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Schwerpunkt 33 Physik und Biologie haben gemeinsame Stamm- väter. Im letzten Jahrhundert haben sich beide Wissenschaften zwar auseinandergelebt, unbe- stritten ist aber, dass sie sich häufig gegenseitig befruchtet haben. Oft hat die Erfindung einer neuen physikalischen Methode zu einem Ent- wicklungsschub in der Biologie geführt; im Gegenzug gibt es auch viele Beispiele, wie die Physik von der Biologie neue Anstöße bekam. In diesem Schwerpunktheft „Biophysik“ wer- den zahlreiche Facetten dieser für beide Seiten anregenden Entwicklung dargestellt. A ls der Delfter Kaufmann und Naturforscher An- ton van Leeuwenhook um 1670 die ersten hoch- auflösenden Mikroskope entwickelte, schuf er ein einzigartiges Werkzeug für die Biologie. Er konnte damit erstmals lebende Zellen beobachten und von diesen sehr realistische Bilder anfertigen. Erstaunli- cherweise hat es noch fast 200 Jahre gedauert, bis all- gemein akzeptiert wurde, dass die Zelle die kleinste le- bensfähige Einheit ist, und dass Zellen nur aus Zellen entstehen können. Erst Virchows berühmter Satz „omnis cellula e cellula“ aus dem Jahr 1855 machte der aristotelischen These von der Entstehung des Lebens aus organischer Materie endgültig den Garaus. Moderne für die Biologie nützliche physikalische Methoden sind etwa die Elektronenmikroskopie (Ernst Ruska, 1932), die den Einblick in die Architektur der Zelle ermöglicht und die durch Elektronen-Tomographie und Analyse der Elektronenbeugung eine zentrale Rolle bei der Auf- klärung der Proteinstruktur spielt; die Röntgenbeugung und die Lösung des Phasenpro- blems durch isomorphen Ersatz, die den Siegeszug der modernen Strukturbiologie einleitete. (John Kendrew und Max Perutz hatten 1942 die Abbésche Abbildungs- theorie verwendet, um die Molekülstruktur aus dem Braggschen Beugungsbild zu rekonstruieren.) Der triumphale Erfolg der modernen Strukturbiolo- gie war eng an die Entwicklung der Computerphysik gekoppelt. Dies gilt in noch stärkerem Maße für die Entwicklung moderner Bildgebungsverfahren wie der Kernspin-Tomographie und der Positronen-Emissions- Tomographie (PET), zwei Methoden, die die medizini- sche Diagnostik revolutionierten. Die prominentesten Beispiele, wie die Biologie die Physik befruchtet hat, sind die Entdeckung des allge- meinen Energiesatzes durch Robert Meyer und Her- mann von Helmholtz sowie die Theorie der Brown- schen Bewegung durch Albert Einstein. Meyer beobachtete als Schiffsarzt auf Java, dass das in den Venen zum Herzen zurückfließende Blut der Hafenarbeiter in den Tropen heller (d. h. sauerstoffrei- cher) ist als in gemäßigten Zonen. Er schloss daraus intuitiv, dass die Arbeiter in den Tropen bei gleicher Arbeitsleistung weniger Energie verbrauchten, als in gemäßigten Zonen, da weniger Wärme an die Umge- bung abgegeben wird. Dies führte ihn auf die Äquiva- lenz von Wärme und mechanischer Arbeit und zur Be- stimmung des mechanischen Wärmeäquivalents. Seine Intuition allein reichte nicht aus, um der Idee in der Physik zum Durchbruch zu verhelfen. Erst dem theore- tischen Genie Helmholtz’ gelang 1843 die allgemeine Formulierung des Energiesatzes [1]. *) Einsteins Deutung der simplen Beobachtung des Bo- tanikers Robert Brown, dass Bärlappsamen in Wasser wirre Bewegungen ausführen, hat die Physik zu Beginn des Jahrhunderts fast ähnlich stark beeinflusst wie die Plancksche Strahlungsformel. Sie spielte eine wesentli- che Rolle für die Entwicklung der modernen statisti- schen Physik und verhalf auch dem Konzept der ato- mistischen Struktur der Materie bei den skeptischen Physikern zum Durchbruch. Dies zeigt ein Blick in das um die Jahrhundertwende sehr einflussreiche Buch von Ernst Mach „Die Mechanik“, in dem das Konzept als reines Denkmodell abgetan wurde [2]. Die enorme Bedeutung der Biologie auf dem Weg zur modernen Physik kommt auch dadurch zum Aus- druck, dass zwei der bedeutendsten Physiker des 19. Jahrhunderts, Thomas Young und Hermann von Helm- holtz, ihre Karriere als Mediziner begannen und als Väter der Physiologie gelten. Auf der anderen Seite war der Physiker Max Delbrück ein Wegbereiter der modernen Molekularbiologie. Er führte 1943, zusam- Biophysik Biologische Physik – woher kommt sie, wohin geht sie? Physik und Biologie sind sich in den vergangenen Jahren immer näher gekommen Erich Sackmann Prof. Dr. Erich Sack- mann, Physikdepart- ment E22 der TU München, 85748 Garching Physikalische Blätter 57 (2001) Nr. 2 0031-9279/01/0202-33 $17.50+50/0 © WILEY-VCH Verlag GmbH, D-69451 Weinheim, 2001 *) Die Arbeit von Helm- holtz „Über die Erhal- tung der Kraft“ wurde von den Annalen der Physik und Chemie ab- gelehnt. Erst auf Drän- gen des Mathematikers Kronecker erschien der Artikel als Sonderdruck. Anton van Leeuwenhook ent- wickelte vor mehr als 300 Jahren die ersten hochauflö- senden Mikrosko- pe. Er zeichnete erstmals erstaun- lich realistische Bilder von leben- den Zellen. Heute leisten Physiker einen wichtigen Beitrag dazu, die ungewöhnlichen mechanischen und dynamischen Eigenschaften von Zellen zu verste- hen.

