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LITERATUR \ CANETTI 1/4 Elias Canetti Die gerettete Zunge - Deutsch am Genfersee Im Mai 1913 war alles für die Übersiedlung nach Wien vorbereitet und wir verließen Manchester. Die Reise ging in Etappen vor sich, ich streifte zum erstenmal Städte, die sich später zu den unermeßlichen Zentren meines Lebens erweitern sollten. In London blieben wir, glaube ich, nur wenige Stunden. Aber wir fuhren von einem Bahnhof zum anderen durch die Stadt und ich sah verzückt die hohen, roten Autobusse und bat flehentlich, oben in einem fahren zu dürfen. Es war nicht viel Zeit dazu und die Aufregung über die dichtgedrängten Straßen, die ich als unendlich lange schwarze Wirbel in Erinnerung behalten habe, mündete in die über Victoria Station, wo unzählige Menschen durcheinanderliefen und nicht aneinanderstießen. An die Schiffsfahrt über den Kanal habe ich keine Erinnerung behalten, um so eindrucksvoller war die Ankunft in Paris. Auf dem Bahnhof erwartete uns ein jungverheiratetes Paar, David, der unscheinbarste und kleinste Bruder meiner Mutter, eine sanfte Maus, an seiner Seite eine blitzende junge Frau mit pechschwarzen Haaren und rotgeschminkten Wangen. Da waren sie wieder, die roten Backen, aber so rot, daß die Mutter mich vor ihrer Künstlichkeit warnte, als ich die neue Tante auf keine andere Stelle küssen wollte. Sie hieß Esther und war frisch aus Saloniki importiert, da gab es die größte spaniolische Gemeinde und junge Männer, die Lust zum Heiraten hatten, holten sich gern ihre Bräute von dort. In ihrer Wohnung waren die Zimmer so klein, daß ich sie frech Puppenzimmer nannte. Onkel David war nicht beleidigt, er lächelte immer und sagte nichts, das genaue Gegenteil seines mächtigen Bruders in Manchester, der ihn als Kompagnon verächtlich abgelehnt hatte. Er war auf dem Gipfel seines jungen Glücks, vor einer Woche hatten sie geheiratet. Er war stolz, daß ich der blitzenden Tante auf der Stelle verfiel und munterte mich immer wieder auf, sie zu küssen. Er wußte nicht, der Ärmste, was ihm bevorstand, sie entpuppte sich bald als zähe und unstillbare Furie. Wir blieben einige Zeit in der Wohnung mit den winzigen Zimmern zu Gast, und mir war es recht. Ich war neugierig und durfte der Tante beim Schminken zusehen. Sie erklärte mir, daß alle Frauen in Paris sich schminkten, sonst würden sie den Männern nicht gefallen. »Aber du gefällst dem Onkel«, sagte ich, sie sagte darauf nichts. Sie parfümierte sich und wollte wissen, ob ihr Parfüm gut rieche. Mir waren Parfüms unheimlich, Miss Bray, unsere Gouvernante, sagte, sie seien ›wicked‹. So wich ich der Frage der Tante Esther aus und sagte: »Am besten riechen deine Haare!« Dann setzte sie sich, ließ die Haare herunter, noch schwarzer als die vielbestaunten Locken meines Bruders, und ich durfte, während sie mit ihrer Toilette beschäftigt war, daneben sitzen und sie bewundern. Das alles spielte sich öffentlich ab, vor den Augen der Miss Bray, die darüber unglücklich war und ich hörte sie zur Mutter sagen, dieses Paris sei schlecht für die Kinder. Unsere Reise ging weiter in die Schweiz, nach Lausanne, wo die Mutter für den Sommer einige Monate Station machen wollte. Sie mietete eine Wohnung in der Höhe der Stadt, mit einer leuchtenden Aussicht auf den See und die Segelboote, die ihn befuhren. Wir stiegen oft nach Ouchy hinunter, gingen am Seeufer spazieren und hörten der Musikkapelle zu, die im Park spielte. Es war alles sehr hell, immer ging eine leichte Brise, ich liebte das Wasser, den Wind und die Segel, und wenn die Musikkapelle spielte, war ich so glücklich, daß ich Mutter fragte: »Warum bleiben wir nicht hier, hier ist es am schönsten.