17
CHANSONS 10./11.11.2012 PHILIPP AHMANN LEITUNG SAISON 2012/2013 ABONNEMENTKONZERT 2

CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

CHANSONS10./11.11.2012

PHILIPP AHMANN LEITUNG

SAISON 2012/2013 ABONNEMENTKONZERT 2

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 2 17.10.12 11:35

Page 2: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

CHANSONSLEITUNG

CLAUDE DEBUSSY (1862 – 1918) /

CLYTUS GOTTWALD (*1925)

GEORGES AURIC (1899 – 1983)

FRANCIS POULENC (1899 – 1963)

SAMSTAG, 10. NOVEMBER 2012, 19 UHR

SCHWERIN, SCHELFKIRCHE

SONNTAG, 11. NOVEMBER 2012, 18 UHR

HAMBURG, ST. JOHANNIS-HARVESTEHUDE

11. November, 17 Uhr:

Einführungsveranstaltung mit Ilja Stephan in der Kirche

PHILIPP AHMANN

Des pas sur la neige

Cinq chansons françaises

I. Pour un chief d’œuvre

II. Le jour m’est nuict

III. J’en ay le dueil

IV. C’est grant paine

V. Quant je me treuve

Sept chansons

1. La blanche neige

2. À peine défi gurée

3. Par une nuit nouvelle

4. Tous les droits

5. Belle et ressemblante

6. Marie

7. Luire

PAUSE

02 | PROGRAMMABFOLGE

Das Konzert vom 11. November wird am Freitag, den 25. Januar 2013, um 20.05 auf NDR Kultur gesendet.

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 3 17.10.12 11:35

PROGRAMMABFOLGE | 03

CLAUDE DEBUSSY /

CLYTUS GOTTWALD

DARIUS MILHAUD (1892 – 1974)

PAUL HINDEMITH (1895 – 1963)

MORTEN LAURIDSEN (*1943)

Soupir

Quatrains Valaisans

1. Pays, arrêté a mi-chemin

2. Rose de lumière

3. L’année tourne ...

4. Chemins

5. Beau papillon ...

Six Chansons

1. La biche

2. Un cygne

3. Puisque tout passe

4. Printemps

5. En hiver

6. Verger

Les Chansons des Roses

1. En une seule fl eur

2. Contre qui, rose

3. De ton rêve trop plein

4. La rose complète

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 4 17.10.12 11:35

Page 3: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

04 | LEITUNG

LEITUNG

Philipp Ahmann ist seit der Saison 2008/09

Chordirektor des NDR Chores in Hamburg. Unter

seiner Leitung wurde die neue Abonnementreihe

des Chores mit vier Konzerten eingeführt, die

seither bei Publikum und Kritik begeisterten

Anklang findet und nun in die vierte Spielzeit

geht. Thematisch konzipierte Programme mit

A-cappella-Werken aller Epochen bilden den

Schwerpunkt der Reihe. Darüber hinaus arbeitet

Ahmann regelmäßig mit Spezialensembles der

Alten und der Neuen Musik zusammen. Hervor-

zuheben sind seine Produktio nen bei NDR das

neue werk, beispielsweise mit dem Raschèr

Saxophone Quartet und dem Ensemble Reso-

nanz oder bei NDR Das Alte Werk mit dem

Elbipolis Barockorchester Hamburg und

Concerto Köln.

Der 1974 geborene Philipp Ahmann studierte in

Köln zunächst Schulmusik und Germanistik und

absolvierte anschließend ein Dirigierstudium bei

Marcus Creed. Weitere Impulse erhielt er durch

die Arbeit mit Peter Neumann, Frieder Bernius und

Robin Gritton. Nach dem Studium übernahm er

die künstlerische Leitung der Kartäuserkantorei

Köln und des Bonner Kammerchores, zwei der

renommiertesten Chöre des Rheinlandes.

In der Spielzeit 2005/06 begann Ahmann mit

Rundfunkchören zu arbeiten, zunächst mit dem

SWR Vokalensemble Stuttgart und dem NDR Chor.

Eine regelmäßige Zusammenarbeit verbindet ihn

zudem mit dem MDR Rundfunkchor und dem

WDR Rundfunkchor, wo er – neben Einstudierun-

gen – Produktionen leitet und Konzerte dirigiert.

Für Dirigenten wie Christoph von Dohnányi,

Thomas Hengelbrock, Jukka-Pekka Saraste,

Semyon Bychkov, Heinz Holliger oder Gerd Albrecht

studierte er Werke der verschiedensten Stil-

epochen ein.

PHILIPP AHMANN

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 5 17.10.12 11:35

03NDR CHOR | 05

In der Spielzeit 2012/13 zeigt der NDR Chor

unter der Leitung seines Chordirektors Philipp

Ahmann die ganze Bandbreite seines Repertoires

und seiner Möglichkeiten. Den Saisonmittelpunkt

bildet die Abonnementreihe mit thematisch ge-

prägten A-cappella-Konzerten und attraktiven

Gastsolisten oder Ensembles.

Daneben ist der NDR Chor – als der professionelle

Konzertchor des Nordens – mit einem vielfältigen

Programm im gesamten Sendegebiet des NDR

und darüber hinaus präsent. Zu seinen Partnern

zählen dabei alle Ensembles des NDR bis hin zur

Big Band sowie eine Reihe renommierter Solis ten,

Orchester und Dirigenten. So führen ihn Einladun-

gen zum Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des

SWR und zum WDR Sinfonieorchester Köln, zudem

sind Konzerte u. a. mit dem Royal Concertgebouw

Orchestra Amsterdam, dem Philharmonia Or-

chestra London und dem Mahler Chamber Orches-

tra geplant.

Regelmäßig gastiert der NDR Chor bei renommier-

ten Festivals deutschlandweit: in dieser Spielzeit

u. a. beim Schleswig-Holstein Musik Festival,

dem Usedomer Musikfestival, den Internationalen

Händel-Festspielen Göttingen, den Händel-Fest-

spielen in Halle, den Niedersächsischen Musikta-

gen, den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern

und dem Beethovenfest Bonn.

NDR CHOR

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 6 17.10.12 11:35

Page 4: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

NDR CHOR

CHORDIREKTORPhilipp Ahmann

VORSTANDRegine Adam

Christa Diwiak

Joachim Duske

SOPRANRegine Adam

Bettina Hunold

Dorothee Risse-Fries

Katharina Sabrowski

Stephanie Stiller

Akiko Schilke

Raphaela Mayhaus

Sylke Alshuth

Akiko Ito

Maren Roederer

TENORDantes Diwiak

Christian Beller

Joachim Duske

Sebastian Lipp

Goetz Phillip Körner

Michael Schaffrath

Aram Mikayelyan

Johannes Gaubitz

ALTAlmut Pessara

Gabriele-Betty Klein

Ursula Ritters

Christa Diwiak

Ina Jaks

Gesine Grube

Kristien Daled

Andrea Hess

BASSChristoph Liebold

Christfried Biebrach

Dávid Csizmár

Frederick Martin

Andreas Pruys

Arthur Pirvu

Manfred Reich

Clemens Heidrich

06 | NDR CHOR

DER NDR CHOR BEI FACEBOOKAlle Infos über den NDR Chor, seine Konzerte und das Abonnement gibt es natürlich auf unserer Homepage.Aber der NDR Chor ist auch auf Facebook vertreten. So können Sie auch über die sozialen Netzwerke im Kontakt mit uns bleiben!

