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b l u t s b r ü d e r mikaël ollivier

Blutsbrüder

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Die Familie Lemeunier führt ein ruhiges und privilegiertes Leben. Als eines Abends die Polizei vor der Tür steht, gerät die scheinbar heile Welt schlagartig ins Wanken. Brice, der älteste Sohn, wird verdächtigt, fünf Morde begangen zu haben. Alle Opfer gehörten seinem engsten Bekanntenkreis an. Das belastende Beweismaterial lässt kaum einen Zweifel an seiner Schuld. Liegt der Schlüssel zu den Verbrechen in den brutalen Videospielen, für die sich Brice in letzter Zeit interessiert hat?

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Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Titel der französischen Originalausgabe: Frères de sang © Thierry Magnier, April 2006(Erstmals erschienen im Mai 2003 bei „J’ai lu – jeunesse“)

edition quinto bei Terzio© Möllers & Bellinghausen Verlag GmbH, München 20071. Auflage 2007Übersetzung: Maren PartzschLektorat: Dorothea CerpnjakCovergestaltung: Christine PaxmannDTP: Ingo Engel, MünchenDruck und Bindung: fgb, Freiburger Graphische BetriebePrinted in GermanyISBN 978-3-89835-876-7www.terzio.de

Aus dem Französischen von Maren Partzsch

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Aus dem Französischen von Maren Partzsch

edition quintoºterzio

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Prolog

Noch vor einem Jahr hätte ich mit wenigen Worten sagen kön-nen, wer ich bin: Martin Lemeunier, vierzehn Jahre alt, Sohn von Pierre, Neurochirurg, und Nadège, Artdirector in einer Werbeagentur, Bruder von Brice, neunzehn Jahre alt, zweites Jahr Filmhochschule, Fachrichtung Regie. Ich war ein normaler Heranwachsender und vom Leben eher verwöhnt: Ich hatte Kumpels, einen guten Freund, ein großes Zimmer in einem großen Haus, war gut in der Schule, spielte Tennis, ging ins Kino, fuhr im Winter in die Berge, im Sommer ans Meer.

Zwölf Monate später sind all diese Begriffe für mich bedeu-tungslos geworden. Ich bin jetzt fünfzehn, wiederhole die Neunte, habe keine Freunde mehr, dafür zwölf Kilo zugenom-men, und ich fürchte mich vor den Nächten, vor dem, was mich im Schlaf erwartet.

Dennoch versichert mir der Psychologe, den ich jede Woche besuche, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Ich weiß, dass ich mich immer bis ins kleinste Detail an jenen Moment erinnern werde, in dem alles anders wurde.

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1Es war wie im Kino. Als wäre ich ein Zuschauer, kein Beteilig-ter an dem, was ich erlebte. Derart unvorstellbar war es, dass uns so etwas geschah!

Wir aßen gerade zu Abend: Gemüselasagne vom Italiener, mein Lieblingsgericht damals. Ausnahmsweise waren Papa und Mama beide da. Es klingelte und wir schauten uns fragend an: Wer störte uns so spät noch? Wir sind es gewöhnt, unterbro-chen zu werden, doch von Papas oder Mamas Handy, nicht von der Türklingel! Mein Vater ging öffnen, man hörte Stimmen, und er kam weiß wie die Wand zurück, in Begleitung dreier Typen, von denen einer eine Polizeiuniform trug. Das Sprech-funkgerät in seiner Hand knisterte und durch die geöffnete Tür konnte man die Blaulichter ihrer Autos sehen. In meinem Bauch bildete sich plötzlich ein dicker Klumpen. Papa hatte ein Papier in der Hand, das er Mama hinhielt. Sie stand auf und las es. Danach fragte sie die Polizisten, ob das ein Witz sein solle. „Nein, Madame“, antwortete der Älteste der drei. Er war nicht groß, aber kräftig, mit grauen, kurz geschnittenen Haaren, ei-ner von tiefen Falten durchzogenen Stirn, hellblauen Augen und einer sehr dicken Nase. Nein, er sah wirklich nicht so aus, als mache er Scherze. Papa sagte: „Ich rufe André an“, und ging zum Telefon.

André ist Mamas und Papas Anwalt. Und ein Freund der Familie, mit dem wir im Sommer vor der Bretagne segeln. Der

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alte Polizist schaute erst mich an, dann fixierte er meinen Bru-der. Er fragte ihn, ob er Brice Lemeunier heiße, und als mein Bruder das ganz verwundert bejahte, sagte der Polizist, dass Brice ihn würde begleiten müssen. Mama schrie auf, Papa wur-de wütend, schwieg aber als er endlich den Rechtsanwalt am Apparat hatte. André wollte mit den Polizisten sprechen. Mama begann zu weinen, und mein Herz raste mit hundert Stunden-kilometern. Instinktiv wusste ich, dass sich eine Katastrophe anbahnte.

