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Castellio Manifest der Toleranz

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»Einen Menschen töten heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten.« Diesen berühmt gewordenen Satz schrieb 1554 der Basler Humanist Sebastian Castellio, nachdem in Genf auf Veranlassung Calvins der spanische Arzt Miguel Servet als »Ketzer« verbrannt worden ist. Darf man Menschen verfolgen und töten, nur weil sie anders denken? Immer – und gerade auch in unserer Zeit – gibt es Menschen, die aus Gewissensgründen ihre Stimme gegen die Mächtigen erheben und dafür verfolgt werden. Castellios Kampf gegen den übermächtigen Genfer Reformator steht für die Vielen, die machtlos gegen die Mächtigen kämpften und später als Vorbilder für die Menschlichkeit in die Geschichte eingingen. Seine bedeutende Schrift, das »Manifest der Toleranz«, wird nun erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegt.

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BIBLIOTHEK HISTORISCHER DENKWÜRDIGKEITEN

DAS MANIFEST DER TOLERANZ

SEBASTIAN CASTELLIO

ÜBER KETZER

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BIBLIOTHEK HISTORISCHER DENKWÜRDIGKEITEN

Herausgegeben von Wolfgang F. Stammler

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ALCORDE VERLAG

DAS

MANIFEST

DER TOLERANZ

Sebastian Castellio

Über Ketzerund ob man sie verfolgen soll

Aus dem Lateinischenvon Werner Stingl

Mit einer historischen Darstellungvon Hans R. Guggisberg

Herausgegeben und eingeführtvon Wolfgang F. Stammler

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© 2013 by ALCORDE VERLAG, EssenDer Abruck der beiden Kapitel auf den Seiten 221–308

von Hans Rudolf Guggisberg aus seinem WerkSebastian Castellio 1515–1563, Göttingen 1996

erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch denVerlag Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG

© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KGDie Abbildungen auf dem Vor- und Nachsatz sind

Sebastian Münsters Cosmographiae universalis Lib. VI.,Basel 1552, entnommen.

Layout: ALCORDE VERLAGGesetzt aus der Bembo 10,5/13,5pt

Papier: 100g/qm, hf, Munken Premium Cream 1,3-fachGesamtherstellung: CPI Quantum Druck, Leck

ISBN 978-3-939973-61-4

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INHALT

Einführung

STEFAN ZWEIG

Sebastian Castellio und das Manifest der Toleranz

[SEBASTIAN CASTELLIO]Bericht über den Tod ServetsHistoria de morte Serveti

SEBASTIAN CASTELLIO

Über Ketzer und ob man sie verfolgen sollDe haereticis an sint persequendis

MARTINUS BELLIUS [SEBASTIAN CASTELLIO]An Herzog Christoph

MARTIN LUTHER

Vom weltlichen Regiment

JOHANNES BRENZ

Ob die Obrigkeit mit Recht Ketzer töten kann

ERASMUS

Supputatio der Irrtümer BedasÜber die Inquisition

SEBASTIAN FRANCK

Über die Ketzer

Kleinere Zitate weiterer TheologenLACTANTIUS

JOHANNES CALVIN

OTTO BRAUNFELS

KONRAD PELLICANUS

URBANUS RHEGIUS

AUGUSTINUS

CHRYSOSTOMUS

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HIERONYMUS

CAELIUS SECUNDUS CURIO

SEBASTIAN CASTELLIO

An den König von England

GEORG KLEINBERG [SEBASTIAN CASTELLIO]Wie viel Schaden die Verfolgungender Welt zufügen

BASILIUS MONTFORT [SEBASTIAN CASTELLIO]Widerlegung der Argumente für Verfolgungen

SEBASTIAN CASTELLIO

Von den Kindern des Fleischesund den Kindern des Geistes

SEBASTIAN CASTELLIO

Verteidigungsschrift vor dem Basler Rat

HANS R. GUGGISBERG

Sebastian Castellios De haereticisund die Toleranzdebatte 1553–1555

Der Beginn der Toleranzdebatte1. Die Hinrichtung Servets2. Defensio orthodoxae fidei3. De haereticis an sint persequendi

Die Toleranzdebattenach dem Erscheinen des De haereticis1. Erste Reaktionen; Basler Calvin-Kritik 15542. Contra libellum Calvini3. Théodore de Bèze und sein Antibellius4. Erneute Stellungnahme Castellios5. Calvin-Kritik aus der Waadt und Montbéliard.