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 7 17.10.12 11:35

PROGRAMM | 07

CHANSONS

Es gab Dichter, die sich in der Sprache nicht nur

ausdrückten, sondern in ihr lebten und das als Welt

erfuhren, was durch das Wort wie durch eine Hei-

mat gegangen war. Paul Celan zählte zu ihnen und

vor ihm Rainer Maria Rilke. Was man Muttersprache

nennt, war für sie das Deutsche, obwohl sie in ei ner

Umgebung aufwuchsen, die eine an de re Sprache

zur Norm erhob oder erheben wollte. Beide schrie -

ben außer ihren deutschen auch fran zö sische

Gedichte, poetische Aneignungen einer anderen

Denk- und Klangwelt, Grenzüberschreitungen im

lyrischen Empfinden. Wer in der Sprache lebt, kennt

ihre Grenzen, kann sich in sie zurückziehen oder

sie punktuell überschreiten – hin zu einer anderen

Sprache oder hin zur Befreiung des Klangs, zur

Musik. Vielleicht war es auch dieses Kunst gewor-

dene Bewusstsein, das Kompo nisten an Dichtern

wie Rainer Maria Rilke immer wieder anzog.

PROLOG ALS COLLAGE UND HOMMAGERilkes französische Poesie bildet den Sprachkern

des heutigen Programms. Drei der fünf Zyklen sind

nach seinen Gedichten komponiert, am ersten Stück

wurde er beteiligt. Es handelt sich bei Debussy-

Gottwalds Eröffnungschor um eine Montage oder

Überschreibung. Clytus Gottwald komponierte sie

aus einem Klavierprélude Claude Debussys, Aus-

zügen aus einem Gedicht Rilkes und Textfragmen-

ten Stéphane Mallarmés. Zwischen den dreien

bestanden nicht nur künstlerische Verbindungen.

Sie kannten sich. Mallarmé, der poetische Bahn-

brecher der Moderne in Frankreich, lud regel-

mäßig dienstagabends zu einer Art literarischem

Salon in seine Pariser Wohnung an der Rue de

Rome ein. Zu den Gästen zählten Claude Debussy,

einer der wenigen Komponisten, und bei einem

seiner frühen Paris-Aufenthalte auch Rainer Maria

Rilke. Aus der Colla ge ursprünglich unabhängiger

Musik- und Sprachpo e sie lässt Gottwald ein Genre

entstehen, das in Frankreich ab 1900, besonders

aber in der Zwi schen kriegszeit nach Jahrhunderten

des Schattendaseins wieder Bedeutung gewann:

den Chor-Chanson.

Gottwald schrieb zu seinem Arrangement: „Heinz

Holliger war es, der mich überredete, Debussys

Klavierstück ,Des pas sur la neige‘ für Chor zu

transkribieren. Das Stück ist im ersten Band der

,Préludes‘ von 1910 enthalten. […] Die größte

Schwierigkeit bestand darin, einen Text zu unter-

legen, in dem der Gehalt der Musik, den Debussy

Claude Debussy, um 1910

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 8 17.10.12 11:35

Page 5: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

08 | PROGRAMM

im Titel ‚Schritte im Schnee‘ umschrieben hatte,

seine Entsprechung fand und der sich auch in

rhythmischer Hinsicht dem Verlauf der Musik an -

schmiegte. Diese Suche führte schließlich zu einer

Art ‚Komposition‘ aus drei Gedichten zweier Auto-

ren, Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) und Stéphane

Mallarmé (1842 – 1898). Dabei ergab sich, dass die

Zusammenführung der Textfragmente einen Sinn

hervorbrachte, der in den originalen Gedichten

nicht zu erkennen war. Rilkes Gedicht ‚En hiver‘,

das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen

ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente

empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

der über das Ephemere weit hinaus ging.“

Dass Musik in jede Poesie eingewoben sei, diese

Überzeugung teilten Mallarmé und Rilke. Der

französische Dichter meinte, „dass Musik und

Literatur das wechselweise Antlitz, hier zur Dunkel-

heit sich weitend, aufleuchtend da mit Gewissheit,

ein und desselben Phänomens sind, ich nannte

es: die Idee.“ Mallarmé gab mit seiner Poesie der

musikalischen Moderne insbesondere nach dem

Zweiten Weltkrieg entscheidende Anstöße; so

verbanden sich wesentliche Stationen von Pierre

Boulez’ künstlerischer Entwicklung mit Mallarmés

Dichtungen. Claude Debussy war einer der ersten,

der die Verse des Poeten in Musik hinüberdachte:

im berühmten „Prélude à l’après-midi d’un faune“

und in drei Liedern, „Soupir“ nach einem frühen

Gedicht ist ihr erstes.

Im Original breitet das Klavier zu Beginn eine

Klangfläche aus, die der Stimme Raum schafft. Sie

singt zunächst allein, erst nach einiger Zeit wirken

beide zusammen – in einer Steigerung hin zum

Wort „Azur“, dem Zauberwort, dem Mallarmé sogar

ein eigenes Poem widmete. Von dort verklingt

das Stück nach und nach bis zum „letzten Sonnen-

strahl“. Gottwald übertrug das Klavierlied in den

Klang eines sechzehnstimmigen Chores, gab auch

den Wogen und Tupfen des ursprünglichen Kla-

viersatzes Text mit. Dieses Stück eröffnet wie

eine Hommage den zweiten, den Rilke-Teil des

heutigen Programms.

LIEBESLIEDER IN KRIEGSZEITEN: GEORGES AURIC Den ersten Programmteil bestimmen zwei Kompo-

nisten, die vom Musikleben außerhalb Frankreichs

oft als randständig betrachtet wurden. Für Francis

Poulenc und seine Werke hat sich dies inzwischen

geändert, für Georges Auric nicht. Auric gehörte

mit Darius Milhaud Anfang der 1920er Jahre zu

der legendären „Groupe des Six“, einem losen

Freundschaftsbund von Komponist(inn)en, die

ästhetisch dreierlei verband: Sie lehnten das Pathos

der Wagner-Nachfolge ab, den musikalisch-poe-

Rainer Maria Rilke, 1925

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 9 17.10.12 11:35

PROGRAMM | 09

tischen Seelenerkundungen der Expressionisten

gewannen sie keinen allzu großen Reiz ab, und

die Grenzen zwischen ernster und unterhaltender,

autonomer und angewandter, hoher und niederer

Kunst galten ihnen nichts. Die Attitüde des Bürger-

schrecks war diesen Bohemiens so wenig fremd

wie die Umgänglichkeit eines urbanen populären

Tons. Politisch hielt sich Auric eher links; als 1936

eine Volksfrontregierung eine klare Gegnerschaft

zu den faschistischen Regimes bezog, stellte er

seinen experimentellen Stil zurück und arbeitete

nicht nur in seinen Filmmusiken, sondern auch

in Instrumentalwerken zum Teil mit populärem

Material, Béla Bartók, Bohuslav Martinů und

Darius Milhaud konnten ihn dabei als Geistes-

verwandte inspirieren.

Die fünf französischen Chansons für gemischten

Chor komponierte er im Februar 1941. Frankreich

war von deutschen Truppen besetzt, in Vichy am -

tierte eine Marionettenregierung, die Résistance

begann ihre Kräfte zu ordnen. In dieser Situation

kamen selbst die lobenden und trauernden, ironi-

schen und melancholischen Liebeslieder für vier

Stimmen einem Bekenntnis nahe, denn Auric er -

innerte an alte und starke Traditionen. Er wählte,

wie einst Claude Debussy für seine „Trois chansons

de Charles d’Orléans“, Texte aus dem 15. Jahr-

hundert, in denen noch die alte Vaganten- und

Troubadoursdichtung mit ihrem amourösen und

spöttischen Ton nachwirkte, aber sich auch schon

das (Kunst-)Denken der Renaissance durchzusetzen

begann. In knappen und klaren Formen entfaltet

Auric ein Panorama chorisch-vokalen Ausdrucks.