Es ist erstaunlich, welche Gewalt man spürt, wenn plötzlich, ohne Vorwarnung, die Polizei bei einem auftaucht. Man führt ein ruhiges Leben, und die Polizei sieht man nur mit der Radar-falle am Straßenrand, oder wenn sie überprüfen, ob man sich wirklich angeschnallt hat. Mit der Kriminalpolizei, mit Ermitt-lungen und Gefängnissen und all dem haben doch nur Verbre-cher zu tun, nicht wir! Doch da hörte ich, wie der alte Polizist André am Telefon erklärte: „Er steht unter dem Verdacht, fünf Morde begangen zu haben.“ Brice wurde blass und ich glaubte, mich übergeben zu müssen. Der Polizist gab Papa den Hörer zurück, woraufhin er einige Sekunden zuhörte und dann tat, was André ihm riet: Er begleitete die beiden Polizisten und Brice. Vorher umarmte er Mama und murmelte ihr zu, sie solle sich keine Sorgen machen, das müsse ein lächerlicher Irrtum sein, und dass sie bald zurück wären.

Als Brice durch die Tür ging, trafen sich unsere Blicke, und in seinen Augen sah ich so etwas wie einen Hilferuf. Und Angst. Eine unheimliche, lähmende Angst, die ihn daran hinderte, sich zu wehren oder zu schreien, wie er es hätte tun sollen.

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Einer der Polizisten blieb. Er erklärte uns, dass ein Kollege kommen würde, und dass sie Brice’ Zimmer durchsuchen müssten. Mama war völlig verwirrt. Ich setzte mich wieder an meinen Platz. Ich begriff, dass unser Leben, mein Leben, nie mehr das gleiche sein würde.

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2Erst drei Tage später habe ich Brice wieder gesehen. Drei Tage Albtraum, aber kein Vergleich zu dem, was uns noch erwartete.

Mein Vater ist nicht wie angekündigt bald zurückgekommen. Er rief gegen Mitternacht an und sagte, dass die Dinge kompli-zierter wären als gedacht, und dass er uns auf dem Laufenden halten würde. Mama hatte ein Beruhigungsmittel genommen und schlief da schon.

Es hatte sie schwer mitgenommen, wie die beiden Polizisten Brice’ Zimmer völlig durchwühlt hatten. Sie haben Fotos, Ge-genstände und Kleidung in Plastiksäcke gesteckt und mitge-nommen. Am Ende haben sie das Zimmer versiegelt: Betreten bis auf weiteres verboten.

Als sie spät am Abend gingen, sah ich, dass mehrere Nach-barn auf der Straße zusammenstanden, um die Ereignisse zu beobachten und zu kommentieren. Wir wohnten fünfund-zwanzig Kilometer westlich von Paris, in der Domaine de Sans-Souci, einer Ansammlung von Häusern, eines größer als das andere, bewohnt von Arztfamilien, Architekten, Rechtsanwäl-ten, Aufsichtsratsvorsitzenden, und umgeben von einer hohen Mauer, mit einem Tor, das rund um die Uhr von einer Sicher-heitsfirma bewacht wird. Da sorgt ein Polizeiauto, das nach 20 Uhr noch vor dem Haus Nummer 16 in der Domaine de Sans-Souci steht, schon für Aufsehen!

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Mit den Nerven völlig am Ende schloss Mama die Fensterlä-den, goss sich einen Whiskey ein und hörte nicht auf mich, als ich sagte, dass das wegen des Beruhigungsmittels eine schlechte Idee sei. Das Telefon läutete. Es war Mathilde Beaupré, die Nachbarin aus der 19, die wissen wollte, was los war. Da ich hörte, wie Mama sich auf der Toilette übergab, habe ich sie gebeten, morgen wieder anzurufen. Zwei Minuten später woll-te auch Maud Delattre, die Nachbarin aus der 15, Neuigkeiten erfragen. Ich hängte schließlich das Telefon aus, damit uns nicht alle Nachbarn nerven konnten. Papa würde auf Mamas oder meinem Handy anrufen, wenn es etwas Neues gäbe.

Mama ging zu Bett. Ganz allein im Wohnzimmer versuchte ich, Bilanz zu ziehen: Mein Bruder wurde verdächtigt, fünf Menschen umgebracht zu haben, und war von der Polizei fest-genommen worden. Durch meinen Kopf tobte ein Orkan, ein Wirbelsturm aus Bildern, Ideen, Erinnerungen, Gefühlen. Doch ein Gedanke beherrschte alles: Brice kann das nicht getan haben. Er ist mein Bruder. Ich kenne ihn besser als irgendje-mand sonst. Von klein auf schon, verstehen Brice und ich uns super gut. Wir streiten uns manchmal, aber nie ernsthaft. Und er ist derjenige, den ich auf dieser Welt am liebsten habe. Wahr-scheinlich mehr als meine Eltern, denn er ist nicht nur mein Bruder, sondern auch mein bester Freund, schon immer …

Deswegen habe ich keine Sekunde daran gezweifelt, dass er un-schuldig ist. Nicht an jenem Abend, und auch später nicht, als alles gegen ihn sprach.