Genfer Reaktionen6. Exkurs: Castellio und die Reformation in Deutschland

Die Familie Sebastian Castellios (Stammtafel)

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ANHANG

Texte aus zeitgenössischen Übersetzungen,die nicht im De haereticis enthalten sind

Texte aus der französischen Übersetzung:An Wilhelm, den Landgrafen von Hessen 313

Auszüge aus Bibelauslegungen vonMartin Luther 320Kaspar Hedio 322Johannes Agricola 324Jakob Schenk 325Christophe Hosmann 326

Texte aus der deutschen Übersetzung:Auszüge aus Predigten von Martin Luther 327

Kleine Ketzerkunde 331

Anmerkungen

zur Einführung 346zur Historia de morte Serveti 350zu De Haereticis an sint persequendi 354zu Castellios Verteidigungsschrift 389zu Guggisberg: Castellio und die Toleranzdebatte 391

Bibliographie 413

Editorische Notiz und Danksagung 431

Personenregister 434

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Sebastian Castellio, Porträt aus der Biblia Sacra, 1778.

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EINFÜHRUNGvon Wolfgang F. Stammler

Der 27. Oktober 1553 war der Tag, an dem die noch jungeReformation in Genf ihre Unschuld verlor. An diesem Tagwurde der spanische Arzt und Humanist Miguel Servet inChampel vor den Toren Genfs auf den aus frischem Eichen-holz und grünem Laub errichteten Scheiterhaufen geführt, umals »Ketzer« verbrannt zu werden. Waren es bis dahin die Pro-testanten und andere »Glaubensabtrünnige«, die von der katho-lischen Inquisition verfolgt und um ihres Glaubens willen ge-tötet wurden, so tauschten sie nun die Rollen. Protestantenwurden zu Inquisitoren, und es war die reformierte Kirche inGenf, die, gelenkt von ihrem bedeutendsten Führer, JohannesCalvin, einen gottgläubigen und reformatorisch denkendenMenschen wegen Ketzerei verurteilen und hinrichten ließ. DerUrteilsspruch lautete: »Wir verurteilen jetzt endgültig dich,Michael Servet, angesichts Gottes und der Heiligen Schrift imNamen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, gefes-selt nach Champel gebracht, dort an einen Pfahl gebundenund mitsamt deinem Buch zu Asche verbrannt zu werden.«1

Die über ihn verhängte Todesart galt als so grausam2, dassselbst die Inquisition sie nur selten anwandte. Grund warenServets Verwerfung der Kindertaufe und – weit gewichtiger –seine Verwerfung der Trinitätslehre, die, im 4. Jahrhundert zumDogma erhoben, auch den meisten reformatorischen Theolo-gen als sakrosankt galt und der zufolge Jesus Christus als gleichewig wie Gott der Vater galt. Calvins Parteigänger WilhelmFarel, der Servet auf seinem letzten Gang begleitete und Zeuge

Die Anmerkungen zu diesem Text stehen im Anhang auf S. 346 ff.

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war, wie dieser auf dem Scheiterhaufen wehklagend ausrief: »OJesus, Sohn des ewigen Gottes, erbarme dich meiner!« bemerktspäter in seinem Bericht: Servet hätte gerettet werden können,wenn er das Beiwort »ewig« an eine andere Stelle gerückt undsich zu Christus, dem ewigen Sohn Gottes, anstatt zu Christus,dem Sohn des ewigen Gottes, bekannt hätte.3

»Kaum war die Asche des Unglücklichen kalt geworden«, soberichtet Théodore de Bèze in seiner Biographie Calvins, dahabe die Kontroverse um die Religionsfreiheit begonnen.4 DieAngriffe kamen vor allem aus Basel. Dort war es ein ehemali-ger Mitarbeiter Calvins, Sebastian Castellio, der sich neun Jah-re zuvor, enttäuscht und verbittert über die doktrinäre Un-beugsamkeit und Unbelehrbarkeit des einstmals von ihmverehrten Reformators, von diesem abgewandt und in dem li-beraleren Basel Zuflucht gefunden hatte. »In Basel weckte al-lein das Gerücht, Servet sei ›mit Hilfe Calvins‹ verhaftet wor-den, die Kritik am Genfer Reformator. ›Freunde Calvins‹traten den Kritikern dadurch entgegen, dass sie Calvins Betei-ligung an der Verhaftung schlichtweg leugneten; vielleichtkonnten sie es selbst nicht glauben.«5

Schwer zu glauben und doch nicht zu leugnen war die rück-sichtslose Entschlossenheit, mit der Calvin die Hinrichtung Ser-vets betrieben hatte. Diese Entschlossenheit entstand keineswegserst während des dreieinhalb Monate dauernden Prozesses. DenEntschluss, Servet zu töten, hatte Calvin bereits mehr als siebenJahre zuvor gefasst. Anfang 1546 hatte ihm Servet das Manus-kript seiner soeben fertiggestellten Christianismi Restitutio ge-schickt, die Calvins Institutio in entscheidenden Punkten wider-sprach. Als Calvin ihm daraufhin ein Exemplar seiner Institutiozusandte und es wenig später mit Randglossen versehen vonServet zurückerhielt, »wollte Calvin mit dem ›Satan, der ihnnur von nützlichen Studien abhalte‹, nichts mehr zu tun habenund schrieb seinem Freund Farel in Neuenburg: Falls Serveteinmal nach Genf komme, ›so werde ich ihn, wenn mein Anse-hen noch gilt, nicht lebendig von dannen ziehen lassen‹.«6

