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informationen 89 | Seite 41 informationen 89 | Seite 41 Buchbesprechungen Neuzugänge Dorothee Haentjes-Holländer: Paul und der Krieg. Als 15-Jähriger im Zweiten Welt- krieg. München: arsEdition, 2019 Enrico Heitzer; Martin Jander; Anetta Kahane u.a. (Hg.): Nach Auschwitz: Schwie- riges Erbe DDR. Plädoyer für einen Paradig- menwechsel in der DDR-Zeitgeschichtsfor- schung. Frankfurt a.M.: Wochenschau, 2018 Herwig Czech; Wolfgang Neugebauer; Peter Schwarz (Hg.): Der Krieg gegen die „Minderwertigen“. Zur Geschichte der NS-Medizin in Wien. Wien: Dokumenta- tionsarchiv des österreichischen Widerstan- des, 2018 Darmstädter Geschichtswerkstatt (Hg.): Darmstädter Biografien 1933–1945. Be- gleitheft 4. Darmstadt, 2019 Darmstädter Geschichtswerkstatt (Hg.): Darmstädter Biografien 1933–1945. Be- gleitheft 3. Darmstadt, 2019 Zentralrat Deutscher Sinti und Roma (Hg.): Grenzen im politischen Meinungskampf. Zum Verbot rassistisch-diskriminierender Wahlkampagnen. Heidelberg: Selbstver- lag, 2017 Wolfgang Benz, Johannes Czwalina, Dan Shambicco (Hg.): Nie geht es nur um Ver- gangenheit. Schicksale und Begegnungen im Dreiland 1933–1945. Köln: Dittrich, 2018 Dieter Fauth: Anna Seghers - eine jüdische Kommunistin gegen das NS-Regime - im Licht ihrer Freundinnen. Frankfurt a.M.: Verlag Religion & Kultur, 2019 Maria-Luise Bertram, Edith Findel, Martha Metzger: Augsburger Frauen im Wider- stand. Frauen, die dem Widerstand gegen das NS-Regime verbunden waren. Augs- burg: Selbstverlag, 2015 Katrin Hammerstein: Gemeinsame Vergan- genheit – getrennte Erinnerung? Der Natio- nalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen von Bundesre- publik Deutschland, DDR und Österreich. Göttingen: Wallstein, 2017 Angelika Arenz-Morch; Stefan Heinz (Hg.): Gewerkschafter im Konzentrationslager Osthofen 1933/34. Biografisches Hand- buch. Berlin: Metropol, 2019 Isabel Enzenbach (Hg.): Angezettelt. Anti- semitische Aufkleber und Gegenwehr. Begleitheft zur Ausstellung. Berlin: hauser lacour, 2014 Zentralrat Deutscher Sinti und Roma (Hg.): Doppeltes Unrecht - eine späte Entschuldi- gung. Gemeinsames Symposium des Bun- desgerichtshofs und des Zentralrats Deut- scher Sinti und Roma zu den Urteilen vom 7. Januar 1956. Eggenstein: Stober, 2016 Kirche und NS – auf welcher Seite? Der Titel des faktenreichen Bandes von Lutz Becht könnte vermuten lassen, es handele sich um eine auf einen relativ kleinen Ausschnitt konzentrierte Studie über Kirche im Nationalsozialismus. Das ist natürlich korrekt, tatsächlich aber bietet das Buch sehr viel mehr: eine lebendige Darstellung des „Kirchenkamp- fes“ nach 1933. Anhand der damals tätigen Prota- gonisten in der Frankfurter Reformierten Gemeinde verdeutlicht Becht, zu welchen Auseinandersetzungen es kam und wie schwer die Wunden zu heilen waren. „Die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit ist ein sensibles Thema“, stellt die heutige Pfarrerin der Gemeinde, Susanne bei der Wieden, im Geleitwort fest. Der Kirchenvorstand hat die Forschungsarbeit in Auftrag gegeben, da es auch Jahrzehnte nach Kriegs- ende immer noch sehr unterschiedliche Narrative zum Verhalten während der NS-Zeit gab. Ein „nur gutes“ oder ein „nur böses“ Handeln habe es nicht gege- ben. Die Grauzonen werden durch das Erschließen der – eher spärlichen – Quellen deutlich. Lutz Becht wertete vor allem das „Reformierte Kirchenblatt“ und verschiedene Korrespondenzen systematisch aus. Die Geschichte der Reformierten Gemeinde in Frank- furt geht bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts zurück. Ihr Zentrum war das 1793 errichtete Bethaus am Kornmarkt, das 1944 durch Bombenangriffe zer- stört wurde. 1933 zählte die Gemeinde rund 15.000 Mitglieder. Einer ihrer Pfarrer war Erich Meyer, ein national-konservativ gesinnter Mann und Schriftleiter des Kirchenblatts, der den Zielen der NSDAP schon vor der Machtübernahme zumindest nahestand. Den frühen Übergriffen gegen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger setzte er nichts entgegen; sein „Alltags- antisemitismus“ (L. Becht) zieht sich durch seine Pre- digten und Schriften. Seine Positionen machen ihn zu einem eindeutigen Vertreter der Deutschen Christen, die sich eng am Nationalsozialismus orientierten und zum Auslöser des Kirchenkampfes wurden. Aber nicht alle Verantwortlichen und Mitglieder der Frankfurter Reformierten Gemeinde passten sich so eifrig an das Regime an. Als 1935 ein neuer Pfarrer eingestellt werden musste, wurden ausschließlich Kandidaten befragt, die der Bekennenden Kirche nahestanden und sich gegen die Gleichschaltung zur Wehr setzten. Der schließlich gewählte Pfarrer Wilhelm Schümer war tatsächlich ein Antipode zu Pfarrer Meyer: Er benannte das Unrecht an Juden und anderen Verfolgten des Regimes. Wegen seiner deutlichen Worte in der Bußtagspredigt von 1935 wurde er von Gemeindemitgliedern angezeigt; die Anklage wurde später durch eine Amnestie während der Olympischen Spiele von 1936 fallengelassen. Nach weiteren Konflikten wegen des Zeigens von Hakenkreuzfahne und Hitlerbild gab Schümer 1937 sein Amt in Frankfurt ab. Die Reformierte Gemeinde Frankfurts zeigt also ein recht genaues Spiegelbild der evangelischen Kir- chen in der NS-Zeit: Unter ihrem Dach fanden sich Anpasser, Mitläufer und auch Täter auf der einen Seite, Gegner des Regimes und Widerständler auf der anderen. Wie viele Schattierungen es gab, illus- triert der Fall von Schwester Elisabeth Neumann. Sie war das Kind jüdischer Eltern und wurde 1900 in der Reformierten Kirche Frankfurts getauft. Der Gemeinde war sie seit 1925 als Helferin, später als Gemeindeschwester verbunden. Ab 1938 verboten ihr die NS-Gesetze den Dienst an Kranken, von der Reformierten Gemeinde wurde sie – auf Betreiben von Pfarrer Meyer – ein Jahr später entlassen. Der drohenden Deportation konnte sie durch Flucht in die Schweiz entgehen. Nach dem Krieg schrieb der Reformierte Gemeindevorstand einen Brief an sie und bat – als ob nichts geschehen wäre – um Wiederauf- nahme ihrer Tätigkeit. Sie nahm das Angebot an und kehrte nach Frankfurt und an ihren früheren Arbeits- platz zurück. Die Distanz zu Pfarrer Meyer aber blieb begreiflicherweise; nach einer Aussprache 1947 galt die Angelegenheit aber als geklärt. Pfarrer Meyer wurde trotz seiner Verstrickungen von der Spruch- kammer als „entnazifiziert“ erklärt, nicht zuletzt weil er gewichtige Fürsprecher fand. Lutz Bechts Arbeit führt ein in den begrenzten Kreis einer spezifischen Reformierten Gemeinde in Frank- furt, sie öffnet gleichzeitig den Blick auf das Verhal- ten der Kirchen, ihrer Vertreter und Mitglieder wäh- rend des Nationalsozialismus. An den dargestellten Persönlichkeiten zeigt sich, was für alle Deutschen damals galt: Es gab immer eine Möglichkeit, sich zu entscheiden – für die eine oder die andere Seite. Lutz Becht: Die deutsche evangelisch-reformierte Gemeinde Frankfurt am Main im Nationalsozialis- mus. Solingen: Foedus-Verlag, 2018 Gabriele Prein Ein Buch gegen das Vergessen „Gegen das Vergessen“ – so der Titel der vorgelegten Dokumentation von Dirk Krüger zu Leben und Werk der fünf Wuppertaler Arbeiterschriftsteller und Wider- standskämpfer Werner Möller, Emil Ginkel, Peter Kast, Werner Eggerath und Walter Gorrish. In biografischen Skizzen, punktuell ergänzt durch vertiefende histo- rische Informationen, und einer kommentierenden literarischen Einordung ihrer Texte, stellt Krüger die fünf Persönlichkeiten vor. Der zweite Teil des Bandes enthält Gedichte und Auszüge aus den Werken und verdeutlicht die unmittelbare Umsetzung des persön- lich Erlebten in literarische Formen. In der Stadt an der Wupper – Mitte des 19. Jahrhun- derts Zentrum der Textilindustrie – hatte sich über Generationen ein in der Arbeiterschaft vitales pro- letarisches Bewusstsein entwickelt, das zunehmend den Wert seiner Arbeit erkannte und selbstbewusst verbesserte Lebensbedingungen forderte, unterstützt durch die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbe- wegung. Demgegenüber standen das wilhelminische Herrschaftsgefüge und an seiner Seite das Militär. Für Werner Möller ist die Zustimmung der Sozialdemo- kraten zu den Kriegskrediten Verrat an der gemein- samen Sache. Mit seinen Kriegsgedichten klagt er an. Wiederkehrendes Motiv: „Menschenbrüder“, die gegenseitig als Feind bezeichnet, nur im Tod vereint sind: „und die jungen Leichen zerhacken die Raben“. Er geht nach Berlin, beteiligt sich an den revolutio- nären Kämpfen von 1919, ist einer der Besetzer des „Vorwärts“-Gebäudes. Nach schwerem Beschuss tritt er mit fünf anderen weißbeflaggten Parlamentären aus dem Gebäude; sie werden zusammengeschlagen und im Hof der Garde-Dragonerkaserne umstandslos erschossen. Bei seiner Ermordung ist Werner Möller 31 Jahre. Der Erste Weltkrieg, der Kapp-Putsch 1920, der Beginn des staatlichen Hitler-Faschismus 1933 und der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936 sind Ereignisse, die die Lebenswege von Peter Kast, Werner Eggerath und Walter Gorrish auf unter- schiedliche Weise markieren. Nach seinem Dienst auf einem Torpedoboot im Ersten Weltkrieg wird Kast zum Kriegsgegner. Es entwickelt sich bei ihm durch vielfältige Kontakte ein „Internationalismus, der neben meinem politisch-literarischen Streben zum bewegenden Impuls meines Lebens werden sollte.“ Als Mitarbeiter der „Roten Fahne“ gerät er ins Visier der Gestapo, wird zu drei Monaten Haft verurteilt und emigriert anschließend nach Prag. 1937 kämpft