Er komponiert ein Stück um eine Melodie herum,

die man fast zu kennen meint, führt sie durch ver-

schiedene Stimmen, umflicht sie so virtuos, dass

die Aufmerksamkeit auf das „Beiwerk“ gelenkt wird,

unterlegt sie akkordisch und bestätigt sie dadurch

als unangefochtene Hauptsache. Er flicht – etwa

im zweiten Lied – ein zartes Gewebe vokaler Linien,

lässt Vorder- und Hintergrund auseinander und

ineinander changieren. Im dritten Stück nutzt er die

Antithesen des Textes zu einem Widerspiel in wech-

selnden Koalitionen, Entgegnungen und Überlage-

rungen, ein elegantes Streit-Scherzo ge lang ihm

dabei. Am Ende fällt das Wort „Friede“ in die Tiefe

und verhallt. Das vierte lässt er wie eine Trauer-

motette beginnen. Mit dem fünften schließt er den

Kreis: Wie das erste ist es ein Preislied an die Ge -

liebte, geht von einer fast volkstümlichen Melodie

aus und entwickelt sie im Kanon und mit einer Fülle

an Gegenstimmen zu einem Überschwang, der

auch den ganzen weiten Tonartenraum durchmisst.

ANNÄHERUNG: FRANCIS POULENC UND PAUL ÉLUARDFrancis Poulenc komponierte seine „Sept chansons“

1936 nach Gedichten von Paul Éluard (1895 – 1952) –

mit zwei Ausnahmen, den Nummern 1 und 6, die

er angeblich aus Gründen der Balance und des

schärferen Kontrastes nachträglich (1943) nach

Texten von Guillaume Apollinaire (1880 – 1918)

einfügte. Die Chorstücke sind eine der ersten

Gruppen von Éluard-Vertonungen. Poulenc kannte

den Dichter zwar schon seit 1917, schätzte ihn

auch menschlich sehr, doch die Poesie des Pariser

Surrealisten blieb ihm lange fremd. Es bedurfte

großer Überredungskünste, ihn 1935 zu einigen

Sololiedern nach Texten Éluards zu bewegen. Sie

brachen den Bann. „Plötzlich begann ich, Éluards

Poesie zu lieben“, äußerte der Komponist, „erstens,

weil er der einzige surrealistische Dichter war, der

Musik dulden konnte, und dann, weil sein ganzes

Werk musikalische Vibration ist.“

Éluards Texte gehören zu der surrealistischen

écriture automatique, die Gedanken und Wortbilder

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 10 17.10.12 11:35

Page 6: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

10 | PROGRAMM

so festhalten will, wie sie dem Künstler in den Sinn

kommen. Dahinter steht die Überzeugung, dass ihr

Erscheinen einer höheren, uns nicht unmittelbar

bewussten Logik folgt; sie lässt sich wohl am ehes-

ten mit der Vielschichtigkeit der Träume vergleichen

und kann, wie jene, die zensierenden Filter und

Schranken unseres Bewusstseins wenigstens par-

tiell umgehen. Viele Begriffe und Wendungen ent-

halten Anspielungen, die in den Surrealistenkreisen

sofort verstanden wurden. Übersetzbar sind sie

nicht, so wenig wie die Bedeutungsfelder, die jeder

Begriff mit sich trägt, und die zu einem großen Teil

die Wirkung assoziativer Lyrik ausmachen.

Poulencs Kompositionsweise ist alles andere als

surrealistisch. Sie ist traditionell. Die Bilderwelt der

Gedichte nimmt sie ernst, hebt ihre Hauptlinien

hervor, beleuchtet hin und wieder ihren Hinter-

grund und macht ihre Farben deutlich. Poulenc

greift auf die alte Form der Chor-Chansons aus der

Renaissance-Zeit zurück, fasst sie harmonisch neu,

bringt eine Vielfalt technischer Verfahren ein,

die für bunteste Abwechslung sorgen; ihre Skala

reicht vom einstimmigen Gesang bis zur Schich-

tung konträrer Bewegungsarten, vom homogenen

Gleichklang bis zu quasi instrumentalen Effekten.

WALLISISCHE VIERZEILER: DARIUS MILHAUD

Im Sommer 1939, dem letzten vor dem zweiten

großen Krieg, hielt sich Darius Milhaud für einige

Zeit im Schweizer Kanton Wallis auf. Dort leitete

Georges Haenni einen Trachtenchor, dessen

Brauchtumspflege er nicht gegen das moderne

Die „Groupe des Six“ 1952. Von links nach rechts: Darius Milhaud, Jean Cocteau (am Flügel),

Georges Auric, Arthur Honegger, Germaine Tailleferre, Francis Poulenc, Louis Durey

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 11 17.10.12 11:35

PROGRAMM | 11

Leben abschotten wollte. Er fragte Milhaud und

Paul Hindemith, ob sie nicht einige Stücke für sei-

nen Chor schreiben würden. Beide sagten zu, beide

wählten für ihre Kompositionen Gedichte von Rainer

Maria Rilke, der einen Großteil seiner französischen

Lyrik verfasste, als er mehrere Jahre im Wallis lebte.

Er hoffte dort auf Linderung seiner körperlichen

und seelischen Leiden; Landschaft und Natur schie-

nen ihn aufzumuntern und ge nesen zu lassen. Doch

das Hochgefühl blieb nicht von Dauer, auch die

Schweizer Gedichte sind von der zarten, von Liebe

und Liebesweh getragenen Melancholie durch -

zogen, die Rilkes Poesie insgesamt durchweht.

Der Dichter starb am 29. Dezember 1926 im Sa na -

torium Valmont bei Montreux am Genfer See.

Darius Milhaud traf für seine Chorstücke eine Aus-

wahl aus Rilkes „Quatrains Valaisans“, den „Wallisi-

schen Vierzeilern“, und übernahm des Dichters

Gesamttitel auch für seinen Zyklus. Die Texte schla-

gen Themen an, die man als Allegorien auch in

volkstümlichen Überlieferungen findet: Land und

Landschaft, Rose und Weinstock, Jahresende, -wende

und Lebenslauf, Wege, die sich verlieren, Schmetter-

ling und Brief. Die Stücke sind liedhaft gesetzt, mit

inneren Dialogen (Nr. 2), Anspielungen auf bekannte

musikalische Wen dungen (Hornsatz zu Beginn von

Nr. 3), mit luftig-durchsichtigen Strukturen (Nr. 4)

und leichtem, scherzoartigem Charakter (Nr. 5).

GRUSS ÜBER DIE GRENZE: PAUL HINDEMITH Paul Hindemiths „Six Chansons“ werden gern als

Gelegenheitsarbeiten an den Rand seines Schaf-

fens gestellt. In den kritischen Jahren zwischen

1937 und 1940 nehmen sie jedoch biographisch

und ästhetisch eine bedeutsame Stellung ein. Der

Komponist kündigte zum Wintersemester 1937/38

seine Professur an der Berliner Musikhochschule,

die zuvor schon drei Jahre wegen einer offiziellen

Auslandstätigkeit ruhte. 1938 zog er in die Schweiz,

in den kleinen Ort Bluche im Kanton Wallis. Dort

bat ihn Georges Haenni um einige Stücke für sei-

nen Chor „Chanson Valaisanne“. Hindemith sagte

zu und vertonte sechs Gedichte aus dem Zyklus

„Vergers“ (Obstgärten), den Rainer Maria Rilke

1924/25 im Wallis geschrieben hatte. Ohne Haennis

Anfrage hätte Hindemith die Stücke gewiss nicht

kom po niert, insofern handelt es sich tatsächlich

um Gelegenheitsarbeiten.