« »Du mußt jetzt Deutsch lernen«, sagte sie, »du kommst nach Wien in die Schule.« Und obwohl sie das Wort ›Wien‹ nie ohne Inbrunst sagte, lockte es mich, solange wir in Lausanne waren, nicht. Denn wenn ich fragte, ob dort ein See sei, sagte sie »Nein, aber die Donau«, und statt der Berge im Savoyischen gegenüber gab es in Wien Wälder und Hügel. Nun hatte ich die Donau schon von klein auf gekannt und da das Wasser, in dem ich mich verbrüht hatte, der Donau entstammte, war ich nicht gut auf sie zu sprechen. Hier aber war dieser herrliche See und Berge waren etwas Neues. Ich wehrte mich

Canetti Die Gerettete Zunge - Deutsch Am Genf

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  • LITERATUR \ CANETTI 1/4

    Elias Canetti Die gerettete Zunge - Deutsch am Genfersee

    Im Mai 1913 war alles fr die bersiedlung nach Wien vorbereitet und wir verlieen Manchester. Die Reise ging in Etappen vor sich, ich streifte zum erstenmal Stdte, die sich spter zu den unermelichen Zentren meines Lebens erweitern sollten. In London blieben wir, glaube ich, nur wenige Stunden. Aber wir fuhren von einem Bahnhof zum anderen durch die Stadt und ich sah verzckt die hohen, roten Autobusse und bat flehentlich, oben in einem fahren zu drfen. Es war nicht viel Zeit dazu und die Aufregung ber die dichtgedrngten Straen, die ich als unendlich lange schwarze Wirbel in Erinnerung behalten habe, mndete in die ber Victoria Station, wo unzhlige Menschen durcheinanderliefen und nicht aneinanderstieen. An die Schiffsfahrt ber den Kanal habe ich keine Erinnerung behalten, um so eindrucksvoller war die Ankunft in Paris. Auf dem Bahnhof erwartete uns ein jungverheiratetes Paar, David, der unscheinbarste und kleinste Bruder meiner Mutter, eine sanfte Maus, an seiner Seite eine blitzende junge Frau mit pechschwarzen Haaren und rotgeschminkten Wangen. Da waren sie wieder, die roten Backen, aber so rot, da die Mutter mich vor ihrer Knstlichkeit warnte, als ich die neue Tante auf keine andere Stelle kssen wollte. Sie hie Esther und war frisch aus Saloniki importiert, da gab es die grte spaniolische Gemeinde und junge Mnner, die Lust zum Heiraten hatten, holten sich gern ihre Brute von dort. In ihrer Wohnung waren die Zimmer so klein, da ich sie frech Puppenzimmer nannte. Onkel David war nicht beleidigt, er lchelte immer und sagte nichts, das genaue Gegenteil seines mchtigen Bruders in Manchester, der ihn als Kompagnon verchtlich abgelehnt hatte. Er war auf dem Gipfel seines jungen Glcks, vor einer Woche hatten sie geheiratet. Er war stolz, da ich der blitzenden Tante auf der Stelle verfiel und munterte mich immer wieder auf, sie zu kssen. Er wute nicht, der rmste, was ihm bevorstand, sie entpuppte sich bald als zhe und unstillbare Furie. Wir blieben einige Zeit in der Wohnung mit den winzigen Zimmern zu Gast, und mir war es recht. Ich war neugierig und durfte der Tante beim Schminken zusehen. Sie erklrte mir, da alle Frauen in Paris sich schminkten, sonst wrden sie den Mnnern nicht gefallen. Aber du gefllst dem Onkel, sagte ich, sie sagte darauf nichts. Sie parfmierte sich und wollte wissen, ob ihr Parfm gut rieche. Mir waren Parfms unheimlich, Miss Bray, unsere Gouvernante, sagte, sie seien wicked. So wich ich der Frage der Tante Esther aus und sagte: Am besten riechen deine Haare! Dann setzte sie sich, lie die Haare herunter, noch schwarzer als die