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Biografie von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847) · PDF filevon Johann Sebastian Bach bekannt. ... Geburtstag ebenfalls die 24 Präludien und Fugen von Bach auswendig

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Biografie von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847)

Felix Mendelssohn Bartholdy – schreibt man das jetzt mit oder ohne Bindestrich

zwischen diesen beiden Namen? Oder lieber nur Felix Mendelssohn? Ist er Jude

oder Christ? Oder beides?

Ein Wunderkind wie Mozart? Welchen Eindruck hat der Knabe Felix auf den alten

Goethe gemacht? Musikalisch gleich begabt wie seine um vier Jahre ältere

Schwester Fanny.

Felix, ein Klavier- und Orgelvirtuose, Violinist und Bratschist. Ein moderner Dirigent,

der auf einem Podium stehend mit einem zierlichen Taktstock Chor und Orchester

dirigiert.

Ein Verehrer von Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, Christoph

Willibald Gluck, Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven

und Franz Schubert.

Er selbst wird bewundert von seinen Zeitgenossen Robert Schumann, Clara

Schumann, Gioacchino Rossini, Richard Wagner. Dieser bezeichnet ihn als „das

grösste spezifische Musikergenie, das der Welt seit Mozart erschienen ist.“

Doch nach seinem frühen Tod im Alter von 38 Jahren wird dieser frühromantische

Musiker durch eine Schmähschrift verunglimpft und mehr als 120 Jahre lang kalt

gestellt. Doch darüber erst am Schluss.

1. Teil: Die Uraufführung des Oratoriums ELIAS

ELIAS ist ein Spätwerk von Felix Mendelssohn. Opus 70. Die Uraufführung ist am

Musikfestival in Birmingham vorgesehen, im August 1846. Je näher der Termin

kommt, desto hektischer wird der Betrieb. Es gibt eine reiche Korrespondenz mit den

Organisatoren in England und dem Organisten des Musikfestes, sowie mit dem

Übersetzer des deutschen Textes ins Englische.

Die fertig komponierten Teile des Werkes gehen in Leipzig, wo Felix Mendelssohn

wohnt, zum Kopisten, werden abgeschrieben und nach England gesandt. Dort wird

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der Text übersetzt und stimmig unter die Noten gelegt. Dann müssen die

Chorstimmen gestochen und vom englischen Chorleiter einstudiert werden.

10 Tage vor der Aufführung trifft der Komponist in London ein: Es gibt eine

Solistenprobe und zwei Orchesterproben. Am 23. August 1846 verlässt ein

Eisenbahn-Sonderzug London, der den Komponisten, einen befreundeten

Organisator, die Solisten und Choristen, zusätzliche Instrumentalisten und eine

Schar von Kritikern nach Birmingham bringt.

ELIAS ist ein biblisches Oratorium, welches im Unterschied zu den Bach-Oratorien

und Passionen nicht für den Gottesdienst in einer Kirche gedacht ist, sondern für ein

musikalisch-religiöses Erlebnis im Konzertsaal. In Birmingham steht die Town Hall

zur Verfügung.

2000 Konzertbesucher und -besucherinnen lauschen den 400 Mitwirkenden.

Es ist ein Riesenerfolg. Es gibt grossen Applaus, was normalerweise bei solchen

Konzerten verpönt ist.

Trotz dieses Erfolges ist der 37-jährige Felix mit seinem Werk noch nicht zufrieden.

Während drei Monaten korrigiert, kürzt und ergänzt er seinen ELIAS. Dann wird das

Werk in England und Deutschland gedruckt, damit es auch an andern Orten von

andern Chören, Solisten und Orchestern einstudiert und aufgeführt werden kann.

Fünf Vierteljahre nach der Uraufführung des ELIAS stirbt Felix an einem Hirnschlag.

2. Teil: Herkunft und Jugend

Felix stammt aus einer renommierten jüdischen Familie. Sein Grossvater ist

der berühmte Religionsphilosoph Moses Mendelssohn, dessen Freund Gottfried

Ephraim Lessing ihm in Nathan dem Weisen ein würdiges Denkmal gesetzt hat.

Seine Söhne Abraham und Joseph gründen in Hamburg das Bankhaus

Mendelssohn. Abraham heiratet Lea Salomon. Aus der Ehe gehen vier Kinder

hervor: Fanny (geboren 1805), Felix (1809), Rebekka (1811) und – nach der

Übersiedlung der Familie nach Berlin: Paul (1813).

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Weil es trotz philosophischer Aufklärung und politischer Neuordnung im

Anschluss an die französische Revolution nach wie vor antisemitische Tendenzen in

der Gesellschaft gibt, versuchen viele Juden, sich durch die Annahme der

christlichen Taufe rascher in die deutsche Gesellschaft einzugliedern. So werden

Felix und seine drei Geschwister in Berlin am 21. März 1816 protestantisch getauft. Zudem gibt ihnen der Vater wie auch sich selbst und seiner Frau den christlichen

Zunamen „Bartholdy“. Abraham und Lea treten sechs Jahre später zum

Protestantismus über, wobei auch wirtschaftliche Gründe zu diesem Schritt geführt

haben.