Doch im Kontext seines Schaffens bilden sie gerade

in ihrer Kürze einen Fokus, in dem sich mehrere

Linien bündeln. Kurz zuvor hatte Hindemith sein

Lehrbuch „Unterweisung im Tonsatz“ abgeschlos-

sen, im theoretischen Teil ein Plädoyer für das

tonartbezogene Denken, im praktischen Teil ein

Paul Hindemith, 1937

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 12 17.10.12 11:35

Page 7: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

12 | PROGRAMM

Übungsbuch, das auf traditionellen Verfahren

aufbaut und die Kunst, gleichzeitig in mehreren

selbständigen Stimmen zu denken, am Beispiel

Alter Meister erläutert und trainiert. In jenen Jah-

ren erschienen seine drei Orgelsonaten, die letzte

komponierte er nach alten Volksliedern. Satztech-

niken und Melodiebildungen in den „Six Chansons“

verwirklichen beispielhaft im freien Satz, was er

in der „Unterweisung“ systematisch lehrte, und

sie lassen die Erfahrungen mit alten Volksliedern

durchklingen, nicht als Zitate, eher wie Schatten-

würfe. Hinzu kommt: Die Chorstücke sind nicht nur

eine Hommage an Rilke, nach dessen Texten er

bereits sein „Marienleben“ komponiert hatte,

sondern auch eine Reverenz an die französische

Musik, an die neu belebte Geschichte des Chor-

Chansons und an die Klangsensibilität eines

Debussy oder Ravel. Hindemith schätzte sie. Als

er im Ersten Weltkrieg zum Militärdienst einge-

zogen war, gründete er mit anderen Soldaten ein

Streichquartett und spielte mit ihnen Debussy,

Musik aus Feindesland. All dies schwingt mit in den

Chansons, in denen konträre Erfahrungen besun-

gen werden: die Natur in ihrem Legendencharakter

(Nr. 1), ihrer Schönheit, ihrem Überfluss (Nr. 4),

ihrer Bedeutung als Zuflucht (Nr. 6), aber auch in

ihrer Zwiespältigkeit (Nr. 5), ihrer Todessymbolik

(Nr. 2) und ihrer Vergänglichkeit. Stilistisch sind die

Stücke der Musik eines Poulenc näher als dem,

was die NS-Größen in Deutschland für opportun

hielten. Hindemith komponierte sie zwischen dem

10. und 13. September 1939. Der Weltkrieg hatte

begonnen. Bald würden der Komponist und seine

Frau erneut ihre Habe zusammenpacken und

weiterziehen auf dem Weg des Exils, weg vom

Kriegsschauplatz Europa in die USA. Der musi-

kalisch-poetische Gruß nach Frankreich erhielt

dabei fast symbolisch-solidarische Bedeutung.

EPILOG MIT ROSEN: MORTEN LAURIDSENSo besteht der innere Kreis dieses Programms

aus Chansons, die sich der alten ewigen Themen

annehmen: Liebe und Natur, Werden und Vergehen,

Lust und Weh, und die darin, bei allem Welt- und

Liebesschmerz und aller Melancholie, vor allem

eines suchen: die Fülle des Lebens, Schönheit.

Sie wurden komponiert in einer Zeit, in der diese

Menschheitssehnsucht durch Krieg und Politik

massiv bedroht wurde. Das verleiht den Komposi-

tionen bei aller Lockerheit, bei allem Esprit und

aller spielerischen Ironie eine existenzielle Inten-

sität. Sie erneuern ein Stück Geschichte, das weit

zurück reicht: den französischen Chor-Chanson,

der in der Renaissance seine Blütezeit erlebte und

sich damals die ganze Spannweite des wirklichen,

spirituellen und erotischen Lebens musikalisch

zu eigen machte. Er war vor allem vom Volk,

nicht nur von der Aristokratie aus gedacht.

Das Programm des NDR Chors begann mit einer

Introduktion, die aus drei verwandten Richtungen

in die Welt des Chansons hineinführte. Es schließt

mit einem Rückblick in die Glücks- und Sehnsuchts-

bereiche dieses besonderen Genres der Chor-

musik. Die vier Stücke von Morten Lauridsen sind,

wie viele Werke des amerikanischen Erfolgskom-

ponisten, Variationen über die Schönheit, muntere,

quirlige, ruhige, versonnene und heitere. Er wählte

Gedichte aus Rilkes französischem Zyklus „Les

roses“ (Die Rosen), die ihn nach seinen eigenen

Worten „beeindruckten als besonders bezaubernd,

voll von einem großartigen Lyrismus, kunstvoll

geformt und elegant in ihren Bildern. Diese exqui-

siten Gedichte sind vor allem leicht, freudig und

spielerisch, und die musikalischen Sätze sind so

gestaltet, dass sie diese Eigenschaften verstärken

und ihre zarte Schönheit und Sinnlichkeit ein-

fangen. Bestimmte melodische und harmonische

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 13 17.10.12 11:35

PROGRAMM | 13

Wendungen treten im gesamten Zyklus immer

wieder auf und schaffen Verbindungen, insbeson-

dere zwischen Rilkes ergreifendem ,Contre qui,

rose‘ (komponiert als ein wehmütiges Nocturne)

und seinem bewegenden ,La rose complète‘.“

Unter den rund vierhundert französischen Gedich-

ten Rilkes sind die vierundzwanzig, die den Rosen-

zyklus bilden, die zartesten, flüchtigsten, fragil

aus Bildern, Symbolen, Klang und Rhythmus kom-

poniert. Dem alten Doppelbild von der Rose als

süßer Verlockung (durch Duft und Blüte) und hef-

tiger Abwehr (durch ihre Dornen) fügt Rilke noch

ein weiteres Symbol hinzu: den Reichtum in sich

selbst. Die Rosenblüte erscheint ihm wie ein

Kompositum aus vielen Blüten. Von diesem inne-

ren Reichtum (für Rilke auch ohne Rosenallegorie

ein wesentlicher Gedanke) handeln die erste und

die dritte von Lauridsens Vertonungen, die zweite

thematisiert dagegen die alte Dialektik von Schön-

heit und Abwehr, die Rilke im zweiten Stück aus

Milhauds „Quatrains Valaisans“ „Proserpina-Geste“

nannte. Proserpina, Tochter des Jupiter und der

Ceres, wurde von Pluto, dem Gott der Unterwelt,

zur Frau begehrt. Jupiter lehnte den Antrag seines

Kollegen aus der Finsternis ab, weil Ceres der

Ehe niemals zustimmen würde, stellte Pluto aber

die Entführung Proserpinas frei. Der akzeptierte

den göttlichen Plan B. In „Contre qui, rose“ wendet

Rilke das mythische Sinnbild in ein modern-

subjektives: Warum, fragt er, wehre sich die Rose

gegen diejenigen, die sie schützen – auch vor

Wesen, die vor Dornen nicht zurückschrecken.

Rilkes Rosengedichte kommen mit ihrer Aura,

ihrem Klang und Rhythmus der Musik besonders

nahe. Dass Lauridsen in seinen Kompositionen

die Vielfalt überlieferter Satztechniken nutzte,

trägt Rilkes Thema und poetischer Ästhetik eben-

so Rechnung wie der Kunstgriff, der betörenden

Schönheit des Chorklangs eine leitmotivische Dis-

sonanz als kleinen Dorn einzufügen. Klug er scheint

die Beschränkung auf eine Auswahl aus Rilkes

Gedichten. Denn der Duft der Rosen und die No -

blesse der Poesie wirken durch dezente Dosierung.

Habakuk Traber

Morten Lauridsen

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 14 17.10.12 11:35

Page 8: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

14 | LIEDTEXTE

SCHRITTE IM SCHNEE

Im Winter tritt der mörderische Tod

in die Häuser.

Er sucht die Schwester, den Vater

und spielt ihnen auf der Violine.

Irgendein Winter ließ auf meiner mürrischen Stirn

eine Schneeflocke bersten,

dass der Nagel ...

Der Tod

und spielt ihnen auf der Violine

der Violine aus Eis,

der Tod

vor ihm schützt

keine Flamme im Innern.

DES PAS SUR LA NEIGE

En hiver, la mort meurtrière

entre dans les maisons;

elle cherche la sœur, le père,

et leur joue du violon.