Buchbesprechungen Neuzugänge · 2019. 11. 19. · Gedichte sind von der ungeheuren Wucht harter Arbeit geprägt, vom Stolz auf deren Wert sowie der Überzeugung von der gesellschaftsverändernden

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Buchbesprechungen Neuzugänge

Dorothee Haentjes-Holländer: Paul und der Krieg. Als 15-Jähriger im Zweiten Welt-krieg. München: arsEdition, 2019

Enrico Heitzer; Martin Jander; Anetta Kahane u.a. (Hg.): Nach Auschwitz: Schwie-riges Erbe DDR. Plädoyer für einen Paradig-menwechsel in der DDR-Zeitgeschichtsfor-schung. Frankfurt a.M.: Wochenschau, 2018

Herwig Czech; Wolfgang Neugebauer; Peter Schwarz (Hg.): Der Krieg gegen die „Minderwertigen“. Zur Geschichte der NS-Medizin in Wien. Wien: Dokumenta-tionsarchiv des österreichischen Widerstan-des, 2018

Darmstädter Geschichtswerkstatt (Hg.): Darmstädter Biografi en 1933–1945. Be-gleitheft 4. Darmstadt, 2019

Darmstädter Geschichtswerkstatt (Hg.): Darmstädter Biografi en 1933–1945. Be-gleitheft 3. Darmstadt, 2019

Zentralrat Deutscher Sinti und Roma (Hg.): Grenzen im politischen Meinungskampf. Zum Verbot rassistisch-diskriminierender Wahlkampagnen. Heidelberg: Selbstver-lag, 2017

Wolfgang Benz, Johannes Czwalina, Dan Shambicco (Hg.): Nie geht es nur um Ver-gangenheit. Schicksale und Begegnungen im Dreiland 1933–1945. Köln: Dittrich, 2018

Dieter Fauth: Anna Seghers - eine jüdische Kommunistin gegen das NS-Regime - im Licht ihrer Freundinnen. Frankfurt a.M.: Verlag Religion & Kultur, 2019

Maria-Luise Bertram, Edith Findel, Martha Metzger: Augsburger Frauen im Wider-stand. Frauen, die dem Widerstand gegen das NS-Regime verbunden waren. Augs-burg: Selbstverlag, 2015

Katrin Hammerstein: Gemeinsame Vergan-genheit – getrennte Erinnerung? Der Natio-nalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen von Bundesre-publik Deutschland, DDR und Österreich. Göttingen: Wallstein, 2017

Angelika Arenz-Morch; Stefan Heinz (Hg.): Gewerkschafter im Konzentrationslager Osthofen 1933/34. Biografi sches Hand-buch. Berlin: Metropol, 2019

Isabel Enzenbach (Hg.): Angezettelt. Anti-semitische Aufkleber und Gegenwehr. Begleitheft zur Ausstellung. Berlin: hauser lacour, 2014

Zentralrat Deutscher Sinti und Roma (Hg.): Doppeltes Unrecht - eine späte Entschuldi-gung. Gemeinsames Symposium des Bun-desgerichtshofs und des Zentralrats Deut-scher Sinti und Roma zu den Urteilen vom 7. Januar 1956. Eggenstein: Stober, 2016

Kirche und NS – auf welcher Seite?

Der Titel des faktenreichen Bandes von Lutz Becht könnte vermuten lassen, es handele sich um eine auf einen relativ kleinen Ausschnitt konzentrierte Studie über Kirche im Nationalsozialismus. Das ist natürlich korrekt, tatsächlich aber bietet das Buch sehr viel mehr: eine lebendige Darstellung des „Kirchenkamp-fes“ nach 1933. Anhand der damals tätigen Prota-gonisten in der Frankfurter Reformierten Gemeinde verdeutlicht Becht, zu welchen Auseinandersetzungen es kam und wie schwer die Wunden zu heilen waren.„Die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit ist ein sensibles Thema“, stellt die heutige Pfarrerin der Gemeinde, Susanne bei der Wieden, im Geleitwort fest. Der Kirchenvorstand hat die Forschungsarbeit in Auftrag gegeben, da es auch Jahrzehnte nach Kriegs-ende immer noch sehr unterschiedliche Narrative zum Verhalten während der NS-Zeit gab. Ein „nur gutes“ oder ein „nur böses“ Handeln habe es nicht gege-ben. Die Grauzonen werden durch das Erschließen der – eher spärlichen – Quellen deutlich. Lutz Becht wertete vor allem das „Reformierte Kirchenblatt“ und verschiedene Korrespondenzen systematisch aus.Die Geschichte der Reformierten Gemeinde in Frank-furt geht bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts zurück. Ihr Zentrum war das 1793 errichtete Bethaus am Kornmarkt, das 1944 durch Bombenangriffe zer-stört wurde. 1933 zählte die Gemeinde rund 15.000 Mitglieder. Einer ihrer Pfarrer war Erich Meyer, ein national-konservativ gesinnter Mann und Schriftleiter des Kirchenblatts, der den Zielen der NSDAP schon vor der Machtübernahme zumindest nahestand. Den frühen Übergriff en gegen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger setzte er nichts entgegen; sein „Alltags-antisemitismus“ (L. Becht) zieht sich durch seine Pre-digten und Schriften. Seine Positionen machen ihn zu einem eindeutigen Vertreter der Deutschen Christen, die sich eng am Nationalsozialismus orientierten und zum Auslöser des Kirchenkampfes wurden.Aber nicht alle Verantwortlichen und Mitglieder der Frankfurter Reformierten Gemeinde passten sich so eifrig an das Regime an. Als 1935 ein neuer Pfarrer eingestellt werden musste, wurden ausschließlich Kandidaten befragt, die der Bekennenden Kirche nahestanden und sich gegen die Gleichschaltung zur Wehr setzten. Der schließlich gewählte Pfarrer Wilhelm Schümer war tatsächlich ein Antipode zu Pfarrer Meyer: Er benannte das Unrecht an Juden und anderen Verfolgten des Regimes. Wegen seiner deutlichen Worte in der Bußtagspredigt von 1935 wurde er von Gemeindemitgliedern angezeigt; die Anklage wurde später durch eine Amnestie während der Olympischen Spiele von 1936 fallengelassen. Nach weiteren Konfl ikten wegen des Zeigens von Hakenkreuzfahne und Hitlerbild gab Schümer 1937 sein Amt in Frankfurt ab.Die Reformierte Gemeinde Frankfurts zeigt also ein recht genaues Spiegelbild der evangelischen Kir-chen in der NS-Zeit: Unter ihrem Dach fanden sich Anpasser, Mitläufer und auch Täter auf der einen Seite, Gegner des Regimes und Widerständler auf der anderen. Wie viele Schattierungen es gab, illus-triert der Fall von Schwester Elisabeth Neumann. Sie war das Kind jüdischer Eltern und wurde 1900 in der Reformierten Kirche Frankfurts getauft. Der Gemeinde war sie seit 1925 als Helferin, später als Gemeindeschwester verbunden. Ab 1938 verboten ihr die NS-Gesetze den Dienst an Kranken, von der Reformierten Gemeinde wurde sie – auf Betreiben von Pfarrer Meyer – ein Jahr später entlassen. Der drohenden Deportation konnte sie durch Flucht in die Schweiz entgehen. Nach dem Krieg schrieb der Reformierte Gemeindevorstand einen Brief an sie und bat – als ob nichts geschehen wäre – um Wiederauf-nahme ihrer Tätigkeit. Sie nahm das Angebot an und

kehrte nach Frankfurt und an ihren früheren Arbeits-platz zurück. Die Distanz zu Pfarrer Meyer aber blieb begreifl icherweise; nach einer Aussprache 1947 galt die Angelegenheit aber als geklärt. Pfarrer Meyer wurde trotz seiner Verstrickungen von der Spruch-kammer als „entnazifi ziert“ erklärt, nicht zuletzt weil er gewichtige Fürsprecher fand. Lutz Bechts Arbeit führt ein in den begrenzten Kreis einer spezifi schen Reformierten Gemeinde in Frank-furt, sie öff net gleichzeitig den Blick auf das Verhal-ten der Kirchen, ihrer Vertreter und Mitglieder wäh-rend des Nationalsozialismus. An den dargestellten Persönlichkeiten zeigt sich, was für alle Deutschen damals galt: Es gab immer eine Möglichkeit, sich zu entscheiden – für die eine oder die andere Seite.