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3Der folgende Tag war ein Mittwoch und ich hatte keinen Un-terricht. Zum Glück, denn ich war sowohl physisch als auch psychisch erschöpft. Ich war erst gegen ein Uhr morgens einge-schlafen und wie gerädert wieder erwacht. Dreißig Sekunden lang – so lange wie man braucht, um die Augen zu öffnen – fühlte ich mich wohl, als wäre nichts passiert. Doch dann fiel mir alles wieder ein: die Polizei, Brice im Gefängnis … Unser Leben, unsere Familie kamen mir vor wie ein einstürzendes Kartenhaus.

Im Erdgeschoss telefonierte Mama unter Tränen mit Papa. Die Neuigkeiten schienen gar nicht gut zu sein. Als sie auflegte, wagte ich gar nicht nachzufragen.

Der alte Polizist hieß Despart. Er ist Kriminalhauptkommissar, aber ich denke, ich kann einfach nur Kommissar sagen. Des-part kam also an jenem Morgen wieder, gleichzeitig mit Papa, der die Nacht mit Brice und André verbracht hatte. Despart wartete bis Papa uns begrüßt hatte, dann wandte er sich an mich:

„Ich möchte mit dir sprechen, Martin.“Ich schaute meinen Vater an, um zu erfahren, was ich tun

sollte, doch er gab mir nur ein Zeichen, Despart zu folgen.„Aber! Und Brice?“, fragte ich. „Wann kommt Brice zu-

rück?“

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„Tu, was der Kommissar dir sagt“, antwortete Papa genervt.Er war blass, sah abgespannt aus, hatte gerötete Augen, und

ich verstand sofort, dass es besser war, nicht weiter nachzuha-ken. Papa schien eine sehr schlechte Nacht gehabt zu haben, und vor allem wusste er nun Dinge, die ihm am Vorabend noch unbekannt gewesen waren, und die er offensichtlich lieber wei-terhin nicht gewusst hätte.

In meinem Zimmer setzte sich der Kommissar auf mein Bett. Er schien noch schnell bei sich zuhause vorbei gefahren zu sein, um sich ein wenig zu waschen, denn er roch nach After-shave und ein kleines Pflaster klebte links an seinem Kinn.

„Ich will dir nur ein paar Fragen stellen.“„Werden Sie meinen Bruder lange im Gefängnis behalten?“„Ich weiß es nicht. Wir sind in einer laufenden Ermittlung.

Ich kann dir dazu keine Einzelheiten nennen, aber es ist sehr wichtig, dass du ganz offen und ehrlich auf meine Fragen ant-wortest. Einverstanden?“

„Einverstanden.“„Gut. Kennst du eine gewisse Marie Delcroix?“„Ja. Das war Brice’ erste Freundin. Na ja … Die erste, in die

er verliebt war.“„Und liebte sie ihn?“„Nein. Es lief nicht gut. Brice war damals 16 oder so.“„Hat er mit dir darüber gesprochen?“„Ja, wir hatten nie Geheimnisse voreinander.“„Wie war Marie?“„Ich konnte sie nicht leiden. Ich fand sie versnobt. Eine ech-

te Zicke. Brice hatte ihr gesagt, dass er sie liebt und hat ihr ei-

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nen Brief geschrieben. Und sie hat den der ganzen Klasse vor-gelesen, um ihn lächerlich zu machen.“

„Und wie hat dein Bruder reagiert?“„Schlecht. Warum?“„Im Moment stelle ich die Fragen, Martin. Weißt du, ob er

dieses Mädchen später wiedergesehen hat?“„Nein, ich glaube nicht. Sie hat im zweiten Halbjahr die

Schule gewechselt. Und Brice hatte ja auch ganz schnell eine neue Liebe.“

„Juliette Bignicourt?“„Ja“, antwortete ich, überrascht, dass er von all diesen alten

Geschichten wusste. „Und mit ihr ging’s gut?“„Das ist alles schon so lange her, ich weiß nicht mehr genau!“„Gib dir Mühe. Es ist wichtig.“In Wirklichkeit erinnerte ich mich sehr gut an Juliette, war

ich doch heimlich auch in sie verliebt gewesen. Nun ja … wie man eben mit zwölf verliebt sein kann in ein Mädchen, das siebzehn ist und mit dem eigenen Bruder geht! Ich begann mich zu fragen, ob dieser Polizist versuchte, mir eine Falle zu stellen, und ob nicht alles, was ich sagte, anschließend gegen meinen Bruder verwendet werden würde. Aber ich war zu ein-geschüchtert, um den Kommissar zu belügen. Und was sollte ich ihm als Lüge auch auftischen? Sachen, die für Brice viel-leicht noch gefährlicher waren?

