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Ist Kassandra verstummt ? Wie sich Politiker und Bürger die Botschaft der Warner vom Leibe halten Von Carl Amery in: natur 7/1987 Wer war Kassandra? Wer oder was ist sie heute? In den meisten Köpfen nicht mehr als ein Signal, ein zu heulender Wehklage geöffneter und gerundeter Mund, eine unprak- tische Unwirklichkeit, eine die öffentlichen Angelegenheiten ärgerlich störende, doch gottseidank nicht ernst zu nehmende Hysterie. „Kassandra wird nicht gewählt", sagte jüngst ein Politiker kategorisch, und damit ist sie erledigt. Ihr Name ist heute negativ besetzt, wie das so schön heißt; man glaubt den, welchen man damit dekoriert, in die Ecke gedrängt, disqualifiziert, geschlagen zu haben. Die Kassandra-Rufer, die sind ja in der Regel identisch mit den Kultur- Pessimisten, den Angst- und Panikmachern, den Schwarzmalern, die durch ihre Prognosen unseren Schwung, unseren Fortschritts-Elan lähmen oder brechen wollen. Wie gut also, daß Kassandra nicht gewählt wird... Angesichts solcher Festlegung ist es doch wohl nützlich, sich die mythisch-antike Figur etwas genauer anzusehen. Wiederholen wir die Eingangsfrage also ganz lexikalisch, schlagen wir in einem Wörterbuch der griechischen Sage nach: Wer war Kassandra? Sie war eine Tochter des Troer-Königs Priarnos und seiner Gemahlin Hekuba, und sie war zur Priesterin Apolls bestimmt. Der Gott liebte und begehrte sie und verlieh ihr die Gabe der Weissagung. Sie wies seine stürmischen Avancen zurück, und zur Strafe schlug sie der Gott mit dem Fluch, daß niemand ihren Prophezeiungen glauben wurde.

Carl Amery -Ökologie in Deutschland - Kassandra Verstummt

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„Auskunft über Deutschland" gibt Amery auf sehr globale Weise. „Ist Kassandra verstummt?" fragt er, um deutlich zu machen, warum und auf welche Weise wir die Todes-Signale verdrängen. Amery macht deutlich, wie sehr auch die Bundesrepublik im internationalen Räderwerk gefangen ist,

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Ist Kassandra verstummt ?Wie sich Politiker und Bürger die Botschaft der Warner vom Leibe halten

Von Carl Amery in: natur 7/1987

Wer war Kassandra? Wer oder was ist sie heute? In den meisten Köpfen nicht mehr als

ein Signal, ein zu heulender Wehklage geöffneter und gerundeter Mund, eine unprak-

tische Unwirklichkeit, eine die öffentlichen Angelegenheiten ärgerlich störende, doch

gottseidank nicht ernst zu nehmende Hysterie.

„Kassandra wird nicht gewählt", sagte jüngst ein Politiker kategorisch, und damit ist sie

erledigt. Ihr Name ist heute negativ besetzt, wie das so schön heißt; man glaubt den,

welchen man damit dekoriert, in die Ecke gedrängt, disqualifiziert, geschlagen zu

haben. Die Kassandra-Rufer, die sind ja in der Regel identisch mit den Kultur-

Pessimisten, den Angst- und Panikmachern, den Schwarzmalern, die durch ihre

Prognosen unseren Schwung, unseren Fortschritts-Elan lähmen oder brechen wollen.

Wie gut also, daß Kassandra nicht gewählt wird...

Angesichts solcher Festlegung ist es doch wohl nützlich, sich die mythisch-antike Figur

etwas genauer anzusehen. Wiederholen wir die Eingangsfrage also ganz lexikalisch,

schlagen wir in einem Wörterbuch der griechischen Sage nach: Wer war Kassandra?

Sie war eine Tochter des Troer-Königs Priarnos und seiner Gemahlin Hekuba, und sie

war zur Priesterin Apolls bestimmt. Der Gott liebte und begehrte sie und verlieh ihr die

Gabe der Weissagung. Sie wies seine stürmischen Avancen zurück, und zur Strafe

schlug sie der Gott mit dem Fluch, daß niemand ihren Prophezeiungen glauben wurde.

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Ja, das Geschlagensein mit der Gabe der Weissagung: sie waren sehr scharfsichtig,

diese Alten, sie verstanden etwas von kollektiver Psychologie. Kassandra sah das ganze

Entsetzen des Krieges voraus; den Untergang ihrer Vaterstadt, den Brand und den

Jammer, den Tod ihrer Lieben, ihre eigene Vergewaltigung durch den Lokrer Ajax; sie

allein warnte (umsonst natürlich) vor dem trojanischen Pferd, und sie, bei der Verteilung

der Beute als Sklavin dem siegreichen Eroberer und Oberfeldherrn Agamemnon

zugelost, wußte ihn und sich verdammt zu blutigem Tod nach seiner Rückkehr in den

buhlerischen Palast von Mykene.

Zweierlei ist also für Gestalt und Geschick der Kassandra entscheidend: Erstens, sie

hatte immer recht. Alles, was sie voraussah, traf ein, von Anfang bis zum Ende der

troischen Tragödie und ihrer Folgetaten. Und zweitens, ihr wurde nie geglaubt. Sie

wurde immer ausgelacht, wenn sie den Mund zur Prophezeiung öffnete - und vermutlich

bot sie, in der schamanischen Trance der vorweltlichen Priesterin, einen für aufgeklärte

Troer und Griechen durchaus lächerlichen Anblick. Der Fluch dieser steten Zurückwei-

sung, dieser Einsamkeit in ihren schrecklichen Gesichtern, war allerdings notwendig,

soviel ist klar; notwendig, wenn sich das vom unerbittlichen Schicksal verhängte Ende

sowohl Trojas wie Agamemnons programmgemäß vollenden sollte.

Recht haben und nicht ernst genommen werden - diese schicksalhafte Verknüpfung ist

das Signalement Kassandras geblieben, durch die Jahrtausende bis auf den heutigen

Tag. Sind sich die mehr oder weniger satten, mehr oder weniger selbstgefälligen,

dümmlich-optimistischen Typen, die Kassandra für unwählbar und damit für unwichtig

erklären, eigentlich klar darüber, wo und wie sie sich mit solcher Benennung einreihen?