Quelque hiver sur mon front morose

un flocon de neige creva,

que de l’ongle ...

La mort

et leur joue du violon,

du violon de glace,

la mort

Que contre elle ne protège

pas une flamme au dedans.

Rainer Maria Rilke (aufrecht) / Stéphane Mallarmé (kursiv)

CLAUDE DEBUSSY / CLYTUS GOTTWALD

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 15 17.10.12 11:35

LIEDTEXTE | 15

FÜNF FRANZÖSISCHE CHANSONS

I. An ein Meisterwerk

Zu einem Meisterwerk schuf dich Gott,

Denn du bist zum Bewundern schön,

Und deshalb entzückt es mich nicht,

Wenn man dir an mehreren Orten zu Diensten ist.

Es gibt keine Frau unter dem Himmel,

Die dir auch nur entfernt gleich wäre.

Zu einem Meisterwerk schuf dich Gott,

Ich sehe wohl, dass es mein Bestes ist,

Dir zu dienen. Ich bin mir im Klaren,

Denn du bist die Unvergleichliche,

Die je ein Mensch von seinesgleichen sah.

Denn du bist die Unvergleichliche,

In der je ein Mensch Gottes Ebenbild erblickt.

Zu einem Meisterwerk schuf dich Gott.

II. Der Tag ist mir Nacht

Der Tag ist mir Nacht,

Freude kränkt mich,

Ruhe ist mir nichts als Mühe,

Kurz, ich umarme das Gegenteil dessen,

Was anderen gefällt und sie vergnügt.

Die Hoffnung flieht mich,

Trauer führt mich,

Ich sträube mich gegen Hilfe,

Der Tag ist mir Nacht,

Ich habe einen Namen ohne Klang.

CINQ CHANSONS FRANÇAISES

I. Pour un chief d’œuvre

Pour un chief d’œuvre vous fist Dieux

Car vous estes belle à merveille

Et pour ce point ne m’esmerveille

Sy l’on vous sert en plusieurs lieux.

Il n’y a dame soulz les cieux

Qui de rien soit à vous pareille.

Pour un chief d’œuvre vous fist Dieux

Je voy bien dont que c’est mon mieux

Qu’à vous servir. Je m’apareille

Car vous estes la non pareille

Que jamais homme verra d’ieux.

Car vous estes la non pareille

Que jamais homme verra Dieux.

Pour un chief d’œuvre vous fist Dieux.

Anthoyne

II. Le jour m’est nuict

Le jour m’est nuict

Joye me nuit

Repos ne me sont que labours

Brief j’embrasse tout le rebours

De ce qu’aux aultres plaist et duit.

Espoir me fuit

Dueil me conduit

Je despite contre secours

Le jour m’est nuict

J’ai nom sans bruit.

GEORGES AURIC

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 16 17.10.12 11:35

Page 9: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

16 | LIEDTEXTE

Blatt ohne Frucht,

Harte Stacheln sind mir Blumen,

So beherrscht mich Amor,

Ohne dass ich einen Ausweg hätte.

Der Tag ist mir Nacht.

III. Ich habe davon die Trauer

Ich habe davon die Trauer und du die Freude,

Ich habe davon den Krieg und du den Frieden,

Ich eile davon und du gehst in Frieden,

Ich habe davon den Zorn, der dich vergnügt,

Du lachst darüber und ich weine,

Du sprichst darüber und ich schweige.

Ich habe davon die Trauer und du die Freude,

Ich habe davon den Krieg und du den Frieden,

Du badest dich und ich ertränke mich,

Ich gehe zugrunde an dem, was du mir tust.

Du tadelst mich, dass ich nicht kann, aber

Du willst nicht, dass ich mich kümmere.

Ich habe davon die Trauer und du die Freude,

Ich habe davon den Krieg und du den Frieden,

Ich eile davon und du gehst in Frieden,

Ich habe davon den Zorn, der dich vergnügt,

Ich habe davon die Trauer und du die Freude,

Ich habe davon den Krieg und du den Frieden.

Feuille sans fruit

Dures espines me sont fleurs

Ainsi me gouvernent Amours

Sans avoir aultre sauf conduit

Le jour m’est nuict.

Maistre Martin Le Franc

III. J’en ay le dueil

J’en ay le dueil et vous la joie,

J’en ay la guerre et vous la paiz,

J’en cours et vous allez en paiz,

J’en ay courroux qui vous resjoye,

Vous en riez et j’en larmoye,

Vous en parlez et je m’en tais.

J’en ay le dueil et vous la joie,

J’en ay la guerre et vous la paiz,

Vous vous bargner et je me noye

Je me deffais vous me faictez

Vous me blasmez dont ne puis mais

Vous ne voulez que j’y pourvoye.

J’en ay le dueil et vous la joie,

J’en ay la guerre et vous la paiz,

J’en cours et vous allez en paiz,

J’en ay courroux qui vous resjoye,

J’en ay le dueil et vous la joie,

J’en ay la guerre et vous la paiz.

Vicomte de Blosseville

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 17 17.10.12 11:35

LIEDTEXTE | 17

IV. Es ist ein großes Leid

Es ist ein großes Leid, zu leben,

Wenn man nicht sterben will.

Wer nicht von allem Übel frei ist,

Dem ist’s ein großes Leid, zu leben.

Die Vernunft sagt, dass wir sterben,

Nichts kann uns davor bewahren.

Es ist ein großes Leid, zu leben,

Wenn man nicht sterben will.

V. Wenn ich mich finde

Wenn ich mich ihr nahe finde,

Die mich den Freund ihres Herzens nennt,

Und ich einen Blick von ihren Augen erhalte,

Bin ich fröhlicher und freudiger

Als ein Fohlen, dem man das Zaumzeug abnimmt.

Wenn ich sie ein wenig widerspenstig sehe,

Sage ich ihr ganz zärtlich: Schöne,

Deinen Zorn, den mag ich nicht.

Wenn ich mich ihr nahe finde,

Die mich den Freund ihres Herzens nennt.

Aber wenn es geschehen sollte, dass sie

Dem gefällt, der mit ihr spricht,

Dann scheine ich, so herrlich ich bin,

Genau wie ein schöner Herrgott,

Der auf einer Schaufel sitzt.

Wenn ich mich ihr nahe finde,

Die mich den Freund ihres Herzens nennt.

IV. C’est grant paine

C’est grant paine que de vivre,

Et si ne veult on mourir.

Qui n’est de tous maulx délivre,

C’est grant paine que de vivre.

Raison à la mort nous livre,

Rien ne nous peut secourir.

C’est grant paine que de vivre,

Et si ne veult on mourir.

Vicomte de Blosseville

V. Quant je me treuve

Quant je me treuve auprès de celle

Qui son amy de cueur m’appelle

Et j’ay un regard de ses yeulx,

Je suis plus gay et plus joyeulx

Qu’ung poulain desbridé sans celle.

Si je la voy ung peu rebelle,

Tout doulcement je lui dis Belle

Voustre courroux m’est ennuyeux.

Quant je me treuve auprès de celle

Qui son amy de cueur m’appelle.

Mais s’il avient qu’elle soit telle

Qui lui plaise que parle à elle

Je semble tant je suis glorieux

Proprement ung beau sire Dieulx

Qui soit assis sur une pelle.

Quant je me treuve auprès de celle

Qui son amy de cueur m’appelle.