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Schon wenige Wochen nach Servets Verbrennung tauchten inBasel Abschriften einer anonymen kleinen Schrift auf, Historiade morte Serveti, aus deren zuverlässigem Bericht über die Er-eignisse in Genf deutlich wird, wie genau man in Basel undanderswo informiert gewesen sein muss. Wer diese Schrift ver-fasst hatte, war damals nicht bekannt und ist auch bis heutenicht endgültig geklärt. Zahlreiche Indizien sprechen jedochdafür, dass Castellio ihr Verfasser war.7

Hatte die Historia unter den zahlreichen Glaubensflüchtlin-gen aus Frankreich und Italien, die dorthin vor den Verfolgun-gen und Scheiterhaufen der Inquisition geflohen waren,bereits für Unruhe und Empörung gesorgt, so verlieh ihnendas wenige Monate später, im März 1554, erschienene BüchleinDe haereticis an sint persequendi erstmals eine Stimme, die mitnüchterner Schärfe und Klarheit die Verfolgung und TötungAndersdenkender als ganz und gar unchristlich, ja als »wider-christlich, mit christlichen Argumenten nicht zu begründen«8

verurteilte. Als Verfasser gab sich diesmal ein gewisser MartinusBellius zu erkennen, und als Druckort wurde Magdeburg ge-nannt. Doch schon kurz nach Erscheinen der Schrift äußerteThéodore de Bèze die Vermutung, »daß das ›Magdeburg‹,welches in dem Buch als Druckort angegeben wurde, ›amRhein‹ liege, ›wo sich diese Ungeheuer, wie ich wußte, schonlange verborgen halten‹, und daß eines derselben, nämlich derVerfasser des ›Bellius‹-Vorwortes, wahrscheinlich Castellio sei.›Vergleich nur Castellios Widmungsbrief zur lateinischen Bi-belübersetzung‹, so schrieb er an Bullinger, ›und Du erkennstin beiden Schriften denselben Geist‹.«9 Damit war der Gegnerentlarvt und auch der Ort, wo sich dieser Gegner mit seinen»Ungeheuern« verschanzte: Basel, eine der mit ihren damals10 000 Einwohnern großen Städte der Eidgenossenschaft. Mitdem Erscheinen des De haereticis war es mit der Ruhe in derbis dahin eher friedlichen Universitätsstadt vorbei. Der Kampf,der nun entbrannte, war nicht nur ein ungleicher Kampf der»Mücke gegen den Elefanten«, als den ihn Castellio selbst be-

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zeichnete10, sondern mehr noch der Kampf zwischen zweieinander ausschließenden Prinzipien: auf der einen Seite dieFreiheit des Gewissens und des Glaubens und auf der anderender Herrschaftsanspruch der reinen, unverfälschten Lehre, einesradikalen Dogmatismus der Kirche als einer Institution, dieunter allen Umständen zu schützen sei – und zwar mit Hilfestaatlicher Gewalt. Denn auch sie galt als der kirchlichen Dis-ziplin unterworfen. Schroffer und unversöhnlicher als CalvinsSprachrohr de Bèze es in seiner Erwiderung auf Castellios Dehaereticis formuliert, kann man den Gegensatz der beiden Sei-ten nicht charakterisieren: »Die Freiheit des Gewissens ist eineTeufelslehre«, schreibt de Bèze, und weiter: »Besser einen Ty-rannen zu haben und sei es einen noch so grausamen, als dieErlaubnis, dass jeder nach seinem Sinne handeln dürfe.«11

Hier ist ausgesprochen, welches Staats- und Rechtsverständ-nis Castellios Gegner in Genf vertraten: Der Staat als das »welt-liche Schwert« hat der Kirche bei der Durchsetzung ihrer Leh-re und Disziplin uneingeschränkt zu dienen. Damit war dieIdee eines Gottesstaats nach reformatorischem Muster geboren,eine Gesinnungsdiktatur, die nicht weniger brutal als die vonder Reformation als Satansknechte verschrienen Papisten ihreGegner einer gnadenlosen Verfolgung und Vernichtung preis-zugeben bereit war. Das Gebot christlicher Nächstenliebewurde verächtlich gemacht, Menschlichkeit zur Sekundärtu-gend herabgewürdigt, die sich von nun an dem Prinzipstrengster Disziplin im Religiösen wie im Sittlichen zu unter-werfen hatte. Barmherzigkeit gegenüber Andersdenkenden galtin diesem System als »une charité diabolique et non chré-tienne«12, Milde als »äußerste Grausamkeit, da sie die unzähli-gen Wölfe schonen will, um ihnen die ganze Herde Christizum Fraß vorzuwerfen«.13