Den Zusatznamen „Bartholdy“ hat bereits der Bruder der Mutter, Jakob Salomon, bei

seiner Taufe angenommen, um sich von seinen Verwandten jüdischen Glaubens zu

unterscheiden. Abraham hätte später am liebsten nur noch den Namen „Bartholdy“

getragen. Für Felix ist dies aber nie infrage gekommen.

Felix, das zeigen seine geistlichen Werke, ist ein engagierter liberaler Christ

geworden unter erstaunlicher Integration seiner jüdischen Wurzeln. Er hat sowohl

neutestamentliche wie alttestamentliche Texte vertont. Die Psalmen und Christus

(vor allem in seinem letzten Lebensjahr) haben es ihm besonders angetan.

Felix und seine Geschwister werden in ihren Talenten gefördert, wo es nur

geht. Die erste Lehrerin ist ihre Mutter Lea. Sie macht die Kinder mit der Klaviermusik

von Johann Sebastian Bach bekannt. Dann hat man hoch qualifizierte Privatlehrer

angestellt -- die Mendelssohns können sich das finanziell leisten. Die berühmtesten

unter ihnen sind der Komponist Johann Nepomuk Hummel – dieser ist ein Freund

von Haydn und Beethoven -- und der Leiter der Singakademie Berlin Carl Friedrich Zelter. Schon im Alter von 11 Jahren singt Felix zusammen mit Fanny in der

Singakademie mit. Dort lernen sie Werke von Palestrina, Händel und Bach kennen.

Zelter lehrt ihnen die Kunst des Generalbassspiels und des Komponierens. Felix

erhält auch Violinunterricht. Noch lieber spielt er Viola, Bratsche.

Zusammen mit seiner jüngeren Schwester Rebekka studiert Felix bei einem

weiteren Hauslehrer Latein und Griechisch. Zudem lernt er reiten, schwimmen und

tanzen.

In den Mendelsohnschen Hauskonzerten musiziert Felix zusammen mit

professionellen Musikern und stellt sich mit ersten Kompositionen dem Urteil einer

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ausgewählten Öffentlichkeit. Schnell heisst es, mit Felix sei ein neuer Mozart

aufgetaucht.

Im Alter von 12 Jahren stellt ihn sein Lehrer Zelter dem alten Goethe in

Weimar vor. Es ist uns ein Augen-, bzw. Ohrenzeugenbericht des Musikers und

Konzertkritikers Ludwig Rellstab überliefert. Dieser hat Felix bereits von den

Mendelssohnschen Sonntagskonzerten in Berlin her gekannt, wo der Zehnjährige

das sehr schwere h-Moll Konzert von Johann Nepomuk Hummel vom Blatt gespielt

und die 24 Präludien und Fugen des „Wohltemperierten Klaviers“ von Johann

Sebastian Bach auswendig vorgetragen hat.

(Übrigens hat seine Schwester Fanny im Alter von 12 Jahren Vater Abraham zum

Geburtstag ebenfalls die 24 Präludien und Fugen von Bach auswendig vorgespielt!)

Ludwig Rellstab berichtet, wie Zelter in Goethes Haus Felix ein sehr einfaches

sechzehntaktiges Lied in G-Dur vorspielt. Der 12-Jährige spielt es nach, doch dann –

ich zitiere -- „brach er ohne Umstände in das wildeste Allegro aus. Aus der sanften

Melodie wurde eine brausende Figur, die er bald im Bass, bald in der Oberstimme

nahm, sie mit schönen Gegensätzen durchführte, genug, eine im feurigsten Fluss

fortströmende Fantasie erschuf... Alle gerieten in das höchste Staunen; die kleine

Knabenhand arbeitete in den Tonmassen, beherrschte die schwierigsten

Kombinationen, die Passagen rollten, perlten...“ Goethe steht auf und drückt den

kleinen Felix an sich, „in dessen kindlichen Zügen sich Glück, Stolz und Verlegenheit

malten, indem er ihm den Kopf zwischen die Hände nahm und freundlich-derb

streichelte: «Aber damit kommst du nicht durch! Du musst noch mehr spielen, bevor

wir dich ganz anerkennen.»“

Goethe ist ein grosser Freund der Bachschen Fugen. Felix wird jetzt die

Aufgabe gestellt, eine Fuge des Altmeisters zu spielen. Er spielt sie völlig

unvorbereitet und mit vollendeter Sicherheit. Nun wünscht sich Goethe das Menuett

aus „Don Giovanni“ und die Ouvertüre einer Mozart-Oper. Felix spielt auf dem Klavier

die Ouvertüre zum „Figaro“. Rellstab berichtet: „Er begann sie mit einer Leichtigkeit,

