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Bürgerbeteiligung in Zeiten des demographischen Wandels

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Der demographische Wandel wird die Politik in Deutschland in den nächsten Jahren fundamental ändern. Noch haben die Bürger die Möglichkeit, mitzugestalten. Sie können agieren und nicht nur reagieren. Deshalb ist es sinnvoll, sie zu überzeugen und zum Mitmachen zu motivieren. Wir haben keine andere Wahl

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Die Gemeinde und ihre Bürger

Dozent: Armin König

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4. Unterrichtseinheit: Bürgerbeteiligung in Zeiten des demographischen Wandels

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+Hinführung

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Bürgerbeteiligung in Zeiten des demographischen Wandels

Bürger lassen sich aktivieren, wenn das Thema sie motiviert, das galt bislang als ehernes Gesetz. Doch sind sie auch bereit, sich zu engagieren, wenn die Zeiten schlechter werden, wenn Städte schrumpfen und altern, wenn die finanziellen Möglichkeiten drastisch eingeschränkt werden, wenn es nichts mehr zu verteilen gibt? Oder herrscht dann nur noch Resignation? Kann eine Kommune riskieren, den Bürgerinnen und Bürgern reinen Wein einzuschenken? Hat nicht Angela Merkel 2005 mit ihrer Taktik Schiffbruch erlitten, den Bürgern die Wahrheit zu sagen?

Viele Politikberater würden in dieser Situation empfehlen, den Weg des geringeren Widerstands zu gehen. Viele Verwaltungen und Stadt- oder Gemeinderäte praktizieren dies auch so.

Es gibt allerdings auch Gegenbeispiele. Sie können positiv oder negativ enden, wie unsere beiden Beispiele zeigen. Eines ist aus Nordrhein-Westfalen, ein weiteres aus dem Saarland. Beide Beispiele zeigen, dass es keine Patentrezepte gibt.

In beiden Fällen hatten Kommunen den Mut, sich mit den Folgen des demographischen Wandels intensiv auseinanderzusetzen. Das wird den deutschen Städten und Gemeinden nicht erspart bleiben, denn der demographische Wandel wird die Politik in Deutschland in den nächsten Jahren fundamental ändern. Noch haben die Bürger die Möglichkeit, mitzugestalten. Sie können agieren und nicht nur reagieren.

Deshalb ist es sinnvoll, sie zu überzeugen und zum Mitmachen zu motivieren. Wir haben keine andere Wahl.

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Was ist demographischer Wandel?

Der demographische Wandel ver-ändert die Gesellschaft in Deutsch-land gravierend, wenn auch in einem schleichenden Prozess. Die Einwohnerzahlen sinken, die Gesell-schaft altert spürbar, die Auslastung der Infrastruktureinrichtungen wird schwächer. In Ostdeutschland wer-den ganze Plattenbausiedlungen im Rahmen des „Umbaus Ost“ platt gemacht, in Westdeutschland zählen Industrie brachen, leer stehende Wohnhäuser und Geschäfte immer häufiger zum Alltagsbild und sorgen für Problemdruck in der lokalen Politik.

Ging es früher um Wachstum und Neubau, so müssen sich Bürger, Politiker und Verwaltungen nun mit Stagnation, Schrumpfung, der Schließung von Einrichtungen und mit dem Abriss von Gebäuden auseinander setzen. Für die Politik stellt sich das Problem, ob und wie bei Bürgerinnen und Bürgern Zustimmung für Konsolidierung, Schrumpfung, Rückbau und gezielte Schwerpunktbildung zu gewinnen ist. Der erste NRW-Generationen-minister Laschet sieht im demo-graphischen Wandel „eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“.

Er hat Auswirkungen auf die kommunale Infrastruktur, Haushalt und Finanzen, die Höhe von Steuern, Abgaben, Gebühren und Entgelten, die Prioritäten kommunaler Rats-themen, den Städtebau, die Siedlungspolitik, die Flächennut-zungsplanung, die Angebote an Schulen, Kindergärten, den Einzelhandel und die Wirtschaft, die Verkehrspolitik, die Gestaltung des öffentlichen Raums für eine alternde Bevölkerung, den Generationen-vertrag, die Seniorenpolitik und die Jugendpolitik. Die Schwerpunkte verschieben sich.