Sie erklären sich selbst zu bereits Verfluchten und Gezeichneten, denen ein Gott

versagt, sich über die wirkliche Lage klar zu werden und dann vielleicht doch noch das

Richtige, vielleicht doch noch zur rechten Zeit zu tun.

Nun ist aber Kassandra nicht die einzige Verkörperung der Unheilsprophetie in unserer

abendländischen Tradition. Neben dem steinschweren Schicksal, der Moira, der unen-

trinnbaren, das uns die Antike überliefert hat, steht der alttestamentarische Prophet des

Unheils, als der bekannteste von ihnen Jeremias. Jeder dieser jüdischen Unheilspro-

pheten aber, selbst der, welcher das schwärzeste Unheil beschwört, ist gleichzeitig und

in erster Linie Bußprediger, das heißt, er ruft zur Umkehr auf. Er spricht im Indikativ:

dies und jenes wird geschehen, dies und jenes Unglück wird hereinbrechen - aber oft

genug, so etwa im Falle des Propheten Jonas und seiner Botschaft an das gottlose

Ninive, widerlegt Gott selbst seinen Unheilsboten, ohne dem Propheten davon Mitteilung

zu machen: das Verhängnis ist nie unwiderruflich, vorausgesetzt, die Botschaft wird

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gehört und beherzigt.

In diesem Spannungsfeld - dem Feld zwischen unwiderruflichem Verhängnis und durch

Umkehr widerrufener Gefahr - steht alle heutige Prognostik.

Aber sprechen wir jetzt von der Kassandra, um deren Verstummen es hier geht, von der

modernen, gewissermaßen kollektiven Kassandra des Dilemmas der gegenwärtigen

Menschheit! Sie begann ihre Stimme kurz vor 1960 zu erheben, nicht ohne Vorläufer

auch in Deutschland gehabt zu haben - aber allen hörbar wurde die Botschaft aus dem

angelsächsischen Bereich. Der Name, den man dort solchen Warnern umhängt, lautet

bezeichnenderweise Doomsday Prophets, Propheten des Jüngsten Tages also.

Die Botschaft, die nun von diesen Propheten verkündet wurde, war zu gewichtig und

wissenschaftlich zu wohl fundiert, um nicht ernstgenommen zu werden. Die erste bedeu-

tende Persönlichkeit, die den neuen Kassandraruf ausstieß, war (bezeichnend oder

zufällig) eine Frau: die Amerikanerin Rachel Carson. Ihr Buch, das 1962 erschien und

den Titel Silent Spring (der stumme Frühling) trug, würde eine Art Grundschrift der

neuen ökologischen Bewegung. Dabei war die Warnung, die es formulierte, nach heuti-

gen Begriffen harmlos und beschränkt; es ging um das Verstummen der Vögel und

Grillen, bedingt durch die rücksichtslose Verwendung von Pestiziden und Herbiziden in

der Landwirtschaft, die den Artenreichtum des Lebens zu veröden droht.

Dann verlängerte sich die Liste rasch - Paul Ehrlich, Gordon Rattrap Taylor, Edward

Goldsmith, um nur ein paar Namen zu nennen. Namen von concemed scientists, von

„besorgten Wissenschaftlern", wie man sie rasch benannte. Mit ihrem Einstimmen in den

Kassandraruf erweiterte sich der Blickwinkel der Visionen: die Bedrohung der Mensch-

heit, ja der gesamten Biosphäre wurde in ihrem vollen Umfang sichtbar. Sie umfaßte

nun alle die Klagen, die noch heute die weltweite ÖKO-PAX-Bewegung in den entwickel-

ten Nationen umtreibt: Klagen über Bevölkerungs-Explosion, Nahrungsverknappung,

Ressourcenschwund, Umweltzerstörung, die nukleare Krise und das Außer-Rand-und-

Band-Geraten der Naturwissenschaft und der Technik.

Was noch fehlte, brachte das Jahr 1972 ein: die feierliche wissenschaftliche Priester-

weihe durch den Computer. Ja, Kassandra bediente sich ihrer, die Grenzen des Wachs-

tums warfen die Schrecken der Zukunft nicht mehr nur in warnenden Bildern, sondern in

graphischen Kurven an die öffentliche Leinwand. Deutlich wurde, daß fast alle Parameter,

alle Zielrichtungen, die bislang als unbestrittene Wegweiser und Voraussetzungen des

Fortschritts gegolten hatten, in eine globale Düsternis, ja in ein globales Todes-Erlebnis

führen würden.

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Gewiß, man hat dem Szenario Grenzen , des Wachstums mittlerweile Dutzende von

Fehlern, groben Verallgemeinerungen, unzulässigen Extrapolationen nachgewiesen; fest

steht, daß sein Grundansatz bis heute nicht widerlegt und durch Nachfolge-Studien wie

GLOBAL 2000 erhärtet worden ist.

Widerlegt wurde die erste Generation der „besorgten Wissenschaftler" und Kassandras

an einem ganz anderen Punkt. Sie unterbreiteten nämlich der Öffentlichkeit ihre Befunde

in dem guten, unter Naturwissenschaftlern häufig anzutreffenden naiven Glauben, daß

solche Aufklärung die Regierenden in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft veranlassen

würde, das Richtige zu unternehmen.

In den siebziger Jähren schien es eine Zeitlang, als seien die Mächtigen bei uns wirklich

drauf und dran, wenigstens die allgemeine Tendenz der Botschaft zu begreifen. Doch die

Regierung Brandt, unter der die SPD drauf und dran war, wichtige ökologische Einsichten

in ihre politische Plattform zu nageln, scheiterte. Der harte Kurswechsel unter Helmut

Schmidt 1974 machte solchen Aussichten ein Ende, und Kassandra wurde wieder das,

was sie politisch in der Regel war und ist: Opposition.