Biologische Physik - woher kommt sie, wohin geht sie? Physik und Biologie sind sich in den vergangenen Jahren immer näher gekommen

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Page 1: Biologische Physik - woher kommt sie, wohin geht sie? Physik und Biologie sind sich in den vergangenen Jahren immer näher gekommen

Schwerpunkt

33

Physik und Biologie haben gemeinsame Stamm-väter. Im letzten Jahrhundert haben sich beideWissenschaften zwar auseinandergelebt, unbe-stritten ist aber, dass sie sich häufig gegenseitigbefruchtet haben. Oft hat die Erfindung einerneuen physikalischen Methode zu einem Ent-wicklungsschub in der Biologie geführt; imGegenzug gibt es auch viele Beispiele, wie diePhysik von der Biologie neue Anstöße bekam.In diesem Schwerpunktheft „Biophysik“ wer-den zahlreiche Facetten dieser für beide Seitenanregenden Entwicklung dargestellt.

Als der Delfter Kaufmann und Naturforscher An-ton van Leeuwenhook um 1670 die ersten hoch-auflösenden Mikroskope entwickelte, schuf er

ein einzigartiges Werkzeug für die Biologie. Er konntedamit erstmals lebende Zellen beobachten und vondiesen sehr realistische Bilder anfertigen. Erstaunli-cherweise hat es noch fast 200 Jahre gedauert, bis all-gemein akzeptiert wurde, dass die Zelle die kleinste le-bensfähige Einheit ist, und dass Zellen nur aus Zellenentstehen können. Erst Virchows berühmter Satz„omnis cellula e cellula“ aus dem Jahr 1855 machte deraristotelischen These von der Entstehung des Lebensaus organischer Materie endgültig den Garaus.

Moderne für die Biologie nützliche physikalischeMethoden sind etwa� die Elektronenmikroskopie (Ernst Ruska, 1932), dieden Einblick in die Architektur der Zelle ermöglichtund die durch Elektronen-Tomographie und Analyseder Elektronenbeugung eine zentrale Rolle bei der Auf-klärung der Proteinstruktur spielt;� die Röntgenbeugung und die Lösung des Phasenpro-blems durch isomorphen Ersatz, die den Siegeszug dermodernen Strukturbiologie einleitete. (John Kendrewund Max Perutz hatten 1942 die Abbésche Abbildungs-theorie verwendet, um die Molekülstruktur aus demBraggschen Beugungsbild zu rekonstruieren.)

Der triumphale Erfolg der modernen Strukturbiolo-gie war eng an die Entwicklung der Computerphysikgekoppelt. Dies gilt in noch stärkerem Maße für dieEntwicklung moderner Bildgebungsverfahren wie derKernspin-Tomographie und der Positronen-Emissions-Tomographie (PET), zwei Methoden, die die medizini-sche Diagnostik revolutionierten.