mit einer Sicherheit, Rundung und Klarheit, wie ich sie nie wieder gehört. Dabei gab

er die Orchestereffekte so vortrefflich, so durchsichtig, machte so viele kleine Züge in

der Instrumentation bemerkbar, durch scheinbar mitgespielte Stimmen, dass die

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Wirkung eine hinreissende war und ich fast behaupten möchte, mehr Freude daran

gehabt zu haben als an einer Orchesteraufführung.“

Goethe gibt sich noch nicht zufrieden. Er setzt Felix klein geschriebene Noten

auf das Pult. Mozarts Handschrift! „Ein unnennbares Gefühl der Begeisterung und

Freude, der Bewunderung und Ahnung packte uns alle“, berichtet Rellstab. Felix

spielt mit vollster Sicherheit. Es ist ein nicht allzu schweres Adagio, allerdings mit

vielen Zweiunddreissigstel-Noten.

Da legt ihm Goethe noch ein anderes Blatt aufs Pult. „Das sah sehr seltsam

aus. Man wusste kaum, ob es Noten waren oder nur ein liniertes Blatt, das verwischt

und mit Tinte bespritzt war. Felix lachte verwundert auf: «Wie ist das geschrieben!

Wie soll man das lesen?» Zelter sagte: «Das hat ja Beethoven geschrieben. Der

schreibt immer wie mit dem Besenstil und als ob er seinen Ärmel über die frischen

Noten wische...» Trotz der grotesken Redeweise wurde Felix plötzlich sehr ernsthaft.

Ein heiliges Staunen trat in seine Züge. Er hielt das Auge unverwandt auf das

Manuskript gerichtet, und ein Leuchten überflog sein Gesicht...“ Da stürzt er sich

auf das Lied und spielt es. Damit lässt Goethe es genug sein – und von diesem

Augenblick an ist Felix in Weimar als junger Klaviermeister anerkannt und hat im

alten Dichter einen väterlichen Freund gefunden.

* * * * * * * * * *

Felix Mendelssohn ist in seinem kurzen Leben viel gereist. In den Jahren 1830

– 1832 finden wir ihn auf einer Bildungsreise durch Europa. Über Leipzig, Weimar,

München, Linz, Wien und Graz geht es nach Italien. Mit Venedig, Florenz, Rom,

Neapel, Genua und Mailand werden die kulturellen und musikalischen Hauptstädte

Italiens angelaufen. Dann reist er dem Lago Maggiore entlang, überschreitet den

Simplon und durchquert zu Fuss oder mit der Postkutsche bei meist schlechtem

Wetter die Schweiz. Über Augsburg, München, Stuttgart, Frankfurt und Düsseldorf

geht es für ein halbes Jahr nach Paris und von dort wieder nach London.

Anschliessend kehrt er nach Berlin zurück.

Es folgen nun einige Passagen aus seinen tagebuchartigen Briefen an seine Familie.

(Felix ist übrigens auch ein begabter Maler gewesen. Er hat auf seinen Reisen nicht

nur komponiert, sondern auch viel skizziert und gemalt.)

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Auszüge aus den Briefen von Felix Mendelssohn

an seine Familie in Berlin über seine Schweizerreise 1831

(Mendelssohns Briefe erschienen erstmals im Druck 1861, ausgewählt und bearbeitet von seinem Bruder Paul. Die hier vorliegende Sammlung (Gute Schriften Zürich) stützt sich hauptsächlich auf Peter Sutermeisters „Briefe einer Reise“, die 1959 im Zürcher Verlag Max Niehans herausgegeben wurden und den genauen Wortlaut des Originals herstellen.)

Aus Chamonix schreibt er Ende Juli 1831:

Auf dem Lago Maggiore und den Inseln hatte ich das schlechteste Wetter. Es

blieb anhaltend so wüst, stürmisch, nass, dass ich mich etwas unmutig abends auf

die Schnellpost setzte und gegen den Simplon zu fuhr. Wie wir kaum eine halbe

Stunde gefahren waren, kam der Mond hervor, die Wolken zogen auseinander, des

andern Morgens war es das heiterste, herrlichste Wetter; mir war ordentlich

beschämt zumute über solch ein Glück — und ich konnte nun den ganzen göttlichen

Weg recht von Grund aus geniessen, wie er sich erst durch die hohen, grünen Täler,

dann durch die Felsengen, dann durch die Wiesen, endlich bei den Gletschern und

Schneebergen vorbeiwindet. (S. 6/7)

Dann ging es hinunter ins Wallis bis Brig, wo ich die Nacht blieb, voll Vergnügen

wieder einmal unter den ehrlichen, natürlichen, deutschsprechenden Leuten zu

leben, die mich denn auch ganz infam geprellt und betrogen haben. (S. 8)

6. August, abends in Château-d’Oex, bei Licht:

Den heutigen Tag aber muss ich mit einer Lobrede auf den Kanton Waadt

schliessen. Von allen Ländern, die ich kenne, ist dies das schönste und das, wo ich

am liebsten leben möchte, wenn ich recht alt würde. Die Leute sind so zufrieden und

sehen so wohl aus, das Land ebenso. Kommt man aus Italien, so wird einem hier oft

ganz weinerlich zumut über die Ehrlichkeit, die doch noch in der Welt ist, über frohe

Gesichter, über den Mangel an Bettlern, an mürrischen Beamten, über dies völlige

Gegenteil unter den Menschen.