Das war dies wohl auch kaum zu vermeiden. In der Bundesrepublik bewirkte Kassandra

immerhin das Äußerste, was von ihr erwartet werden konnte: das Entstehen und die

Festigung einer ÖKOPAX-Bewegung, welche sogar die Parteienlandschaft veränderte.

Wenn man aber bedenkt, was für unser modernes, sattes, durch Jahrhunderte kolo-

nialen Ausgriffs an Wohlstand und Machbarkeit gewöhntes Troja auf dem Spiel steht,

war die Regression, die lachhafterweise unter dem Namen „Wende" läuft, wahrlich

vorprogrammiert.

Denn schließlich schrie und schreit Kassandra gegen die machtvollste Zivilisation an, die

die Welt bisher gekannt hat. Es ist, kurz und grob gesagt, die Welt des Westens - eines

Westens, dessen wesentliche Grundlagen in marxistischer Interpretation weit nach

Osten vorgestoßen sind. Es entspricht der inneren historischen Logik, daß diese marxi-

stische Interpretation kaum mehr in der Lage ist, sich gegen die letzte und triumphalste

Ausprägung der westlichen Zivilisation zu verteidigen: den unbeschränkten Konsumis-

mus.

Die wichtigste Waffe des Westens (und die Bundesrepublik ist ein Teil davon) ist, global

gesprochen, der „neidvolle Vergleicn". Er ist die Falle, in die sämtliche Revolten gegen

den Westen und seinen Imperialismus unweigerlich zu rennen scheinen: Der Erfolg der

Revolte wird früher oder später daran gemessen, ob es ihr gelingt, „aufzuholen" - das

heißt, die Produktions- und Konsumtions-Standards der Entwickelten zu übernehmen.

So entstehen psychologisch einleuchtende, aber für die Zukunft katastrophale Fronten.

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Der Versuch etwa, ein „Volksauto" einfachster Bauart und schonendsten Materialver-

brauchs für die sogenannte Dritte Welt zu entwickeln, wird von den Sprechern dieser

Welt zurückgewiesen und als Versuch des Westens denunziert, ihnen ein Sklaven-, ein

Proleten-, ein Armen-Gefährt aufzuhalsen. Oder: Die Rufe Kassandras nach Geburten-

kontrolle und Bevölkerungsbeschränkung stehen von vornherein unter dem Verdacht,

Werkzeuge zur weiteren Niederhaltung der farbigen Welt zu sein. Daß gerade die farbige

Welt früher und grausamer an diesem Aufhol-Utopismus scheitern dürfte als der Westen

selbst - das ist als Erkenntnis ganz offensichtlich nicht abzuverlangen.

Umso wichtiger wäre es, daß Kassandras Ruf, daß der Umkehr-Ruf der Bußpropheten im

Westen, in den entwickelten Metropolen, auch und gerade bei uns, gehört und verstan-

den wird. Denn es kann keine Rede davon sein, daß sich Kassandras Daten geändert

hätten, daß sie widerlegt worden wären - im Gegenteil, das wissenschaftliche Bild

rundete und ergänzte sich seit 1980 in erschreckendem Maße. Seine bisher unheim-

lichsten Facetten sind meiner Meinung nach erstens die Tatsache, daß sich über dem

Südpol ein Ozonloch Jahr um Jahr rapide erweitert, und daß zweitens die große Klima-

maschine, so unerklärlich sie uns noch sein mag, immer deutlichere Anzeichen dafür

aufweist, daß sie insgesamt ins Schleudern geraten ist. Was immer die Ursachen dafür

sein mögen - anthropogen, das heißt vom Menschen verursacht, sind sie allemal.

Kassandras Ruf wurde zudem durch das ergänzt, was man in frömmeren Zeiten himm-

liche und irdische Zeichen genannt hätte. Die Zeichen tragen geographische Namen, die

jeder kennt: Bhopal, Seveso, Harrisburg, Tschernobyl, Basel. Es ist stochastischer Zufall,

daß sie nicht Cattenom, Sellafield, Hoechst, Gundremmingen heißen. Man verschone uns

doch mit ideologisch-geopolitischen Spitzfindigkeiten: Das Katastrophensignal ist einer

Kultur der Energiesucht und der technischen Gewalttätigkeit inhärent, die himmlisch-

irdischen Zeichen gelten uns allen, in Ost und West, in Nord und Süd.

Und die Wirkung?

Zweifellos, zunächst war sie immer gegeben, und oft genug mochte sie die Hoffnung auf

Umkehr beleben. Hunderttausende von Müttern, Landwirten, Rentierzüchtern, die alle

vor ein paar Kaffeelöffeln radioaktiver Elemente in Europas Atmosphäre zitterten; eine

komplett vergiftete Ortschaft in Oberitalien; ein bis auf die Mikro-Organismen herab

abgetöteter Rhein: das waren schon Fakten, die auch politische Fakten werden konnten.

Aber in den Bastionen der Macht sowohl wie in der Psyche der Mehrheit haben sie wenig,

allzuwenig bewirkt. Sieben Wochen nach Tschernobyl fanden Wahlen in Niedersachsen

statt - sie wurden nicht zum Signal, zum Datum der Umkehr, sondern vielmehr zum

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Signal und zum Datum des Wiedererstarkens der Regression und der Unbußfertigkeit.

Und selbst Tschernobasel konnte den Trend nicht mehr wenden.

Aber ist es wirklich so schlimm? Hat Kassandra (über die Existenz der ÖKOPAX-

Bewegung hinaus) wirklich gar nichts bewirkt? Spielt das Umwelt-Problem (um nur den

wesentlichsten Punkt zu nennen) in den Wahlkämpfen nicht eine zunehmend wichtigere

Rolle? Ein kluger Franzose hat einmal die Heuchelei che „Verbeugung des Lasters vor der

Tugend" genannt. Wird dieser Diener vor der nötigen Umwelt-Tugend nicht tagtäglich in

allen Medien vollzögen, und zwar von Entscheidungsträgern jeder Richtung?