Es wird Schrumpfungs- und Wachstumsregionen nebeneinander geben, das ist schon jetzt erkennbar. Damit wächst auch der Konkurrenzkampf der Städte und Regionen untereinander. „Sie kämpfen um jeden Einwohner bis zum Ruin“, hieß eine der Schlagzeilen. Von diesem Kannibalismus profitiert kaum einer. Dieser Kampf kostet so viele Ressourcen, dass am Ende fast nur Verlierer zurückbleiben. Deshalb ist es sinnvoller, sich auf Strategien einzulassen, die den demographischen Wandel akzep-tieren.

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Demographischer Wandel aus wissenschaftlicher Sicht

Demographischer Wandel bezeichnet die Veränderung der Alters- und Sozialstruktur einer Bevölkerung sowie der Einwohnerzahl im Zeitverlauf durch unterschiedliche Fertilität, Mortalität und Mobilität zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Charakteristisch sind stagnierende oder sinkende Geburtenraten und Geburtenzahlen, Kindermangel, eine Überalterung der Gesellschaft, Bevölkerungs-rückgang in Gemeinden und Regionen, Wanderungsprozesse, die Zunahme leerer Wohnungen und Häuser und die Destabilisierung der Generationenbalance.

Die bisherige Entwicklung wird an Hand der offiziellen Einwohnerdaten in Zeitreihenvergleichen dargestellt. Die Zukuftsentwicklung wird vom Statistischen Bundesamt in der Koordinierten Bevölkerungsvoraus-berechnung prognostiziert.

Prognosen enthalten Fehlerquellen. Je länger der Prognosezeitraum, desto höher die Fehleranfälligkeit. Städteranglisten mit Bevölkerungs-prognosen sind mit größter Vorsicht zu genießen und wissenschaftlich meist ohne Wert. Sie können allenfalls grobe Trends mit einiger Sicherheit angeben.

Sterben die Deutschen bald aus?

Spiegel online hat ein viel zitiertes Interview mit dem Bevöl-kerungsforscher Herwig Birg unter die Überschrift gestellt „Sterben die Deutschen aus?“ Das war maßlos übertrieben. Fakt ist: Die Deutschen sterben nicht aus. Entsprechende Aussagen sind statistisch in einem vertretbaren Prognosezeitraum nicht belegbar. Mit solchen plakativen Äußerungen wird die Entwicklung unzulässig dramatisiert. Aber:

Deutschland muss nach allen seriösen Berechnungen bis 2030 mit einer Schrumpfung der Bevölkerung rechnen. Das ist vor allem die Folge einer sehr niedrigen Geburtenrate. Im europäische Vergleich ist sie besonders schlecht.

Rechnet man die jetzt vorliegenden Zahlen hoch, ist bis 2030 eine durchschnittliche Schrumpfung der Bevölkerung von 5 bis 8 Prozent zu erwarten. In besonders betroffenen Regionen wie dem Saarland kann die Schrumpfung aber schneller und härter wirken. Dort ist mit einem deutlich höheren Einwohnerverlust von bis zu 20 Prozent zu rechnen. Das ist gravierend für Länder und Kommunen.

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Wenn Einrichtungen schließen müssen

Wo Städte schrumpfen, sinkt die Auslastung der kommunalen Einrichtungen. Wo die Auslastung besonders schwach wird, droht die komplette Schließung von Einrichtungen.

Besonders deutlich wird dies bei Schulen und Kindergärten. Der Anpassungsdruck dort ist ein Spiegelbild der negativen Geburtenentwicklung. So hat der Zwang zur Konsolidierung in Verbindung mit sinkenden Geburtenraten im Saarland dazu geführt, dass ein Drittel der Grundschulen zwischen 2005 und 2008 geschlossen wurde. Gab es 2004 noch 269 Grundschulen, waren es zum Abschluss der Reform 2008 nur noch 170.

Diese Einschnitte haben starke Proteste einer landesweiten Elterninitiative mit zahlreichen örtlichen Aktionen ausgelöst. Mangelnde Partizipation führte zu mangelnder Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Gegenreaktionen wären zumindest zum Teil vermeidbar gewesen. Die Folgen des demographischen Wandels waren nämlich in vielen saarländischen Kommunen schon erkennbar. Dazu gehören zurückgehende Schülerzahlen und eine mangelnde Auslastung.