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Ich möchte Gott danken, dass er manches gar so schön gemacht hat, und wolle er

uns allen in Berlin, England und Château-d‘Oex einen frohen Abend schenken und

gute Nacht. (S. 14)

Wimmis, 8. August:

Prost Mahlzeit! Es ist dreimal so toll. Meinen Plan, heut nach Interlaken zu

kommen, muss ich aufgeben, denn es ist nicht durchzukommen. Seit vier Stunden

fällt das Wasser so gerade herunter, als würden die Wolken oben ausgequetscht; die

Wege sind so weich wie Federbetten, von den Bergen sieht man nur einzelne

Fetzen, und auch die selten.…

Mein Zeichenbuch musste ich unter die Weste knöpfen, denn der Regenschirm half

bald nichts mehr, und so bin ich gegen ein Uhr zum Mittagbrot hier angelangt.

In Boltigen war ich die Nacht sehr schlecht, im Wirtshaus war kein Platz,

wegen Kirmess; ich musste also in ein Nachbarhaus, da gab‘s Flöhe wie in Italien,

man konnte sie mit dem Spaten totmachen, eine knarrige Wanduhr, die alle Stunden

mit grossem Lärm schlug, und ein kleines Kind, das die ganze Nacht durch schrie —

Ihr werdet Euch leicht denken, dass ich bei solchem Lärm vortrefflich geschlafen

habe. Aber das Kind musste ich wirklich ein Weilchen beobachten; es schrie alle

Töne durch, alle Affekte kamen drin vor, es war grimmig, dann wütend, dann

weinerlich, und wenn es nicht mehr schreien konnte, grunzte es ganz tief. Jetzt sage

mir einer, man solle die Kinderjahre zurückwünschen, weil die Kinder glücklich seien.

Ich bin überzeugt, solch ein kleiner Balg ärgert sich ganz ebenso gut wie unsereins,

hat auch seine schlaflosen Nächte, seine Leidenschaften und so fort. (S. 15/16)

Spiezwiler, 9. August, morgens

Papapapapoi! Elelelelelelend! Heut ist‘s noch toller. Hat die ganze Nacht

durch gegossen und giesst schon den ganzen Morgen…

Einstweilen habe ich Gelegenheit, mit meinen Schweizer Wirten Bekanntschaft zu

machen. Naiv sind sie! Ich konnte meine Schuhe nicht anziehen, weil sie vom Regen

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eingelaufen waren; die Wirtin fragte, ob ich einen Schuhanzieher haben wollte, und

da ich ja sagte, brachte sie mir einen Esslöffel. (S. 20/21)

Abends in Unterseen

Seit Vevey war ich zum erstenmal auf eine halbe Stunde verstimmt und

musste Beethovens As-Dur-Adagio ein Stücker drei- oder viermal singen, ehe ich

wieder zurechtkam. Hier erfuhr ich nun erst, welchen Schaden das Wetter getan hat

und noch tun kann, denn es giesst fortwährend. (S. 23)

halb zehn Uhr abends

Die Brücke bei Zweilütschinen ist fortgerissen, die Fuhrleute aus Brienz und

Grindelwald wollen nicht nach Hause fahren, aus Furcht, ein paar Felsen auf den

Kopf zu bekommen. Das Wasser hier steht anderthalb Fuss unter der Aarbrücke, und

wie traurig der Himmel aussieht, ist gar nicht zu beschreiben.

Hier kann ich nun abwarten. … Sie haben mich hier sogar in ein Zimmer gewiesen,

wo ein Klavier steht, und zwar ist es vom Jahre 1794, wie darauf steht, hat im Klange

viel Ähnlichkeit mit dem alten, kleinen Silbermann auf meiner Stube, und so habe ich

es beim ersten Akkorde gleich liebgewonnen und kann dabei auch wohl an Euch

denken. (S. 23/24)

Grindelwald, 14. August, abends

Als ich auf den Sennhütten ankam, da hiess es, hoch auf den Alpen auf einer

Wiese sei heute ein grosses Fest, und von Zeit zu Zeit sah man auch in der Ferne

Leute hinaufsteigen. Müde war ich gar nicht, ein Alpenfest ist nicht alle Tage zu

sehen; das Wetter sagte ja, der Führer hatte grosse Lust…. Der Weg war entsetzlich

steil….

Jetzt gingen wir zwei Stunden durch den mühsamsten Weg, den ich je gemacht

habe, hoch herauf, dann wieder ganz hinunter, über Steingerölle und Bäche und

Gräben, durch ein paar Schneefelder, in der grössten Einsamkeit, ohne Fussweg….