vielbestaunten Locken meines Bruders, und ich durfte, whrend sie mit ihrer Toilette beschftigt war, daneben sitzen und sie bewundern. Das alles spielte sich ffentlich ab, vor den Augen der Miss Bray, die darber unglcklich war und ich hrte sie zur Mutter sagen, dieses Paris sei schlecht fr die Kinder. Unsere Reise ging weiter in die Schweiz, nach Lausanne, wo die Mutter fr den Sommer einige Monate Station machen wollte. Sie mietete eine Wohnung in der Hhe der Stadt, mit einer leuchtenden Aussicht auf den See und die Segelboote, die ihn befuhren. Wir stiegen oft nach Ouchy hinunter, gingen am Seeufer spazieren und hrten der Musikkapelle zu, die im Park spielte. Es war alles sehr hell, immer ging eine leichte Brise, ich liebte das Wasser, den Wind und die Segel, und wenn die Musikkapelle spielte, war ich so glcklich, da ich Mutter fragte: Warum bleiben wir nicht hier, hier ist es am schnsten. Du mut jetzt Deutsch lernen, sagte sie, du kommst nach Wien in die Schule. Und obwohl sie das Wort Wien nie ohne Inbrunst sagte, lockte es mich, solange wir in Lausanne waren, nicht. Denn wenn ich fragte, ob dort ein See sei, sagte sie Nein, aber die Donau, und statt der Berge im Savoyischen gegenber gab es in Wien Wlder und Hgel. Nun hatte ich die Donau schon von klein auf gekannt und da das Wasser, in dem ich mich verbrht hatte, der Donau entstammte, war ich nicht gut auf sie zu sprechen. Hier aber war dieser herrliche See und Berge waren etwas Neues. Ich wehrte mich

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    hartnckig gegen Wien, und ein wenig mag es auch darauf zurckzufhren sein, da wir etwas lnger als geplant in Lausanne blieben. Aber der wirkliche Grund war doch, da ich erst Deutsch lernen mute. Ich war acht Jahre alt, ich sollte in Wien in die Schule kommen und meinem Alter entsprach dort die 3. Klasse der Volksschule. Es war fr die Mutter ein unertrglicher Gedanke, da man mich wegen meiner Unkenntnis der Sprache vielleicht nicht in diese Klasse aufnehmen wrde und sie war entschlossen, mir in krzester Zeit Deutsch beizubringen. Nicht sehr lange nach unserer Ankunft gingen wir in eine Buchhandlung, sie fragte nach einer englisch-deutschen Grammatik, nahm das erste Buch, das man ihr gab, fhrte mich sofort nach Hause zurck und begann mit ihrem Unterricht. Wie soll ich die Art dieses Unterrichts glaubwrdig schildern? Ich wei, wie es zuging, wie htte ich es vergessen knnen, aber ich kann auch selbst noch immer nicht daran glauben. Wir saen im Speisezimmer am groen Tisch, ich sa an der schmleren Seite, mit der Aussicht auf See und Segel. Sie sa um die Ecke links von mir und hielt das Lehrbuch so, da ich nicht hineinsehen konnte. Sie hielt es immer fern von mir. Du brauchst es doch nicht, sagte sie, du kannst sowieso noch nichts verstehen. Aber dieser Begrndung zum Trotz empfand ich, da sie mir das Buch vorenthielt wie ein Geheimnis. Sie las mir einen Satz Deutsch vor und lie mich ihn wiederholen. Da ihr meine Aussprache mifiel, wiederholte ich ihn ein paarmal, bis er ihr ertrglich schien. Das geschah aber nicht oft, denn sie verhhnte mich fr meine Aussprache, und da ich um nichts in der Welt ihren Hohn ertrug, gab ich mir Mhe und sprach es bald richtig. Dann erst sagte sie mir, was der Satz auf englisch bedeute. Das aber wiederholte sie nie, das mute ich mir sofort ein fr allemal merken. Dann ging sie rasch zum nchsten Satz ber, es kam zur selben Prozedur; sobald ich ihn richtig ausgesprochen hatte, bersetzte sie ihn, sah mich gebieterisch an, da ich mirs merke, und war