„Sie gingen fast ein Jahr miteinander. Brice war sehr verliebt. Er erzählte mir, dass er Juliette später in seinen Filmen eine Rolle geben würde, dass sie in Hollywood heiraten würden.“

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„Und?“„Juliette ist mit einem anderen weg.“„Mark Stanwick.“„Warum fragen Sie mich, wenn Sie die Antworten schon

kennen?“„Mit deiner Hilfe kann ich die Teile des Puzzles zusammen-

setzen. Sieh mal, zu all diesen Personen, all diesen Namen wuss-te dein Vater praktisch nichts.“

„Das sind keine Dinge, die man seinen Eltern erzählt.“„Genau. Deswegen ist deine Aussage so wichtig.“„Kann sie Brice helfen?“Er zögerte ein wenig, und ich sah in seinen Augen, dass es

ihm unangenehm war mir hierauf antworten zu müssen.„Weißt du, Martin, dein Bruder hat Probleme. Ich weiß

nicht, was ihm helfen wird. Ich mache meine Ermittlung. Wenn das helfen kann, umso besser. Aber angesichts der Wendung, die die Sache nimmt, bezweifle ich …“

Ich spürte, wie sich in meinen Augen Tränen sammelten, doch ich hielt sie zurück.

„Machen wir weiter?“„Ja.“„Mark Stanwick hat deinem Bruder also die Freundin aus-

gespannt.“„Ja. Er war gerade mit seinen Eltern aus England her gezo-

gen. Sie haben ein Jahr lang im Haus nebenan gewohnt.“„Ich habe gehört, dass dein Bruder und er sich geprügelt

haben.“„Ein Mal …“

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„Nur ein Mal?“„Vielleicht zwei Mal. Oder drei.“„Dein Bruder soll ihm gedroht haben.“„Das ist möglich, aber das war nicht erst gemeint!“Nun schaute der Kommissar in seine Notizen.„Er hätte gesagt, ich zitiere: Eines Tages werde ich dich töten.“„Ich weiß nicht. Ich habe das jedenfalls nie gehört. Und

überhaupt, wenn man wütend ist, sagt man so was schon mal. Das ist alles!“

„Hast du das schon mal zu jemandem gesagt?“„Ähm … Nein.“„Ich auch nicht … Aber weiter. Kannst du mir etwas über

Christian Lamoureux erzählen?“„Lamoureux?“„Ein Lehrer, soweit ich weiß …“„Mathe, ja. Ein echtes Ar… ähm … eine Nervensäge. Ich

hatte ihn letztes Jahr. Jetzt ist er in Rente.“„Hat dein Bruder ihn auch gehabt?“„Zwei Jahre hintereinander! Brice war sein Prügelknabe. Der

Typ ist echt krank. Alle Lehrer werden ihnen das bestätigen: Brice war ein beliebter Schüler, er war gut und störte nicht! Aber der Lamoureux, der hat’s geschafft, dass Brice zwei Mal für drei Tage von der Schule ausgeschlossen wurde und die Zehnte wiederholen musste. Ein echter Idiot.“

„Was waren die Gründe für die Schulverweise?“„Beleidigungen, glaube ich.“„Waren es nicht eher ‚Drohungen‘ und ‚aggressives Ver-

halten‘?“

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Er begann mich ernsthaft zu nerven, mit seinen Aufzeich-nungen, die auch die Antworten schon enthielten.

„Brice ist ein bisschen … ähm …“„Ein Hitzkopf?“„Was soll das heißen?“„Aufbrausend, unberechenbar …“„Ja, könnte man sagen. Er mag es nicht so, wenn man ihm

zu nahe tritt. Lamoureux brachte die Schüler auf die Palme, provozierte sie so lange, bis sie eine Dummheit machten, um sie dann bestrafen zu können. Das war halt sein Ding. Man könnte meinen, er wäre nur dafür Lehrer geworden!“

Die Tür meines Zimmers war nur angelehnt und ich hörte, wie unten André das Haus betrat. Ich schnappte ein paar Bro-cken auf, bevor Despart sich erhob um die Tür zu schließen: „Ich weiß nicht … Die Beweise sind erdrückend … Nein … Es gibt sogar ein Video …“

„Machen wir weiter, Martin. Sagt dir der Name Boris Vani-olski etwas?“

„Natürlich. Das ist ein Produzent. Er macht Fantasy-Filme. Trash-Filme, die man vor allem auf DVD bekommt. Absoluter Quatsch, finde ich, aber dieser Typ ist Brice’ Idol. Nun ja, war sein Idol.“

„War?“„Ja. Brice kann ihn nicht mehr ausstehen. Er hat ihm seinen

ersten Kurzfilm geschickt. Das war noch bevor er auf die Film-hochschule ging: ein Videofilm, hier im Keller gedreht. Und der hat dem Vaniolski überhaupt nicht gefallen.“

„Worum ging es da drin?“

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„Oh! Die letzten fünf Minuten im Leben einer jungen Frau, die seit einer Woche von einem Serienmörder gefangen gehal-ten wird.“