Aber in dem Augenblick, als ich die Menschen da sah, war alles das vergessen, und

ich dachte nur an die Menschen und ihre Spiele und ihr lustiges Fest. Da war es

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denn nun prächtig: auf einer grossen, grünen Wiese weit über den Wolken war der

Schauplatz, gegenüber die himmelhohen Schneeberge, namentlich der Dom des

grossen Eiger, das Schreckhorn und die Wetterhörner, und alle die andern bis zur

Blüemlisalp….

Da wurde nun geschwungen, gesungen, gezecht, gelacht -- lauter gesunde,

tüchtige Leute. Ich sah mit grosser Freude dem Schwingen zu, das ich noch nie

gesehen hatte; dann bewirteten die Mädchen die Männer mit Kirschwasser und

Schnaps; die Flaschen gingen aus Hand in Hand, und ich soff mit; dann beschenkte

ich drei kleine Kinder mit Kuchen, der sie glücklich machte; dann sang mir ein alter,

sehr betrunkener Bauer einige Lieder vor; dann sangen sie alle, dann gab sogar

auch mein Führer ein modernes Lied zum besten; dann prügelten sich zwei kleine

Jungen – mir gefiel alles auf der Alp. (S. 35/36)

Engelberg, 23. August

Nun gute Nacht. Morgen muss ich früh aufstehen, denn im Kloster ist grosser

Festtag und feierlicher Gottesdienst, und da muss ich die Orgel dazu spielen. Die

Mönche hörten heut früh zu, als ich ein wenig [auf der Orgel] phantasierte, das hat

ihnen gefallen, und so haben sie mich eingeladen, morgen früh den Feiertag ein- und

auszuorgeln. Der Pater Organist hat mir auch ein Thema gegeben, um darauf zu

phantasieren, das ist besser, als es irgendeinem Organisten in Italien je einfallen

könnte: nun will ich sehen, ob mir morgen etwas darauf einfallen wird. Ein paar neue

Orgelstücke von mir habe ich heut Nachmittag noch da in der Kirche gespielt, sie

klangen ziemlich gut.

Als ich abends beim Kloster vorbeikam, wurde die Kirche geschlossen, und

kaum waren die Türen zu, so fingen die Mönche in der dunklen Kirche mit Macht die

Nocturnen zu singen an. Sie intonierten das tiefe H. Es klang prächtig, und man

konnte es noch weit im Tale hören.

Engelberg, den 24. August

Das war wieder ein Tag! Das herrlichste, heiterste Wetter, blauer Himmel, wie

ich ihn seit Chamouny nicht gesehen…

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Ich habe den ganzen Tag nichts getan als gezeichnet und Orgel gespielt. Heut früh

versah ich den Organistendienst, da war es prächtig. Die Orgel ist gleich beim

Hochaltar, neben den Chorstühlen für die patres nahm ich denn meinen Platz mitten

unter den Mönchen, der wahre Saul unter den Propheten. Neben mir strich ein böser

Benediktiner den Kontrabass, einige andere Geige, einer der Honoratioren geigte

vor, der pater praeceptor stand vor mir, sang Solo und dirigierte mit einem

armdicken, langen Prügel, die Eleven des Klosters machten den Chor in ihren

schwarzen Kutten, ein alter, reduzierter Landmann spielte auf einer alten, reduzierten

Hoboe mit, und ganz in der Ferne sassen zwei und tuteten still in grosse Trompeten

mit grünen Quasten.

Und mit alledem war das Ding sehr erfreulich; man musste die Leute liebhaben, denn

sie hatten Eifer und arbeiteten alle, so gut sie konnten. Es wurde eine Messe von

Emmerich gegeben, jeder Ton hatte seinen Zopf und seinen Puder; ich spielte

treulich den Generalbass aus meiner bezifferten Stimme, setzte von Zeit zu Zeit

dicke Blasinstrumente zu, wenn ich mich langweilte, machte auch die Responsorien,

phantasierte auf das gegebene Thema, musste am Ende auf Begehren des Prälaten

einen Marsch spielen, so hart es mir auf der Orgel ankam, und wurde ehrenvoll

entlassen. (S. 53/54)

Sargans, 3. September mittags

Ausser dem Orgelspielen habe ich auch noch manches in meinem neuen

Zeichenbuch auszuführen (eines ist in Engelberg wieder fertig vollgezeichnet

worden), dann muss ich essen wie sechshundert Streiter, nach dem Essen wieder

Orgel üben, und so vergeht der Sarganser Regentag….