Die Frage macht es notwendig, auf einige der Mechanismen einzugehen, mit denen sich

die herrschende Regression, die herrschende Wachstums-Ideologie Kassandras (oder

des Propheten) Botschaft vom Leibe hält. Es sind dies zweifellos höchst traditionsreiche

Mechanismen, die sich in der Regel sehr gut an die sogenannten modernen Umstände

anpassen lassen und angepaßt haben. Eine ganz exakte Systematik ist natürlich nicht

möglich, manchmal überschneiden sich die Mittel und Motive, aber wenn man dies

berücksichtigt, ergibt sich doch sehr viel Erhellendes bei solcher Betrachtung. Unter-

scheiden wir also verschiedene Tätertypen im Kampf gegen Kässandra beziehungs-

weise den Unheils-Propheten.

Zunächst ist da der Propheten- oder Boten-Mörder.

Aus der älteren Geschichte wissen wir, Stammeshäuptlinge, Tyrannen, Feldherrn neigten

dazu, Boten, welche schlechte Kunde überbrachten, zu töten oder sonstwie zum Schwei-

gen zu bringen. Die Grüne Bewegung, die in der wenig beneidenswerten Lage ist, dieser

Bote zu sein, sieht sich -in etwas zivilisierteren Formen, versteht sich - oft genug in der

Lage des Boten. Entsprechende Mordwirkung läßt sich durchaus auch erzielen, wenn

man die Hiobsbotschaft in der Öffentlichkeit entsprechend unterdrückt oder entstellt.

Dafür gibt es zahlreiche Methoden - von der Plazierung in den Meldungen und Magazinen

bis zur glatten, nackten Zensur. Dieser muß zum Beispiel die Tatsache zum Opfer fallen,

daß der Widerstand gegen die WAA in Wackersdorf zu neunzig Prozent christlich artiku-

liert ist.

Möglich ist dies alles - die Erstickung oder zumindest Knebelung der Boschaft - in erster

Linie wegen der Existenz der sogenannten Informationsgesellschaft. Sie bietet und emp-

fängt eine derartige Überfülle von Informationen, daß wiederum ein Ordnungsgitter, ein

Sortier- und Prioritäten-Verfahren notwendig ist, um die sich überlappenden Botschaften

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wenigstens scheinbar verständlich zu machen. Genau dieses Ordnungsgitter aber ist es,

das die Botschaft, konsequent verstanden, zerstören muß. Der Bock - nämlich die

troische Ideologie - entscheidet also über die Botschaft Kassandras, ist ihr Gärtner. Die

Folge davon erleben wir täglich.

In engem Zusammenhang damit steht ein anderer Typus: der Verhöhner Kassandras.

ihr ungepflegtes Äußeres, ihr skandalöses Benehmen, der schrille Ton Wehklage ist, wie

schon erwähnt, aufgeklärten und zivilisierten Troern wie Griechen ein Greuel. Die Tat-

sache, daß die kollektive Kassandra Schlips und Kragen verabscheut, auf die kulturellen

Signale nicht eingeht, daß sie abnorme Sitten pflegt, dient als Beweis für ihre Un-Mög-

lichkeit im wörtlichsten Sinne: sie benimmt sich unmöglich, also ist auch ihre Botschaft

umöglich. Daß Kassandras oder des Unheilspropheten Abnormalität ein Signal für die

Gefährlichkeit der bisherigen Normalität an sich sein könnte, wird naturgemäß ver-

drängt. (Dieser Typus überschneidet sich mit einem anderen, nämlich dem Typus des

Urvertrauens, über das noch zu sprechen sein wird.)

Aber selbst bei teilweiser Akzeptanz der Botschaft, etwa bei Anerkennung der Notwen-

digkeit, etwas für die „Umwelt" zu tun, ist noch eine Reihe von Verhaltens- und Argu-

mentationsmustern möglich, die Kassandras Ruf verfälschen, ja umkehren.

Da ist zum Beispiel der Typus des Schlüsselsuchers unter der vertrauten Laterne.

Die Gescnichte ist bekannt - die Geschichte des Betrunkenen, der seinen verlorenen

Schlüssel im Helligkeitskreis der vertrauten Laterne sucht. Er weiß zwar mehr oder

weniger genau, daß er ihn da hinten irgendwo im Finstern suchen müßte, aber logisch

wie er ist, geht er davon aus, daß er ihn dort ohnehin nicht finden würde. Das gebückte,

emsige Spähen in den vertrauten vier Quadratmetern vermittelt ihm (wenn nicht schon

den Beiständern) das Gefühl, das Problem erkannt zu haben und etwas dagegen zu tun.

Unter diesen Typus fallen alle die politischen Angebote, die dem ökologischen Problem

mit mehr Bruttosozialprodukt und dem Rüstungsproblem mit mehr Nachrüstung bei-

kommen wollen. Es fallen darunter die meisten Rezepte, die irgendwann und irgendwie

von Versöhnung reden -Versöhnung von Ökologie und Ökonomie, Versöhnung von Um-

welt und Arbeit, von Frieden und Sicherheit, von Bündnistreue und Selbständigkeit. Die

Komplikationen der praktischen Politik sind selbstverständlich in Rechnung zu stellen,

und oft mag auch der zweckmäßige Kompromiß geboten sein, wenn die Richtung

stimmt, nämlich die Richtung auf den notwendigen Umbau der Gesellschaft. In der Regel

jedoch bezweckt das Versöhnungsgerede genau das Gegenteil: das sogenannte Umwelt-

Problem oder Sicherheits-Problem aus dem bedrohlichen Dunkel ins Licht des kulturell

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und politisch Vertrauten zurückzuholen. Dort ist es aber beim besten Willen nicht mehr

zu finden - eben, weil es uns .nebenbei, bei unserem betrunkenen Weg - durch die

Finsternis, ausgekommen ist.