„Gibt es von dem Film Kopien?“„Ja. Ich habe eine auf meinem Rechner.“„Kann ich die sehen?“„Ähm …“„Gibt’s ein Problem?“„Nun ja … Ich weiß nicht, ob Brice einverstanden wäre.“„Er wird es nicht verhindern können, glaub’ mir.“Also schauten wir uns den Film an. Er war sehr gut gemacht,

denn obwohl fast ohne Handlung, machte er wirklich Angst. Das Starke war, dass der Zuschauer nichts von den Misshand-lungen sah, die die Geisel ertragen musste, sie sich aber vorstell-te, was schlimmer ist. Doch als ich ihn nun nach mehr als ei-nem Jahr wieder sah, fand ich Boris Vaniolskis Vorwürfe be-rechtigt: Brice’ Kurzfilm ähnelte viel zu sehr dem Trailer zum Blair Witch Project, und zwar der Stelle, wo das Mädchen wei-nend in die Kamera spricht, nur von einer Lampe beleuchtet. Als Brice Vaniolskis Stellungnahme bekam, wurde er total wü-tend. Vaniolski hatte etwas völlig offensichtliches in Worte ge-fasst, was Brice bis dahin aber nicht klar gewesen war. Sein Film war ganz augenscheinlich von einem anderen inspiriert. Als er den Brief des Produzenten las (der ihn ganz direkt des Plagiats bezichtigte!), war es Brice dann selbst aufgefallen.

„Oh Mann, das ist hart!“, sagte der Kommissar als er den Film zu Ende gesehen hatte. „Dein Bruder mag solche Filme?“

„Ja. Warum? Ist das verboten?“, antwortete ich gereizt.

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„Nein.“„Er mag auch Videospiele, Rollenspiele, und er verbringt

Stunden im Internet! Sie werden mir doch jetzt nicht auf die Tour mit den von Gewaltdarstellungen in den Medien beein-flussten Jugendlichen kommen?“

„Das hast du gesagt, nicht ich.“Da begriff ich, dass es besser gewesen wäre, ich hätte ge-

schwiegen. Von Anfang an. Und ich konnte in diesem Moment noch nicht ahnen wie sehr!

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4Als ich am Donnerstag wieder zur Schule ging, hatte ich ein seltsames Gefühl. Wie nach den Ferien: Man kommt am Flug-hafen in Shorts an, weil man von den Antillen zurückkehrt, und in Paris sind Null Grad! Der Schock der Rückkehr in die Realität! Es war, als wäre der Vortag ein Tag im Leben eines anderen gewesen, als müsse man sich urplötzlich wieder im All-tag zurechtfinden, in der Routine.

Aber wie sollte ich mich für das Geplauder der Kumpels interessieren, für den Französischunterricht, die Korrektur der Matheschulaufgabe, während mein Bruder im Gefängnis saß? Wie sollte ich normal weiterleben, wenn Brice zu Unrecht des Mordes angeklagt war, ein Serienmörder sein sollte! Brice, den ich seit Ewigkeiten kannte, mit dem ich seit meiner Geburt mein Leben teilte, mit dem ich mich stritt, mit dem ich lachte, dem ich meine Träume erzählte, mit dem ich eine Hütte im Garten gebaut hatte, Sandburgen am Strand, der mir das Fahr-radfahren beigebracht hatte, das Skifahren, Windsurfen, der dabei gewesen war, als ich heimlich meine erste Zigarette ge-raucht hatte, der mich der kleinen Schwester einer Freundin vorgestellt hatte, die ich dann auf den Mund küssen konnte … Brice war ein Teil von mir. Mein großer Bruder …

In der Penne kam mir alles so erbärmlich vor, so armselig, ohne Bedeutung. Unsere Gewohnheiten, unsere Codes, unsere Witze, unsere Klamotten. Nichts hatte mehr Sinn. Ich versuch-

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te so zu tun als ob, aber es schien mir nicht zu gelingen, denn Benoît, mein bester Freund, fragte mich schließlich, ob ich krank sei. Damit er nicht weiter fragte, antwortete ich ihm, ich hätte die ganze Nacht durch gespuckt. Das war noch nicht ein-mal ganz falsch. Seit dem Eintreffen der Polizei am Dienstag-abend fühlte ich mich gar nicht gut, irgendwie fiebrig. Ein Un-wohlsein hatte sich in mir ausgebreitet, in meinem Kopf, in meinem Bauch, unter meiner Haut. Am Morgen nach dem Frühstück, das ich kaum angerührt hatte, hatte ich Mama ge-fragt, ob ich zur Schule gehen müsse.

„Natürlich! Warum solltest du nicht gehen?“, hatte sie mir nervös geantwortet.