Auch gibt es zur Unterhaltung hier die Schweizer Zeitungen. Sie sind

eigentlich widrig, und man hat wenig Freude daran...; und gar der Ton, der da

herrscht, er erinnert an Butter, Käse und Kühe, pour ne pas dire Ochsen; von

solchen Grobheiten hat man anderswo keine Idee; hätten die Zeitungen Ehre im

Leibe, so müssten sie sich miteinander schiessen, denn eine droht der andern mit

Prügel, nennt sie lügenhaft niederträchtig und sagt ihr alle möglichen Süssigkeiten

der Art; die andere antwortet auf demselben Ton, eine dritte druckt den Streit ab und

begleitet ihn mit noch gröberen Noten. (S. 67/68)

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Abends

Ich habe eben noch bis zur Dämmerung Orgel geübt und trampelte wütend

auf dem Pedal herum, als wir auf einmal bemerkten, dass das tiefe Cis auf dem

Subbass ganz sanft, aber unaufhörlich mitsauste; alles Drücken, Rütteln, Stossen

der Taste half nichts, wir mussten in die Orgel hineinklettern, unter den dicken

Pfeifen herum. Das Cis sauste immer sanft fort, der Fehler lag in der Windlade. Der

Organist war in grosser Verlegenheit, weil morgen ein Festtag ist; da musste ich am

Ende mein Schnupftuch in die Pfeife stopfen, und da gab es kein Sausen, aber auch

kein Cis mehr….

Gute Nacht, es schlägt achte in f-Moll und regnet und stürmt in fis-Moll oder gis-Moll

in allen möglichen Kreuztonarten. (S. 68/69)

Felix hat viele Jahre keine Zeit für Frauen gehabt, abgesehen von seiner

geliebten Fanny. Doch das ist ja seine Schwester. Aber als er 27 Jahre alt ist, kommt

Cécile in sein Leben, die 17-jährige Tochter des aus Neuchâtel stammenden

reformierten Pfarrers Jeanrenaud. Ihre hugenottischen Vorfahren sind aus

Frankreich vertrieben worden. Die Trauung findet im Frühling 1837 in der

französischen Kirche zu Frankfurt statt. Aus der Ehe gehen fünf Kinder hervor.

* * * * * * * * * *

Felix Mendelssohn hat die grossen Werke geistlichen Inhalts für den

Konzertsaal geschrieben. Er schreibt aber auch liturgische Musik für den

evangelischen und katholischen Gottesdienst.

Seine geistliche Musik reicht von unbegleiteten Miniaturen für kleine Besetzung bis

zu gross angelegten symphonischen Werken für Orchester, Vokalsolisten und

grossen Chor.

Ich erwähne nur einige wenige:

Die Oratorien PAULUS und ELIAS und das unvollendete Werk CHRISTUS; fünf

grosse Psalmvertonungen; acht Choralkantaten (darunter die Kantate „Vom

Himmel hoch, da komm ich her“, sowie rund 60 Vertonungen biblischer Texte und

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reformatorischer Choräle für gemischten Chor, vier lateinische Gesänge für

Frauenchor, und 3 lateinische Gesänge für Männerchor. Ein gutes Drittel von ihnen

hat eine Orgel- oder Orchesterbegleitung.

Felix Mendelssohn hat ferner 83 Lieder komponiert, Musik für Klavier allein

(darunter die berühmten „Lieder ohne Worte“), Musik für Klavier und Orchester, für

Violine und Orchester, für Orchester allein (darunter der Sommernachtstraum und 5

Symphonien), sowie zahlreiche Kammermusik-Werke

3. Teil: von Erfolg zu Erfolg

1827 dirigiert der 18-jährige Felix in Stettin die Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum, ein Werk, das seine voll entwickelte Meisterschaft zeigt.

Gleich bei den ersten vier Akkorden merkt man, dass die Zeit der Klassik vorbei ist.

Einer seiner Lehrer hat gesagt: „Hier beginnt eine neue Musik“, nämlich die der

Romantik.

Im gleichen Konzert in Stettin spielt er zusammen mit Karl Loewe dessen

Doppelkonzert für zwei Klaviere und anschliessend ein Konzertstück von Carl Maria

von Weber. Nach diesen Leistungen, die beim Publikum die grösste Bewunderung

hervorrufen, setzt sich Felix mit seiner Geige neben den Konzertmeister und hilft ihm

während der Aufführung von Beethovens Neunter Symphonie mit unerschütterlicher

Sicherheit über die vielen Stellen hinweg, deren Eigenwilligkeit damals manchem

Orchestermusiker neu und unverständlich gewesen ist.

Einen wichtigen Meilenstein in der Musikgeschichte legt er 1829 in Berlin:

Die Wiederaufführung von Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion, die fast

auf den Tag genau vor 100 Jahren in Leipzig erstmals aufgeführt worden ist, dann

aber einen Jahrhundertschlaf angetreten hat. Obwohl Mendelssohns Lehrer Carl

Friedrich Zelter zuerst abgeraten hat, weil er der Meinung gewesen ist, die

Sängerinnen und Sänger der Berliner Singakademie und die Orchestermusiker

verstünden diese Musik gar nicht mehr, wagen sich der 20-jährige Felix und sein

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katholischer Freund, der Opernsänger Eduard Devrient, an dieses längste Werk des

Thomaskantors.

