Click here to load reader

C ool an die K älte ang epass t - volkskunde.uni-wuerzburg.de · W as sagt Omas N achlass? ... damit Hämo globin. Ihr Blut ist des-halb quasi durchsichtig . Dass sie trotzdem nicht

Embed Size (px)

Citation preview

  • Gesangbuch,Poesiealbum,Silberlöffel: Was vonLuise Wagner blieb.FOTOS: DANIEL PETER

    Was lässt sich aus alten Selbstzeugnissenüber den Alltag erfahren? Die Ethnologin-nen Susanne Dinkl und Michaela Fenskestarten ein Projekt für die Bevölkerung.

    Was sagt Omas Nachlass?Alltagskultur: Ethnologen interessieren sich für den Alltag einst und heute. Und für Lebenswirklichkeiten.

    Dafür suchen Würzburger Forscher jetzt unterfränkische Selbstzeugnisse – von jedermann.

    .......................................................................................................

    Von ALICE NATTER.......................................................................................................

    E in Leinentuch. Ein Gesangbuch.Ein Silberlöffel mit Monogramm.Daneben ein Poesiealbum, ein Ta-gebuch. Und ein Kochbuch, in dasjemand feinsäuberlich in Sütterlin Rezepteschrieb. Dann noch ein paar Fotografien.Schwarz-weiß und leicht vergilbt. Die jungenFrauen, die darauf zu sehen sind, tragenhochgeschnürte Blusen, Röcke und Kleider.Und schauen mal keck, mal schüchtern demBetrachter entgegen. „Was“, fragt MichaelaFenske, „lässt sich daraus schließen?“

    Es sind die „Selbstzeugnisse“ einer Frau,die vor rund 100 Jahren sehr jung starb: LuiseWagner. Die Hinterlassenschaften entdeckteMichaela Fenske, Professorin für EuropäischeEthnologie und Volkskunde an der UniWürzburg, als in der entfernten Verwandt-schaft ein Haushalt aufgelöst wurde. DerSpeicher: für die Kulturwissenschaftlerin eineFundgrube. Sie begann die Fotos zu sichten,in den Büchern zu blättern, Leinentuch,Monogramm und Fotografien in einen Zu-sammenhang zu stellen. Dann packte sie dieÜberbleibsel eines Lebens zusammen, nahmsie in den Hörsaal mit und fragte ihre Studen-ten: „Was lässt sich daraus schließen?“

    Ethnologen interessieren sich für Alltage –für gegenwärtige ebenso wie für vergangene.Zur Ausbildung, sagt Fenske, gehören deshalbauch Leseübungen. Die Studenten müssendie alten Schreibschriften, müssen Kurrentund Sütterlin entziffern können, wollen siesich dem Alltagsleben der Menschen aus dem18., 19. und frühen 20. Jahrhundert widmen.Um die Einführung in Praktiken der histori-schen Kulturanalyse nicht zum akademisch-

    trockenen Stoff werden zu lassen, brachteFenske Silberlöffel, Kochbuch und Alben insSeminar. „Von einem Leben bleibt immer et-was – wie lässt sich eine Person über dieGegenstände entdecken?“

    Die Studenten fanden heraus, dass die jun-ge Frau aus einem bürgerlichen Haushaltstammte, auf einem Internat in der Schweizwar, irgendwann wurde Luise von einer ano-nymen Person zu einer guten Bekannten, fastVertrauten. „War das ein exemplarisches Le-ben? War es besonders?“ Durch Fotografienund die wenigen erhaltenen Dinge konntensie einer Person nahe kommen.

    Und genau darum geht es in einem neuenProjekt des Lehrstuhls für Europäische Eth-nologie: Professorin Michaela Fenske undDr. Susanne Dinkl wollen mit ihren Studen-ten – anhand von echten Selbstzeugnissen –den Alltag von Menschen aus der Regiongreifbar machen. „Ein Angebot für die lokaleBevölkerung“, sagt Ethnologin SusanneDinkl. Feldpostbriefe des Onkels, die aber nie-mand in der Verwandtschaft mehr lesenkann. Alte Rezeptbücher, in die die Großmut-ter schrieb. Fotoalben, Heiratsurkunden,Haushaltsbücher, Eheverträge, Briefe, Arbeits-verträge. „Ego-Dokumente“, sagen die Wis-senschaftler dazu. Und sie bieten allen Inte-ressierten an, diese Dokumente „lesbar“ und„verstehbar“ zu machen.