Als im März 1554 das De haereticis erschien, lebte Castellio seitknapp neun Jahren in Basel. Niemand hat ihn dorthin gerufen,niemand dort auf ihn gewartet. Theologische Meinungsver-

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schiedenheiten mit Calvin und die versammelte Häme des Gen-fer Priesterkonvents hatten den ehemaligen Rektor des Collègede Rive aus Genf vertrieben. Mehr noch als in Genf waren sei-ne Verhältnisse in Basel äußerst dürftig. Sie sollten sich auch biszu seinem Lebensende nicht wesentlich verbessern. Als Michelde Montaigne fast zwei Jahrzehnte nach Castellios Tod hörte, inwelcher Bedrängnis dieser gelebt hatte, nannte er dies »die gro-ße Schande unseres Jahrhunderts«14.

Basel war damals ein Zentrum des Buchdrucks, und so lag esfür Castellio nahe, sich bei dem Drucker Johannes Oporin alsKorrektor zu verdingen. Der Lohn war karg, und so mussteer sich durch körperliche Dienste wie Holzsägen, Wassertra-gen, als Fischer und Gärtner seinen Lebensunterhalt verdienen.Private Zuwendungen, die er von dem Rechtsgelehrten undErasmus-Freund Bonifacius Amerbach aus dem Erasmus-Legaterhielt15, halfen bei der Ernährung der vielköpfigen Familie.Schließlich, nach über acht Jahren im Mai 1553, erhielt ereine Anstellung als Professor der griechischen Sprache an derBasler Artistenfakultät, die ihm ein zwar bescheidenes, abergesichertes Einkommen versprach.

Doch Armut war seit je eines der Merkmale, die sein Lebenbestimmten.16 Geboren 1515 als Sohn des Bauern ClaudeChastillon und aufgewachsen als eines von sieben Kindern indem savoyischen Dorf Saint-Martin-du-Fresne, lernte er früh,sich zu bescheiden. Bestimmendes Vorbild war für ihn vor al-lem sein Vater, über den er sich 1558 in einer seiner meistgele-senen Schriften, den Dialogi Quatuor, äußerte: »Mein Vater warzwar in der Religion sehr unwissend, aber er hatte das Gute,dass er nichts so sehr verabscheute und uns zu verabscheuenlehrte wie das Stehlen und das Lügen.«17 Vielleicht ebenso prä-gend mag für ihn auch der Umstand gewesen sein, dass er beialler religiösen Strenge, die in seiner Familie herrschte, auchetwas von der Tradition des Widerstands mitbekommen hatte,für die die Landschaft Bugey, in der sie lebten, seit den Wal-denserverfolgungen des 13. Jahrhunderts bekannt war: Wer aus

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Glaubens- und Gewissensgründen dorthin floh, durfte sichersein, dass ihm hier Schutz und Arbeit gewährt würden.

Seine Studienzeit in den Jahren 1535–1540 verbrachte er inLyon, damals neben Paris das wirtschaftlich und kulturell be-deutendste Zentrum Frankreichs. Durch seine zahlreichenDruckereien – 1515 gab es bereits mehr als hundert – wurdeLyon zur »Gelehrtenstadt«18. Dort studierte Castellio an demfür seine humanistische Gelehrsamkeit berühmten Collège dela Trinité Griechisch und Latein und wurde gegen Ende derStudien vermutlich Zeuge der ersten Ketzerverbrennungen inLyon. Sehr wahrscheinlich wird er sich in dieser Zeit bereitsmit den religiösen Erneuerungsgedanken der französischenHumanisten beschäftigt haben und dort auch Calvins 1536 er-schienener Institutio Religionis Christianae begegnet sein, jenerAusgabe also, die er später in seinem De haereticis zitieren solltemit Calvins klarem Bekenntnis gegen jedwede Ketzerverfol-gungen19, das dieser jedoch in den späteren Ausgaben getilgthatte.

Vermutlich unter dem Eindruck dieser blutigen Unruhen inLyon begab sich Castellio in das wirtschaftlich blühende und inGlaubensfragen tolerante Straßburg, wo sich damals zahlreicheGlaubensflüchtlinge versammelten. Dorthin hatte sich auchCalvin nach seinem ersten gescheiterten Versuch, in Genf seineradikalreformerischen Vorstellungen durchzusetzen, zurückge-zogen und wirkte als Prediger in der französischen protestan-tischen Flüchtlingsgemeinde. Zu dem Kreis, der sich um Cal-vin scharte, gehörte auch Castellio, der sogar kurz nach seinerAnkunft in der elsässischen Reichsstadt für eine Woche Quar-tier bei Calvin bezog. Wie treu er ihm damals verbunden war,sollte sich wenig später erweisen, als im Frühjahr 1541 die Pestin Straßburg ausbrach. Calvin weilte zu jener Zeit in Regens-burg, und so übernahm es Castellio, sich um die Pflege derFamilie und Schüler des Reformators zu kümmern, was vielMut erforderte.