Felix übt die Chöre ein und fesselt das Interesse der Sängerinnen und Sänger immer

wieder durch seine klaren Erläuterungen über Aufbau und Wirkungsmöglichkeiten

des Werkes. Die erste Aufführung am 11. März wird ein Riesenerfolg. Die zweite am

21. März, an Bachs Geburtstag, ist ausverkauft. Die Einnahmen des 2. Konzertes

kommen den Nähschulen für arme Mädchen zugut. Das Publikum verlangt nach

einer weiteren Aufführung. Da aber Mendelssohn eine längst geplante Reise nach

England nicht aufschieben will, dirigiert Zelter diese dritte Aufführung.

In London (1829) wird Felix von zwei Freunden in die vornehmen Kreise der

Hauptstadt eingeführt. Als Sohn des hoch geachteten Bankiers Abraham und Enkel

des berühmten Philosophen Moses Mendelssohn öffnen sich schnell alle Türen und

Herzen. Doch entscheidend sind die Konzerte, die er gibt. Mit dem auswendig

vorgetragenen Es-Dur-Klavierkonzert von Beethoven, das bis dahin noch niemand in

London öffentlich zu spielen gewagt hat, erregt er stürmischen Jubel.

Felix weilt insgesamt zehnmal in England. Zweimal leitet er das Musikfest in

Birmingham. Von mal zu mal wächst seine Beliebtheit. Seine Stellung als Musiker in

England ist derjenigen Georg Friedrich Händels zu vergleichen. Von der

vieltausendköpfigen Menge nimmt er Ovationen entgegen, wie sie sonst nur Kaisern

und Königen dargebracht werden.

Felix feiert Erfolge in Düsseldorf, wo er zweimal das Musikfest leiten kann.

Beim ersten Mal, im Jahre 1833, ist er von zwei Düsseldorfer Damen mit einem

Lorbeerkranz gekrönt worden, und es wird ihm die Leitung der im Argen liegenden

Düsseldorfer Kirchenmusik und des Musikvereins angeboten. Er nimmt diese

Stellung als Musikdirektor an, weil ihm auch ein jährlicher Urlaub von drei Monaten

zugestanden wird.

Beim zweiten Mal, 1835, leitet er die Uraufführung seines Oratoriums

PAULUS. Unbeschreiblich ist der Enthusiasmus, den das Werk erregt.

Ein Augenzeuge schreibt über die Wirkung auf die Mitwirkenden und Zuhörern im

dicht gedrängten Saal: „Das kleine, niedliche Kerlchen wurde fast buchstäblich auf

Händen getragen.“ Mich berührt besonders die Christus-Stimme aus dem Himmel:

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„Saul, warum verfolgst du mich?“. Diese Stimme singt nicht etwa ein donnernder

Bass, sondern ein zart klingender vierstimmiger Frauenchor!

Felix feilt aber noch eine Zeitlang an seinem Werk, bis es druckreif ist. In den ersten

anderthalb Jahren nach seinem Erscheinen wird PAULUS über 50 Mal aufgeführt!

Wichtigstes Ereignis des Jahres 1837 ist für ihn die Berufung in die Bachstadt

Leipzig als Leiter des hervorragenden Gewandhausorchesters.

Hier dirigiert er 1839 die Welt-Uraufführung der C-Dur-Symphonie von Franz

Schubert aus dem Manuskript, das Robert Schumann beim Bruder des Komponisten

in Wien entdeckt hat. (Franz Schubert ist 1828 im Alter von 31 Jahren gestorben.)

Nach intensiven Bemühungen gelingt es Felix, im Jahre 1843 das Konservatorium

als Musikschule im Gewandhaus mit ausgezeichneten Lehrern zu eröffnen. Die

Förderung des Nachwuchses ist ihm ein grosses Anliegen.

1846 erklingt unter seiner Leitung zum ersten Mal die Tannhäuserouvertüre von

Richard Wagner. Felix äussert offen seine neidlose Bewunderung für Wagners

erfolgreiches Schaffen auf einem Gebiet, zu dem er selbst schwer Zugang findet.

Im August desselben Jahres folgt die Uraufführung des ELIAS in

Birmingham. Es ist die Krönung seines Lebens.

4. Teil: eine folgenschwere Schmähschrift

Der Schluss einer Biografie muss nicht traurig sein. Doch dieser ist es aus

verschiedenen Gründen:

Am 14. Mai 1847 erleidet seine geliebte Schwester Fanny während einer

Chorprobe, die sie für Felix hält, eine Gehirnblutung und stirbt am selben Tag. Ihr

Mann Wilhelm Hensel und Felix sind fassungslos.

Sechs Monate später trifft auch ihn ein Hirnschlag. Felix stirbt 38-jährig am 4.

November 1847 in Leipzig und wird in Berlin begraben.