    „Alltag“ und „Kultur“ sind die großenSchlüsselbegriffe des kleinen Faches. „Wir wol-len wissen, wie und warum Menschen so han-deln, wie sie es tun“, sagt Susanne Dinkl. „Wirinteressieren uns für das, was sie erfahren, wieihre Lebenswelten aussehen.“ Aber landen die„Alltagsdinge“ erst einmal auf dem Flohmarkt– dann geht das Wissen verloren. Wem gehör-

    te die Kaffeekanne? Wer trug den Zylinder?Wer führte einst so säuberlich Tagebuch? Wersind die Herrschaften da auf dem Bild? DieKulturwissenschaftler wollen die Herkunft derüberkommenen Dinge und Schriften mög-lichst sichern. Bevor sie aus dem Zusammen-hang gerissen werden, auf dem Flohmarkt lan-den. Oder dem Müll. Wobei Michaela Fenske,dem Aufruf, die „Schätze“ den Wissenschaft-lern zu überlassen, gleich eines vornewegschickt: „Wir sind selbstverständlich zur Ano-nymisierung verpflichtet. Wir müssen alle Per-sonen schützen.“

    Es soll ein Projekt der Gegenseitigkeit sein:Die Studenten sollen anhand von realenZeugnissen als Lehrmaterial die altenSchreibschriften lesen lernen. Und die, die al-

    te Hinterlassenschaften stiften, können mehrüber ihre Familiengeschichte erfahren: Oftlässt sich nicht mehr so leicht nachvollzie-hen, was da vor Generationen geschah – dieEthnologen aber können Zusammenhängeerschließen, Biografien entschlüsseln, in diefrüheren Leben blicken.

    „Wir wollen Menschen aus Unterfrankenein Gesicht geben, die Vergangenheit an-schaulich machen“, sagt Michaela Fenske.„Tatsächlich wissen Angehörige oft nicht, wo-hin mit den Dokumenten ihrer verstorbenenEltern und Großeltern. Die schriftlichen Hin-terlassenschaften werden bestenfalls in Kistenverpackt – und vergessen.“ Damit aber bleibennicht nur die schriftlichen Überlieferungenund Überreste der Vergangenheit ungenutzt –„sondern es verstummt auch das, was von denMenschen geblieben ist, ihre Alltage“.

    Die Forscher laden dazu ein, ihnen Quel-len anzuvertrauen – „damit wir sie auswerten,archivieren sowie in Lehre und Forschungeinbringen“. Was die Ethnologen bei ihrerkulturhistorischen Detektivarbeit herausfin-den, wollen sie dann nicht nur den Familienberichten. Das Ziel ist, unterfränkische All-tagskultur in Ausstellungen oder Veröffentli-chungen sichtbar und nachvollziehbar zumachen. Den von heute – und den aus derZeit von Luise.

    Kontakt: Wer den Wissenschaftlern einen Nach-lass oder schriftliche Hinterlassenschaften zurAnalyse überlassen möchte, wendet sich direktan den Lehrstuhl für Europäische Ethnologie/Volkskunde der Universität Würzburg,ü (0931) 31-85608. Oder per Mail [email protected] [email protected]

    S a m s t a g , 2 . M ä r z 2 0 1 9 – N r . 5 2 W U E S - S e i t e 4 0W I S S E N

    Cool andie Kälteangepasst

    Forscher entschlüsselndas Eisfisch-Genom

    WÜRZBURG Eisfische leben in einerUmgebung, die eigentlich tödlichfür sie sein müsste. Im Eismeer rundum den Südpol liegt die Wassertem-peratur bei knapp minus zwei Grad.Menschen hätten dort keine Überle-benschancen, und auch für die meis-ten Fischarten ist das zu kalt. Ihr Blutwürde schlicht einfrieren, Eiskristal-le würden die roten Blutkörperchen,die Erythrozyten, zum Platzen brin-gen. Und trotzdem gibt es eine Fisch-art, die sich auch unter solch lebens-feindlichen Bedingungen wohlfühltund die sich dort vermehrt: die Eisfi-sche aus der Familie Nototheniidae.