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Als der Genfer Rat im Herbst 1541 Calvin inständig bat,wieder die Leitung der Genfer Gemeinde zu übernehmen,hatte der in Genf verbliebene Farel bereits Castellio dorthinberufen, um die Leitung des 1537 von Calvin gegründetenCollège de Rive, eine Art Kaderschmiede für die Prediger-schaft und gebildete Laien, zu übernehmen. Noch vor CalvinsRückkehr nach Genf wurde der damals 26-Jährige am 17. Juni1541 offiziell als Schulleiter bestätigt. So ganz glücklich dürfteCalvin über Farels eigenmächtiges Vorgehen nicht gewesensein. Ihm schwebte für die Leitung dieser Schule eine namhaf-tere Persönlichkeit vor. Doch für Castellio bot sich die Gele-genheit, hier erstmals seine pädagogischen Fähigkeiten zu ent-decken und zu entwickeln. Im Sinne der pädagogischenVorgaben des Collège, die Schüler zu frommen Menschen zuerziehen, begann er damals mit der Übersetzung des NeuenTestaments ins Französische als einer Art Volksbibel.20 Dochschon hier entstanden erste inhaltliche und interpretatorischeDifferenzen mit Calvin, der sich in seiner theologischen Deu-tungshoheit, insbesondere seine Prädestinationslehre betref-fend, angegriffen sah. Zum ersten Mal sollte Castellio erfahren,was es heißt, Calvin zu widersprechen. Wer nicht für ihn warund sich ihm nicht bedingungslos unterwarf, wurde zumGegner erklärt.

In Genf begann Castellio auch mit der Niederschrift derDialogi sacri, einer pädagogisch-literarischen Gattung, die inForm von Gesprächen den Schülern biblische Inhalte nahebringen und ihnen zugleich das Erlernen der lateinischenSprache auf gleichsam spielerische Weise erleichtern sollte.Die später durch weitere Teile ergänzten Dialogi sollten nebenseiner lateinischen Bibelübersetzung21 zeitlebens und nochlange nach seinem Tod zu den verbreitetsten Werken Castelliosgehören.

Der Konflikt mit Calvin war jedoch bereits vorgezeichnet.Die Meinungsverschiedenheiten häuften sich, und als es darumging, Castellio als Prediger anzustellen, kam es vollends zum

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Zerwürfnis. Wer das Hohelied Salomos als profanes Liebesge-dicht bezeichnete und nicht als das, was es für Calvin war:eine Allegorie der Liebe Christi zu seiner Kirche, und werdaran zu zweifeln wagte, dass die im Apostolischen Glaubens-bekenntnis erwähnte Höllenfahrt Christi als Gewissensprüfungdes Gottessohnes zu verstehen sei22, der hatte als Prediger inGenf nichts zu suchen. »Einen Zweifler konnte man unter denKirchenführern nicht brauchen.«23 Doch zuvor schon kam eszu ernsthaften Konfrontationen mit der Genfer »Compagniedes Pasteurs«. Im Frühherbst 1542 war in Genf die Pest ausge-brochen. Damals suchte man einen Seelsorger für das Pesthos-pital und fand ihn zunächst auch in der Person des PfarrersPierre Blanchet, der dort bis zum Ende der Pest seinen Dienstversah. Als diese jedoch im April 1543 erneut ausbrach, warkeiner der Stadtpfarrer bereit, das Amt zu übernehmen; einigehatten sogar erklärt, sie gingen lieber zum Teufel als ins Pest-hospital.24 Castellio aber, der sich freiwillig gemeldet hatte,kam aus unerfindlichen Gründen nicht zum Zuge. Spätermachte man ihm, der in Straßburg bereits Dienst an Pestkran-ken versehen hatte, aus Genfer Kreisen den Vorwurf, er habesich feige gedrückt.