schon beim nchsten. Ich wei nicht, wieviel Stze sie mir das erste Mal zumutete, sagen wir bescheiden: einige; ich frchte, es waren viele. Sie entlie mich, sagte: Wiederhole dir das fr dich. Du darfst keinen Satz vergessen. Nicht einen einzigen. Morgen machen wir weiter. Sie behielt das Buch, und ich war ratlos mir selber berlassen. Ich hatte keine Hilfe, Miss Bray sprach nur englisch, und whrend des brigen Tages weigerte sich die Mutter, mir die Stze vorzusprechen. Am nchsten Tag sa ich wieder am selben Platz, das offene Fenster vor mir, den See und die Segel. Sie nahm die Stze vom Vortag wieder her, lie mich einen nachsprechen und fragte, was er bedeute. Mein Unglck wollte es, da ich mir seinen Sinn gemerkt hatte, und sie sagte zufrieden: Ich sehe, es geht so! Aber dann kam die Katastrophe und ich wute nichts mehr, auer dem ersten hatte ich mir keinen einzigen Satz gemerkt. Ich sprach sie nach, sie sah mich erwartungsvoll an, ich stotterte und verstummte. Als es bei einigen so weiterging, wurde sie zornig und sagte: Du hast dir doch den ersten gemerkt, also kannst du's. Du willst nicht. Du willst in Lausanne bleiben. Ich lasse dich allein in Lausanne zurck. Ich fahre nach Wien, und Miss Bray und die Kleinen nehme ich mit. Du kannst allein in Lausanne bleiben! Ich glaube, da ich das weniger frchtete als ihren Hohn. Denn wenn sie besonders ungeduldig wurde, schlug sie die Hnde ber dem Kopf zusammen und rief: Ich habe einen Idioten zum Sohn! Das habe ich nicht gewut, da ich einen Idioten zum Sohn habe! oder Dein Vater hat doch auch Deutsch gekonnt, was wrde dein Vater dazu sagen! Ich geriet in eine schreckliche Verzweiflung und um es zu verbergen, blickte ich auf die Segel und erhoffte Hilfe von ihnen, die mir nicht helfen konnten. Es geschah, was ich noch heute nicht begreife. Ich pate wie ein Teufel auf und lernte es, mir den Sinn der Stze auf der Stelle einzuprgen. Wenn ich drei der vier von ihnen richtig wute, lobte sie mich nicht, sondern wollte die anderen, sie wollte, da ich mir jedesmal smtliche Stze merke. Da das aber nie geschah,

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    lobte sie mich kein einziges Mal und entlie mich whrend dieser Wochen finster und unzufrieden. Ich lebte nun in Schrecken vor ihrem Hohn und wiederholte mir untertags, wo immer ich war, die Stze. Bei den Spaziergngen mit der Gouvernante war ich einsilbig und verdrossen. Ich fhlte nicht mehr den Wind, ich hrte nicht auf die Musik, immer hatte ich meine deutschen Stze im Kopf und ihren Sinn auf englisch. Wann ich konnte, schlich ich mich auf die Seite und bte sie laut allein, wobei es mir passierte, da ich einen Fehler, den ich einmal gemacht hatte, mit derselben Besessenheit einbte wie richtige Stze. Ich hatte ja kein Buch, das mir zur Kontrolle diente, sie verweigerte es mir hartnckig und erbarmungslos, wohl wissend, welche Freundschaft ich fr Bcher empfand und wieviel leichter alles mit einem Buch fr mich gewesen wre. Aber sie hatte die Idee, da man sich nichts leicht machen drfe; da Bcher fr Sprachen schlecht seien; da man sie mndlich lernen msse und ein Buch erst unschdlich sei, wenn man schon etwas von der Sprache wisse. Sie achtete nicht darauf, da ich vor Kummer wenig a. Den Terror, in dem ich lebte, hielt sie fr pdagogisch. An manchen Tagen gelang es mir, mich bis auf ein oder zwei Ausnahmen an alle Stze und ihren Sinn zu erinnern. Dann suchte ich auf ihrem Gesicht nach Zeichen der Zufriedenheit. Aber ich fand sie nie und das hchste, wozu ich es brachte, war, da sie mich