Schließlich gibt es noch den Typus des hoffnungslosen Chirurgen. Er hat die Bauch-

decke der bestehenden Macht- und Überflußgesellschaft geöffnet; er stößt darunter auf

einen Zustand, den er als ernst erkennt, und diagnostiziert ihn als unheilbar. Er schließt

die Bauchdecke, schafft den Patienten in seine vertraute Umgebung zurück, verschreibt

dem aus der Narkose Erwachenden eine leichte Diät, Enthaltsamkeit von Zigaretten und

Nikotin und einige schmerzstillende Mittel. Zum ersten Mal in unserer Betrachtung wage

ich den Namen eines bekannten Entscheidungsträgers zu nennen: Helmut Schmidt. Ich

bin fest überzeugt, daß er den Typus des hoffnungslosen Chirurgen ziemlich rein verkör-

pert. Er war und ist zu gescheit, um die Dimensionen des Dilemmas der Menschheit

nicht in ihrem ganzen Umfang wenigstens zu ahnen. Aber er hat, in die Regierungsver-

antwortung gestellt, den einsetzenden Klärungsprozeß, das heißt den Diagnoseprozeß in

seiner Partei, abrupt abgebrochen. Er hat sich von Aufgaben, die er als unlösbar dia-

gnostizierte, wieder denen zugewandt, die hergebrachte Regierungskunst (seiner

Meinung nach) zu lösen imstande ist: von der Ökologie zur Ökonomie, von einer umfas-

senden Bearbeitung des Friedensproblems zur Verfeinerung und Differenzierung des

Gleichgewichts des Schreckens. Es ist seine persönliche Tragik, daß er in beiden Fällen

nicht erfolgreich war - nicht erfolgreich sein konnte -, weil die Tumore unter der Bauch-

decke weiterfressen.

Diesem Typus benachbart ist der Typus des faulen Zaubers. Er ist, zweifellos, der

vorläufig verbreitetste und vorläufig erfolgreichste. „Fauler Zauber" - das bedeutet

primitive Magie, Schamanentum, verbale und organisierte Riten, welche die beleidigte

Wirklichkeit irgendwie versöhnen sollen.

Die beste Illustration für solchen faulen Zauber ist der Schamanentanz um das Deutsche

Auto, den wir seit Jähren erleben. Daß das Auto ein in jeder Hinsicht mörderischer

Kulturgegenstand ist, darf wohl nicht mehr ernstlich bezweifelt werden. Es gibt Berech-

nungen (ich kann sie nicht nachprüfen), nach denen es, alle Zubringer-Tätigkeit wie

Treibstoffbeschaffung, Straßenbau usw. eingerechnet, für gut die Hälfte der gesamten

globalen Umweltschädigung verantwortlich ist. All das störte aber weiter nicht, bis

wieder ein himmlischprophetisches Zeichen gesetzt wurde: das Waldsterben. Nachdem

etwa 50 Prozent der deutschen Forstflächen von ihm betroffen waren, drang so etwas

wie eine Erkenntnis in die bruttosozialprodukt- und wachstumbesessenen Gehirne

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unserer Entscheidungsträger, daß da wohl irgendwas geschehen müsse. Daß es nichts

wirklich Wirksames und Nützliches sein durfte, war ebenfalls klar - und dieses Dilemma

war und ist die zwingende Voraussetzung für faulen Zauber, für rituelle Magie.

Ein Minimalprogramm zugunsten der Wälder wäre, zum Beispiel, die Einführung einer

wirklichen Kosten-Nutzungs-Rechnung auf dem Wege über eine wirkliche Steuerreform:

Energie-, Boden-, Emissions-, Rohstoffsteuer und so weiter Sie würde die Rentabilität

des privaten Pkw und des meisten Lastverkehrs als die Chimäre ausweisen, die sie ist.

Aber natürlich stand und steht das alte Begriffsgitter, die Ideologie unseres stolzen Troja

einer solchen Reform unschlagbar im Wege. Nicht einmal die übelste Gewohnheit des

deutschen Automobilisten, seine Verfallenheit an rücksichtslose Raserei, durfte ernsthaft

in Frage gestellt werden; und so wurde der Alte Bund der Tempofreiheit feierlich er-

neuert.

Dafür wurde uns, als Zauber-Medizin der Katalysator beschert. Der Katalysator paßt

hervorragend ins Begriffsgitter der Wachstumskultur. Ökologisch gesehen ist er natürlich

Unfug: als Zusatzgerät muß er wiederum energieaufwendig hergestellt werden, und er

ist auch im Betrieb einfach ein zusätzliches Aggregat, das zusätzliche Energie erfordert,

um gleichbleibende Leistung zu erbringen. Das machte aber nichts, angesichts seiner

hohen Qualität als Dschudschu-Zauber.

Inzwischen häufen sich die Fälle von faulem Zauber national wie international. Die

Schaffung eines Bundes-Umweltministeriums ist schon eine Groß-Zeremonie, ein levi-

tierter Schamanentrick ersten Ranges. Aber reiten wir nicht nur auf unserer armen

Republik herum, betrachten wir einen internationalen Tanz von viel schwärzerer Bedeut-

samkeit - die Reaktion der Welt-Atomlobby auf Tschernobyl. Ein inzwischen verstorbener

Vorkämpfer der Kernindustrie soll einmal geäußert haben: Es sei zu hoffen, daß der

erste GAU erst dann eintrete, wenn der Ausstieg aus der Atomenergie unmöglich gewor-

den sei. Nun, nach der Reaktion der Unverantwortlichen zu urteilen, ist ihm dieser

Wunsch posthum erfüllt worden. Weder Harrisburg noch Tschernobyl waren imstande,

die Bastionen der Energiesucht zu brechen. Was stattfand, war fauler Zauber: Gerede

über zusätzliche Sicherheitsstandards - und, vor allem, ein internationales Meldesystem

bei Störfällen. Wir können also beruhigt von der Tatsache ausgehen, daß wir bei einem

GAU, sagen wir, in Cattenom, rechtzeitig erfahren werden, was uns ins Haus steht.

Unsere Kinder und Enkel leben seither wesentlich fröhlicher.