Lutz Becht: Die deutsche evangelisch-reformierte Gemeinde Frankfurt am Main im Nationalsozialis-mus. Solingen: Foedus-Verlag, 2018

Gabriele Prein

Ein Buch gegen das Vergessen

„Gegen das Vergessen“ – so der Titel der vorgelegten Dokumentation von Dirk Krüger zu Leben und Werk der fünf Wuppertaler Arbeiterschriftsteller und Wider-standskämpfer Werner Möller, Emil Ginkel, Peter Kast, Werner Eggerath und Walter Gorrish. In biografi schen Skizzen, punktuell ergänzt durch vertiefende histo-rische Informationen, und einer kommentierenden literarischen Einordung ihrer Texte, stellt Krüger die fünf Persönlichkeiten vor. Der zweite Teil des Bandes enthält Gedichte und Auszüge aus den Werken und verdeutlicht die unmittelbare Umsetzung des persön-lich Erlebten in literarische Formen.In der Stadt an der Wupper – Mitte des 19. Jahrhun-derts Zentrum der Textilindustrie – hatte sich über Generationen ein in der Arbeiterschaft vitales pro-letarisches Bewusstsein entwickelt, das zunehmend den Wert seiner Arbeit erkannte und selbstbewusst verbesserte Lebensbedingungen forderte, unterstützt durch die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbe-wegung. Demgegenüber standen das wilhelminische Herrschaftsgefüge und an seiner Seite das Militär.Für Werner Möller ist die Zustimmung der Sozialdemo-kraten zu den Kriegskrediten Verrat an der gemein-samen Sache. Mit seinen Kriegsgedichten klagt er an. Wiederkehrendes Motiv: „Menschenbrüder“, die gegenseitig als Feind bezeichnet, nur im Tod vereint sind: „und die jungen Leichen zerhacken die Raben“. Er geht nach Berlin, beteiligt sich an den revolutio-nären Kämpfen von 1919, ist einer der Besetzer des „Vorwärts“-Gebäudes. Nach schwerem Beschuss tritt er mit fünf anderen weißbefl aggten Parlamentären aus dem Gebäude; sie werden zusammengeschlagen und im Hof der Garde-Dragonerkaserne umstandslos erschossen. Bei seiner Ermordung ist Werner Möller 31 Jahre.Der Erste Weltkrieg, der Kapp-Putsch 1920, der Beginn des staatlichen Hitler-Faschismus 1933 und der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936 sind Ereignisse, die die Lebenswege von Peter Kast, Werner Eggerath und Walter Gorrish auf unter-schiedliche Weise markieren. Nach seinem Dienst auf einem Torpedoboot im Ersten Weltkrieg wird Kast zum Kriegsgegner. Es entwickelt sich bei ihm durch vielfältige Kontakte ein „Internationalismus, der neben meinem politisch-literarischen Streben zum bewegenden Impuls meines Lebens werden sollte.“ Als Mitarbeiter der „Roten Fahne“ gerät er ins Visier der Gestapo, wird zu drei Monaten Haft verurteilt und emigriert anschließend nach Prag. 1937 kämpft

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Neuzugänge

Nora Krug: Heimat. Ein deutsches Familien-album. München: Penguin Verlag, 2018

Daimler AG (Hg.): Edith Bán-Kiss: Das Album Déportation. Sonderedition anläss-lich einer Ausstellung vom 27. Januar bis 28. März 2018 in der KZ-Gedenkstätte Neckarelz. Berlin 2018

Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2018

Susanne Heim, Ulrich Herbert, Michael Hollmann u.a. (Hg.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Band 13: Slowakei, Rumänien und Bulgarien. Berlin: de Gruyter, 2018

Simha Rotem: Kazik. Erinnerungen eines Ghettokämpfers. Berlin: Assoziation A, 2017

Fritz Bauer: Kleine Schriften (1921–1969). 2 Bände. Frankfurt a. M.: Campus, 2018

Alexander Zinn: „Aus dem Volkskörper ent-fernt“? Homosexuelle Männer im National-sozialismus. Frankfurt a. M.: Campus, 2018

Julius H. Schoeps: Düstere Vorahnungen. Deutschlands Juden am Vorabend der Kata-strophe. Berlin: Hentrich & Hentrich, 2018

Adam Kopciowski: Panstwowe Muzeum na Majdanku / Museum Majdanek: Lejba (Leon) Felhendler, A biographical sketch, Lublin 2018

Gedenkstätte des Lagers von Les Milles: Lager von Les Milles, Von unserer Vergan-genheit lernen. Für heute für morgen. Aix-en-Provence 2018

Aktives Museum Faschismus und Wider-stand in Berlin e.V. (Hg.): Berliner Biblio-theken im Nationalsozialismus. Eine Son-derausstellung anlässlich der Bücherver-brennung vor 85 Jahren-Berlin: Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin e.V., 2018

Jens Lehmann, Frank Lüttig: Die letzten NS-Verfahren. Genugtuung für Opfer und Angehörige - Schwierigkeiten und Versäum-nisse der Strafverfolgung. Baden-Baden: Nomos, 2017

Jan Erik Schulte, Michael Wildt (Hg.): Die SS nach 1945. Entschuldungsnarrative, populäre Mythen, europäische Erinnerungs-diskurse. Göttingen: V&R unipress, 2018

Darmstädter Geschichtswerkstatt (Hg.): Darmstädter Biograf ien 1933-1945. Begleitheft 3. Hermann Falck, Elisabeth Kern, Heinrich Riegel, Karlheinz Spalt/Keith Spalding, Martin Wick. Darmstadt: Selbstverlag, 2019

er in Spanien gegen die Faschisten, nach deren Sieg steht er in der Reihe der französischen Résistance. Denkend und schreibend hat Kast all das in Romanen und Berichten verarbeitet.Ähnlich und doch ganz anders verläuft der Weg von Walter Gorrish. Kurz vor Ablauf seiner zweijährigen Zuchthausstrafe wegen angeblichen Hochverrats wird er zum Strafbataillon 999 abkommandiert. Nach einem Einsatz in Griechenland geht es zum Tataren-wall ans Schwarze Meer. Nachdem die Rotarmisten den Wall überrannt haben, kann sich Gorrish glaub-haft als Widerstandskämpfer ausweisen und kämpft von nun an mit ihnen gegen den Hitler-Faschismus. Erst in dieser bewegten Zeit entdeckt Gorrish für sich die Kraft des Wortes; er beginnt zu schreiben. Als Werner Eggerath 1935 als KPD-Mitglied zu einer 15-jährigen Zuchthausstrafe wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt wird, ist er 35 Jahre alt. Dem Urteil vorausgegangen war eine mehrwöchige Foltertortur, bei der es für ihn um eine existenzielle Frage ging: Reden oder Schweigen? Er entschied sich für Schweigen, wollte um keinen Preis seine Kampfge-fährten verraten, warf sein Leben in die Waagschale und überlebte. In dem Roman „Nur ein Mensch“ hat er das Martyrium verarbeitet, das seinem Schweige-gebot folgte. Ende 1944, der Krieg nähert sich dem Ende und damit auch seine Haft, wird er auf ein „Himmelfahrtskommando“ geschickt: Bombenblind-gänger ausgraben und entschärfen, ohne zu wissen wie. Auch das überlebt er. Nach der Befreiung geht er nach Eisleben, wird später Mitglied des Thüringer Landtags und 1947 zum Ministerpräsidenten des Landes gewählt. 1960 tritt er aus gesundheitlichen Gründen von all seinen Ämtern zurück und arbeitet bis zu seinem Tod 1977 als freier Schriftsteller. Er hin-terlässt ein umfangreiches literarisches Erbe: Romane, Essays, Berichte und Reportagen. Ihre Kraft beziehen sie aus dem persönlichen Erleben der Kämpfe gegen den Faschismus und seinen vielfältigen Erfahrungen als Arbeiter.Emil Ginkel gibt Kenntnis über sein Leben: „Ich war mein Leben l ang verpflichtet! Ich wurde nie als Mensch befragt. Ich hasse, die mich abgerich-tet und meine Freunde in den Tod gejagt.“ Seine Gedichte sind von der ungeheuren Wucht harter Arbeit geprägt, vom Stolz auf deren Wert sowie der Überzeugung von der gesellschaftsverändernden Kraft der Sprache. Ginkel arbeitete ab 1933 illegal für die KPD.Es wundert nicht, dass das literarische Vermächtnis der hier vorgestellten Arbeiterdichter bei uns wenig bekannt ist, in der DDR jedoch fester Bestandteil der antifaschistischen Arbeiterliteratur war. Dirk Krüger ist zu danken für dieses Buch, das nicht nur dem Vergessen entgegenwirkt, sondern eine Entdeckung für alle geschichtsinteressierten Nachgeborenen ist.

Dirk Krüger: Gegen das Vergessen – Fünf Wuppertaler Arbeiterschrif tsteller und Wi-derstandskämpfer gegen die Nazi-Diktatur stellen sich vor. Wuppertal: Nordpark Verlag, 2018

Christel Herrmann

Mit List durch den NS-Schulalltag laviert

In ihrer Biografi e über Käthe Heisterbergk beleuchtet Ingrid Fuchs eine Institution, die während der NS-Zeit nicht sonderlich intensiv beachtet wurde: die Schule. Im vorliegenden Fall geht es um eine renommierte Frankfurter Privatschule für Mädchen, die Anna-Schmidt-Schule. Wie sah der Alltag der Schülerinnen ab 1933 aus? Wie verhielten sich die Lehrkräfte, und was konnte eine couragierte Direktorin ausrichten?Privatschulen waren bei den Nazis nicht gern gese-hen; sie verkörperten die Bildungsideale einer Elite,

die sich aus religiösen oder weltanschaulichen Grün-den von der „Volksgemeinschaft“ distanzierte. In Frankfurt war die 1886 gegründete Schule die ein-zige Privatschule, die von den NS-Behörden geduldet wurde. Ihr guter Ruf als Institut für Töchter aus der Bürgerschaft war über Jahrzehnte gewachsen, sodass selbst Nazi-Größen ihre Kinder gern dorthin schickten. In der gesamten Zeit zwischen 1933 bis 1945 gab es aber kein Anzeichen, dass sich die Schule dem Nationalsozialismus ergeben oder sich „gleichgeschaltet“ hätte. Diese aufrechte Haltung ist dem Verdienst der seit 1927 tätigen Direktorin Käthe Heisterbergk zu verdanken. Die Biografi n Ingrid Fuchs war selbst lange Jahre als Lehrerin für Deutsch, Geschichte und Politik an der – heute weitaus größeren – Anna-Schmidt-Schule tätig. Anlässlich des 125. Jubiläums begann sie zu forschen, wie ihre Schule seinerzeit einen Weg zwischen Anpas-sung und Widerstand gefunden hatte. Ausführlich schildert sie den biografi schen Hintergrund von Käthe Heisterbergk, die 1927 aus Hamburg kommend die Schulleitung übernahm. Dass sie alleinerziehende Mutter war, zeugt vom liberalen Geist der Schule und des Trägervereins. Die Quellenlage war schwierig; Fuchs hatte die Aussagen ehemaliger Schülerinnen, aber wenig andere Dokumente über die „Rex“, wie die Lehrerin bewundernd genannt wurde. Heisterbergk äußerte sich nicht öff entlich gegen die NS-Behörden oder einzelne Vertreter. Sie wollte alles tun, um die Schule als Ort für ihre „arischen“ und die zahlreichen jüdischen Schülerinnen zu erhalten – also agierte sie mit List. Um das Hissen der Hakenkreuz-fahne zu umgehen, führte sie eine Schulfahne mit athenischer Eule ein. Damit keine BDM-Uniformen im Klassenraum auftauchten, wurde eine Schuluniform (blauer Rock, weiße Bluse) eingeführt. Nach einem Autounfall 1936 war die Bewegung von Heister-bergks rechtem Arm eingeschränkt – den Hitlergruß konnte sie nun nicht mehr ausführen. Nach einer Ermahnung durch NS-Größen, die Weihnachtsge-schichte habe im Unterricht nichts zu suchen, wurde der Bibeltext fortan auf Lateinisch verlesen – zur Übung der alten Sprache. Bis auf die Schulfahrten erstreckte sich der „konstruktive Widerstand“: Das frü-here Domizil unweit des Obersalzbergs wurde gemie-den und stattdessen ein Ziel in Italien ausgewählt. Auch im Unterrichtsstoff gelang es der Anna-Schmidt-Schule, möglichst auf Distanz zu den ab 1933 herr-schenden Unterrichtsstoff en zu gehen, was faktisch nur an einer Privatschule möglich war. Nachdrücklich setzte sich Käthe Heisterbergk für ihre jüdischen Schülerinnen ein. Ihr Anteil war mit 23,5 Prozent im Jahr 1936 – verglichen mit anderen Frankfurter Schu-len – ungewöhnlich hoch, nahm jedoch im späteren Verlauf ab (konkrete Daten liegen allerdings nicht vor). Ab 1938 war es deutschen Schulen verboten, jüdische SchülerInnen zu unterrichten. Heisterbergk leistete dieser Anordnung nicht Folge.Ingrid Fuchs hat diese mutige Pädagogin, die Zivilcou-rage und List bewies, als andere sich gleichschalten ließen, mit ihrem Buch erlebbar gemacht. Aus den vielen Fakten, Interviews mit Schülerinnen und ande-ren Quellen ist eine Biografi e entstanden, die auch außerhalb des Umkreises der Anna-Schmidt-Schule von Interesse sein wird.