Le Rousselet

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 18 17.10.12 11:35

Page 10: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

18 | LIEDTEXTE

SIEBEN CHANSONS

1. Der weiße Schnee

Die Engel die Engel im Himmel

Einer ist als Offizier verkleidet

Einer ist als Koch verkleidet

Und die anderen singen

Schöner Offizier in den Farben des Himmels

Der süße Frühling lange nach Weihnachten

Wird dich als schöne Sonne dekorieren

Als schöne Sonne

Der Koch rupft die Gänse

Ah! falle Schnee

Falle und ich habe

Meine Geliebte in meinen Armen

2. Kaum entstellt

Adieu Traurigkeit

Guten Tag Traurigkeit

Du bist eingeschrieben in die Linien der Decke

Du bist eingeschrieben in die Augen die ich liebe

Du bist nicht ganz und gar das Elend

Denn noch die ärmsten Lippen verraten dich

Durch ein Lächeln

Guten Tag Traurigkeit

Liebe liebreizender Körper

Kraft der Liebe

Deren Liebenswürdigkeit auftaucht

Wie ein Gespenst ohne Körper

Enttäuschtes Haupt

Traurigkeit schönes Gesicht.

SEPT CHANSONS

1. La blanche neige

Les anges les anges dans le ciel

L’un est vêtu en officier

L’un est vêtu en cuisinier

Et les autres chantent

Bel officier couleur du ciel

Le doux printemps longtemps après Noël

Te médaillera d’un beau soleil

D’un beau soleil

Le cuisinier plume les oies

Ah! tombe neige

Tombe et que n’ai-je

Ma bien-aimée entre mes bras

Guillaume Apollinaire

2. À peine défigurée

Adieu tristesse

Bonjour tristesse

Tu es inscrite dans les lignes du plafond

Tu es inscrite dans les yeux que j’aime

Tu n’es pas tout à fait la misère

Car les lèvres les plus pauvres te dénoncent

Par un sourire

Bonjour tristesse

Amour des corps aimables

Puissance de l’amour

Dont l’amabilité surgit

Comme un monstre sans corps

Tête désappointée

Tristesse beau visage.

Paul Éluard

FRANCIS POULENC

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 19 17.10.12 11:35

LIEDTEXTE | 19

3. Auf eine neue Nacht

Frau mit der ich gelebt habe

Frau mit der ich lebe

Frau mit der ich leben werde

Immer dieselbe

Du brauchst einen roten Mantel

Rote Handschuhe eine rote Maske

Und schwarze Strümpfe

Gründe Beweise

Um dich ganz nackt zu sehen

Reine Nacktheit o schmucker Schmuck

Brüste, oh mein Herz

4. Alle Rechte

Täusche vor

Den blumigen Schatten der Blumen aufgehängt

im Frühling

Den kürzesten Tag des Jahres und die Eskimo-Nacht

Die Agonie der Herbstphantasten

Den Duft der Rosen das wissende Brennen

der Brennnessel

Breite die durchsichtige Wäsche aus

In der Lichtung deiner Augen

Zeige die Verwüstungen des Feuers die Werke

seiner Brunst

Und das Paradies seiner Asche

Das abstrakte Phänomen wie es kämpft mit den

Zeigern der Pendeluhr

Die Wunden der Wahrheit die Eide die sich

nicht brechen lassen

Zeige dich

Du kannst hinausgehen in einer Robe aus Kristall

Deine Schönheit bleibt

3. Par une nuit nouvelle

Femme avec laquelle j’ai vécu

Femme avec laquelle je vis

Femme avec laquelle je vivrai

Toujours la même

Il te faut un manteau rouge

Des gants rouges un masque rouge

Et1) des bas noirs

Des raisons des preuves

De te voir toute nue

Nudité pure ô parure parée

Seins ô mon cœur

Paul Éluard

4. Tous les droits

Simule

L’ombre fleurie des fleurs suspendues au printemps

Le jour le plus court de l’année et la nuit esquimau

L’agonie des visionnaires de l’automne

L’odeur des roses la savante brûlure de l’ortie

Étends des linges transparents

Dans la clairière de tes yeux

Montre les ravages du feu ses œuvres d’inspiré

Et le paradis de sa cendre

Le phénomène abstrait luttant avec les aiguilles

de la pendule

Les blessures de la vérité les serments qui

ne plient pas

Montre-toi

Tu peux sortir en robe de cristal

Ta beauté continue

1) bei Poulenc: Il te faut (du brauchst)

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 20 17.10.12 11:35

Page 11: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

20 | LIEDTEXTE

Deine Augen verströmen Tränen Liebkosungen

Lächeln

Deine Augen sind ohne Geheimnis

Ohne Grenzen.

5. Schön und ähnlich

Ein Gesicht am Ende des Tages

Eine Wiege in den welken Blättern des Tages

Ein Strauß aus nacktem Regen

Die Sonne ganz verdeckt

Jede Quelle entspringt am Grunde des Wassers

Jeder Spiegel aus zerbrochenen Spiegeln

Ein Gesicht im Gleichgewicht der Stille

Ein Kiesel unter anderen Kieseln

Für die Schleudern der letzten Strahlen des Tages

Ein Gesicht allen vergessenen Gesichtern ähnlich.

6. Marie

Sie tanzten dort kleines Mädchen

Werden Sie dort tanzen Großmutter

Das ist die Glasperle die hüpft

Alle Glocken werden läuten

Wann kommen Sie zurück Marie

Die Masken sind still

Und die Musik ist so weit weg

Dass sie aus dem Himmel zu kommen scheint

Ja ich möchte Sie lieben aber Sie lieben

mit Kummer

Und mein Leid ist köstlich

Tes yeux versent des larmes des caresses

des sourires

Tes yeux sont sans secret

Sans limites.

Paul Éluard

5. Belle et ressemblante

Un visage à la fin du jour

Un berceau dans les feuilles mortes du jour

Un bouquet de pluie nue

Tout soleil caché

Toute source des sources au fond de I’eau

Tout miroir des miroirs brisé

Un visage dans les balances du silence

Un caillou parmi d’autres cailloux

Pour les frondes des dernières lueurs du jour

Un visage semblable à tous les visages oubliés.

Paul Éluard

6. Marie

Vous y dansiez petite fille

Y danserez-vous mère-grand

C’est la maclotte qui sautille

Toutes les cloches sonneront

Quand donc reviendrez-vous Marie

Les masques sont silencieux

Et la musique est si lointaine

Qu’elle semble venir des cieux

Oui je veux vous aimer mais vous aimer à peine

Et mon mal est délicieux

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 21 17.10.12 11:35

LIEDTEXTE | 21

Die Lämmer gehen in den Schnee

Flocken aus Wolle und solche aus Silber

Soldaten gehen vorbei und hätte ich doch

Ein Herz für mich dieses wechselhafte Herz

Wechselhaft und was weiß ich noch

Weiß ich wo Deine Haare hingehen werden

Gekräuselt wie das Meer das schäumt

Weiß ich wo Deine Haare hingehen werden

Und Deine Hände wie Herbstblätter

Die auch das was wir uns gelobten zerstreuen

Ich ging am Seineufer entlang

Mit einem alten Buch unter dem Arm

Der Fluss gleicht meinem Kummer

Er fließt und versiegt nicht

Wann nur wird die Woche zu Ende sein

7. Leuchten

Erde, mustergültig kultiviert,

Honig der Morgendämmerung, Sonne in Blumen,

Da läuft einer, der über einen Faden noch am

Schlafenden hängt

(Knoten durch Einsichten)

Und während er ihn über seine Schulter wirft:

Er ist nie neuer gewesen,

Er ist nie so schwer gewesen.

Verschleiß, er wird leichter sein,

Nützlich.

Klare Sommersonne mit:

Ihrer Hitze, ihrer Lieblichkeit, ihrer Ruhe

Und, schnell,

Berühren die Träger der Blumen sich in der Luft

mit der Erde.

