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Special | Junge Zielgruppe BuchMarkt September 2012 Minous Geschichte E ine nicht näher verortete Insel, auf der Minou, ihr Vater, ihre Mutter, der Zirkuskünstler Kistenmann sowie ein Priester und ein Hund namens Namenlos leben: Das ist das Setting für „Minous Ge- schichte“ (Bloomsbury), das Debüt von Mette Jakobsen, die in Kopenhagen gebo- ren wurde, heute in Sydney lebt und auf Englisch schreibt. Minous Mutter, die das Haus mit Wand- malereien geschmückt und ihrer Tochter den Wert der Phantasie zu vermitteln ver- sucht hat, ist verschwunden. Das zwölfjäh- rige Mädchen lebt seither mit dem Vater, der ihr schon im Mutterleib die großen Philosophen vorgelesen hat. Als Minou einen toten Jungen im Schnee findet, trägt der Vater ihn ins Zimmer der Mutter; das Fenster weit geöffnet, damit er gefroren bleibt, bis das Versorgungsschiff kommt und ihn mitnimmt. Eine skurrile Welt, die mit großer Selbst- verständlichkeit erzählt wird und viele Bil- der schafft, die man behalten will. Es wird nicht alles erklärt: Ist die Mutter gestor- ben? Wer ist der Junge? Welche Traumata haben Minous Eltern, die einem Krieg ent- kommen sind, zu schultern? „Minous Ge- schichte“ ist ein Lese-Erlebnis, das nicht leicht zu beschreiben ist – deshalb haben wir die Übersetzerin Brigitte Jakobeit ge- beten, uns zu helfen. BuchMarkt: Wie ist Minous Geschichte zu dir gekommen? Brigitte Jakobeit: Über die Lektorin Na- talie Tornai. Wir trafen uns letztes Jahr an Ostern in Wien, und sie erzählte mir von einem wunderbaren Buch, das sie mir zum Übersetzen anbieten wolle. Sie geriet rich- tig ins Schwärmen. Und da ich sie als eine literarisch sehr geschmackssichere Frau kenne und schätze, wollte ich es unbedingt lesen. Und das war’s dann. Ich war absolut hingerissen, wie ich es nicht oft bin, und wusste: Dieses Buch muss ich übersetzen. Und nicht zuletzt fand ich die namentliche Beinah-Übereinstimmung mit der Autorin fast schon ein Zeichen. Kannst du den Zauber der Geschichte erklä- ren, oder ist er dann weg? Erklären weniger, aber für mich ist die Schwerelosigkeit, die Leichtigkeit die- ses Textes vom ersten Satz an vorhanden. „Am Morgen, als ich den toten Jungen fand, schneite es.“ Das klingt kein biss- chen traurig. Ich wollte da sofort wissen, wie es weitergeht. Und dabei hat mich die Erzählstimme der zwölfjährigen Minou so freundlich an die Hand genommen, dass ich ihr zwingend in allem Weiteren folgen wollte und musste. Für mich hat dieses Buch mit all seinen eingesprenkelten ab- surden und surrealen Gedanken und Bil- dern einen großen Sog entwickelt. Einige Buchhändlerinnen fragen: „Wem sollen wir das verkaufen?“ Für junge Leser sei es zu philosophisch, für Erwachsene zu kindlich ... Minous Mutter würde den Buchhändlerin- nen wahrscheinlich antworten: „Wo bleibt eure Phantasie?“ Minous Vater, könnte ich mir vorstellen, würde ihnen sagen: „Allen, die nach der absoluten Wahrheit suchen.“ Und Minou? Keine Ahnung. Ich finde den Wunsch von Buchhändlern, alles nach Kategorien und Genres und Altersstufen einordnen zu können, durchaus nachvoll- ziehbar. Andererseits finde ich es gut und wichtig, dass sich eben nicht alles in Schub- laden pressen lässt. „Minous Geschichte“ ist so ein Buch. Meine Empfehlung wäre: Für jeden geeignet, der sich gern auf ein ungewöhnliches, reizvolles Leseabenteu- er einlässt, abseits vom Mainstream, der schöne Sprache und abwegige Ideen mag. Nach dem ersten Lesen der Geschichte war ich glücklich, aber ich hatte auch das Gefühl, an irgendeiner Stelle etwas verpasst zu haben. 104 Namentliche Beinah-Übereinstimmung als Zeichen: Brigitte Jakobeit (Foto) hat Mette Jakobsen übersetzt – „Minous Geschichte“ hält sie „für jeden geeignet, der sich gern auf ein ungewöhnliches, reizvolles Leseabenteuer einlässt und der schöne Sprache und abwegige Ideen mag“

Brigitte Jakobeit über MINOUS GESCHICHTE

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Brigitte Jakobeit hat Mette Jakobsen übersetzt – „Minous Geschichte“ hält sie „für jedengeeignet, der sich gern auf ein ungewöhnliches, reizvolles Leseabenteuer einlässt und der schöne Sprache und abwegige Ideen mag“

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Page 1: Brigitte Jakobeit über MINOUS GESCHICHTE

Special | Junge Zielgruppe

BuchMarkt September 2012

Minous Geschichte

E ine nicht näher verortete Insel, auf der Minou, ihr Vater, ihre Mutter,

der Zirkuskünstler Kistenmann sowie ein Priester und ein Hund namens Namenlos leben: Das ist das Setting für „Minous Ge-schichte“ (Bloomsbury), das Debüt von Mette Jakobsen, die in Kopenhagen gebo-ren wurde, heute in Sydney lebt und auf Englisch schreibt.