Ingrid Fuchs: Wir haben keinerlei Kompromisse geschlossen. Frankfurt a. M.: Henrich Editionen, 2018

Gabriele Prein

Eine verschlungene Frankfurter Vita

Der Autor dieser Autobiografi e war mir schon im letzten Jahr bei verschiedenen Veranstaltungen des Fritz-Bauer-Instituts an der Frankfurter Goethe-Uni-

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Neuzugänge

Kathrin Glösel, Hanna Lichtenberger: Unbeugsam & Unbequem. Debatten über Handlungsräume und Strategien gegen die extreme Rechte. Münster: UNRAST, 2018

Julian Bruns, Kathrin Glösel, Natascha Strobl: Die Identitären. Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa, 3. aktualisierte und erweiterte Auf-lage, Münster: UNRAST, 2017

Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main (Hg.): Stolpersteine in Frankfurt am Main; Band 2: Zehn Rundgänge. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 2018

Hannes Heer, Peter Behr, Renate Dreesen (Hg.): Verfälschte Erinnerung. Das Leibgar-disten-Denkmal in Darmstadt. Darmstadt: Selbstverlag, 2018

Thomas Medicus (Hg.): Verhängnisvoller Wandel. Ansichten aus der Provinz 1933-1949: Die Fotosammlung Biella. Bonn: Bun-deszentrale für politische Bildung, 2017

Sascha Lange: Meuten, Swings & Edelweiß-piraten. Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2018

Thomas Sandkühler u.a. (Hg.): Geschichts-unterricht im 21. Jahrhundert . Eine geschichtsdidaktische Standortbestim-mung. Göttingen: V&R unipress, 2018

Darmstädter Geschichtswerkstatt (Hg.): Jüdische Ärzte in Darmstadt nach 1933. diskriminiert-vertrieben-deportiert. Darm-städter Biografi en 1933–1945, Begleitheft Nr. 2. Hugo Berger, Emanuell Cullmann, Arthur Goge, David Löwenstein, Richard Oestreicher, Paul Felix Peltason, Emil Siegbert Rose, Max Rosenthal, Paul Wolff . Darmstadt: Selbstverlag, 2018

Darmstädter Geschichtswerkstatt (Hg.): Darmstädter Biografi en 1933–1945. Begleit-heft 4. Philipp Benz, Hans Fillsack, Georg Fröba, Gustav Hartung, Heinrich Orlemann, Erna Salm. Darmstadt: Selbstverlag, 2019

Jochen Voit, Hamed Eshrat: Nieder mit Hitler! oder: Warum Karl kein Fahrradfahrer sein wollte. Berlin: avant-verlag, 2018

Stephan Lehnstaedt: Der Kern des Holo-caust. Belzec, Sobibor, Treblinka und die Aktion Reinhardt. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2017

Walter Wuttke: Familie Eckstein. Lebens-schicksale einer Musiker-Sinti-Familie aus Vöhringen und Rosenheim. Ein Erinne-rungsbuch. Weißenhorn: Anton H. Konrad Verlag, 2018

Wolfgang Benz: Im Widerstand. Größe und Scheitern der Opposition gegen Hitler. München: C.H. Beck, 2018

versität aufgefallen. Ein kleiner, schon etwas gebückt am Stock gehender alter Mann im beigen Trenchcoat, der sich bei den im Anschluss an Vorträgen üblichen Fragemöglichkeiten für das Publikum in der Regel immer zu Wort meldete und stets Interessantes und Geistreiches von sich zu geben pfl egte. Es waren zwar meistens keine Fragen, sondern eher lebens-erfahrungsreiche längere Statements, weshalb die Veranstaltungsleitung ihn oft bitten musste, doch endlich eine Frage an den Referenten oder die Refe-rentin zu stellen oder aber zum Ende zu kommen. Mir tat er bei solchen Gelegenheiten immer ein wenig leid, dass man ihm nicht länger Gelegenheit gab, aus seinem Leben zu erzählen.Jedenfalls erfuhr ich durch seine Auslassungen, dass er schon 96 Jahre alt und seine Mutter Jüdin gewe-sen sei, die sich aber schon sehr früh habe taufen lassen und er sich daher seines „Halbarisch-Seins“, wie er es bezeichnete, erst sehr spät bewusst gewor-den sei. Bei diesen Veranstaltungen plädierte er – was bei einigen Besuchern nicht gut ankam – man solle doch den Hype um einen angeblich wieder angestiegenen Antisemitismus nicht künstlich anhei-zen, sondern sich damit abfi nden, dass eben ein gewisser Teil der Gesellschaft in Deutschland und auch anderswo antisemitisch sei, aber ansonsten das Thema mehr oder weniger ruhen lassen. Eine solche Einstellung seitens eines, wie er es selbst ausdrückt, „Halbariers“ – die Nazis stempelten sie dagegen bekanntlich lieber als „Halbjuden“ ab – fand ich sehr bemerkenswert und machte mich neugierig, was für ein Mann er denn war und wie und wo er die Nazidiktatur überlebt hatte. Der Zufall wollte es, dass Herr Schaefer zu einer Fritz Bauer Instituts-Ver-anstaltung Mitte Januar diesen Jahres etwas zu spät kam und sich neben mich in die erste Reihe setzte. Ich sprach ihn nach der Veranstaltung, bei der er sich erneut wegen eines längeren Wortbeitrags einen Rüff el eingehandelt hatte, an und fragte ihn, ob wir uns nicht einmal treff en könnten, da ich gerne mehr über ihn und sein sicherlich interessantes Leben erfahren würde. Ich versicherte ihm, mich in den nächsten Tagen bei ihm zu melden, um ein Treff en zu vereinbaren, wobei er warnte: „Warten Sie nicht zu lange. Ich habe nicht mehr lange zu leben. Das kann sehr schnell gehen.” Einige Tage später schon trafen wir uns in seinem Haus in Frankfurt zum Tee. Seine im Selbstverlag erschienene Autobiografi e kaufte ich anschließend und verschlang sie in den darauf folgenden Abenden bis spät in die Nacht: Was für ein Leben! Was für eine Ansammlung von glücklichen Zufällen und gelegent-lich auch „Chuzpe“, um die Nazizeit ohne größere Blessuren zu überstehen!Klaus Schaefer wuchs in einer wohlbehüteten pro-testantischen Familie auf, deren mütterlicher Zweig jüdisch, allerdings sehr liberal und säkular geprägt war. Eigentlich waren beide Großelternpaare fast deutschnational eingestellt, und ein Onkel mütter-licherseits holte den jungen, 1921 geborenen, Klaus im Jahre 1932 sogar in die Jugendorganisation der DNVP, wo man sich zu militärischen Geländespielen und Wanderungen im Taunus traf. Früh waren Klaus und sein Bruder Jürg sportlich tätig. Man spielte Hockey, fuhr schon früh in die Schweizer Berge zum Wandern und Klettern, eine Leidenschaft, der Klaus bis ins hohe Alter von über 80 Jahren frönte. Der Vater starb, als Klaus erst sechs Jahre alt war. Seine Mutter spielte seitdem eine wichtige Rolle. Sie managte den Haushalt, unternahm mit den beiden Söhnen viele Ausfl üge und Besuche bei der großen, oft wohlhabenden Verwandschaft. Er schreibt: „Für uns war bis 1933 die Frage des Judentums über-haupt kein Thema – wir waren Frankfurter Buben, die von Pfarrer Dechent getauft worden waren und gelegentlich an hohen evangelischen Feiertagen in die Kirche gingen und selbstverständlich den evangelischen Religionsunterricht in der Schule besuchten.“ Erst als nach Machtantritt der Nazis die ersten Mitschüler am streng konservativen, alt-sprachlichen Frankfurter Lessinggymnasium wegen Auswanderung der Eltern wegblieben und zuneh-