„Tja, ich weiß nicht … Wegen Brice!“„Wie, Brice? Was sollte das nützen, wenn du zuhause

bleibst?“„Nichts, aber …“„Lass das, bitte! Meinst du nicht, wir haben auch so schon

genug Probleme?“Ich habe nicht weiter gedrängt, Mama war einfach nicht

in der Lage zu verstehen, was ich sagen wollte. Ich versuchte ja nicht, Profit aus der Situation zu schlagen und die Schule zu schwänzen, ich fand es nur undenkbar, dem Lauf meines kleinen Lebens zu folgen, während unsere Welt Schiffbruch erlitt.

Aber gut, nun war ich in der Schule, es war kurz vor Mittag, eine Französischstunde, von der ich nicht ein Wort mitbekam. Da sah ich durch das Fenster Kommissar Despart, der mit Monsieur Boisseau sprach, dem Schuldirektor. Ich hatte das

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Gefühl in einer Falle zu sitzen, als ob die ganze Welt gegen mich wäre, gegen uns, und je mehr wir uns wehrten, umso fester zog sich das Netz um uns herum zu.

Zum Mittagessen ging ich nach Hause und brach dort zusam-men. Nur Sophie war da. Sie kümmert sich um den Haushalt und macht mir mein Mittagessen. Ich weinte, sie umarmte mich und weinte auch. Seit acht Jahren arbeitet sie bei uns. Sie sagte: „Deine Mutter hat es mir erzählt, aber ich bin sicher, dass es eine Erklärung für all das gibt. Mach dir keine Sorgen. Brice wird bald wieder zuhause sein.“

An dem Tag bin ich nicht mehr zum Nachmittagsunterricht gegangen. Ich hatte nicht die Kraft dazu. Meine Eltern merkten das noch nicht mal. Ihnen setzte all das noch mehr zu als mir. Sicherlich weil sie Dinge wussten, von denen ich noch keine Ahnung hatte!

Ihre Gesichter machten mir vielleicht am meisten Angst. In ihren Augen war das Unglück deutlich zu sehen. Sie schienen sich schon mit unserem Schicksal abzufinden, während ich erst in der Phase der Bestürzung war, noch Hoffnung hatte, dass diese Geschichte ein riesengroßer Irrtum war, und dass sie sich in ein paar Stunden in eine böse Erinnerung verwandeln wür-de. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr Verzweiflung sah ich in den Augen meiner Eltern.

Glücklicherweise war André sehr präsent. Als Anwalt, aber vor allem auch als Freund. An diesem Abend kam auch seine Frau Elisabeth zu Besuch.

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Sie ist Brice’ Patentante und als sie ankam, umarmte sie uns als wären wir auf einer Beerdigung. Das machte mir Angst und in der Küche stellte ich wütend Papa zur Rede.

„Könnte mir mal jemand sagen, was wirklich los ist?“Papa schaute mich an, als bemerke er eben erst, dass ich

existiere.„Martin. Natürlich, mein Schatz. Bitte entschuldige. Wir

haben dich bei all dem, was passiert ist, wohl vernachlässigt.“Das war so rührend, dass nun die Tränen kamen, die ich

bisher mühsam zurück gehalten hatte. Mein Vater nahm mich in seine Arme und ich begann zu schluchzen wie ein kleines Kind.

„Hör zu. Ich weiß nicht viel, und vor allem nicht, was ich davon halten soll. Aber Brice werden fünf Morde vorge-worfen.“

„Das weiß ich“, schniefte ich.„Das Problem ist, dass die Polizei eine sehr ernstzunehmen-

de Akte gegen ihn hat. Beweise, Zeugenaussagen … Selbst An-dré versteht das alles nicht.“

„Aber das ist doch nicht möglich!“„Ich weiß. Aber alle Tatsachen scheinen das Gegenteil zu

beweisen.“„Und Brice, was sagt er?“„Er sagt natürlich, dass er unschuldig ist. Dass er keine Ah-

nung von dem hat, was man ihm vorwirft.“„Glaubst du ihm?“„Ähm … ja …“„Papa … Du musst ihm glauben!“

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„Ja doch, verdammt, er ist mein Sohn … Er kann das nicht getan haben … aber …“

„Aber was?“„Brice kannte all die Opfer.“„Wer sind denn die Opfer?“„Marie Delcroix, Mark Stanwick, Boris Vaniolski, Christian

Lamoureux und eine gewisse Juliette Bignicourt, die seit drei Monaten vermisst wird.“

Jetzt war es passiert. Die Welt um mich herum war einge-stürzt.

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5Es machte mich verrückt, dass man mir nichts sagte. Ich erfuhr alles nur in kleinen Häppchen, Stück für Stück, und es fehlten mir zu viele Elemente, um wirklich verstehen zu können, was meinem Bruder gerade passierte.

In einem Film oder einem Kriminalroman gibt es alle fünf Minuten plötzlich neue Entwicklungen, man entdeckt alles zur gleichen Zeit wie die Ermittler, man findet mit ihnen die Be-weise, folgt den falschen Spuren, nimmt an der Entwicklung ihrer Vermutungen teil … Aber im wirklichen Leben passiert gar nichts. Man ist nur unglücklich und besorgt. Es gibt den großen Donnerschlag, die Katastrophe, aber die Zeit bleibt nicht stehen. Die Welt dreht sich weiter, die Minuten verrin-nen, dann die Stunden, die Tage, und man fühlt sich völlig ohnmächtig.