Les brebis s’en vont dans la neige

Flocons de laine et ceux d’argent

Des soldats passent et que n’ai-je

Un cœur à moi ce cœur changeant

Changeant et puis encor que sais-je

Sais-je où s’en iront tes cheveux

Crépus comme mer qui moutonne

Sais-je où s’en iront tes cheveux

Et tes mains feuilles de l’automne

Que jonchent aussi nos aveux

Je passais au bord de la Seine

Un livre ancien sous le bras

Le fleuve est pareil à ma peine

Il s’écoule et ne tarit pas

Quand donc finira la semaine

Guillaume Apollinaire

7. Luire

Terre irréprochablement cultivée,

Miel d’aube, soleil en fleurs,

Coureur tenant encore par un fil au dormeur

(Nœud par intelligences)

Et le jetant sur son épaule:

„Il n’a jamais été plus neuf,

II n’a jamais été si lourd.“

Usure, iI sera plus léger,

Utile.

Clair soleil d’été avec:

Sa chaleur, sa douceur, sa tranquillité

Et, vite,

Les porteurs de fleurs en l’air touchent de la terre.

Paul Éluard

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 22 17.10.12 11:35

Page 12: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

22 | LIEDTEXTE

SEUFZER

Zu deiner Stirne hebt sich, wo ein Herbst verträumt

mit Sommerflecken noch, o stille Schwester, säumt,

nun meine Seele, fort vom Blick, dem engelzarten,

schwebt dann zum Himmel sie, wie in dem

späten Garten

verzückt der weiße Strahl des Brunnens seufzt

ins Blau!

– Ins Blau, gemildert schon oktobersanft und lau

und spiegelnd im Bassin die Schwermut ohne Grenzen,

wo, auf dem Wasser still nach wilden Todestänzen

im Wind verirrtes Laub die kalten Furchen zieht,

ein gelber Sonnenstrahl, ein letzter, langsam flieht.

Übersetzung: Carl Fischer

WALLISISCHE VIERZEILER

1. Land, angehalten auf halbem Weg

Land, angehalten auf halbem Weg

zwischen der Erde und dem Himmel,

zur Stimme des Wassers und der Bronze,

weich und hart, jung und alt,

wie ein Opfer, emporgehoben

zu den empfangenden Händen:

schönes Land, vollendet,

warm wie das Brot!

SOUPIR

Mon âme vers ton front où rêve, ô calme sœur,

Un automne jonché de taches de rousseur,

Et vers le ciel errant de ton œil angélique

Monte, comme dans un jardin mélancolique,

Fidèle, un blanc jet d’eau soupire vers l’Azur!

– Vers l’Azur attendri d’Octobre pâle et pur

Qui mire aux grands bassins sa langueur infinie

Et laisse, sur l’eau morte où la fauve agonie

Des feuilles erre au vent et creuse un froid sillon,

Se traîner le soleil jaune d’un long rayon.

Stéphane Mallarmé

QUATRAINS VALAISANS

1. Pays, arrêté à mi-chemin

Pays, arrêté à mi-chemin

entre la terre et les cieux,

aux voix1) d’eau et d’airain,

doux et dur, jeune et vieux,

comme une offrande levée

vers d’accueillantes mains:

beau pays achevé,

chaud comme le pain!

DARIUS MILHAUD

CLAUDE DEBUSSY / CLYTUS GOTTWALD

1) bei Milhaud: voies (Wege)

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 23 17.10.12 11:35

LIEDTEXTE | 23

2. Rose des Lichts

Rose des Lichts, eine Mauer, die verwittert –,

aber, auf dem Abhang des Hügels,

die Blume, die, hoch, zögert

in ihrer Proserpina-Geste.

Viel Schatten tritt ein, ohne Zweifel,

im Saft jenes Weinstocks;

und das Zuviel an Klarheit, das auf ihm

vor Ungeduld vergeht, bringt vom Wege ab.

3. Das Jahr dreht sich ...

Das Jahr dreht sich um die Achse

der bäuerlichen Beständigkeit;

die Jungfrau und die Heilige Anna

sagen jede ihr Wort.

Andere Worte schließen sich an,

noch ältere,

sie segnen alles,

und aus der Erde sprießt

dieses demütige Grün,

das, durch lange Anstrengung,

der Traube Halt gibt

zwischen uns und den Toten.

4. Wege

Wege, die nirgendwo hin führen

zwischen zwei Wiesen,

dass man mit Kunst sagen würde:

von ihrem Ziele abgelenkt,

Wege, die oftmals

vor sich kein anderes Gegenüber haben

als den puren Raum

und die Jahreszeit.

2. Rose de lumière

Rose de lumière, un mur qui s’effrite –,

mais, sur la pente de la colline,

cette fleur1) qui, haute, hésite

dans son geste de Proserpine.

Beaucoup d’ombre entre sans doute

dans la sève de cette vigne;

et ce trop de clarté qui trépigne

au-dessus d‘elle, trompe la route.

3. L’année tourne ...

L’année tourne autour du pivot

de la constance paysanne;

la Vierge et Sainte Anne

disent chacune leur mot.

D’autres paroles s’ajoutent

plus anciennes encor, –

elles bénissent toutes

et de la terre sort

cette verdure soumise

qui, par un long effort,

donne la grappe prise

entre nous et les morts.

4. Chemins

Chemins qui ne mènent nulle part

entre deux prés,

que l’on dirait avec art

de leur but détournés,

chemins qui souvent n’ont

devant eux rien d‘autre en face

que le pur espace

et la saison.

1) bei Milhaud: fêlure (Riss)

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 24 17.10.12 11:35

Page 13: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

24 | LIEDTEXTE

5. Schöner Schmetterling ...

Schöner Schmetterling, nahe am Boden,

[der aufmerksamen Natur]

zeigt er sich wie in Bildern

aus dem Buch seines Fluges.

Ein anderer lässt sich nieder am Rand

der Blume, um sich zu erholen –:

Das ist nicht der Augenblick, um zu lesen.

Und noch so viel andere,

zierliche blaue, fliegen auseinander,

segelnd und flatternd

wie blaues Reisig

eines Liebesbriefes im Wind,

eines Briefes, den man

dabei war zu zerreißen,

während die Empfängerin

am Eingang zögerte.

SIEBEN CHANSONS

1. Die Hindin

O, die Hindin: wieviel Schönheit

alter Wälder strömt aus deinen Augen über;

wieviel Zutrauen umgibt dich

mit wieviel Furcht.

5. Beau papillon ...

Beau papillon près du sol,

[à l’attentive nature]

montrant les enluminures

de son livre de vol.

Un autre se ferme au bord

de la fleur qu’on respire – :

ce n’est pas le moment de lire.

Et tant d’autres encor,

de menus bleus, s’éparpillent,

flottants et voletants,

comme de bleues brindilles

d’une lettre d’amour au vent,

d’une lettre déchirée

qu’on était en train de faire

pendant que la destinataire

hésitait à l’entrée.

Rainer Maria Rilke

SIX CHANSONS

1. La biche

Ô la biche: quel bel intérieur

d’anciennes forêts dans tes yeux abonde;

combien de confiance ronde

mêlée à combien de peur.

PAUL HINDEMITH

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 25 17.10.12 11:35

LIEDTEXTE | 25

Alles das wird getragen durch die lebhafte

Anmut deiner Sprünge.

Aber niemals kommt etwas davon an

An dieser wenig anziehenden

Unwissenheit deiner Stirn.

2. Ein Schwan

Ein Schwan gleitet auf dem Wasser

ganz von sich selbst eingenommen,

wie ein ruhig bewegtes Bild;

so – in gewissen Augenblicken –

zeigt sich ein Wesen, das man liebt,

wie ein bewegter Raum.

Er nähert sich, gedoppelt,

wie der Schwan,

der auf unserer betrübten Seele schwimmt ...,

die auf dieses Wesen

das bebende Bild

von Glück und Zweifel wirft.

3. Weil alles vergeht

Weil alles vergeht, lass uns

die Melodie der Vergänglichkeit schaffen;

die, die unser Verlangen stillt,

wird für uns die richtige sein.