Die prominentesten Beispiele, wie die Biologie diePhysik befruchtet hat, sind die Entdeckung des allge-

meinen Energiesatzes durch Robert Meyer und Her-mann von Helmholtz sowie die Theorie der Brown-schen Bewegung durch Albert Einstein.

Meyer beobachtete als Schiffsarzt auf Java, dass dasin den Venen zum Herzen zurückfließende Blut derHafenarbeiter in den Tropen heller (d. h. sauerstoffrei-cher) ist als in gemäßigten Zonen. Er schloss darausintuitiv, dass die Arbeiter in den Tropen bei gleicherArbeitsleistung weniger Energie verbrauchten, als ingemäßigten Zonen, da weniger Wärme an die Umge-bung abgegeben wird. Dies führte ihn auf die Äquiva-lenz von Wärme und mechanischer Arbeit und zur Be-stimmung des mechanischen Wärmeäquivalents. SeineIntuition allein reichte nicht aus, um der Idee in derPhysik zum Durchbruch zu verhelfen. Erst dem theore-tischen Genie Helmholtz’ gelang 1843 die allgemeineFormulierung des Energiesatzes [1].*)

Einsteins Deutung der simplen Beobachtung des Bo-tanikers Robert Brown, dass Bärlappsamen in Wasserwirre Bewegungen ausführen, hat die Physik zu Beginndes Jahrhunderts fast ähnlich stark beeinflusst wie diePlancksche Strahlungsformel. Sie spielte eine wesentli-che Rolle für die Entwicklung der modernen statisti-schen Physik und verhalf auch dem Konzept der ato-mistischen Struktur der Materie bei den skeptischenPhysikern zum Durchbruch. Dies zeigt ein Blick in dasum die Jahrhundertwende sehr einflussreiche Buch vonErnst Mach „Die Mechanik“, in dem das Konzept alsreines Denkmodell abgetan wurde [2].

Die enorme Bedeutung der Biologie auf dem Wegzur modernen Physik kommt auch dadurch zum Aus-druck, dass zwei der bedeutendsten Physiker des 19.Jahrhunderts, Thomas Young und Hermann von Helm-holtz, ihre Karriere als Mediziner begannen und alsVäter der Physiologie gelten. Auf der anderen Seitewar der Physiker Max Delbrück ein Wegbereiter dermodernen Molekularbiologie. Er führte 1943, zusam-

Biophysik

Biologische Physik –woher kommt sie, wohin geht sie?

Physik und Biologie sind sich in den vergangenen Jahren immer näher gekommen

Erich Sackmann

Prof. Dr. Erich Sack-mann, Physikdepart-ment E22 der TUMünchen, 85748Garching

Physikalische Blätter57 (2001) Nr. 20031-9279/01/0202-33$17.50+50/0© WILEY-VCH Verlag GmbH,D-69451 Weinheim, 2001

*) Die Arbeit von Helm-holtz „Über die Erhal-tung der Kraft“ wurdevon den Annalen derPhysik und Chemie ab-gelehnt. Erst auf Drän-gen des MathematikersKronecker erschien derArtikel als Sonderdruck.

Anton vanLeeuwenhook ent-wickelte vor mehrals 300 Jahren dieersten hochauflö-senden Mikrosko-pe. Er zeichneteerstmals erstaun-lich realistischeBilder von leben-den Zellen. Heuteleisten Physikereinen wichtigenBeitrag dazu, dieungewöhnlichenmechanischen unddynamischenEigenschaften vonZellen zu verste-hen.

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men mit Salvador Luria, die ersten exakten geneti-schen Experimente an Bakterien durch und zeigte, dassdiese gegen ihre Feinde, die Bakteriophagen, durchMutation resistent werden. Delbrück und Schrödinger(in seinem berühmten Buch „Was ist Leben“ [3]) pro-pagierten auch erstmals die Idee, dass genetische Infor-mation in Makromolekülen gespeichert wird.

Was lehrt uns die Geschichte?Die historischen Beispiele zeigen, dass die Physik ei-

ne zentrale Rolle bei der Entwicklung neuer Methodenzur Untersuchung der Struktur und Funktion biologi-scher Materie gespielt hat und weiter spielen wird.Aber kann die Physik auch prinzipielle Fragen der Bio-logie klären? Nach Jacques Monod, dem großen fran-zösischen Genetiker, ist Leben zwar mit den Gesetzender Physik kompatibel, wird abernicht durch physikalische Gesetzekontrolliert. Noch radikaler äußertsich der bekannte Senior der Ent-wicklungsbiologie Ernst Mayr [4],der behauptet, die Physik spiele inder Biologie überhaupt keine Rolleund habe praktisch nichts zur Deu-tung lebender Materie beigetragen.