Minous Mutter, die das Haus mit Wand-malereien geschmückt und ihrer Tochter den Wert der Phantasie zu vermitteln ver-sucht hat, ist verschwunden. Das zwölfjäh-rige Mädchen lebt seither mit dem Vater, der ihr schon im Mutterleib die großen Philosophen vorgelesen hat. Als Minou einen toten Jungen im Schnee findet, trägt der Vater ihn ins Zimmer der Mutter; das Fenster weit geöffnet, damit er gefroren bleibt, bis das Versorgungsschiff kommt und ihn mitnimmt.

Eine skurrile Welt, die mit großer Selbst-verständlichkeit erzählt wird und viele Bil-der schafft, die man behalten will. Es wird nicht alles erklärt: Ist die Mutter gestor-

ben? Wer ist der Junge? Welche Traumata haben Minous Eltern, die einem Krieg ent-kommen sind, zu schultern? „Minous Ge-schichte“ ist ein Lese-Erlebnis, das nicht leicht zu beschreiben ist – deshalb haben wir die Übersetzerin Brigitte Jakobeit ge-beten, uns zu helfen.

BuchMarkt: Wie ist Minous Geschichte zu dir gekommen?Brigitte Jakobeit: Über die Lektorin Na-talie Tornai. Wir trafen uns letztes Jahr an Ostern in Wien, und sie erzählte mir von einem wunderbaren Buch, das sie mir zum Übersetzen anbieten wolle. Sie geriet rich-tig ins Schwärmen. Und da ich sie als eine literarisch sehr geschmackssichere Frau kenne und schätze, wollte ich es unbedingt lesen. Und das war’s dann. Ich war absolut hingerissen, wie ich es nicht oft bin, und wusste: Dieses Buch muss ich übersetzen. Und nicht zuletzt fand ich die namentliche Beinah-Übereinstimmung mit der Autorin fast schon ein Zeichen.

Kannst du den Zauber der Geschichte erklä-ren, oder ist er dann weg?Erklären weniger, aber für mich ist die Schwerelosigkeit, die Leichtigkeit die-ses Textes vom ersten Satz an vorhanden.

„Am Morgen, als ich den toten Jungen fand, schneite es.“ Das klingt kein biss-chen traurig. Ich wollte da sofort wissen,

wie es weitergeht. Und dabei hat mich die Erzählstimme der zwölfjährigen Minou so freundlich an die Hand genommen, dass ich ihr zwingend in allem Weiteren folgen wollte und musste. Für mich hat dieses Buch mit all seinen eingesprenkelten ab-surden und surrealen Gedanken und Bil-dern einen großen Sog entwickelt.

Einige Buchhändlerinnen fragen: „Wem sollen wir das verkaufen?“ Für junge Leser sei es zu philosophisch, für Erwachsene zu kindlich ...Minous Mutter würde den Buchhändlerin-nen wahrscheinlich antworten: „Wo bleibt eure Phantasie?“ Minous Vater, könnte ich mir vorstellen, würde ihnen sagen: „Allen, die nach der absoluten Wahrheit suchen.“ Und Minou? Keine Ahnung. Ich finde den Wunsch von Buchhändlern, alles nach Kategorien und Genres und Altersstufen einordnen zu können, durchaus nachvoll-ziehbar. Andererseits finde ich es gut und wichtig, dass sich eben nicht alles in Schub-laden pressen lässt. „Minous Geschichte“ ist so ein Buch. Meine Empfehlung wäre: Für jeden geeignet, der sich gern auf ein ungewöhnliches, reizvolles Leseabenteu-er einlässt, abseits vom Mainstream, der schöne Sprache und abwegige Ideen mag.

Nach dem ersten Lesen der Geschichte war ich glücklich, aber ich hatte auch das Gefühl, an irgendeiner Stelle etwas verpasst zu haben.

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Namentliche Beinah-Übereinstimmung als Zeichen: Brigitte Jakobeit (Foto) hat Mette Jakobsen übersetzt – „Minous Geschichte“ hält sie „für jeden geeignet, der sich gern auf ein ungewöhnliches, reizvolles Leseabenteuer einlässt und der schöne Sprache und abwegige Ideen mag“