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Die Betroffenheit in Deutschland ist gross. Aber auch in London, Mailand und Wien

finden Trauerkundgebungen statt.

* * * * * * * * * *

1850 erscheint unter dem Pseudonym Karl Freigedank eine Schrift mit dem

Titel „Das Judentum in der Musik“. Hier steht geschrieben, dass die Juden „die

deutsche Musik ruinierten“. Der gebildete Jude sei „gänzlich unvermögend, den Geist

unseres Volkes zu erfassen“. Alle jüdische Musik müsse demnach einem Deutschen

„fremdartig, kalt, sonderlich, gleichgültig, unnatürlich und verdreht erscheinen.“ Der

Jude habe „nie eine eigene Kunst gehabt – daher nie ein Leben von kunstfähigem

Gehalt besessen“. Zu einem „völlig tragischen Konflikt“ habe sich dies ausgewirkt „in

der Natur, dem Leben und Kunstwirken des früh verstorbenen Felix Mendelssohn

Bartholdy. Dieser hat uns gezeigt, dass ein Jude von reichster spezifischer

Talentfülle sein kann, dass er die feinste und mannigfachste Bildung…, das zart

empfindende Ehrgefühl besitzen kann, ohne es je zu ermöglichen, auch nur ein

einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns

hervorzubringen..., die wir zahllos oft empfunden haben, sobald ein Heros unserer

Kunst... nur den Mund auftat, um zu uns zu sprechen.“

Diese Schmähschrift aus dem Jahre 1850 hat bewirkt, dass Felix

Mendelssohn und andere jüdische Künstler in Deutschland herunter gemacht und

deren Musik während der Hitlerzeit verboten worden ist.

Doch wer hat nur so etwas Gemeines schreiben können? 18 Jahre nach der

Erscheinung dieser antisemitischen Schmähschrift bekennt sich der Verfasser, der

unter dem Pseudonym Karl Freigedank geschrieben hat, zu dieser Schrift: Es ist

Richard Wagner persönlich.

Dessen ungeachtet wird 1892 vor dem Gewandhaus in Leipzig ein

überlebensgrosses Bronzedenkmal von Felix Mendelssohn aufgestellt, denn Felix ist

noch zu seinen Lebzeiten Ehrenbürger dieser Stadt geworden.

1936 wird der Oberbürgermeister in einer Eingabe darauf hingewiesen, dass das „vor

dem Gewandhaus aufgestellte Denkmal des Vollblutjuden Mendelsohn-Bartoldie

[sic!] öffentliches Ärgernis erregt.“ Die Leipziger Tageszeitung schreibt am 16.

September: „Die Existenz eines Denkmals eines Juden“ passe nicht in eine Zeit, die

„in ihren Entscheidungen ausschliesslich der Stimme des Blutes und des völkischen

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Gewissens zu folgen“ habe. In der Nacht vom 9. auf den 10. November, als der

Oberbürgermeister ortsabwesend ist, lässt sein Stellvertreter das Denkmal spurlos

verschwinden. Der anschliessende Protest des Mendelssohn freundlich gesinnten

Oberbürgermeisters führt zu dessen sofortiger Entlassung.

Und in der Musikwissenschaft und Musikkritik heisst es von nun an,

Mendelssohns Musik habe „versagt, ganz und gar in der grossen Deutschen

Gefühls- und Formsprache zu reden“, besässe „des Unechten, Sentimentalen zu

viel“, zeuge von „glatter Problemlosigkeit“ und „schmiegsamem Anpassen ans

Deutsche“ und weise als „durchschlagendes rassisches Merkmal“ eine „oft leierig

werdende Eintönigkeit“ auf.

Paul Kohler, Pratteln, November 2009

Vortrag in „Kultur in der Kirche“ anlässlich des 200. Geburtsjahres von Felix Mendelssohn, 28.

November 2009, Reformierte Kirche Pratteln, mit Aline Koenig (Orgel) und Christina Lang (Gesang).

Quellen:

• Felix Mendelssohn Bartholdy, BRIEFE EINER REISE und LEBENSBILD von Peter

Sutermeister, Max Niehans Verlag AG. Zürich 1958

• Heinrich Eduard Jacob, FELIX MENDELSSOHN UND SEINE ZEIT, S. Fischer Verlag

1959

• Edgar Kellenberger, Felix Mendelssohns geistlichen Musik als „judenchristliches

Zeugnis?“, Aufsatz in „Musik und Gottesdienst“ 1992

• Edgar Kellenberger, Felix Mendelssohns Glaubensweg, Aufsatz in „Musik und

Gottesdienst“1995

• Herbert Ulrich, Jakob Ludwig Felix Mendelssohn Bartholdy, Aufsatz zum 150.

Todesjahr in „Musik und Liturgie“ 1997

• Textheft mit Programmeinführung von Ralf Wehner zum Oratorium ELIAS, aufgeführt

am 29. Juli 2000 im neuen Gewandhaus Leipzig