Um ein Protein im Rahmen derBiologie zu verstehen, reicht es aus,die Genetik zu kennen, die selbst-verständlich mit den Gesetzen derPhysik kompatibel ist. Aber es gibtauch biologische Prozesse, die sichnur durch die Physik erklären las-sen, Abläufe, die durch physikali-sche Gesetze kontrolliert werden.Ein Beweis dafür ist die Evolutionbiologischer Strukturen, z. B. dieembryonale Entwicklung des Kno-chengerüsts der Wirbeltiere oder dieBildung von Schleimpilzen aus cha-otischen Ansammlungen von Amö-ben des Typs Dictyolstelium Disro-ideum. Der Informationsgehalt derGene reicht nach heutigem Wissen unmöglich alleindafür aus, den vollständigen Bauplan so komplexerFormen festzulegen. Alan Turing, der geistige Vater desmodernen Computers, zeigte, dass die Morphogenesevon Gewebe durch Signalsubstanzen (z. B. Wachs-tumsfaktoren) gesteuert werden, die durch das Zusam-menspiel von biochemischen Reaktionen, Autokatalyseund Diffusion [5], also durch physikalische Prozesse,spontan entstehen.

Diese Beispiele belegen, dass Physiker bei der Ent-wicklung neuer Methoden der Biomaterialforschungund bei der Suche nach physikalischen Prinzipien derSelbstorganisation bzw. Funktion biologischer Materia-lien eine wichtige Rolle spielen können. Vorausgesetztdie Physiker akzeptieren die Komplexität der Biomate-rialien und setzen sich mit den zentralen Fragestellun-gen der Biologie auseinander. Die Fähigkeit des Physi-kers, komplexe Zusammenhänge auf universelle Ge-setzmäßigkeiten zurückzuführen, ist dabei gefragt.

Die Beiträge für dieses Schwerpunktheft wurden soausgewählt, dass die modernen Entwicklungen derPhysik biologischer Materialien anhand prägnanterBeispiele klar werden. Dabei kann natürlich nur einkleiner Ausschnitt aus einer Fülle von Fortschritten derbiologischen Physik gezeigt werden.

Regulation und Kommunikation – ein Problem der Physik komplexer SystemeWie werden zelluläre Prozesse, beispielsweise die

Zellteilung oder die Umwandlung externer Signale inNervenimpulse durch Sinneszellen, durch intrazellulä-re Signalübertragung gesteuert? Diese Frage ist eineder faszinierendsten und schwierigsten in der Biologie.Die Steuerung kann über Botenmoleküle vermitteltwerden (Ca++, NO, etc.), die durch intrazelluläre En-zyme in großer Zahl erzeugt werden. Zuvor müssendiese Enzyme aktiviert werden, indem sie z. B. vonHormonen an Rezeptoren gebunden werden oder da-durch, dass ein Lichtquant durch den LichtrezeptorRhodopsin absorbiert wird. Noch komplexere Signal-wege basieren auf Kaskaden biochemischer Reaktio-nen, katalysiert durch hintereinander geschaltete En-

zyme. Am Ende der Kaskade stehtoft die Produktion neuer Proteinedurch Expression der zugeordnetenGene, was zu einer Architektur-oder Verhaltensänderung der Zelleführt.

Es ist anzunehmen, dass wir dieVielfalt der ineinandergreifendenund zeitlich gestaffelten biochemi-schen Regelkreise der Zellen vor-läufig nicht analytisch beschreibenkönnen und noch lange darauf an-gewiesen sind, komplexe Prozessedurch Computersimulationen nach-zuvollziehen. Dies ist eine wichtigeAufgabe der Theoretischen Biologieund Bioinformatik. Dass dies mög-lich ist, zeigen die Fortschritte beider theoretischen Beschreibung derFunktion des Zentralnervensys-tems, etwa bei der Mustererken-nung oder beim Lernen. Einige dererstaunlichen Fortschritte derTheoretischen Biologie auf diesemGebiet beschreibt Leo van Hem-men in seinem Artikel.