Meine Eltern hingegen standen in Kontakt mit der Polizei und wussten sehr viel mehr als ich. Aber ich war ja erst vierzehn Jahre alt, also sagte man mir praktisch nichts! Mama und Papa wollten mich sicherlich schützen, wenn sie die schrecklichsten Nachrichten für sich behielten, aber ich glaube, das ist am Ende viel schlimmer, als Gewissheit zu haben.

Ich ging im Kopf noch mal die Liste der Opfer durch. Ich kannte sie alle. Es fiel mir schwer, sie mir tot vorzustellen, und es war schrecklich. Brutale Bilder aus den Nachrichten oder aus so vielen Filmen gingen mir durch den Kopf: verstümmelte

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Körper, die man irgendwo fand oder die aufgebläht in Flüssen trieben … Mit manchen verknüpfte ich nun Juliettes hübsches Gesicht, ihre honigfarbenen Augen, die jetzt für immer ins Lee-re starren. Ich wüsste lieber genau, wie diese Menschen gestor-ben sind, und vor allem, warum die Polizei denkt, dass Brice sie getötet habe.

Nun gut, er kannte sie! Und ja, er hatte Probleme mit jedem von ihnen gehabt! Aber wie waren die Ermittler auf eine Spur zu meinem Bruder gekommen? Wo war in ihren Augen die Verbindung zwischen den Toten und was deutete auf Brice als ihren Mörder hin?

Als ich Mama und Papa diese Fragen stellte, redeten sie sich heraus, antworteten ausweichend oder gaben vor, nichts Ge-naues zu wissen.

Am Freitag nach dem Unterricht forderte ich, Brice spre-chen zu dürfen. Ich war von Ungewissheit und Schmerz zerfres-sen. Mama antwortete, dass unser Treffen eigentlich für morgen vorgesehen sei. Brice würde auch nach mir verlangen. Wir be-schlossen, den Besuch vorzuziehen und meinen Bruder sofort zu besuchen.

Er betrat den kleinen Raum auf der anderen Seite der Glas-scheibe so blass, von Müdigkeit gezeichnet und mit so leidvol-lem Blick, dass er zehn Jahre älter wirkte als vor drei Tagen, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Ich hatte Mühe, meine Tränen zurückzuhalten. Aber ich schaffte es. Ich wollte nicht vor ihm schlapp machen. Und überhaupt fand ich, ich hätte eh genug geheult in diesen drei Tagen.

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Brice lächelte mich an. Aber es lag keinerlei Freude in dieser Geste. Sie glich eher einer Grimasse und strengte ihn sichtlich an.

„Hallo, Tintin!“Martin: Tintin. Ich hasse diesen Kosenamen, und Brice weiß

das. Es war wohl ein Versuch, ein bisschen Heiterkeit in diese Begegnung zu bringen. Das fand ich gut.

„Wie geht es Ihnen, werter Lockombo?“Ich rief Fox Lockombo wieder ins Leben zurück, unseren

Phantasie-Inspektor, um den wir uns seit mindestens drei Jah-ren nicht mehr gekümmert hatten!

Er war eine Mischung aus Fox Mulder aus der Serie Akte X, dem alten Inspektor Columbo aus dem Fernsehen und Sher-lock Holmes, dem berühmtesten Detektiv Englands. Er hatte eine Menge Abenteuer im Garten des Hauses Nummer 16 in der Domaine de Sans-Souci erlebt! Wenn man mit Lockombo sprach musste man immer „werter“ sagen, damit das Spiel Stil bekam. Das war idiotisch, aber es brachte uns zum Lachen. Mama, die neben mir saß, rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum.

In Anbetracht der Umstände dürften unsere Spielchen sie noch mehr genervt haben als sonst. Trotz der Beruhigungsmit-tel schlief sie jede Nacht schlecht, und ich spürte, dass sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs war.

„Glaubt ihr wirklich, dass das jetzt der richtige Moment für eueren Kinderkram ist?“, giftete sie uns trocken an.

„Wofür ist es denn dann der richtige Moment, was meinst du?“

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Brice antwortete ohne zu zögern und seine Stimme klang ebenso hart wie traurig.