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Aber ich fürchte, wir haben es uns bisher etwas zu leicht gemacht mit der Aufzählung

von Methoden, Kassandras Botschaft zu neutralisieren. Wir haben uns nämlich auf

solche beschränkt, die von Entscheidungsträgern angewandt werden. Sie wären allesamt

nicht praktikabel, wenn es darunter nicht einen Konsens der Verdrängung gäbe, an dem

wir alle mehr oder weniger teilhaben. Diese Typen von Verdrängung sind nicht weniger

irrational, aber viel mächtiger und bilden im Grunde Voraussetzung dafür, daß fauler

Zauber, betrunkene Schlüsselsuche, Boten-Mord und dergleichen praktiziert werden

können. Es waren nicht nur die Könige und Prinzen, es war das Volk von Troja, das

Kassandra verlachte - und zu diesem Volk von Troja gehören wir alle. Damit, mit dem

Konsens des Volkes zur Verdrängung, haben wir uns nun zu befassen. Welche Mechanis-

men sind hier am Werk? Da ist, so meine ich, zunächst und leicht verständlich, das

Phänomen des frommen Sünders.

Wir kennen es alle - wir kennen es zumindest seit unserer Schulzeit. Der fromme Knabe

und das fromme Mägdelein, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben, erbitten in

angstvoller Abendstunde von einem gnädigen Himmel das Abbrennen des Schulhauses

vor acht Uhr morgens - oder einen Schlaganfall des dräuenden Lehrers. Öffentlich

bemerkbar wird solche fromme Sündhaftigkeit etwa im Falle der Atommüll-Entsorgung:

irgendwas wird passieren, irgendwie wird uns irgendeine Allmacht schon aus der Patsche

helfen. Die mathematische Wahrscheinlichkeit eines Schulhausbrandes oder eines

Lehrer-Infarkts ist zwar bei weitem größer als die Wahrscheinlichkeiten beziehungsweise

Unwahrscheinlichkeiten, mit denen wir alle (auch unsere Entscheidungsträger) rechnen,

aber das läßt die Hoffnung auf sie noch lange nicht erlahmen.

Nun ist, auch für den, der die Voraussetzungen christlichen Glaubens bejaht, ja gerade

für ihn, der Pferdefuß solcher Frömmigkeit leicht zu erkennen - es ist der Pferdefuß des

bekannten Widersachers. Das Gebet um den Schulhausbrand wäre nämlich nicht not-

wendig, hätten die frommen Kinder rechtzeitig das Richtige getan, nämlich ihre Hausauf-

gaben gemacht. Und die fromme Hoffnung auf das Verschwinden der Müllberge (radio-

aktiv oder nicht) setzt habituelle Laster unserer kollektiven und privaten Lebensführung

voraus, die, vor jeder Verzeihung, Einsicht und tätige Reue verlangen. Jede andere

Haltung, jedes Verharren im Laster bei gleichzeitigem Vertrauen auf Rettung durch All-

macht, ist Vermessenheit; und Vermessenheit ist, soviel ich weiß, eine Sünde zum Tode

- ja, die Sünde zum Tode schlechthin. Wohlgemerkt, mir geht es nicht darum, nun

meinerseits die frommen Sünder zur ewigen Verdammnis zu verurteilen; es geht darum,

die Voraussetzungen einer religiösen Tradition, aus der sie (bewußt oder unbewußt) zu

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leben glauben, beim Wort zu nehmen. Die Botschaft Kassandras ist die Botschaft des

unausweichlichen Schicksals; der Christ (oder auch der säkularisierte NachChrist

unseres Jahrhunderts) glaubt nicht an ein unausweichliches Schicksal. Aber dann und

gerade dann hat er die Unheils-botschaft als das zu begreifen, was sie in prophetischer

Tradition immer war und ist: Aufruf zur Umkehr. Die Hausaufgaben müssen gemacht

werden.

Aber vielleicht sind wir wirklich zu streng zu den frommen Sündern - und damit zu uns

selbst. Hinter und unter den kleinen schwindlerischen Gebetchen steht etwas noch

Mächtigeres, das Kassandra beziehungsweise den Propheten nicht hören will - etwas so

Mächtiges, daß es zur Existenz und Entwicklung der Menschheit vermutlich

unentbehrlich war - das Phänomen des Urvertrauens.

Eist ein Urvertrauen in den Weltlauf, das, nach Auskunft der Psychologen, jeder „nor-

male" Mensch auf seinen Lebensweg mitbekommt oder doch mitbekommen sollte. Jenes

Urvertrauen, das sich im körperlichen Einssein von Mutter und Kind bereits vorformt,

das im Antwortspiel des Lächelns, in der Geborgenheit des Getragenwerdens sich festigt

und differenziert. Daß das Ende kommt, und zwar für jeden, wird wohl von jedem Men-

schen irgendwie wahrgenommen; aber dennoch nimmt jeder (oder fast jeder) als

selbstverständlich an, daß dies den Weltlauf als solchen nicht betrifft, nicht betreffen

kann.

Dieses Urvertrauen ist wohl der mächtigste, weil gelassenste Feind Kassandras. Und es

scHheint, daß unter den Ursachen für die unreduzierbare konservative Grundstimmung

so vieler Menschen dieses Urvertrauen als wichtigste fungiert - ja, daß es die Grund-

Ursache für alle anderen bildet. Es ist, um das uns nächstliegende Beispiel zu nennen,

gerade der bayerischen CSU gelungen, das gerade im hiesigen Stamm noch so relativ

breite und mächtige Urvertrauen zu ihrem Verbündeten zu machen. Das sollten all jene

bedenken, die in den hiesigen Wahlergebnissen nichts als verstockte Zurückgeblieben-

heit sehen wollen. Aber - und das ist vielleicht eine der schmerzlichsten Fragen, vor

denen wir stehen - ist es undenkbar, daß ererbtes Urvertrauen und verstockte Zurückge-

bliebenheit heute nur mehr zwei verschiedene Worte für das gleiche Phänomen gewor-

den sind? Daß wir in eine Phase der menschlichen Entwicklung getreten sind, in der die

Vernunft der Geschichte die breiten, soliden Häuser der „Normalität" verlassen und sich

auf die Seite der bärtigen Unheilspropheten, auf die Seite der Minderheit mit gestörtem

Urvertrauen geschlagen hat? Ist es (um eine mögliche Illustration aus der deutschen

Gesellschaft heranzuziehen) logisch, daß gerade bei uns, in einer historischen Land-

schaft fürchterlich erschütterten Urvertrauens, die alternative Bewegung die größte

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politische Durchsetiungskiaft aller entwickelten Staaten erlangt hat? Wäre somit gerade

die weitere Zersetzung familiären, sozialen, politischen Urvertrauens die notwendige

Voraussetzung für eine konkrete, das Fortleben der Menschheit in einer bewohnbaren

Biosphäre sichernde Umkehr?