Biofunktionale Systeme auf Festkörpern –eine Brücke zwischen Biologie und PhysikEin faszinierendes und vielversprechendes Gebiet

mit großem Anwendungspotenzial in Biotechnik undMedizin ist der Aufbau biologischer Funktionssystemeauf Festkörpern. Es eröffnet auch neue Perspektivenfür Physiker. Potenzielle Anwendungen wären� intelligente Biosensoren auf miniaturisiertenHalbleiterchips oder elektro-optische Bauelemente, mitdenen sich z. B. spezifische Antikörper nach einer In-fektion im Blut nachweisen lassen;� Imitate der Gewebeoberfläche zur Steuerung desWachstums von Zellen oder der Gewebe-Neubildung –wichtig für die Untersuchung der physikalischenGrundlagen der Zelladhäsion mit oberflächenempfind-lichen physikalischen Methoden [6];� die störungsfreie Immobilisierung von Zellen aufHalbleitern und deren Einsatz als Monitore oderAlarmsysteme zum empfindlichen Nachweis zellschädi-gender Substanzen.

Heute ist oft von Mikrorobotern (wie Minipumpenoder Ventilen) die Rede, die in unserem Körper Funk-tionen ausgefallener oder kranker Organe übernehmenoder Blutgefäße von Zellverklumpungen befreien.

Die Positronen-Emissions-Tomographieermöglicht es zum Beispiel, die Aktivitätim Hörzentrum eines Menschen währenddes Stereohörens direkt zu beobachten.Neben der Entwicklung von modernenBildgebungsverfahren liefert die Physikaber auch wichtige Erkenntnisse über dieSignalverarbeitung im Gehirn. (Abb.: H.Scheich, Magdeburg)

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Auch die Realisierung solcher Träume setzt biokompa-tible Oberflächen voraus.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warumman versucht, biologische Imitatsysteme auf Festkör-pern aufzubauen: Man möchte die fundamentalen Ge-setze der Selbstorganisation biologischer Materialien(Zellmembranen, membran-assoziierter Aktin-Myosin-Netzwerke, etc.) aufklären, um z. B. zu verstehen, wiedie Natur es schafft, Hunderte von Molekülsorten zuorganisierten Funktionssystemen zusammenzuführen.

Der Aufbau biofunktionaler Systeme auf Festkörper-oberflächen oder strukturierten Templates erlaubt es,die Selbstorganisation, die Struktur und die Dynamikkomplexer und weicher Grenzschichten zu untersu-chen; etwa mithilfe der Neutronen- und Röntgen-Re-flektivität, der optischen Nahfeld-Mikroskopie oderder lokalen Spannungsmessung durch Mikroelektro-den-Systeme. Eine elegante Strategie zum Aufbau kom-plexer biologischer Funktionssysteme auf Halbleiter-elementen wird in dem Artikel von Peter Fromherzbehandelt.

Vom Einzelmolekül zu komplexen biologischen MaschinenDas funktionelle Zusammenspiel einzelner nanosko-

pischer Maschinen in komplexen Ensembles (wie bio-logischen Membranen) ist ein Charaktermerkmal derBiomaterialien. Thorsten Ritz und Klaus Schulten dis-kutieren in ihrem Artikel das eindrucksvolle Zusam-menwirken der Reaktionszentren und Lichtsammel-komplexe beim Energie-Transfer in photosynthetischenMembranen.

Jedes einzelne Protein für sich betrachtet ist wiederein komplexes Vielteilchensystem, dessen Funktion insubtiler Weise von der dreidimensionalen Struktur derPolypeptidekette und der Dynamik der Segmente ab-hängt. Es ist ein noch unverstandenes Wunder der Na-tur, wie die Proteine aus der ungeheuren Vielfalt anKonformationen exakt die biologisch funktionelle he-rausfinden, und das sogar so schnell, dass die Molekülenicht von den allgegenwärtigen Proteasen zerlegt wer-den.

In den letzten Jahren wurden viele neue Möglichkei-ten geschaffen, Proteine oder Protein-DNA-Komplexeeinzeln oder im Ensemble zu studieren. Meilensteinesind die Patch-Clamp-Technik, mit der sich die Leit-fähigkeit einzelner Ionenkanäle in Zellmembranen un-tersuchen lässt, die Pikonewton-Kraftspektroskopieund die Einzelmolekül-Fluoreszenzspektroskopie.