Hatte Calvin bis dahin noch – aufgrund seiner menschlichenund intellektuellen Wertschätzung des Savoyarden und sofern esnicht um theologische Streitfragen ging – die Hand überCastellio gehalten, so wurde das Tischtuch zwischen derGenfer Pfarrerschaft und Castellio endgültig zerrissen, alsCastellio anlässlich einer »Congrégation« in Auslegung von2. Korinther 6 den dort versammelten Pfarrern in höhnischerSchärfe »ihren mangelnden Eifer, ihren fehlenden Mut undihre Nachlässigkeit im seelsorgerischen Dienst« vorwarf.25

»Er [Paulus] hat Verfolgung durch andere erlitten, wir aber ver-folgen Unschuldige.«26

Die Folge war, dass Castellio aller Posten enthoben wurde.So blieb ihm nichts anderes übrig, als Genf zu verlassen undsich nach einer anderen Stadt umzuschauen, die ihn aufneh-

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men würde. Dass es Basel war, die religiös moderat gestimmteStadt am Rhein, erschien zunächst als das kleinere Übel, so-wohl für die Stadt wie für Castellio. Dass damit aber knappacht Jahre später der Konflikt erst richtig losbrach und dieBasler Stadt und Gemeinde in schwere politische Unwettergeriet und zum Schauplatz einer »der berühmtesten Kontro-versen der Neuzeit über die Religionsfreiheit«27 werden sollte,konnte damals noch niemand ahnen.

Noch weniger konnte man damals ahnen, dass vierhundertJahre nach Erscheinen des De haereticis der große SchweizerHistoriker Werner Kaegi in der Aula der Basler Universitäteinmal zu dem Urteil kommen würde: »Castellios Büchlein,das im Herbst 1553 als Idee konzipiert und im Frühling 1554gedruckt worden ist, stellt einen der Gründe dar, warum derName Basels und seiner Universität in der Geschichte derFreiheit von der Welt mit Ehren genannt wird.« Denn immer-hin komme in dem »weitverzweigten Netz von Wegen undStraßen, das aus verschiedenen Epochen und Ländern zumKatalog der Menschenrechte führt«, und von denen »einigeseiner wichtigsten Ursprungsgebiete auf den Britischen Inselnliegen […] eine Straße zu ihm hin vom Kontinent her. Sieführt von Basel aus rheinabwärts in die Niederlande, dannüber das große Meer in die Staaten des neuen Holland, dasspäter Neu-England geworden ist, an die Küste des neuenAmsterdam, das heute New York heißt. Von dort führt sie zu-rück ins Frankreich der Revolution und in die Geschichteunsres eigenen 19. Jahrhunderts.«28

Es gehört zu den Ungerechtigkeiten und Merkwürdigkeitender Geschichte, dass Castellios Ideen von anderen über-nommen und sein Kampf unter fremdem Namen weiterge-führt wurde, er selbst aber dazu verurteilt war, »im Schattenzu leben, im Dunkel zu sterben«, wie sein bedeutendster lite-rarischer Biograph, Stefan Zweig, über ihn schrieb. »Vergessenist seine moralische Großtat, der Kampf um Servet, vergessen

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der Krieg gegen Calvin, ›der Mücke gegen den Elefanten‹,vergessen seine Werke – ein unzulängliches Bild in der hollän-dischen Gesamtausgabe, ein paar Manuskripte in Schweizerund holländischen Bibliotheken, ein paar dankbare Worte sei-ner Schüler, das ist alles, was von einem Manne geblieben ist,den seine Zeitgenossen einhellig nicht nur als einen der ge-lehrtesten, sondern auch der edelsten Männer seines Jahrhun-derts gerühmt. – Welch eine Dankesschuld ist an diesem Ver-gessenen noch zu begleichen! Welch ein ungeheures Unrechthier noch zu sühnen!«29

Doch auch für Stefan Zweig, der zwei Jahre zuvor seinegroße Erasmus-Biographie30 veröffentlicht und sich intensiv indie damalige Zeit hineingelesen hatte, war Castellio ein Unbe-kannter. Auf ihn aufmerksam wurde er erst, als er von demGenfer Pfarrer Jean Schorer, der Zweigs Erasmus-Biographiegelesen hatte, gebeten wurde, sich doch auch dieses Mannesanzunehmen. Und tatsächlich: »Vom ersten Moment an warich gefesselt von dieser edlen Gestalt des Castellion«31, schriebihm Zweig. Einen Tag zuvor hatte dieser – noch ganz unterdem Eindruck der Lektüre Castellios – seinem Freund Ro-main Rolland in glühenden Worten bekannt: »Ich habe einenneuen Helden entdeckt […] Es ist Sebastien Castellion, dernach dem großen Verbrechen gegen Servet die Stimme gegenden omnipotenten Calvin erhoben hat […] und Meinungs-freiheit verlangte, der es ablehnte, daß man einen anderen, dernicht die eigene Meinung vertritt, einen Häretiker nennt. Ichlas diese Schriften, sie sind von einer Kraft und Seelenreinheit,die erstaunlich sind.«32

Glaubte Zweig, dessen Natur, wie er zugab, das »Heldische«nicht lag und dessen »natürliche Haltung in allen gefährlichenSituationen immer die ausweichende gewesen«33 war, sich ge-rade hierin gleichsam spiegelbildlich in der Gestalt des Eras-mus wiederzuerkennen34, so berührte ihn Castellios Schicksaleinmal mehr wie ein Anruf an seine eigene Lebenssituationund Seelengestimmtheit, diesmal freilich mit einem fast weh-