mend Geschäfte in der Stadt sich als „Deutsches Geschäft“ bezeichneten, sah sich die Mutter ver-anlasst, mit ihren beiden Söhnen das Thema ihres „jüdisch Versippt-Seins” (K.S.) zu diskutieren.Klaus Schaefer schreibt dazu: „Man muss sich ver-gegenwärtigen, wie stark die jüdisch-bürgerliche Bevölkerung in Frankfurt vor 1933 assimiliert (heute ‚akkulturiert‘) war, so dass das Thema ‚jüdisch‘ von der Religion her (außer vielleicht in orthodoxen Krei-sen, zu denen wir keinen Kontakt hatten) und von der ‚Rasse‘ her keine Rolle spielte.“Die Schilderungen seiner Schulzeit am Lessinggym-nasium, wo er schon 1938 Abitur machte, geben lebendige Einblicke in die Anfangsjahre der Nazizeit. Es folgte der damals obligatorische Arbeitsdienst und Studiumsbeginn an der TU in Berlin, da man ihn an der Uni Frankfurt wegen seines „Halben-Sta-tus“ nicht immatrikulieren wollte. Jetzt folgte ein Zu- und Glücksfall nach dem anderen. Er lernte in Berlin die richtigen Leute kennen, die dem Regime gegenüber meist negativ eingestellt waren und dem jungen Klaus Schaefer – geschützt durch seinen „treudeutschen Namen“ – halfen, alle bürokratischen Hürden zu überwinden, die für sehr viele andere in ähnlicher Situation zum Verhängnis werden konnten und wurden. Durch die Vermittlung eines Professors bekam er als Elektrophysiker eine Stelle bei einem kriegswichtigen Unternehmen, den „arisierten“ Opta-Radio-Werken, die Funkgeräte und andere Spezialinstrumente für die Rüstung herstellten; Schaefer wurde u.k. gestellt. Auf Drängen seines Chefs, der später als Mitglied der Widerstands-gruppe Rote Kapelle hingerichtet wurde, fälschte er seinen Lebenslauf und gab bei seiner Einstellung an, seine Großeltern mütterlicherseits seien protestan-tisch gewesen, wodurch er fortan relativ sicher war vor Nachstellungen der Gestapo. Erst in den letzten Kriegsmonaten wurde er denunziert, musste unter einigermaßen aushaltbaren Bedingungen in Thürin-gen Zwangsarbeit in einem Bergwerk verrichten und konnte nach der Befreiung durch die Amerikaner als Übersetzer sein Überleben in den schweren Anfangs-monaten in Freiheit sichern. Die spannenden und lebensnahen Schilderungen dieser Umbruchszeit, die Tricks, mit denen es den beiden Söhnen gelang, die Mutter aus der Schuss-linie von Gestapo und denunziatorischen Nachbarn zu halten, lesen sich wie ein Krimi. Wir erfahren, wie Klaus Schaefer zusammen mit seinem Bruder Jürg das von der Mutter noch vor dem Krieg gebaute Haus im Frankfurter Stadtteil Bockenheim nach einem Bombenvolltreffer im Jahre 1944 wieder mit eigener Hände Arbeit instandsetzte. Auch wie sich die Brüder als Unternehmer im Bereich Elektro-technik selbstständig machten, wird geschildert. Die Autobiografi e endet – vorerst – schon im Jahr 1953. Ein zweiter Teil, der sich auf Klaus Schaefers Lebenszeit nach dem Scheitern seiner ersten Ehe, aus der vier Kinder hervorgingen, und einer sehr viel späteren, glücklicheren Ehe mit seiner 2005 verstorbenen zweiten Ehefrau bezieht, ist in Arbeit und erscheint hoff entlich noch in diesem Jahr.Im Ganzen eine faszinierende Lektüre über das Leben eines Mannes, der auf ein erfülltes, widersprüchliches, nicht immer einfaches, aber auch nie langweiliges und ziemlich untypisches Leben zurückblicken kann. Wie untypisch sein Leben ist, zeigt im Übrigen die Tatsache, dass sich Klaus Schaefer noch im hohen Alter von 80 Jahren zu einem Jurastudium entschlos-sen hat, das er 2009 mit einer Dissertation über Otto John, den in den frühen Fünfziger Jahren nach Ostber-lin entführten Chef des Bundesnachrichtendienstes der jungen Bundesrepublik erfolgreich abschloss. Dr. Otto John war Untermieter im Hause Schaefer in den späten Dreißiger Jahren gewesen.

Klaus Schaefer: Hitler ist an allem schuld ... Lebens-erinnerungen eines Neunzigjährigen. Berlin: Hen-trich & Hentrich 2017

Björn Luley

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Buchbesprechungen

Erinnerungen eines Ghettokämpfers

Am 22. Dezember 2018 ist mit Simha Rotem der letzte Kämpfer des Warschauer Ghetto-aufstands gestorben. Er wurde 94 Jahre alt. Der letzte noch lebende Zeuge zu sein, ist für Rotem eine große Belastung gewesen. Woran er sich nicht erinnerte, jedes Detail, das er nicht sagte, das könnte dem Vergessen anheimfallen. Es ist ein großes Glück, dass Rotem sich von einem Freund hat überreden lassen, seine Erin-nerungen an diese Zeit niederzuschreiben, die zuerst 1984 in Israel erschienen und 2017 im Verlag Assoziation A in ihrer deutschen Überset-zung neu aufgelegt wurden. Dem Buch gelingt es, trotz seines autobiografi schen Charakters und seiner kaum 200 Seiten, dem Leser Einblick in eine Fülle von Themen und Ereignissen wäh-rend der deutschen Besatzung Polens zu gewäh-ren: Rotem erzählt vom militärischen Wider-stand im Ghettoaufstand wie im Warschauer Aufstand ein Jahr darauf, vom Rettungswider-stand, aber auch vom Geldeintreiben im Ghetto und der Liquidation von Kollaborateuren. Er erzählt vom Alltag im jüdischen Untergrund, den Denunziationen, den Sicherheitsmaßnah-men, die jeden Lebensbereich durchdrangen und doch oft nicht ausreichten.Rotem, der besser bekannt ist unter seinem Kampfnamen „Kazik“, zu dem er in diesen Jahren kam, war Chefkurier der Jüdischen Kampforganisation (ŽOB); eine Aufgabe, die ihn zu den zahlreichen Orten und Menschen geführt hat, die seine Erinnerungen zu einem beinahe umfassenden Bericht über den jüdi-schen Widerstand in Polen haben werden lassen. „Kazik“, die Kurzform von Kazimierz, war ein Allerweltsname in Warschau und dem katholischen Arbeiterviertel Czerniaków, in dem Rotem aufwuchs. Diese Herkunft, abseits des jüdisch geprägten Nordens der Haupt-stadt, machte ihn mit dem Habitus und der Sprache der katholischen Warschauer Arbei-terschaft bekannt. Weil er außerdem auch das „gute Aussehen“ hatte, wie Kazik sich ausdrückt, also dem äußerlichen Stereotyp eines „arischen“ Polen entsprach, eignete er sich für die gefährlichen Kurierdienste, die sonst meist von Frauen übernommen wurden: Er schmuggelte sich aus dem Ghetto heraus, hinter die deutsch-sowjetische Frontlinie, nach Krakau, nach Lublin und immer wieder zurück nach Warschau, zurück ins Ghetto.Nachdem er auf dem Gelände der Bürsten-macherfabrik beim Ghettoaufstand gekämpft hatte, führte er überlebende Mitkämpfer durch das Kanalsystem auf die „arische“ Seite der Mauer, wo bereits in Sichtweite einer Polizei-wache ein LKW auf sie wartete, der sie zu einem Versteck im nahegelegenen Wald von Łomianki brachte. An dem Kanaldeckel, an dem sie ausstiegen, erinnert heute ein Denk-mal an die Rettung. Danach half Kazik, Woh-nungen zu Verstecken auszubauen, zog zweite Wände ein und funktionierte Kaminöfen zu Geheimtüren um. Er versorgte die Versteck-ten mit Lebensmitteln und Nachrichten von „draußen“ – immer unter Einsatz seines Lebens. Obwohl der junge Rotem – dank seiner Fähig-keit nicht aufzufallen – wohl in vielen Momen-ten hätte untertauchen können, entschied er sich wieder und wieder dafür, weiterzumachen: ein weiterer Kurierdienst, ein weiterer Besuch bei Versteckten, eine weitere „Aktion“. 40 Jahre später berichtet der inzwischen nach Israel, in den Kibbuz der Ghettokämpfer aus-

gewanderte Rotem in aller Nüchternheit über die schrecklichen Erfahrungen dieser Jahre. Dass zuweilen die Orientierung beim Lesen wegen der abrupten Szenenwechsel etwas schwerfällt, mag der Sorge des Autors geschul-det sein, keine Details auszulassen und keine Namen zu vergessen. Dank eines Glossars und eines Personenverzeichnisses, die dem Band angefügt sind, fi ndet man sich aber immer gut zurecht. Der Verlag Assoziation A hat dem Buch außerdem einen interessanten Artikel vorangestellt, in dem Agnieszka Hreczuk eine Begegnung mit dem damals 90-jährigen Simha Rotem refl ektiert.

Simha Rotem: Kazik. Erinnerungen eines Ghettokämpfers. Berlin/Hamburg: Verlag Assoziation A, 2017

Lino Wimmer

Hinweisen z. B. auf Mängel der Versorgung oder der Postzustellungen. Ergänzend geben Aufstel-lungen zu den Mitarbeitern der Zensurstellen und deren jeweiligen Sprachkenntnissen sowie die Korrespondenz der Kommandostellen zu Organisationsfragen wichtige Bausteine für das historische Gesamtbild.Auch den Zensurendiensten der Internationalen Brigaden als einem Teil der „Hilfsdienste“ war bisher kaum Beachtung geschenkt worden, weil die Unterlagen dafür fehlten. Umso spannender sind jetzt die durch eine akribische Auswertung und gute Kommentierung der Öff entlichkeit zugängig gewordenen zeitgeschichtlich wert-vollen Dokumente zu lesen. Diesem Band 1 (Dokumente) wird in Kürze ergänzend ein zwei-ter mit ehemals nicht zugestellten Briefen und umfangreichen Anmerkungen zu Absendern und Adressaten folgen, wie der Autor in einem Nachwort ankündigt.