Die neuen Bundesländer haben schon vor dem Saarland intensive Erfahrungen mit Schulschließungen aus demographischen Gründen gemacht. Sachsen hat von 1990 bis 2005 über 800 Grundschulen geschlossen, Brandenburg hat die Zahl der Grundschulen in einem Zeitraum von 10 Jahren um 22 % reduziert, Mecklenburg-Vorpommern um 36%. Ähnliche Entwicklungen verzeichnen Thüringen und Sachsen-Anhalt.

Wissenschaftler fordern neue Kooperationsformen, mehr Eigenverantwortung für Schulen und die Einbeziehung der Eltern, der Lehrer und der Politik in die Planungen.

Wenn Einrichtungen schließen müssen, sind dies gravierende Einschnitte ins soziale Leben. Deshalb ist es unverzichtbar, die Bürger „mitzunehmen“.

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Das MORO-Projekt im Ruhrgebiet

Die drei Städte Essen, Bochum und Geslsenkirchen haben sich zusammen mit dem Regionalverband Ruhr die Anpassung und Modernisierung der kommunalen Infrastruktur vorgenommen. Anpassung hieß in diesem Fall: Schließung zahlreicher Einrichtungen.

Man wollte die Einwohner mitnehmen und setzte sich fünf Ziele:

Informieren, Modernisieren, Konsolidieren, Vernetzen, Konsens erzeugen

Es ging vor allem um drei Politikfelder:

Sportstätten und Bäder Grünbereiche und Industriekultur Senioren und Wohnen.

Problematischster Bereich war die Anpassung bei den Bädern und Sportstätten. Die Planer erwarteten bereits Konflikte

Das Angebot sollte weniger dicht, dafür aber qualitativ besser werden. Das heißt: einerseits Schließung von Einrichtungen und Rückbau von Überkapazitäten und Leerständen. Gedacht war auch an eine Begrenzung auf „kommunale Grundversorgung; andererseits optimierte, modernisierte, flexible Angebote für multifunktionale altersgemischte Nutzungen in größeren Einzugsgebieten.

Trotz eines relativ großen Anpassungspotenzials wegen der Bevölkerungsschrumpfung im Ruhrgebiet sahen die Verantwortlichen ein gravierendes Problem: Angesichts von über 300.000 Mitgliedern in 1260 Sportvereinen gab es ein hohes Protestpotenzial. Und in diesen Zahlen waren die nicht organisierten Sportreibenden noch nicht enthalten. Dabei ging es vor allem um die Besucher der Bäder und die Schüler im Bereich des Schulsports.

Man ging hier zu Recht von einer großen Interessengruppe der Bürger aus. Damit wollte man sich nicht anlegen.

Die Idee eines Masterplans mit eingeschränktem Sportangebot ist deshalb über ein Anfangsstadium nicht hinausgekommen. Es gab in den drei Städten keine Konsensbildung.

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Wie Essen sich in die Nesseln setzte

Anders als Bochum und Gelsenkirchen musste Essen dann doch handeln. Die Kommunal-aufsicht forderte ein Haushaltssiche-rungskonzept.

Daraufhin entwickelte die Veraltung einen Masterplan mit drastischen Eingriffen in Bäder und Hallen.

Ziel war ein „geordneter Rückbau“ der Sportinfrastruktur. Man wollte selbst handeln, um nicht von der Aufsicht zu überstürzten Entscheidungen gezwungen zu werden.

Vorgeschlagen wurde die Schließung von 2 Bädern, die Aufgabe von 7 Sportplätzen und 2 Turnhallen und die Anpassung von 2 Sportanlagen an zukünftige Anforderungen. Außerdem wurden Personalabbau um 20 Prozent und Entgelterhöhungen vorgeschlagen. Die Schließung der Anlagen sollte kombiniert werden mit der Vermarktung der dann freien Grundstücke. Andererseits sollten Impulsprojekte neue Konzepte und ein neues Stadion für Essen ermöglichen.