    Wie schaffen sie es, im Eismeer zuexistieren? Wie konnten sie sich an-passen an die Extrembedingungen?Ein internationales Team von Wis-senschaftlern hat jetzt untersucht,welche genetischen Anpassungen da-für verantwortlich sind, dass Eisfi-schen selbst extreme Kälte nichts aus-macht. Der Würzburger GenetikerProfessor Manfred Schartl, Inhaberdes Lehrstuhls für PhysiologischeChemie, stieß dabei mit seinen Kolle-gen aus Korea und den USA auf eineReihe charakteristischer Veränderun-gen im Fischerbgut.

    In ihrer Studie sequenzierten dieForscher das Genom des antarkti-schen Schwarzflossen-Eisfisches undsuchten nach speziellen Veränderun-gen, die für die einzigartige Physiolo-gie verantwortlich sind. „Eisfisch-Populationen sind zum ersten Malam Ende des Pliozäns aufgetreten,nachdem die Oberflächentemperatu-ren der Antarktis um 2,5 Grad Celsiusabgesunken waren“, sagt Schartl. Voretwa 77 Millionen Jahren hatten siesich von der Linie ihrer Vorfahren,den Stichlingen, wegentwickelt – undsich immer besser an Kälte angepasst.

    Ursprüngliche Nototheniiden wa-ren rotblütig, hatten aber keineSauerstoff bindenden Proteine inihrem Skelettmuskel. Außerdem leb-ten sie auf dem Meeresboden undbesaßen keine auftriebserzeugendeSchwimmblase. Als die Antarktis ab-kühlte und vor etwa zehn bis 14 Mil-lionen Jahren Temperaturen vonknapp minus zwei Grad Celsius er-reichte, öffneten sich neue ökologi-sche Nischen für die Eisfische.

    Es ist ein Zusammenspiel mehrererFaktoren, das Eisfischen das Überle-ben in großer Kälte ermöglicht. Derauffälligste darunter: Den Tieren feh-len die roten Blutkörperchen – unddamit Hämoglobin. Ihr Blut ist des-halb quasi durchsichtig. Dass sietrotzdem nicht an Sauerstoffarmutleiden, erklärt Manfred Schartl so:„Bei den tiefen Temperaturen ist dieSauerstoffsättigung des Meerwassersund damit auch aller Körperflüssig-keiten der Fische so hoch, dass derSauerstofftransport durch das Hilfs-molekül Hämoglobin nicht mehr nö-tig ist.“ Gleichzeitig ist bei Eisfischendas Blutvolumen doppelt so groß wiebei anderen Fischarten in gemäßigtenBreiten, ihr Herz ist vergrößert, auchdie Blutgefäße haben einen größerenDurchmesser. Eine weitere evolutio-näre Errungenschaft: Eisfische produ-zieren „Frostschutz“-Eiweiße, die sievor dem Kältetod bewahren.

    Ihre besonderen Eigenschaftenmachen Eisfische für die Biomedizininteressant. „Sie haben unter natürli-chen Bedingungen Phänotypen ent-wickelt, die menschlichen Krankhei-ten entsprechen“, sagt ManfredSchartl. Das Fehlen der Erythrozytenkomme beispielsweise einer totalenAnämie gleich. Außerdem verkalkendie Knochen der Tiere nicht: IhreGräten sind in einem so „leichten“Zustand, wie er bei Osteoporose-Pa-tienten zu finden ist. (NAT)

    Warum sich die Forscher für diesenFisch interessieren? Weil er in ext-remer Kälte überlebt. Und biomedi-zinisches „Vorbild“ für eine Reihevon Krankheiten ist. FOTO: HYUN PARK