Werner Abel (Hg.): „Mit Salud und Hände-druck“. Militärzensur der Internationalen Bri-gaden in Spanien, Bd. 1 Dokumente. Boden-burg: Verlag Edition AV, 2018

Helga W. Schwarz

Mit Salud und Dokumenten

In Auswertung bisher kaum bekannter Doku-mente über die Militärzensur der Internationa-len Brigaden in Spanien 1936–1938 legt der Historiker Werner Abel eine beeindruckende Publikation bei Edition AV vor.Vorangegangen war die von ihm und Enrico Hilbert im gleichen Verlag herausgegebene zweibändige Dokumentation „Sie werden nicht durchkommen“, ein biografi sches Lexikon über Deutsche an der Seite der Verteidiger der Spa-nischen Republik. Unter dem Titel „Mit Salud und Händedruck“ dokumentiert er nun nicht nur (erstmals) detailliert die für Kriegszeiten unver-meidbar notwendige Militärzensur speziell der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürger-krieg, sondern erläutert die Entwicklung und Zusammensetzung dieser Brigaden, in denen neben deutschen Antifaschisten Kameraden aus vielen europäischen Ländern und sogar von „Übersee“ für eine Spanische Republik zu kämp-fen bereit waren. Die Putschisten um General Franco aber hatten starke Helfer beispielsweise durch die Legion Condor aus dem faschistischen Deutschland bekommen und waren auf dem Vormarsch.Eine Off ensive der Republikaner am Ebro sollte nochmals eine Wende zu ihren Gunsten bringen, da war Geheimhaltung über die Vorstoßpläne äußerste Notwendigkeit – besonders bezüglich des Postverkehrs. „Die Mannschaftsdienstgrade und Offi zier wussten, dass alle Briefe (Postkar-ten waren strikt verboten) die Militärzensur pas-sieren mussten. Trotzdem war es immer wieder zu Zwischenfällen gekommen. Deshalb sah sich z. B. die Führung der XI. Internationalen Brigade gezwungen im Mitteilungsblatt des Kriegskom-missariats der Zeitung ‚Pasaremos’ vom 13. Juli 1938 eine Warnung zu veröff entlichen“, deren Text Werner Abel einleitend geschickt zu den Kapiteln über die historischen Hintergründe und den Verlauf des Spanienkrieges führt und den Schwerpunkt „Internationale Brigaden“ erstaunlich detailliert anhand von Angaben zu Personen, Daten und Zahlen darstellt. Grund-lage dafür bildet die Auswertung und Veröff ent-lichung der im Archiv der Kommunistischen Internationale in Moskau entdeckten Akten, darunter längst verloren geglaubte Protokolle und Briefe.Die den zweiten Teil des Buches bildenden 38 Dokumente vom Juni 1937 bis Dezember 1938, als Bulletin oder Rapport bezeichnet, enthalten keineswegs Denunziationen von Einzelpersonen: Es sind vor allem Stimmungs-berichte aus den verschiedenen Sektionen mit

Ein anarchistischer Judenretter

Mit seiner Biografi e über den Rettungswider-ständler Otto Weidt will Robert Kain, wie er bereits in seiner Einleitung darstellt, das Leben Weidts in seiner Gesamtheit beleuchten und sich nicht nur auf jenen Ausschnitt beschrän-ken, in dem Weidt dazu beitrug, verfolgte Juden zu schützen. Dieser Aspekt von Weidts Leben sei bereits untersucht und im Öff entlichkeitsbe-wusstsein ausreichend verankert. Kain möchte jedoch eine detailliertere Biografi e erstellen und sein Wirken im größeren politischen Geschehen der jeweiligen Zeit wie auch auch in seinem direkten Umfeld kontextualisieren. Dies ent-spricht Kains anderem Anspruch an diese Bio-grafi e, dass sie nicht einer individualistischen Theorie des Rettungswiderstandes entspricht, sondern Weidt als Akteur in einem komplexen Netzwerk von Helfern darstellt.Im Rahmen dessen gibt die Biografi e detail-lierten Aufschluss über Weidts Familienge-schichte, Kindheit und Jugend und darauf folgende Politisierung als Teil des deutschen Anarchismus. Hierbei wird auch auf die brei-tere Geschichte des Anarchismus in Deutsch-land und insbesondere in Berlin eingegangen. Kain beginnt damit, die politische Lage in Europa in besonderem Hinblick auf die Bewe-gung des Anarchismus zu beschreiben, wird mit dem Beitritt Otto Weidts zu den Berliner Anarchisten spezifi scher und geht dann auf Konfl ikte und die Entwicklung der verschie-denen Strömungen im Anarchismus ein. Zwar bleibt Weidts politischer Werdegang hierbei der Fokus, so geht Kain zum Beispiel detailliert auf die von Weidt geleitete anarchistische Zeitung ein, aber es wird auch auf mit ihm verknüpfte Akteure und parallele Entwicklun-gen im Anarchismus hingewiesen. Besagte Akteure, relevante Orte und Kopien von Origi-naldokumenten werden auch sporadisch auf Bildern gezeigt. Durch besagte Kontextualisie-rung Weidts politischer Karriere als Anarchist in die breitere Geschichte des Anarchismus ist auch kein Vorwissen über dieses Thema nötig, um die Biografi e zu verstehen.Nach einem relativ kurzen Überblick über Weidts Austritt aus der anarchistischen Bewe-gung, seine Ehe und Familiengründung und

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informationen 88 | Seite 45informationen 88 | Seite 45

Buchbesprechungenseine Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg geht Kain auf Otto Weidts Erblindung und darauf fol-gende Tätigkeit als sogenannter Blindenhand-werker ein. Auch hierbei wird dem Leser ein in Weidts Biografi e eingearbeiteter Hintergrund von Kriegsblindheit und -blinden und vor allem vom Blindenhandwerk vermittelt.Weidt machte die Ausbildung zum Besen- und Bürstenmacher und wurde damit selbstständig. Somit war Weidt den wirtschaftlichen Änderun-gen, die auf die Etablierung des NS-Regimes folgten, unmittelbar ausgesetzt, wie etwa die verpfl ichtende Mitgliedschaft im neu gegrün-deten „Reichsverband des Blindenhandwerks“, der Elemente der NS-Ideologie auch in das Blin-denhandwerk brachte. Im Jahr 1939 gründete Weidt die „Blinden-Werkstätte Otto Weidt“, die er trotz der kurz darauf folgenden Kriegswirt-schaft erfolgreich betrieb.Um Weidts Beteiligung am Rettungswider-stand weiter zu kontextualisieren, widmet sich Kain dann der Geschichte der Verfolgung von Juden zur NS-Zeit in Berlin, um dann näher auf jüdische Zwangsarbeiter in Weidts Blin-denwerkstatt einzugehen. Mit dem Beginn der Anstellung jüdischer Zwangsarbeiter in Weidts Betrieb beginnt auch Inge Deutschkrons Anteil an Weidts Biografi e, deren Erfahrungen eine wichtige Quelle in der Erforschung von Weidts Rolle im Rettungswiderstand sind. Diese andere Quellenart ändert auch die Art, wie dieser Teil der Biografi e geschrieben ist, da jetzt Ereig-nisse aus einer persönlicheren Sicht geschildert werden und auch durch wörtliche Rede und Wiedergaben Deutschkrons erzählt werden. Diese werden allerdings weiterhin von Kain aus einer wissenschaftlichen Perspektive beleuch-tet, was einer übermäßig subjektiven Biografi e vorbeugt.Kain beschreibt ebenfalls, wie einzelne Ange-stellte Weidts, zum Beispiel Inge Deutschkron und ihre Mutter Ella, in die „Illegalität“ fl ohen und welche Rolle dabei sowohl Weidt als auch andere Rettungswiderständler wie etwa Robert Gerö spielten. Im Rahmen dessen werden auch kurze biografi sche Umrisse von anderen Betei-ligten aufgezeigt, wie diese Rettungswider-stand leisteten und welche Menschen sie dabei schützten. Somit nimmt Kain Otto Weidts Bio-grafi e als Ausgangspunkt, um über ein Netz-werk aus Rettungswiderständlern in Berlin zu berichten. Die erwähnten Personen werden häufi g auf Originalfotografi en gezeigt.Kain richtet seinen Fokus wieder auf Weidt mit dem Verrat des besagten Widerstandsnetzwerks und dessen Auswirkungen auf die Angestellten der Blindenwerkstatt und Weidt selbst.Es wird auch auf Weidts Nachkriegszeit einge-gangen, sein Engagement bezüglich der Opfer des NS-Regimes und sein Weiterbetrieb der Blindenwerkstatt. In die Erzählung von Weidts Tod werden von Weidt selbst verfasste, auf sein eigenes Leben bezogene Texte integriert, also wie Weidt sich selbst sah: Als Revolutionär, Anarchist und „Former“ seines Lebens, mit dem er, so scheint es, zufrieden war.Schließlich geht Kain auf die Nachwirkungen von Otto Weidts Leben und Handeln ein, wie etwa die posthume Verleihung des Titels als „Gerechter unter den Völkern“ an Weidt oder andere Aufarbeitungen von Weidts Leben. Kain schließt mit seiner am Fall von Otto Weidt illustrierten Theorie eines nicht-individualisti-schen Rettungswiderstandes. Passend dazu sind hinten im Buch biografi sche Steckbriefe zu Mitarbeitern Weidts zu fi nden.

Robert Kain: Otto Weidt. Anarchist und „Gerechter unter den Völkern“. Berlin: Lukas Verlag, 2017

Robert Lee Lorengel

Von Ambivalenz und Leidenschaft

Ist ein Buch über den Mitinitator der „Pädago-gik in der Dritten Welt”, Lehrer der Odenwald-schule und „leidenschaftlichen Pädagogen“ im Rezensionsteil der „informationen“ richtig auf-gehoben? Mit diesen Gedanken nahm ich das vorliegende Buch über den mir bis dahin nicht bekannten Ernest Jouhy in die Hand. Und mit jeder Seite, die mich näher in die Biografi e, die pädagogischen Überlegungen und das literari-sche und poetische Schaff en Ernest Jouhys ein-führte, wurde ich sicherer: Ja, dieses Buch über Ernest Jouhy gehört in die „informationen“!Jouhy wurde 1913 als Ernst Leopold Jablonski in Berlin geboren. Der Sohn russischstämmiger Juden orientierte sich politisch an linken Ideen und wandte sich dem Marxismus zu. Bereits mit 16 Jahren trat er dem „Sozialistischen Schüler-bund“ bei, war in die Straßenkämpfe in den letzten Jahren der Weimarer Republik involviert und hielt seinerzeit - so wie die Parteilinie der KPD vorgab und viele KommunistInnen glaub-ten - die Machtübernahme der NSDAP als zu überwindendes Hindernis auf dem Weg zur kommunistischen Revolution. 1933 muss Jouhy als kommunistischer Funktionär in den Unter-grund abtauchen und verlässt auf Anweisung der KPD Ende Juli 1933 – mit gerade 20 Jahren – Deutschland. Er fl ieht nach Paris. Hier betätigt er sich sofort wieder politisch, vernetzt sich mit anderen Emigranten und studiert Psychologie. Doch im Exil wird ihm auch ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit bewusst: Sein Judentum geht nicht in der kommunistischen Ideologie/Theorie auf. 1938 beginnt für Jouhy die zweite Phase seines Exils. Mit der steigenden Zahl jüdischer Flücht-linge in Frankreich und einer zunehmend repres-siveren Politik gegenüber Auswärtigen wird er aktiv im Rettungswiderstand: Er kümmert sich um gefl ohene jüdische Kinder und versucht – gemeinsam mit seiner Frau Lydia – diese vor den Deportationen zu bewahren. Nur mit Glück kann er bei einer Verhaftung fl iehen und unter-tauchen. Er schließt sich der Resistance an, ist im Vercors aktiv, wird Teil von „Francs-tireurs et partisans - Main d‘Oeuvre immigrée“ (MOI) und beteiligt sich an der Befreiung von Lyon. Seinen Namen Ernest Jouhy verwendet er seit dem Abtauchen 1943 - er wird von nun an zeit-lebens tragen. Dies sind nur wenige und unvollständige Schlag-lichter auf ein intensives und äußerst aktives Leben im Widerstand. Interessierte Leserinnen und Leser finden im Buch noch zahlreiche Anschlusspunkte. Nach dem Krieg leitet Jouhy zunächst verschieden jüdische Kinderheime in Paris, bevor er an die Odenwaldschule nach Heppenheim geht und dort als Lehrer tätig wird. Zur gleichen Zeit, 1952, bricht er mit der KPD, was auch einen Bruch einer ganze Kette „von ineinandergreifenden berufl ichen, gedank-lichen und personalen Verflechtungen und Beziehungen“ (Jouhy) bedeutete. Er widmet sich von nun an verstärkt der jüdischen Geschichte. Mit dem „Pariakind als historischen Zeugen“ und in einem komparativen Ansatz versuchte er, die Unterschiede der deutschen und fran-zösischen Geschichte zu verstehen. Er gründet das Foyer International d‘Ètudes Française in La Bégude und widmet sich der Bildungsforschung in der „3. Welt“.Den Herausgebern Bernd Heyl, Sebastian Voigt und Edgar Weick ist es gelungen, in einer viel-schichtigen Publikation das Leben von Ernest Jouhy auch für jüngere Generationen span-nend aufzubereiten. Zum Vorschein kommt ein deutsch-jüdischer kommunistischer Wider-standskämpfer im französischen Exil und seine