nicht verhhnte. An anderen Tagen ging es weniger gut und dann zitterte ich in Erwartung des Idioten, den sie zur Welt gebracht hatte, der traf mich am schwersten. Sobald der Idiot kam, war ich vernichtet und nur mit dem, was sie ber den Vater sagte, verfehlte sie ihre Wirkung. Seine Neigung trstete mich, nie hatte ich ein unfreundliches Wort von ihm bekommen und was immer ich ihm sagte - er freute sich darber und lie mich gewhren. Zu den kleinen Brdern sprach ich kaum mehr und wies sie schroff, wie die Mutter, ab. Miss Bray, deren Liebling der Jngste war, die uns aber alle drei sehr mochte, sprte, in welchem gefhrlichen Zustand ich war und wenn sie mich dabei ertappte, wie ich alle meine deutschen Stze bte, wurde sie unmutig und sagte, jetzt sei es genug, ich solle jetzt aufhren, ich wisse schon zu viel fr einen Jungen in meinem Alter, sie habe noch nie eine andere Sprache gelernt und komme auch so ganz gut durchs Leben. berall auf der Welt gbe es Leute, die Englisch verstnden. Ihre Teilnahme tat mir wohl, aber der Inhalt ihrer Worte bedeutete mir nichts, aus der schrecklichen Hypnose, in der die Mutter mich gefangenhielt, htte nur sie selber mich erlsen knnen. Wohl belauschte ich Miss Bray, wenn sie zur Mutter sagte: Der Junge ist unglcklich. Er sagt, Madame halten ihn fr einen Idioten. Das ist er doch! bekam sie darauf zu hren, sonst wrde ich's ihm nicht sagen! Das war sehr bitter, es war wieder das Wort, an dem fr mich alles hing. Ich dachte an meine Cousine Elsie in der Palatine Road, die zurckgeblieben war und nicht recht sprechen konnte. Von ihr hatten die Erwachsenen bedauernd gesagt: Sie wird eine Idiotin bleiben. Miss Bray mu ein gutes und zhes Herz gehabt haben, denn schlielich war sie es, die mich rettete. Eines Nachmittags, wir hatten uns eben zur Stunde niedergesetzt, sagte die Mutter pltzlich: Miss Bray sagt, du mchtest gern die deutsche Schrift lernen. Ist das wahr? Vielleicht hatte ich es einmal gesagt, vielleicht war sie von selber auf die Idee gekommen. Aber da die Mutter whrend dieser Worte auf das Buch schaute, das sie in der Hand hielt, erfate ich gleich meine Chance und sagte: Ja, das mchte ich. Ich werde es in der Schule in Wien brauchen. So bekam ich endlich das Buch, um die eckigen Buchstaben daraus zu lernen. Mir die Buchstaben beizubringen, dazu hatte die Mutter schon gar keine Geduld. Sie warf ihre Prinzipien ber den Haufen und ich behielt das Buch. Die schlimmsten Leiden, die einen Monat gedauert haben mgen, waren vorber. Aber nur fr die Schrift, hatte die Mutter gesagt, als sie mir das Buch anvertraute. Sonst ben wir die Stze mndlich weiter. Sie konnte mich nicht daran hindern, die Stze nachzulesen. Ich hatte schon

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    viel von ihr gelernt und irgend etwas war daran, an der nachdrcklichen und zwingenden Weise, in der sie mir die Stze vorsprach. Alles was neu war, lernte ich wie bisher auch weiterhin von ihr. Aber ich konnte, was ich von ihr gehrt hatte, spter durch Lesen bekrftigen und bestand darum besser vor ihr. Sie hatte keine Gelegenheit mehr, mir Idiot zu sagen und war selber erleichtert darber. Sie hatte sich ernsthaft Gedanken ber mich gemacht, erzhlte sie nachher, vielleicht war ich der einzige in der weitverzweigten Familie, der fr Sprachen kein Geschick hatte. Nun berzeugte sie sich vom Gegenteil und unsere Nachmittage verwandelten sich in lauter Wohlgefallen. Jetzt konnte es sogar vorkommen, da ich sie in Staunen versetzte und es geschah mitunter gegen ihren Willen, da ihr