Fenster schmeißen sie die Schnapslei-chen?«, fragte ich den liebenswerten Steve, als wir uns setzten.Denn vielleicht wollte Trevor ja rechtzeitig seine Gerätschaf-ten aufbauen, damit er bei Feierabend ein paar gute Aufnah-men machen konnte.

»Ach, das passiert hier nicht«, sagte Steve. »Im Outbackgeht’s nicht so wild zu, wie die Leute immer meinen. Eigent-lich eher zivilisiert.« Mit richtig liebevollen Blicken schaute erin die Runde und begrüßte ein paar staubige Burschen.

Garland war Fotograf in Sydney gewesen, aber als seinePartnerin Lisa Menke Chief-Ranger im Kinchega NationalPark gleich um die Ecke wurde, nahm er den Job als regiona-ler Tourismus- und Entwicklungsbeauftragter an. Sein Be-reich umfasste sechsundzwanzigtausend Quadratmeilen, waralso halb so groß wie England und hatte eine Einwohnerzahlvon zweitausendfünfhundert. Garland oblag es zum einen, dieOrtsansässigen davon zu überzeugen, dass es Menschen aufder Welt gab, die bereit waren, für Ferien in einem riesigen,trockenen, öden und grauenhaft heißen Land gutes Geld hin-zulegen, und zum anderen, solche Menschen zu finden.

Die unbarmherzige Sonne und die Isolation machen dieLeute im Outback nicht immer zu den begnadetsten Ge-sprächspartnern. So hörten wir von einem Ladenbesitzer, der,von einem lächelnden Besucher gefragt, wo die Fische bissen,erwiderte: »In dem Scheißfluss, Kumpel, wo denn sonst?«

Garland grinste nur und fragte uns, wie die Fahrt gewesensei. Auf meine Antwort, ich hätte es ein wenig härter erwartet,sagte er nur: »Warten Sie bis morgen.«

Recht hatte er. Am nächsten Morgen fuhren wir in einem Mi-nikonvoi – Steve und Lisa in einem Auto, Trevor und ich imanderen – nach White Cliffs, einer alten Opalbergwerksstadt,

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zweihundertfünfzig Meilen im Norden. Schon eine halbeMeile außerhalb von Menindee hörte der Asphalt auf, und dieStraße bestand nun aus festgefahrener Erde voller Schlaglö-cher, Furchen und zementharter Rillen, die einen durchrüttel-ten, als führe man über Eisenbahnschwellen.

Stundenlang holperten wir, riesige rote Staubwolken hinteruns herziehend, über gleißende, heiße, eintönige Hochebenen,stellenweise mit niedrigen Salzbüschen und stacheligem Spi-nifex bewachsen und hier und dort einem schlappen Eukalyp-tusbaum. Am Straßenrand lagen ab und zu Känguruleichenund manchmal ein sonnenbadender Goanna, ein hässlichergroßer Waran. Der Himmel wusste, wie in dieser Hitze undDürre überhaupt ein Wesen überlebte. Es gab Flussbetten, dieseit fünfzehn Jahren kein Wasser gesehen hatten.

Die europäischen Siedler brauchten lange, um sich an dieeinzigartige Einöde Australiens, die provozierende Nutzlosig-keit einer solchen Masse Land, zu gewöhnen. Etliche der ers-ten Forschungsreisenden waren derart überzeugt, dass sie aufmächtige Flusssysteme oder sogar einen Binnensee stoßenwürden, dass sie Schiffe mitnahmen.Thomas Mitchell, der inden Dreißigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts ausge-dehnte Gebiete des westlichen New South Wales und desnördlichen Victoria erforschte, schleppte zwei Holzskiffs überdreitausend Meilen rappeltrockenen Busch, ohne dass sie ein-mal nass wurden, weigerte sich aber bis zum Schluss, sie lie-gen zu lassen. »Obgleich die Boote und deren Beförderung zu-letzt eine große Beschwernis für uns darstellten«, schrieb ernach der dritten Expedition mit ein wenig Understatement,»war ich mitnichten bereit, auf derart nützliches Rüstzeug füreine Forschergruppe zu verzichten.«

Aus Berichten über die frühen Erkundungszüge wird allzudeutlich, dass die ersten Forscher oft grotesk wenig Ahnunghatten, wie sie zu Werke gehen sollten. 1802 beschrieb Lieute-nant Francis Barrallier bei einer der ersten Expeditionen eine

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Bill Bryson

Frühstück mit KängurusAustralische Abenteuer

Taschenbuch, Broschur, 416 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-45379-5

Goldmann

Erscheinungstermin: November 2002

Was ist das für ein Land, in dem sich fliegende Füchse tummeln und Schweinefußnasenbeutlereinst ihr Unwesen trieben? In seinem ebenso amüsanten wie informativen Streifzug durch einunbekanntes Australien erzählt Bill Bryson von den historischen Hintergründen der Entdeckungdieses faszinierenden Kontinents - und hält den Leser mit seinem scharfen Blick für allesSkurrile und Ungewöhnliche in Atem.