Entwicklungen, Brüche und Refl exionen. Das Buch ist dabei in zwei Teile geteilt. Im ersten versammelt es verschiedene Beiträge zur Bio-grafi e und zum Werk Jouhys. Spannend sind hier nicht zuletzt auch Jouhys literarische Ver-arbeitungen in seinem 1964 erschienenen Buch „Die Brücke“, die in das angedeutete identitäre Spannungsfeld hineinführt oder seine Gedichte. Die Herausgeber lassen, eingeleitet und kom-mentiert, im zweiten Teil des Buches Jouhy mit seinen Texten und Gedichten selbst zu Wort kommen.

Bernd Heyl, Sebastian Voigt, Edgar Weick (Hg.): Ernest Jouhy. Zur Aktualität eines lei-denschaftlichen Pädagogen. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel, 2017

Thomas Altmeyer

Frühes Geschichtslernen in NS-Gedenkstätten

Die Frage, ob überhaupt und ab welchem Alter eine Beschäftigung mit dem Nationalsozialis-mus im Allgemeinen und dem Holocaust im Besonderen für Kinder pädagogisch legitim und sinnvoll erscheint, hat vor einigen Jahren die Geschichtsdidaktiker entzweit. Inzwischen liegen umfangreiche Erfahrungen in der Arbeit mit Grundschulkindern in ausgewählten NS-Ge-denkstätten vor. Nachdem die Thematik in den meisten Bundesländern inzwischen in Lehrplä-nen und Unterrichtspraxis der Grundschulen Einzug gehalten hat, stellt die Zielgruppe der 9- bis 11-jährigen Kinder nun auch die Mitarbei-ter*innen der NS-Gedenkstätten vor besondere Herausforderungen. Das Zitat „Es war sehr schön und auch sehr traurig.“, das dem aktuellen Buch des Wochen-schau-Verlags den Titel gegeben hat, macht sehr deutlich, in welchem Spannungsfeld die pädagogische Arbeit mit Kindern stattfi ndet, die einen oder mehrere Tage in einer NS-Ge-denkstätte verbracht haben. Im vorliegenden Band stellen vier Pädagoginnen von vier sehr unterschiedlichen NS-Gedenkstätten ihre Arbeit und die dabei gemachten Erfahrungen vor, die zugleich in den fachdidaktischen Diskurs ein-gebettet wird, der seit einigen Jahren an Hoch-schulen, Studienseminaren und den Schulen selbst stattfi ndet. Dabei resümiert Barbara Kirschbaum die Erfahrungen aus ihrer inzwischen 15-jährigen Arbeit mit Kindern im NS-Dokumentations-zentrum der Stadt Köln. Nach einem kurzen Informationsvorspann über die Einrichtung im EL-DE-Haus erläutert die Autorin verschiedene kindgerechte Zugänge zur Thematik – so etwa über das Kinderbuch „Papa Weidt“ von Inge Deutschkron mit den Illustrationen des Malers Lukas Ruegenberg, die die Geschichte eines Berliner Handwerkers erzählen, der jüdische Arbeiter und Arbeiterinnen in seiner Blinden-werkstatt vor der drohenden Deportation zu retten versuchte. Inge Deutschkron war eine von ihnen und hat später in ihren autobiografi -schen Büchern vom Überleben in der Berliner Illegalität während der NS-Zeit berichtet und zugleich dafür gesorgt, dass mit der Einrichtung einer Gedenkstätte in Berlin an diesen mutigen „Judenretter“ erinnert wird. Daneben berichtet die Autorin über Workshops etwa zum Thema „Hitlerjugend“, die aber nicht topdown durch Lehrkräfte oder Gedenkstättenmitarbeiterinnen

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Wieder gelesen

Zofi a Jasinska

Der Krieg, die Liebe und das Leben

Eine polnische Jüdin unter Deutschen

Was hat ein Buch, in dem es viel um die Liebe geht und um das Leben einer schö-nen jungen Frau, in den „informationen“ zu suchen? Eine ganze Menge, wenn man sich in Zofi a Jasinskas Lebenserinnerungen vertieft. Sie erschienen erstmals 1998 und nehmen uns mit auf eine spannende und immer wieder gänzlich unwahrscheinliche Zeitreise in die Zeit der deutschen Besat-zung in Polen.Zofi a Jasinska kam als einziges Kind von Zygmunt und Stefania Gottlieb 1908 in Krakau zur Welt. Sie wächst in einer behü-teten und auch wohlhabenden Umgebung auf. Sie wird verhätschelt, umsorgt und freut sich auf ein Leben voller Abenteuer. Die Eltern sind assimilierte Juden; im Zwei-felsfall werden die jüdischen und ebenso

die christlichen Feiertage begangen. Den Ersten Weltkrieg erlebt das Kind in Wien; in den 1920er Jahren kann sie in Polen weiter von einer Karriere als Schauspiele-rin oder Tänzerin träumen. Die Kindheit endet, als die Mutter früh stirbt. Nun setzt der Vater alles daran, Zofi a glücklich zu machen. Sie darf die Schauspielschule in Krakau besuchen und bekommt am Stadt-theater auch bald erste kleine Rollen. Die auff allend hübsche junge Frau hat bald eine Reihe von Verehrern; mit einem, dem angehenden Arzt Wictor, wird sie eine lange Liebelei, eine kurze Ehe und spätere Freundschaft verbinden. Er hilft ihr auch, als die Zeiten schlechter werden: Nachdem die Deutschen Polen überfallen und besetzt haben, wird das Überleben

gesetzt werden, sondern oft anlassbezogen und durch ein sich selbständig entwickelndes Frage-interesse der Kinder zustande kommen. Dabei werden „Nationalsozialismus und Holocaust im Spiegel kindlicher Refl exions- und Kommunika-tionsprozesse“ (so der Titel der Dissertation von Alexandra Flügel, Opladen 2009) behandelt und ein Austausch zwischen Erziehungswissen-schaftlerInnen und PraktikerInnen ermöglicht. Auch kindgerechte Formate wie das Rollenspiel werden eingesetzt und anschließend kritisch refl ektiert. In welch erhöhten Maße hier Sensi-bilität bei der Arbeit mit Kindern notwendig ist, zeigt das Beispiel des Gestapo-Gefängnisses. Trotz vorhandenen Interesses und entsprechen-den Erwartungsdrucks seitens der begleitenden Lehrkräften wurde ein nicht hinlänglich vor-bereiteter Besuch aus pädagogischen Gründen abgelehnt. Diese sensible und verantwortliche Grundhaltung wird auch in weiteren Erfahrungs-berichten deutlich, wenn es um die Arbeit mit Kindern in der Dauerausstellung „Köln im Natio-nalsozialismus“ oder um die Entwicklung und den Einsatz des „Kinderkoff ers Geschichten-mobil“ geht. Hildegard Jakobs und Anna Schlieck stellen Konzeption und Angebote für Kinder in der Mahn- und Gedenkstätte der nordrhein-west-fälischen Landeshauptstadt Düsseldorf vor. Auch diese Gedenkstätte muss sich nach dem Abschied von der „Erlebnisgeneration“ und damit vom im Grunde nicht ersetzbaren Zeit-zeugengespräch den neuen Herausforderungen stellen. Dazu bedarf es, wie Volkhard Knigge zurecht in seinem Aufsatz „Zur Zukunft der Erinnerung“ (APuZ 25–26/2010) ausführt, einer umfassenden begriffl ichen und methodischen Weiterentwicklung historischen Lernens insbe-sondere an Gedenkstätten. Dem wird die neue Dauerausstellung, die auf die Hauptzielgruppe der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet ist, u. a. dadurch gerecht, dass sie Zugänge zu his-

torischen Biografi en am individuellen Beispiel ermöglicht und einen diff erenzierten Blick auf die Vielschichtigkeit der durch äußere Einfl üsse und Zwänge, aber auch durchaus durch indivi-duelle Entscheidungen diff erenzierte Kindheiten ermöglicht. Auch hier kommen methodisch sog. „MemoryBoxen“ und Museumskoff er mit unter-schiedlichen Materialien zum Einsatz. Ramona Dehoff und Martina Ruppert-Kelly, pädagogische Mitarbeiterinnen der KZ-Gedenk-stätte Osthofen (bei Worms in Rheinland-Pfalz) berichten über die Arbeit mit Grundschulklas-sen, über Projekttage und Ferienworkshops, aber auch über die Entwicklung eines „Geo-caches“: Mit Hilfe geeigneter Handys oder Smartphones und an verschiedenen Stationen angebrachten QR-Codes können entsprechende Links aufgerufen werden, die vertiefende Infor-mationen z. B. zu Häftlingsbiografien und deren Berichte über den Lageralltag in diesem frühen, im Wesentlichen der Einschüchterung der politischen Häftlinge und der Abschre-ckung der Bevölkerung dienenden KZ bieten. Ein attraktives zusätzliches Angebot besteht in dem ausleihbaren „theaterpädagogischen Materialienkoff er“, der aufbauend auf der Quel-lenedition „Kinder über den Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944 – 1948“ entwickelt und in dem eine Sammlung verschiedener Übungen und Aufgaben zusammengestellt wurde. Unterstützt u. a. durch einiger Studienseminare für Grund-schulen in Rheinland-Pfalz und die Ausbildung der ReferendarInnen vor Ort nimmt die Arbeit mit Kindern inzwischen auch in Osthofen einen größeren Raum ein. Oft ist die gelegentlich im Diskurs zum Sachunterricht nicht unumstrittene Arbeit mit Kinderbüchern wie „Der überaus starke Willibald“ der Ausgangspunkt für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema.Den Abschluss der refl ektierten Erfahrungsbe-richte macht Regine Gabriel mit ihren Ausfüh-rungen zur „Euthanasie“-Gedenkstätte Hadamar