ein Lob entfuhr und sie sagte: Du bist doch mein Sohn. Es war eine erhabene Zeit, die jetzt begann. Die Mutter begann mit mir deutsch zu sprechen, auch auerhalb der Stunden. Ich sprte, da ich ihr wieder nahe war, wie in jenen Wochen nach dem Tod des Vaters. Erst spter begriff ich, da es nicht nur um meinetwillen geschah, als sie mir Deutsch unter Hohn und Qualen beibrachte. Sie selbst hatte ein tiefes Bedrfnis danach, mit mir deutsch zu sprechen, es war die Sprache ihres Vertrauens. Der furchtbare Schnitt in ihrem Leben, als sie 27jhrig das Ohr meines Vaters verlor, drckte sich fr sie am empfindlichsten darin aus, da ihr Liebesgesprch auf deutsch mit ihm verstummt war. In dieser Sprache hatte sich ihre eigentliche Ehe abgespielt. Sie wute sich keinen Rat, sie fhlte sich ohne ihn verloren, und versuchte so rasch wie mglich, mich an seine Stelle zu setzen. Sie erwartete sich sehr viel davon und ertrug es schwer, als ich zu Anfang ihres Unternehmens zu versagen drohte. So zwang sie mich in krzester Zeit zu einer Leistung, die ber die Krfte jedes Kindes ging, und da es ihr gelang, hat die tiefere Natur meines Deutsch bestimmt, es war eine spt und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache. Bei diesen Schmerzen war es nicht geblieben, gleich danach erfolgte eine Periode des Glcks, und das hat mich unlsbar an diese Sprache gebunden. Es mu auch den Hang zum Schreiben frh in mir genhrt haben, denn um des Erlernens des Schreibens willen hatte ich ihr das Buch abgewonnen und die pltzliche Wendung zum Besseren begann eben damit, da ich deutsche Buchstaben schreiben lernte. Sie duldete keineswegs, da ich die anderen Sprachen aufgab, Bildung bestand fr sie in den Literaturen aller Sprachen, die sie kannte, aber die Sprache unserer Liebe - und was war es fr eine Liebe! - wurde Deutsch. Sie nahm mich nun allein auf Besuche mit, die sie Freunden und Angehrigen in Lausanne abstattete und es ist nicht verwunderlich, da die beiden Besuche, die mir in Erinnerung geblieben sind, mit ihrer Situation als junge Witwe in Zusammenhang standen. Einer ihrer Brder war, schon bevor wir nach Manchester zogen, dort gestorben, seine Witwe Linda mit ihren zwei Kindern lebte nun in Lausanne. Es mag auch um ihretwillen gewesen sein, da die Mutter in Lausanne Station machte. Sie war zum Essen bei ihr eingeladen und ich wurde mit der Begrndung mitgenommen, da Tante Linda in Wien geboren und aufgewachsen sei und ein besonders schnes Deutsch spreche. Ich sei nun schon weit genug, um zu zeigen, was ich knne. Ich ging mit Feuer und Flamme darauf ein, ich brannte darauf, alle Spuren des jngst erlittenen Hohns fr immer und ewig auszumerzen. Ich war so aufgeregt, da ich die Nacht davor nicht einschlafen konnte und lange deutsche Gesprche mit mir selber fhrte, die triumphal endeten. Als die Zeit zum Besuch gekommen war, erklrte mir die Mutter, da ein Herr anwesend sein werde, der tglich zu Tante Linda zum Essen komme. Er heie Monsieur Cottier, sei ein wrdiger, nicht mehr junger Herr und ein hochangesehener Beamter. Ich fragte, ob das der Mann der Tante sei und hrte die Mutter zgernd und ein wenig abwesend sagen: Vielleicht wird er es einmal werden. Jetzt denkt die Tante noch an ihre beiden Kinder. Sie mchte sie nicht krnken, indem sie so rasch heiratet, obwohl es eine groe Sttze fr sie wre. Ich witterte sofort Gefahr und sagte: Du hast drei Kinder, aber ich bin deine Sttze. Sie lachte: Was fllt dir ein, sagte sie auf ihre hochmtige Art. Ich bin nicht wie die Tante Linda. Ich habe keinen Herrn Cottier.