Aber wer würde sich selbst, seinen Kindern und Enkeln wirklich den Ruin des Urver-

trauens wünschen? Und bestünde nicht gerade im Fall dieses Ruins die fast sichere

Aussicht, daß die Gesellschaft als Ganzes unfähig würde, auch die einfachsten Aufgaben

ihrer eigenen Erhaltung zu meistern? Nun, es gibt verschiedene Gründe anzunehmen,

daß es nicht soweit kommen wird. Doch fällt, von diesen Überlegungen her, immerhin

eine zusätzliche, schärfer konturierende, wenn auch zweispaltige Beleuchtung auf die

Tendenz, Kassandras oder der Unheilspropheten Botschaft zu verweigern. Die Verwei-

gerung wird - wenigstens im anthropologischen Sinne - legitimer, eine kollektiv-psycho-

logische Angst vor der zerstörenden Angst. Einerseits wird dadurch die Methode der

konservativen Politik, sich dieser Angst vor der Angst als Mehrheitsbeschaffer zu ver-

sichern, fast unwiderstehlich - andererseits enthüllt sie sich als laufende Verstärkung

dieses Verweigerungsmechanismus.

Aber das ist noch recht vordergründig. Ernstere Überlegungen drängen sich auf. Ist das

Urvertrauen, der bisher zuverlässigste Begleiter der Menschheit, zu ihrem tückischsten

Feind geworden? Ist die Menschheit mit ihrem Drang nach Macht über alle Umstände

ihrer Existenz zwangsläufig in diese Falle geraten, oder ist sie vielleicht einem Todestrieb

gefolgt, der, neben der lichten Möglichkeit des Urvertrauens, immer als das schwarze

Pendant in ihren Tiefen schlummerte?

Hier steht mehr auf dem Spiel als der eine oder andere Zeitgeist, die eine oder andere

„Stimmung im Westen", wie dies Martin Walser einmal formuliert hat. Für ihn, wie für

alle Intellektuellen, liegt immer die Versuchung nahe, von der Rezeption der Fakten statt

von den Fakten selbst auszugehen. Die Fakten, die Kassandra mitteilt, sind nicht zu

widerrufen. Was wir wählen können, ist einzig und allein unsere Reaktion auf sie.

Diese Reaktion aber entscheidet darüber, ob der Ruf Kassandras im antiken Sinne ver-

gebens bleibt oder nicht. Sicherlich, die Plausibilitäten sind überwältigend, die Chancen

stehen nicht gut für die Menschheit. Verweigert sie als ganze den Anruf, so bestätigt sie

eine skeptische-Anthropologie, die zusehends an Boden gewinnt; eine Anthropologie,

welche die Spezies auf Dauer für unfähig hält, mit den von ihr geschaffenen Problemen

fertig zu werden. Und es gibt kaum eine historische Evidenz für das Gegenteil. Die Zeit-

räume, über die unsere kollektive Erinnerung verfügt, sind dafür zu gering, und die

Page 13: Carl Amery -Ökologie in Deutschland - Kassandra Verstummt

Krisen, welche die Menschheit bisher durchzumachen hatte, haben sich nie in der

Größenordnung abgespielt wie das gegenwärtige globale Dilemma. Insgesamt, so muß

der Historiker und der Vorgeschichtler feststellen, ist die Menschheit dem irreversiblen

Zeitpfeil gefolgt; hat, wenn sie genügend organisiert war, Wälder in Steppen, Steppen in

Wüsten verwandelt. Weder die Verkarstung des Mittelmeers noch die Versalzung des

Schatt-el-Arab ist rückgängig zu machen. Das älteste Manöver, dem Mangel zu ent-

rinnen, das nomadische Weiterziehen, ist im Prinzip das einzig praktikable geblieben.

Aber neue Kontinente sind nicht 'in Sicht, und der Sprung zu den Sternen, naiv-vulgärer

Ausweg technischer Spekulation, ist von der Energiebilanz her zu aufwendig, selbst

wenn er technisch machbar sein sollte. Grund zur Resignation ist also in Fülle gegeben.

Andererseits ist Resignation keine Handlungsgrundlage. Sie wäre - und damit kommen

wir auf die angeschnittene zentrale Frage zurück - die Konsequenz einer Annahme der

Unheilsbotschaft bei völligem Schwund des Urvertrauens. Ja, gerade das, was der alt-

testamentarische Unheilsprophet predigt, im Gegensatz zum Kassandra-Schicksal

predigt, ist die realistische und volle Annahme der Botschaft bei gleichzeitig herauf-

gerufenem Vertrauen: Vertrauen in die Wirksamkeit der Umkehr.

Gerade in dieser äußersten, schärfsten Krise, gerade in der Konfrontation mit dem

möglichen globalen Unheil wird also unsere kuriose Freiheit sichtbar. Sie ist nicht bloß

eine Freiheit zum Entweder-Oder, sie enthält mindestens drei Optionen:

Die erste Option ist das Verharren in der Verweigerung der Botschaft, die erst dadurch

zur Kassandra-Botschaft, das heißt zur Voraussicht unausweichlichen, von der Moira

gesetzten Schicksals wird - eine Verweigerung, die den dümmlichen Optimismus mit

einschließt („Das mit der Umwelt, das kriegen wir hin"). Dies scheint im Moment die

vorwiegende Stimmung des Westens zu sein.