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mütigen Unterton, als sei da einer, der – anders als er – denKampf gegen einen Übermächtigen ohne Rücksicht aufsich und sein Leben geführt hat und sich dabei bis zu seinemEnde treu blieb. »Welch ein stiller Held […] und welch freierGeist, dieser Castellion, dieser Arme, dieser Isolierte, dieserErasmische ohne den beizenden Spott, ohne dessen Schwäche.Ich bin wirklich sehr dankbar, diesen edlen Charakter ge-funden zu haben.«35

Aber auch Zweigs eigenen Bemühungen, Castellio aus demDunkel der Geschichte zu befreien, waren Hindernisse in denWeg gelegt. Und so mutet es wie eine Ironie der Geschichtean, dass Castellio wieder einmal, wenn auch nur mittelbar, einOpfer der Verfolgung wurde. Diesmal war es sein Verteidiger,der Jude Stefan Zweig, den der Bannstrahl der national-sozialistischen Zensur getroffen hatte. Resigniert schriebdieser an Joseph Roth: »In Deutschland hat ›Castellio‹ seineSchatten vorausgeworfen, auch die Auslieferung nach Ungarn,Polen etc., die … bisher über dieses edle Land ging, ist un-möglich geworden.«36

Erst 1954 konnte das Buch in Deutschland, damals unterdem Titel Ein Gewissen gegen die Gewalt. Castellio gegen Calvin,erscheinen. Doch schon bald darauf erhoben sich erneutStimmen gegen das Buch und waren es jetzt die VerteidigerCalvins, die dem Autor vorwarfen, die historische Wahrheit zuvergewaltigen und Calvin zu verunglimpfen.37

Während man in Genf von calvinistischer Seite heftig gegendas Buch und gegen den Pfarrer Jean Schorer als dessen Anre-ger und damit als den eigentlichen Agent provocateur zu pole-misieren begann, erwachte in Basel erneut das Interesse anCastellio. Hatte schon, wie oben vermerkt, 1954 der HistorikerWerner Kaegi seiner Bewunderung für Castellios Leben undWirkung öffentlich Ausdruck verliehen und diesen frühenKollegen damit gleichsam akademisch rehabilitiert, hat sichbald nach ihm sein Schüler Hans R. Guggisberg 1956 zunächst

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im Rahmen seiner Dissertation38 und später in weiteren Auf-sätzen39 mit ihm beschäftigt, bis er zuletzt mit seiner knapp vorseinem Tod im Jahre 1996 fertiggestellten bedeutenden Castel-lio-Biographie die vorerst letzte große Würdigung dieses gro-ßen Humanisten und Vorkämpfers für die Toleranz unternahm.Aus ihr haben wir auch die beiden das De haereticis betreffen-den Kapitel übernommen.

Damit wird deutlich – und dies mag bereits eine gewisseGenugtuung für Castellio bedeuten –, dass er zwar längst vonder Wissenschaft und durch namhafte Historiker40 in seinerBedeutung erkannt worden, er selbst aber noch immer nichtzu Wort gekommen ist. So ist es nun endlich an der Zeit,ihn erstmals selbst durch die Übersetzung seiner Schriftenzu einem aufgeschlossenen Publikum sprechen zu lassen.Deren Anliegen war es, wie Stefan Zweig treffend charakteri-siert41, das Bewusstsein der Menschen seiner Zeit dafürzu schärfen, wie es gelingen kann, Toleranz gegen Intoleranz,Humanität gegen Fanatismus, Individualität gegen Funktio-nalisierung zu verteidigen – oder anders gesagt: das Humanevor dem Politischen, Menschlichkeit und Freizügigkeitvor staatlichem und gesellschaftlichem Zwang, die Freiheitdes Gewissens vor jeglicher Art bevormundender Gewalt zuschützen.

Diese Sorge um den Schutz des freien Willens, die Furchtvor der Bedrohung der Gewissens- und Glaubensfreiheit (»Nie-mand kann für einen anderen glauben«), durchzieht die meistenvon Castellios Schriften. Sie sind nicht nur von einem tiefempfundenen, leidenschaftlichen und christlich gelebten Hu-manismus geprägt, sie sprechen auch eine Sprache, die in ihrerLebendigkeit und Bildhaftigkeit viele seiner damals auch nichtakademisch gebildeten Leser angesprochen hat.