Die Kraftspektroskopie eignet sich besonders gut,um die mechanischen Eigenschaften der Moleküle zubestimmen. Sie ermöglicht Einblicke in die Kräfte, diedie Konformation bis auf die Ebene der Wasserstoff-brücken stabilisieren. Zum anderen lassen sich auchdie Bindungskräfte zwischen Makromolekülen direktmessen, beispielsweise zwischen Antigen und Antikör-per. Ein zweiter wichtiger Punkt auf dem Weg zum bes-seren Verständnis der Proteinentfaltung durch Über-gänge in einer komplexen Hierarchie von Subzustän-den ist die Simulation im Computer; dabei löst man dieBewegungsgleichungen der Atome in ihren jeweiligenWechselwirkungspotentialen. Besonders die Kombina-tion der Molekulardynamik-Simulation mit der Kraft-spektroskopie eröffnet neue Einblicke in die hierarchi-sche Struktur biologischer Makromoleküle, wie Hel-mut Grubmüller und Matthias Rief beschreiben.

Molekulare Motoren: Allgegenwärtige Nanomaschinen der ZellenWie die Technik, so benutzt auch die Natur Linear-

und Rotationsmotoren, und zwar schon seit mindes-tens einer Milliarde Jahren. Linearmotoren aus hebel-artigen Antrieben (wie Myosin und Kinesin), die aufmehrere Mikrometer langen Polymerschienen (wie Ak-tin und Mikrotubuli) laufen, transportieren Nährstoffein Zellen oder in den bis zu einem Meter langen Axo-nen der Nervenzellen. Die Aktin/Myosin-Motoren er-zeugen Muskelkraft, bewerkstelligen die Fortbewegungund Formumwandlung von Zellen oder steuern dieZelladhäsion. Diese Vielfalt an Funktionen ist nurmöglich, weil die semiflexiblen Aktinfilamente mithilfeder Helferproteine eine Vielfalt von Netzwerken bildenkönnen. Dadurch kann sich das Aktingerüst in einigenzehn Millisekunden zwischen verschiedenen Zustän-den umwandeln, so wie bei der Stimulation der Blut-plättchen zur Ausbildung fangarmartiger Fortsätze, umWunden schnell zu schließen.

Mit den neuen Methoden der Pikonewton-Kraft-spektroskopie kann man die Krafterzeugung einzelnerMotoren dynamisch verfolgen und gewinnt faszinieren-de Einblicke in die Umwandlung statistisch zugeführterchemischer Energie (in Form von ATP) in makrosko-pisch gerichtete Kräfte (beispielsweise nach dem Prin-zip des Drehkreuzes oder der „Brownschen Ratsche“).Erwin Frey behandelt dieses Problem in seinem Arti-kel.

Der Aufbau komplexer Bewegungsapparate aus mo-lekularen Maschinen spiegelt den Erfindungsreichtumwider, mit dem die Natur die Prinzipien der Physik unddie Evolution biologischer Apparate auf einen Nennerbrachte. Die Reynolds-Zahl – ein Maß für das Verhält-nis von Beschleunigungs- zur Reibungskraft – der imWasser lebenden Lebewesen variiert um viele Größen-ordnungen, von 107 für Menschen bis 10–5 für Bakteri-en. Daher stehen Bakterien vor dem Problem einesMenschen, der in dickflüssigem Honig schwimmenmüsste. Wie der berühmte Hydrodynamiker Sir GofryTaylor erstmals in einer Arbeit um 1950 zeigte, bestanddie optimale Lösung des Problems in der Entwicklungeines Motors aus rotierenden helikalen Geißeln [7].Die meisten Bakterien (z. B. E-coli-Bakterien unseresDarmes) benutzen tatsächlich einen solchen Apparat,um sich mit einer Geschwindigkeit von ca. 30 mm/swie eine Schraube im Holz fortzubewegen.

Es gibt sicherlich noch viele solche Beispiele zu ent-decken, die zeigen, wie geschickt die belebte Naturphysikalische Prinzipien nutzt, um biologische Appa-rate zu optimieren und der Umwelt anzupassen.

Literatur[1] H. Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft,

Physik Verlag, Weinheim 1983[2] E. Mach, Die Mechanik, Brockhaus, Wiesbaden

1933 – Nachdruck Wissenschafltiche Buchgesell-schaft, Darmstadt

[3] E. Schrödinger, Was ist Leben?, Piper Verlag, Mün-chen 1999

[4] E. Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedan-kenwelt, Springer Verlag, Saunders 1984

[5] P. T. Saunders, Morphogenesis, North Holland,Amsterdam 1992

[6] E. Sackmann und M. Tanaka, Supported Membra-nes on Soft Polymer Cushion, Trends in Biotech-nology 18, 58 (2000)

[7] E. M. Purcell, Amer. J. Phys. 45, 3 (1984)