Die zweite Option ist die der einsichtigen Akzeptanz - aber einer Akzeptanz, die mit

der völligen Zerstörung des Urvertrauens verbunden ist. Paradoxerweise wird gerade

den Mahnern zur Umkehr diese Haltungvorgeworfen: „Panikmache", „Nihilismus", und

wie die Etiketten alle beschriftet sein mögen. Es ist jedoch durchaus möglich, ja wahr-

scheinlich, daß das Verharren im dümmlichen Optimismus auf derartiger Resignation im

Unbewußten beruht: Der Typus des „hoffnungslosen Chirurgen" vermischt sich mit dem

Typus des längst nicht mehr frommen, sondern im Grunde verzweifelten Sünders.

Kassandra behielte recht - obwohl die Troer wissen, daß sie recht hat.

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Die dritte Option endlich würde die Kassandra-Botschaft erst in eine prophetische

Botschaft verwandeln, indem sie die Warnungen und die himmlischen Zeichen als

Aufforderung zur Umkehr deutet.

Dabei ist ausdrücklich zu betonen, daß eine Erfolgsgarantie unserer begrenzten Einsicht

nicht gegeben ist. Was uns gegeben ist, heute schon gegeben ist, das ist Wissen über

die Richtung, welche die Umkehr einschlagen müßte. In diese Richtung wäre fortzu-

schreiten, und der Fortschrittsbegriff wäre von seiner fatalsten Eigenschaft befreit:

seiner blinden, krebsartigen Naturwüchsigkeit. Die Irreversibilität der Wucherung, die

wir bisHer Fortschritt nannten, ist der eigentliche Skandal, den es zu beseitigen gilt. Er

enthüllt sich, ist man erst zur Umkehr entschlossen, als eine letzte und wohl die gefähr-

lichste Variante der Moira, des dumpf waltenden Schicksals, dem einst, am Ausgang der

Antike, unsere Vorväter zugunsten der Möglichkeit tätiger Reue, das heißt aktiver Um-

kehr, abgesagt haben.

Sie mögen zum Schluß die Frage stellen, wie ich selber die Chancen beurteile; ob ich an

die Botschaft der Kassandra - oder die Botschaft des Propheten - glaube. Und ich

bekenne, daß ich es nicht weiß - und daß ich es, was unsere Handlungsweise betrifft,

nicht für sehr wichtig halte. Handlungsgrundlage muß immer die Annahme sein und

bleiben, daß tätige Umkehr möglich ist.

Wenn ich mir aber eine sozusagen untergeordnete Prophetie erlauben darf: Ich glaube,

daß sich in der nächsten Zukunft die himmlischen Zeichen vermehren werden, und daß

sie in allmählichem Übergang zu Teilkatastrophen werden können. Eine solche Teilkata-

strophe, die sehr bald eintreten kann, ist das Entsorgungsproblem - und nicht nur das

nukleare. Es können Zustände eintreten, wo riesige Müllmassen heimatlos zwischen den

Staaten, ja zwischen den Kontinenten herumirren. Es wird Kurzschlußlösungen geben,

Phasen mafiahafter Brutalität, etwa gegen die Weltmeere oder das Polareis, aber sie

würden die Lebensgrundlagen so rapide verschlechtern, daß die Betroffenheiten unwi-

derstehlich zum Umsturz der bisherigen mörderischen Verhältnisse drängen.

Doch dies nur zur Illustration. Vielleicht setzen die Teilkatestrophen (oder Ketten von

Teilkatastroghen) auch an einem ganz anderen Punkt ein. Hoffen wir, daß es so kommen

wird - es wäre dies eine Barmherzigkeit, die wir nicht verdienen.

Auskunft über Deutschland„Alles, was ich opfern mußte, waren ein paar Jahre öffentliche Anerkennung im Olymp", sagte

Carl Amery, der 1922 mit bürgerlichem Namen Christian Mayer in München geboren wurde.

Amery meint mit diesem Opfer das Wohlwollen all derer, die, in Elfen-beintürmen hockend,

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immer mal wieder aus der Betrachtung des eigenen Bauchnabels aufschrecken, wenn einer von

so außerordentlichen Gaben wie Amery sein Talent an die schnöde Wirklichkeit verschleudert.

Wenn man das Prädikat „engagierter Autor" einmal von der Patina der Platitüde reinigt, die ihm

mittlerweile anhaftet, wenn man also „engagiert" wörtlich nimmt, hat man die kürzestmögliche

Nennform für Amerys Leben. Seine Publikation „Natur als Politik" aus dem Jahre 1976 war so

etwas wie Datumslinie für die Entwicklung eines ökologischen Bewußtseins in der Öffentlichkeit.

Das nämlich fordert Amery ein, sei es als Vorsitzender der E. F. Schumacher-Gesellschaft, als

Romancier, der auch nicht die angeblichen Niederungen der Science-fiction und der Satire

scheut, oder, wie jüngst, als Wahlkämpfer für die Grünen im bayerischen Wahlkampf.

Amerys künstlerische Orientierung kommt zum Teil aus dem Studium der angelsächsischen

Literatur, die er ob ihrer Prägnanz und Logik-Verliebtheit schätzt, aber eben auch aus dem

bajuwarisch-katholischen Familienhintergrund. Zu seinem guten alt-bayerischen Erbteil zählt

Amery die Befähigung, „falsche Töne, Unaufrichtigkeiten" zu hören. Daß so einer sich auch

standespolitisch (PEN-Club, Deutscher Schriftstellerver-band) engagiert, versteht sich fast von

selbst, und daß er darüber hinaus sein eigentliches „Handwerk" (Amery gebraucht den Ausdruck

selbst gern und oft, wenn die Rede von der Schriftstellerei ist) virtuos beherrscht, wird mit der

kritischen Gesamtausgabe seiner Romane, Essays, Polemiken und Erzählungen erneut offenbar.

„Auskunft über Deutschland" gibt Amery auf sehr globale Weise. „Ist Kassandra verstummt?"

fragt er, um deutlich zu machen, warum und auf welche Weise wir die Todes-Signale verdrängen.

Amery macht deutlich, wie sehr auch die Bundesrepublik im internationalen Räderwerk gefangen

ist, warum jeder einzelne aber dennoch hier und heute nicht resignieren darf.