(in der Nähe des hessischen Limburg). Nach kurzer Einführung in die Geschichte der Gedenk-stätte berichtet Gabriel über die verschiede-nen Phasen der vorsichtigen Annäherung an die Arbeit mit Kindern im besonders sensiblen Bereich einer Vernichtungsanstalt für (vermeint-lich) Behinderte. In Hadamar liegen bereits 20-jährige Erfahrungen im pädagogischen Umgang mit Kindern vor. Hier waren anfangs die Auseinandersetzungen um diese Angebote besonders heftig und kontrovers. Sie konnten aber im Laufe der Zeit durch neue besondere Vermittlungsformen insbesondere auch litera-tur-, theater- und kunstpädagogischer Art, die emotionale und sinnliche Zugänge zum Thema ermöglichen, gemildert werden. Als Resümee der langjährigen Praxis formuliert Gabriel: „Viele Eltern, Lehrende, Studierende und Kolleg*innen haben die Begegnungen der Kinder mit der Gedenkstätte Hadamar in den letzten Jahren kritisch begleitet. Die Begeg-nungen wurden immer refl ektiert, sodass eine sensible und vorsichtige pädagogische Umset-zung jedes Mal neu als Grundlage für spätere Begegnungen gewährleistet sein sollte. Die Erwachsenen und Kinder haben voneinander gelernt: Gemeinsam wurden Erfahrungen und Emotionen, geeignete Medien und Methoden besprochen und anschließend mit Gedenkstät-tenpädagog*innen geteilt.“ Dies gilt pars pro toto auch für die Arbeit der anderen Gedenkstätten, die in diesem Band vorgestellt werden.

Regine Gabriel (Hg.): „Es war sehr schön und auch sehr traurig.“ Frühes Geschichtslernen an NS-Gedenkstätten für Kinder von 8–12 Jahren. Beispiele und Erfahrungen. Frankfurt: Wochenschau Verlag. 2018.

Hans Berkessel

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Impressum:Informationen – Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933 – 1945Nr. 89, Mai 2019, 44. Jahrgang, ISSN 0938-8672Studienkreis Deutscher Widerstand 1933 – 1945 e.V, Rossertstraße 9, D-60323 Frankfurt/Main, Telefon: 069 721575, Telefax: 069 71034254Mail: [email protected]: www.widerstand-1933-1945.deRedaktion: Thomas Altmeyer, Valentin J. Hemberger, Gabriele Prein, Gottfried Schmidt, Isolde Grillhösl; Korrektur: Christiane BarabaßMitarbeit: Lino WimmerGestaltung: GS Grafi k & Satz GbR Grillhösl & Schmidt, Parkstraße 65, 65191 Wiesbadenwww.grafi ksatz.de; schmidt@grafi ksatz.de Umschlag-Gestaltung: Gottfried SchmidtTitelfotos, Quellen: Gestellte Beseitigung eines Schlagbaums mit polnischem Wappen an der deutsch-polni-schen Grenze durch deutsche Soldaten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-1979-056-18A (Foto: Hans Sönnke) | Soldaten der Heimatarmee in Warschau im August 1944. Quelle: Museum des Warschauer Aufstands (Foto: Eugeni-usz Lokajski) | Außenansicht des Museums des Zweiten Weltkrieges in Danzig (Foto: Rudolf H. Boettcher, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?cu-rid=57885932). | Der 72. Jahrestag des War-schauer Aufstandes wird am 1. August 2016 gefeiert. Quelle: picture alliance (Foto: Maciej Luczniewski) | Eingang zum KZ Auschwitz. (Foto: Thomas Altmeyer)

Erscheinungsweise: Zweimal jährlich (Frühjahr/Herbst) Verkaufspreis: Abonnement 16 Euro (inklusive Versandkosten); Einzelheft 6 Euro zuzüglich Versandkosten; Bankverbindung: Postbank Frankfurt/Main, IBAN: DE21 5001 0060 0314 1246 03 BIC: PBNKDEFF

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ein inniges Liebesverhältnis, das sie vor der gesamten Umgebung geheim halten können. Schäfer hat zu Hause Frau und Kind, doch dieser Alltag spielt im Krieg keine Rolle. Zofi a wird schwanger. „... es war verrückt, dass ich mich in dieser Situation darauf ein-ließ: eine verfolgte, untergetauchte Jüdin mit ungewissen Chancen aufs Überleben bekommt ein Kind ... von einem Hauptmann der Waff en-SS“. Dass sie jüdischer Herkunft ist, erzählt sie ihm nie.Als die Rote Armee näherrückt, wird das Gut aufgegeben, die Deutschen verlassen fl uchtartig die Region. Jakob Schäfer wird zurück an die Front beordert, doch erst hilft er seiner geliebten Zofi a zur Flucht vor maro-dierenden Deutschen. In den Wirren der letz-ten Wochen des Kriegs und des Rückzugs der Wehrmacht verliert sich seine Spur. Zofi a dagegen kehrt in abenteuerlicher Fahrt in ihre Heimatstadt Krakau zurück, wo kurz nach dem ersehnten Kriegsende ihr Sohn Jacek zur Welt kommt. Das Leben ist hart für die Alleinerziehende. Der Neustart am Theater gestaltet sich schwierig, und bald bricht sich der latente Antisemitismus der polnischen Nachbarn wieder Bahn. „Ich hatte überlebt, aber nun machte mich das Leben fertig“, ist ihr Resümee vor ihrer Aus-wanderung nach Israel 1956. Aber dort wird sie nicht heimisch.Knapp zehn Jahre später zieht Zof ia

Jasinska nach Deutschland. Ihr Sohn Jacek bleibt zunächst in Israel, nimmt sogar am Sechstage-Krieg teil. Doch dann zieht auch er nach Frankfurt, wo seine Mutter ihr neues Zuhause gefunden hat. Sie führt eine erbitterte und entwürdigende Auseinandersetzung um ihre Anerkennung als Opfer des Nationalso-zialismus, da sie ihren Antrag erst nach dem Schlussgesetz von 1965 einreichen kann. Auch hier siegt – wie so oft in ihrem Leben – ihre Unerschrockenheit. Zofi a Jasinska stirbt 2003, vier Jahre nach dem Erscheinen ihres Buches, dessen vielfache und positive Resonanz sie noch erlebt. Ihre Erinne-rungen sind ein lebendig geschriebenes Doku-ment, das freimütig zeigt, wie jung und politisch unerfahren sie war, als sie in die Hände der Nazis fi el. Erst unter den Deutschen wurde sie sich ihrer jüdischen Herkunft bewusst. Um zu über-leben, ging sie ein lebensgefährliches Bündnis mit dem Feind ein – und konnte sich retten. Es gibt, wie Maren Röger in dieser Ausgabe der informationen schreibt, wenig Zeugnisse über die Fraternisierung von Frauen mit Wehrmachts-angehörigen. Die Scham nach dem Krieg war groß, die Verfolgung ebenso.Über die Schuld und die Verstrickungen, in die jüdische Frauen geraten konnten, ist anhand von Takis Würgers Roman „Stella“ in den letz-ten Wochen viel geschrieben worden. Seine Geschichte über Stella Goldschlag, die in Berlin zur „Greiferin“ wurde, ist von Klischees durch-setzt und kann dem Schicksal von Jüdinnen, die zu Täterinnen wurden, nicht gerecht werden. Der Lebensbericht von Zofi a Jasinska bietet besseres und authentisches Anschauungsmaterial über das Leben und die Liebe in Zeiten des Krieges.

Gabriele Prein Das Buch von Zofi a Jasinska ist 1998 im Auf-bau Verlag erschienen und heute antiquarisch erhältlich.

für Jüdinnen und Juden so gut wie unmög-lich. Zofi as Leben ändert sich drastisch, als sie erfährt: „Die Deutschen haben uns überfallen. Es ist Krieg.“ Wie alle jüdischen Familien muss sie mit dem Vater und dessen zweiter Frau ins Ghetto von Krakau ziehen. Sie müssen sich von allem trennen, was sie besitzen, um etwas zu essen und – vielleicht – falsche Papiere zu ergattern.Zofias Vater und die Stiefmutter werden in ein Vernichtungslager verschleppt; sie hört nie wieder von ihren beiden nächsten Angehörigen. Sie selbst kann nach Warschau fl iehen und untertauchen. Sogar Arbeit fi ndet sie; in dem Kaufhaus, wo sie als Verkäuferin tätig wird, sind, wie sich herausstellt, mehrere jüdische Frauen untergekommen. Sie alle leben in der ständigen Gefahr, denunziert und enttarnt zu werden. Auf einer letzten Reise nach Krakau fährt Zofi as Zug auf Auschwitz zu. Sie sieht streng bewachte, ausgemergelte Arbeiter und Menschen, die dem Tode nahe sind. Ihr Zug fährt weiter.Zurück in Warschau, wird die Lage immer heikler. Die Denunziationen nehmen zu. Zofi a muss aus der Stadt; Freunde vermitteln ihr eine Stelle auf einem von Deutschen besetzten Gut bei Radom, südlich von Warschau. Sie wird als Köchin ein-gestellt und muss ihre mangelnden Fähigkeiten mühsam verbergen. Ihren Namen hat sie durch gefälschte Dokumente in Jasinska statt Gott-lieb geändert. Aber in der Höhle des Löwen ist immer Vorsicht geboten: Niemand darf sie als Jüdin erkennen, niemandem kann sie trauen. Sie spielt die heimatverbundene Polin, ihre Schau-spielkünste zahlen sich aus. Den liebestrunkenen deutschen Offizier, der das Gut verwaltet, kann sie abwimmeln; einem jungen Angehörigen der Waff en-SS kommt sie näher. Zwischen ihm, dem verwundeten Haupt-mann Jakob Schäfer, und ihr entwickelt sich