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Junge Zielgruppe | Special

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Ich habe es dann noch mal gelesen und wei-tere Facetten entdeckt. Wie ging es dir beim Übersetzen?Das ist doch ein toller Effekt: Glücklich nach der Lektüre, aber irgendwas zwickt und lässt nicht los, gärt weiter. Wenn ein Buch so wirkt, bestens. Da ich beim Über-setzen weitaus langsamer und tiefer vorgehe als beim Lesen, waren die Feinheiten oder Facetten, wie du sagst, für mich von vorn-herein sichtbar. Aber auch nach dem ersten Lesen ist bei mir sehr viel hängen geblieben. Mir war klar, da ist eine Erzählerin in einer sehr abgezirkelten Welt: eine Insel, eine Kir-che, ein Haus, ein Wald mit siebzehn Kie-fern, ein Apfelbaum mit dreihundertzwei Äpfeln, vom Haus bis zum Strand zweihun-dertsechsundsiebzig Schritte, einmal um die Insel in dreiundfünfzig Minuten usw. In die-sem überschaubaren Kosmos braucht man Phantasie, sonst wird man verrückt. Oder man sucht nach der absoluten Wahrheit, und findet sie vielleicht nie ...

Die Geschichte ist komponiert aus der Zerris-senheit zwischen Philosophie und der Suche nach der Wahrheit, verkörpert durch den Vater, auf der einen Seite, und der Kraft der Phantasie, der Welt der Zaubertricks, verkör-pert durch die Mutter, auf der anderen. Minou scheint beide Welten zu verbinden. Warum nur muss die Mutter verschwinden?Natürlich geht es um Phantasie versus Phi-losophie. Ersteres verkörpert durch die Mut-ter, zweites durch den Vater. Ein fruchtbarer Boden für eine vibrierende, konfliktreiche Geschichte. Die Mutter eine Tagträumerin, schillernd, voll verrückter Ideen, mit ihrem Pfau namens Pfau usw. Der Vater, nachdenk-lich, ein bisschen melancholisch, irgendwie beschädigt, aber liebevoll. Dass die beiden aneinandergeraten, ist gut nachvollziehbar, auch wenn es nicht ausgesprochen und nur an manchen Stellen spürbar wird. Für mich war trotzdem klar, in dieser Ehe gab es Pro-bleme. Deshalb geht die Mutter ja weg. Viel-leicht hätte sie nicht verschwinden müssen, aber sie tut es eben. Punkt.

Glaubst du, dass sie tot ist?Ja, natürlich. Minou beschreibt, wie sie am letzten Tag, in roten Stöckelschuhen und mit schwarzem Regenschirm, in Richtung Strand verschwindet. Übrigens ein Bild, das sich mir ganz fest eingebrannt hat. Ich sehe es sofort vor mir. Ihr Schuh wird später gefunden. Wie gesagt, es wird nicht ausgesprochen, aber eine mögliche Lesart ist: Die Mutter hatte etwas mit dem ande-

ren Mann auf der Insel, war unglücklich mit dem eigenen, wusste nur einen Aus-weg. Wunderbar wiederum ist, und auch sehr tröstlich, dass Minou keine Sekunde daran zweifelt, die Mutter sei nur verreist und komme bald wieder. Eine andere Möglichkeit kommt für sie nicht in Frage. Sie gibt nie die Hoffnung auf.

Glaubst du, dass die Mutter Cosmina ist?Nein, die Idee ist mir nie gekommen. Aber jetzt, wo du’s sagst ... Müsste ich noch mal nachdenken.

Ein toter Junge, dessen Herkunft ungeklärt bleibt, bringt Vater und Tochter dazu, das Ver-schwinden der Mutter erneut zu durchleben. Das scheint alle Inselbewohner am Ende wie-der näher zueinander zu führen.Jeder Tod ist mit Verlust verbunden, und das lässt die Menschen zusammenrücken. So jedenfalls sollte es ein. Im Fall von

„Minous Geschichte“ ist der tote Junge nicht nur ein Aufhänger für die Geschichte, sie wird mit ihm am Ende auch in einer feierlichen Prozession zu Grabe getragen, wenn man so will.

Der Mutter ist jeder Pinselstrich wichtig, der Va-ter möchte das große Bild betrachten ... Das lässt sich schön aufs Übersetzen über-tragen: Man muss auf jedes Wort achten, um sprachlich richtige Akzente zu setzen, darf dabei aber nicht das große Ganze aus den Augen verlieren, die Geschichte. Ich finde den Schluss des Buches großartig und natürlich auch eine Schlüsselszene: Als Minou das Vogelskelett in ihrer Brust spürt, die wild schlagenden Flügel an den Rippen, als wollte etwas heraus und davonfliegen. Ein großer Augenblick, den Minou auf eine schlichte Wahrheit herun-terbricht, nämlich dass sie die Menschen in ihrer Umgebung liebt. Das ist ihre einzi-ge Gewissheit.

Wie viel Verstand und Logik, wie viel Phanta-sie ist notwendig beim Übersetzen?Verstand, Phantasie, Bauchgefühl – die-ses Trio gut proportional verteilt ist die optimale Voraussetzung für eine schöne Übersetzung. Mette Jakobsen hat ein sprachlich großartiges Original geliefert. Und je besser die Vorlage, umso leichter die Übersetzung. Und auch umso besser.

Kannst du Kuchen backen?Nein. Übersetzen kann ich viel besser.

Die Fragen stellte Susanna Wengeler

www.gerstenberg-verlag.de

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