„Um sich aus dem Fenster zu stürzen, vielleicht? Da sind im Moment Gitter davor, vor meinem Fenster …“

Mama antwortete nicht. Sie begann nervös ihre Hände zu kneten. Nach einem Moment des Schweigens, der mir wie eine Ewigkeit vorkam, fügte Brice freundlicher hinzu:

„Mama, bitte, könnte ich mit Martin allein sprechen?“ Mama sah überrascht aus, zögerte, dann erhob sie sich wort-

los. Sie klopfte an die Tür und ein Wärter öffnete ihr. Brice wartete bis sich die Tür wieder geschlossen hatte, dann sprach er weiter:

„Hör zu, du musst mir helfen.“„Wie?“„Ich weiß praktisch überhaupt nicht, was los ist! Nur das,

was ich mir aus den Befragungen erschließen kann.“„Aber ich weiß doch auch nichts!“„Martin, glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich nicht

getan habe, was man mir vorwirft?“„Ja!“„Wirklich? Ich meine … Du zweifelst nicht an mir?“„Natürlich nicht!“Er sah erleichtert aus und fuhr dann fort:„Ich glaube, dass Mama und Papa anfangen, mich für schul-

dig zu halten.“„Aber nein …“„Doch. Es ist ihnen noch nicht bewusst, aber ich sehe, wie

sich ihr Verhalten von Stunde zu Stunde verändert. Ich verstehe

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es nicht, aber ich schwöre dir, dass ich mit all dem nichts zu tun habe. Ich schwöre es dir!“

„Du brauchst nicht zu schwören. Ich weiß, dass du nieman-den getötet hast.“

Brice legte seinen Kopf in die Hände und seufzte. „Ich werde noch verrückt … Ich habe Angst, Martin.“„Ich auch.“„Es ist wie in Treibsand: Je heftiger ich mich wehre, desto

tiefer sinke ich ein. Ich sage den Bullen die Wahrheit, doch immer wendet sie sich gegen mich! Und irgendwie ist es ja auch wahr: Das kann nicht alles ein Zufall sein.“

„Was?“„Die Liste der Opfer! Ich kenne sie alle, ich hatte mit jedem

von ihnen Zoff. Das kann kein Zufall sein!“„Aber warum verdächtigen die Bullen dich?“„Weißt du nicht Bescheid?“„Eben nicht! Niemand sagt mir was!“„Bei jedem Opfer gab es einen Hinweis. Zahlen, Briefe, auch

Worte, die mit einem Messer direkt in ihre Haut geritzt waren.“„Das ist abartig!“„Ja. Aber du ahnst nicht, was für ein Hinweis das immer

war! Unsere Adresse: Domaine de Sans-Souci 16.“Ich öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus, so er-

schlagen war ich von dieser Neuigkeit. „Danach war es für die Bullen natürlich einfach“, erklärte

Brice, „die Vergangenheit der Opfer mit meiner zusammen zu bringen. Marie, mein erster Liebeskummer, Monsieur Lamou-reux, der Lehrer wegen dem ich sitzengelieben bin, Mark, für

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den mich meine Freundin verlassen hat, Vaniolski, der meinen Traum zerstört hat …“

„Und Juliette?“„Ihren Körper hat man noch nicht gefunden. Aber niemand

hat sie seit Marks Tod gesehen. Sie hatten sich gerade eine ge-meinsame Wohnung in Paris gesucht.“

Brice schwieg einen Augenblick, als wolle er mir Zeit lassen, all diese Informationen richtig aufzunehmen.

„Aber warum das alles?“, fragte ich schließlich. „Warum sind sie alle tot?“

„Verdammt, ich weiß es nicht!“Brice Stimme erstarb, und ich sah, dass er mit den Tränen

kämpfte.„Es ist verrückt! Da läuft irgendwo ein Irrer rum, dem es

Spaß zu machen scheint, Leute umzubringen, die ich kannte … Oder aber ich bin ein Monster und weiß nichts davon. Dok-tor Jekyll und Mister Hyde. Tagsüber Student der Filmwissen-schaften und nachts ein Serienkiller.“

„Das scheinen die Bullen zu denken. Für sie erfüllst du alle Kriterien eines Schuldigen!“

„Deswegen brauche ich dich. Du bist der Einzige, der weiter an mich glaubt, auch wenn alles gegen mich spricht.“

„Aber wie kann ich dir helfen?“Brice zuckte mit den Schultern und verzog das Gesicht: „Al-

lein zu wissen, dass es eine Person gibt, die an mich glaubt, hilft mir durchzuhalten.“

Wir schauten uns wortlos in die Augen. In diesem Moment hätte ich mein Leben geopfert, um Brice zu retten, um die Zeit

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drei Tage zurückzudrehen und diesen Albtraum ungeschehen zu machen. Ich wäre so gerne wieder glücklich gewesen, so wie vorher.

„Ich hol dich hier raus.“Der Satz war schwachsinnig, aber ich musste ja irgendwas

sagen. Und außerdem hatte ich auf einmal das Gefühl, ich könnte das. Wie? Keine Ahnung.

Wir hörten den Schlüssel im Schloss hinter mir. Brice legte seine Hand flach an die Scheibe zwischen uns. Ich legte meine Hand dazu, Handfläche an Handfläche, Finger an Finger, mit einem Zentimeter Sicherheitsglas dazwischen.

„Es ist Zeit“, meinte der Wärter, der die Tür öffnete.