Gegen den Stadtratsbeschluss liefen die Bürger Sturm. Es folgten eine Unterschriftenaktion und ein Bürgerbegehren, das vom schwarz-grünen Stadtrat abgelehnt wurde. Daran schloss sich ein Bürgerentscheid an, bei dem 77% mit Nein stimmten. Immerhin wurden rund 60.000 Bürger mobilisiert, gegen den Plan zu stimmen. Zwar wurde das Quorum von 20 Prozent Beteiligung nicht erreicht, doch die Quittung erhielten Oberbürgermeister und Ratskoalition bei der OB-Wahl.

Im August 2009 eroberte die SPD nach zehn Jahren das Amt des Essener Oberbürgermeisters zurück. Die CDU, die mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen gerechnet hatte, zeigte sich konsterniert und erklärte zur Begründung der Niederlage: „Wir hatten bei den Bürgern einen schweren Stand, weil wir so viel sparen mussten“. Die Einschätzung war vermutlich richtig. Sie wollten es aber auch, um sich als Spar-Experten zu profilieren. Die Rechnung ging nicht auf. Die Essener Politik setzte sich bei den Bürgern in die Nesseln.

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Probleme löst man nicht dadurch, dass man den Kopf in den Sand steckt. Probleme löst man, indem anpackt und etwas bewegt.

Dazu braucht man zuerst eine Strategie. Wir haben mit der Sensibilisierung im Rathaus begonnen, damit die klassische Verwaltung erst einmal sensibilisiert wurde für das, was auf die Gemeinde zukommt. Jetzt wissen alle, dass Demographie alle angeht, der Pre-Check hat allen die Augen geöffnet. In dieser Phase muss man für Orientierung, Strukturierung, Information und Organisation sorgen. Hier wird der Grundstein für den Erfolg gelegt.

Daran wurde eine Umweltanalyse angeschlossen: Stärken-Schwächen-Risiken-Chancen-Analyse (SWOT), Erkennen von möglichen Gegnern und Veto-Spielern, Identifikation von Partnern.

Unsere Partner sollten Bürger und Vereine sein.

Dann folgte die umfassend Bürgerbeteiligung mit dem Projekt Illingen 2030.

Ein Zukunftsprojekt für die Bürger mit den Bürgern. Dort galt: Kommunikation ist alles .

In diesem Fall des demographischen Wandels mussten wir informieren, argumentieren, aber auch emotionalisieren, provozieren und diskutieren. Vor allem aber mussten wir mit den Bürgern kooperieren und immer wieder kommunizieren.

Wir haben in einer Startveranstaltung provoziert, wir haben in Zukunftswerkstätten diskutiert und wir haben Illingen gemeinsam neu aufgestellt, also profiliert. Dies wurde von Profis moderiert, der Bürgermeister und die Verwaltungsmitarbeiter haben sich freiwillig zurückgehalten. Wir wollten denen eine Stimme geben, die sonst wenig sagen.

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Keine Angst vor Schrumpfung: Illingen 2030

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Über 1000 Bürger haben mitgemacht

Wir haben die Menschen dort abgeholt, wo sie zu Hause sind, weil wir über deren Probleme vor Ort gesprochen haben. Das hat funktioniert.

Die Ergebnisse des Projekts Illingen 2030 waren sehr ermutigend.

Über 1000 Bürger haben bisher mitgemacht. Sie haben ihre Zeit für uns, für die Allgemeinheit geopfert. Es gab vieles, was die Bürger sonst so nicht erleben:

Informationen in Hülle und Fülle

Ideenproduktion

Kooperation.

Und dann haben wir gemeinsame Projekte gemacht, die total attraktiv waren.

Wir haben nicht nur über Familienpolitik und Betreuung geredet („Ohne Kinder keine Zukunft“), sondern direkt neben der Schule ein neues Haus der Kinder gemeinsam geplant und schließlich gebaut. Von der Krippe über die Kita bis zur Freiwilligen Ganztagsbetreuung für Grundschüler reicht das Angebot.

Wir haben uns ein Quartier vorgeknöpft, in dem zwei Drittel aller Hausbewohner über 60 Jahre alt sind, weil dort die Leerstände von morgen sind. Und wir haben die Bürger aktiviert, sich für ihr Quartier verantwortlich zu fühlen und etwas zu tun. Das ist gelungen.