    Das dritte Auge der AlgenErfolg für die Optogenetik: Würzburger Forscher entdecken bislang unbekannten Lichtsensor

    WÜRZBURG Er löst eine Reaktionaus, wie sie auch im Auge des Men-schen abläuft. Der Lichtsensor, denWürzburger Forscher gerade in Grün-algen entdeckt haben. Genau wieLandpflanzen nutzen auch Algen dasSonnenlicht als Energiequelle – dasist bekannt. Viele Grünalgen bewe-gen sich aktiv im Wasser, nähern sichdem Licht – oder entfernen sich. Da-für benutzen sie spezielle Sensoren,sogenannte Photorezeptoren, mitdenen sie das Licht wahrnehmen.

    Die jahrzehntelange Suche nachdiesen Lichtsensoren führte erstmals2002 zum Erfolg: Forscher um denWürzburger Wissenschaftler GeorgNagel, der damals am Max-Planck-Institut für Biophysik in Frankfurt tä-tig war, entdeckten und charakteri-sierten in Algen zwei sogenannte

    Channelrhodopsine. Es handelt sichdabei um Ionenkanäle, die Licht ab-sorbieren, sich daraufhin öffnen undIonen transportieren. Benannt wur-den sie nach den Rhodopsinen, denSehpigmenten von Menschen.

    Jetzt kennt man ein drittes „Auge“bei Algen: einen neuen Lichtsensor,der unerwartete Eigenschaften hatund den Georg Nagel mit dem Biele-feder Professor Armin Hallmann ent-deckte. Die Überraschung für die For-scher: Bei dem neuen Photorezeptorhandelt es sich um eine Guanylylcyc-lase, die durch Licht gehemmt wird.

    Die genauen Abläufe sind für denLaien kompliziert. Reguliert wird derneu entdeckte Sensor aber von Lichtund vom Molekül ATP. Solche „Zwei-komponentensysteme“ sind bei Bak-terien schon gut bekannt, nicht aber

    bei höher entwickelten Zellen. DieForscher gaben dem neuen Photore-zeptor den Namen „Two ComponentCyclase Opsin“, kurz 2c-Cyclop.

    Sie fanden ihn gleich bei zweiGrünalgen, berichtet Georg Nagel.„Seit vielen Jahren gibt es genetischeDaten, aus denen wir schließen konn-ten, dass es in Grünalgen noch vielmehr Rhodopsine geben muss als diezwei bisher bekannten.“ Bisher habeaber niemand die Funktion dieserLichtsensoren demonstrieren könne.

    Der Forschungsgruppe aus Biele-feld und Würzburg ist das nun gelun-gen: Sie hat das neue Rhodopsin in Ei-zellen des Krallenfrosches Xenopuslaevis und in die Kugelalge Volvoxcarteri eingebaut. In beiden Fällenkonnte seine Funktion nachgewiesenwerden. Die Forscher vermuten, dass

    der Lichtsensor 2c-Cyclop neue Mög-lichkeiten für die Optogenetik bietet.Mit dieser Methodik lässt sich die Ak-tivität lebender Gewebe und Organis-men durch Lichtsignale beeinflussen.Mittels Optogenetik können biologi-sche Vorgänge in Zellen aufgeklärtwerden – zum Beispiel Mechanismender Parkinson-Krankheit oder ande-rer neurologischer Erkrankungen.„Sie brachte auch neue Erkenntnisseüber Krankheiten wie Autismus, Schi-zophrenie und Depression oderAngststörungen“, sagt Georg Nagel,der mit dem Berliner BiophysikerPeter Hegemann zu den Pionieren derOptogenetik zählt. Sie entdeckten dielichtgesteuerten Ionenkanäle aus Al-gen und dass man sie in tierische Zel-len einbauen und diese dann mitLichtsignalen steuern kann. (NAT)

    In dieser mehrzelligen Volvox-Algewurde der neuartige Lichtsensormit Fluoreszenz markiert. Er zeigtsich in Membranen um den Zellkernherum. FOTO: EVA LAURA VON DER HEYDE

    Was sagt Omas Nachlass?Das dritte Auge der AlgenCool an die Kälte angepasst