Mit dieser Ausgabe bekommt der Leser nun erstmals seitviereinhalb Jahrhunderten die Möglichkeit, sämtliche zumDe haereticis gehörenden Texte in deutscher Übersetzung42

kennenzulernen. Dazu gehören auch diejenigen Texte, die zu-

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sätzlich in die anderen zeitgenössischen Ausgaben, die fran-zösische wie die deutsche, aufgenommen wurden, im latei-nischen Original jedoch fehlen. Zudem haben wir zwei weite-re Schriften aufgenommen: die vermutlich von Castelliounmittelbar vor dem De haereticis verfasste Historia de morte Ser-veti sowie seine letzte, fünfunddreißig Tage vor seinemTod dem Basler Rat vorgelegte Verteidigungsschrift. Ebensoauch die nicht von Castellio selbst stammende, an den Land-grafen von Hessen gerichtete Vorrede des Übersetzers derfranzösischen Ausgabe von De haereticis, neben weiteren Textenim Anhang.43

Bleibt noch die Frage: Warum Castellio heute? Es gibt denEinwand, Castellios Zeit und sein Anliegen hätten in den Bü-cherregalen inzwischen dicken Staub angesetzt, seien kaummehr als nur noch ein Thema für die Forschung und durchdie Entwicklung unserer abendländischen Gesellschaft längstobsolet geworden. Verhält es sich so? Sind aus den Antworten,die unsere moderne Gesellschaft auf Castellios Fragen gegebenhat, wirklich tragfähige Lösungen und wirksame politischeInstrumente hervorgegangen, die im Sinne Castellios verhin-dern, Andersdenkende zu verfolgen oder gar an Leib und Le-ben zu bedrohen? Sind nicht, wenn nicht physische, so dochneue Spielarten entstanden, durch die sich Menschen psy-chisch bedroht und misshandelt sehen? Und ist das, was unsinmitten unserer eigenen Gesellschaft aus anderen Kulturkrei-sen an Intoleranz begegnet, nicht auch eine Herausforderungan unser eigenes Toleranzverständnis? Nicht vergessen sind dasEntsetzen und die Empörung, als der Schriftsteller SalmanRushdie 1989 durch eine Fatwa des damaligen iranischenFührers Khomeini wegen der Satanischen Verse weltweit zurTötung ausgeschrieben wurde. Das Urteil wurde bis heutenicht aufgehoben.

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Auch Castellio musste zuletzt noch einmal um sein Lebenfürchten. Krankheit und die ständige Bedrohung durch dieAngriffe aus Zürich und Genf, aber auch durch immer neueVerleumdungen und Anklagen seitens selbsternannter FreundeCalvins, hatten seine Kräfte aufgezehrt. Nun wurde er auf-grund eines solchen, die Gunst des Basler Rats erheischendenAnklägers vor den Rat bestellt. Die Anklage lautete diesmal aufKetzerei. Castellio wusste, dass dies für ihn die Todesstrafe be-deutete, wenn es ihm nicht gelang, sich wirksam zu verteidi-gen. In seiner letzten, von eigener Hand geschriebenen undnur infolge seiner Beharrlichkeit öffentlich gemachten Schriftführt er in sachlich nüchternem Ton sämtliche gegen ihn vor-gebrachten, zum Teil schon mehrfach bei anderer Gelegenheitwiderlegten Anschuldigungen ad absurdum. Gegen Endeschreibt er: »Wenn sie aber ein gutes Gewissen haben, mögenBeza und Calvin erscheinen und alle Vorwürfe, die sie schrift-lich gegen mich ausgesprochen haben, vor Euch, meinenRichtern, beweisen. Ich jedenfalls werde (damit Ihr seht, wieich der Redlichkeit meines Falles vertraue) auch meinen Kopfzur rechten Strafe anbieten, wenn sie jenes bewiesen haben.[…] Groß und mächtig sind meine Gegner und meine Anklä-ger, aber mächtig ist Gott, der (ohne Rücksicht auf Personen)von seinem Thron herab straft. Ich aber bin ein geringer, ein-facher Mensch, aber auch die Geringen nimmt Gott auf undrächt ihr Blut (wenn es ungerecht vergossen wird). Zu irren istleicht, und in einem Augenblick fügt ein schlechter Mannleicht eine Wunde zu, die dann hundert gute Ärzte in vielenJahren nicht heilen können.«44

Fünfunddreißig Tage nachdem er diese Schrift zu seinerVerteidigung vor dem Basler Rat niedergelegt hatte, starbSebastian Castellio im Alter von achtundvierzig Jahren. Als Ur-sachen nannten manche körperliche Überanstrengung und Er-schöpfung, andere sprachen von Krankheit des Herzens undder Seele. »Die jahrelange psychische Belastung«, so Guggis-berg, »die in der Denunziation vom November 1563 ihren

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Höhepunkt erreicht hatte und sich in dem bevorstehendenProzess noch weiter zu verschärfen drohte, hatte ohne Zweifelihren Preis verlangt.«45

Von diesem Tag an hüllte sich Calvin in Schweigen. Nur weni-ge Monate nach Castellio starb auch er.

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