Lass uns singen, wie es kommt,

mit Liebe und mit Kunst;

lass uns schneller sein

als der plötzliche Abschied.

4. Frühling

O Melodie der Frische,

die sich aus den Instrumenten

Tout cela, porté par la vive

gracilité de tes bonds.

Mais jamais rien n’arrive

à cette impossessive

ignorance de ton front.

2. Un cygne

Un cygne avance sur l’eau

tout entouré de lui-même,

comme un glissant tableau;

ainsi à certains instants

un être que l’on aime

est tout un espace mouvant.

Il se rapproche, doublé,

comme ce cygne qui nage,

sur notre âme troublée ...

qui à cet être ajoute

la tremblante image

de bonheur et de doute.

3. Puisque tout passe

Puisque tout passe, faisons

la mélodie passagère;

celle qui nous désaltère,

aura de nous raison.

Chantons ce qui nous quitte

avec amour et art;

soyons plus vite

que le rapide départ.

4. Printemps

Ô mélodie de la sève

qui dans les instruments

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 26 17.10.12 11:35

Page 14: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

26 | LIEDTEXTE

all dieser Bäume erhebt,

begleite den allzu kurzen

Gesang unserer Stimme.

Für ein paar Takte

nur folgen wir

den vielfältigen Figuren

deines langen Überschwangs,

o verschwenderische Natur.

Wenn wir verstummen müssen,

machen andere weiter…

Aber wie kann ich dir jetzt

als Begleitung darbringen

mein großes Herz?

5. Im Winter

Im Winter tritt der mörderische Tod

in die Häuser.

Er sucht die Schwester, den Vater,

und spielt ihnen auf der Violine.

Aber wenn die Erde wieder aufbricht

unter dem Spaten des Frühlings,

eilt der Tod durch die Straßen

und grüßt die Passanten.

6. Obstgarten

Niemals ist die Erde wirklicher,

als in deinen Blättern, o heller Hain,

und niemals flüchtiger als in dem Muster,

das deine Schatten auf den Rasen werfen.

Dort trifft sich, was uns bleibt,

was gilt und uns erhält,

mit der flüchtigen Gegenwart

der unendlichen Zartheit.

de tous ces arbres s’élève -,

accompagne le chant

de notre voix trop brève.

C’est pendant quelques mesures

seulement que nous suivons

les multiples figures

de ton long abandon,

ô abondante nature.

Quand il faudra nous taire,

d’autres continueront ...

Mais à présent comment faire

pour te rendre mon

grand cœur complémentaire?

5. En hiver

En hiver, la mort meurtrière

entre dans les maisons;

elle cherche la sœur, le père,

et leur joue du violon.

Mais quand la terre remue

sous la bêche du printemps,

la mort court dans les rues

et salue les passants.

6. Verger

Jamais la terre n’est plus réelle

que dans tes branches, ô verger blond,

ni plus flottante que dans la dentelle

que font tes ombres sur le gazon.

Là se rencontre ce qui nous reste,

ce qui pèse et ce qui nourrit

avec le passage manifeste

de la tendresse infinie.

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 27 17.10.12 11:35

LIEDTEXTE | 27

Aber in deiner Mitte die stille Quelle,

schlafend fast in ihrem alten Rund,

kündet kaum von diesem Gegensatz,

wie sehr er auch in ihr verfließt.

DIE GESÄNGE DER ROSEN

1. In einer einzigen Blüte

Darum haben wir dir doch vorgeschlagen,

deinen Blütenkelch ganz auszufüllen.

Bezaubert von diesem Kunstgriff,

hat es dein Überschwang gewagt.

Du warst reich genug, um hundert Mal du selbst

zu werden

in einer einzigen Blüte;

das ist der Zustand dessen, der liebt ...

Aber du hast nie anderes gedacht.

2. Gegen wen, Rose

Gegen wen, Rose,

habt Ihr angenommen

diese Dornen?

Eure Freude, viel zu fein,

hat sie Euch gezwungen,

dieses Ding

in Waffen zu werden?

Mais à ton centre, la calme fontaine,

presque dormant en son ancien rond,

de ce contraste parle à peine,

tant en elle il se confond.

Rainer Maria Rilke

LES CHANSONS DES ROSES

1. En une seule fleur

C’est pourtant nous qui t‘avons proposé

de remplir ton calice.

Enchantée de cet artifice,

ton abondance l’avait osé.

Tu étais assez riche, pour devenir cent fois toi-même

en une seule fleur;

c’est l’état de celui qui aime ...

Mais tu n’as pas pensé ailleurs.

2. Contre qui, rose

Contre qui, rose,

avez-vous adopté

ces épines?

Votre joie trop fine

vous a-t-elle forcée

de devenir cette chose

armée?

MORTEN LAURIDSEN

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 28 17.10.12 11:35

Page 15: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

28 | LIEDTEXTE

Aber vor wem schützt Euch

diese übertriebene Bewaffnung?

Wie viele Feinde habe ich Euch

schon weggejagt,

die sich vor nichts fürchteten?

Im Gegenteil: vom Sommer bis zum Herbst

verletzt Ihr die Sorge,

die man Euch zuwendet.

3. Von deinem Traume

Von deinem Traume übervoll,

Blume, zahllos in dir selbst,

nass wie eine Weinende,

neigst du dich über den Morgen.

Deine süßen Kräfte, die schlummern

in einer ungewissen Sehnsucht,

entfalten diese zarten Formen

zwischen Wangen und Busen.

4. Die vollkommene Rose

Ich weiß so genau von deinem

Wesen, vollkommene Rose,

dass mein Mitempfinden dich verbindet

mit meinem Herzen im Fest.

Ich atme dich, als wärest du,

Rose, das ganze Leben,

und ich fühle mich als vollendeten Freund

einer ebensolchen Freundin.

Mais de qui vous protège

cette arme exagérée?

Combien d‘ennemis vous ai-je

enlevés

qui ne la craignaient point.

Au contraire, d’été en automne,

vous blessez les soins

qu’on vous donne.

3. De ton rêve trop plein

De ton rêve trop plein,

fleur en dedans nombreuse,

mouillée comme une pleureuse,

tu te penches sur le matin.

Tes douces forces qui dorment,

dans un désir incertain,

développent ces tendres formes

entre joues et seins.

4. La rose complète

J’ai une telle conscience de ton

être, rose complète,

que mon consentement te confond

avec mon cœur en fête.

Je te respire comme si tu étais,

rose, toute la vie,

et je me sens l’ami parfait

d’une telle amie.

Rainer Maria Rilke

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 29 17.10.12 11:35

ABONNEMENT

ABONNEMENT 55 €Mit einem Abonnement haben Sie die freie Auswahl.

Buchen Sie sich den Platz Ihrer Wahl. Überall sitzen

Sie in der besten Reihe. Wenn Sie möchten, für

die nächsten Jahre. Dazu sparen Sie im Vergleich

zu den Einzelkartenpreisen. Als Abonnent erhalten

Sie das Vorkaufsrecht und außerdem ermäßigte

Karten für die Aufführung von Händels „Judas

Maccabaeus“ mit dem NDR Chor und Concerto

Köln im Rahmen der Konzertreihe NDR Das Alte

Werk am 27.02.2013 in der Laeiszhalle Hamburg.

PREISEEINZELKARTEN*

NDR CHOR 2012/2013

Einzelkartenpreise der ABO-Konzerte

in St. Johannis-Harvestehude

und in der Hauptkirche St. Nikolai am Klosterstern

alle Plätze 18,00 €* / ermäßigt 9,00 €*

NDR Ticketshop

Mönckebergstraße 7

20095 Hamburg

Tel. 0180 - 1 78 79 80**

Fax 0180 - 1 78 79 81**

E-Mail [email protected]

ndrticketshop.de

montags bis freitags von 10.00 bis 19.00 Uhr

samstags von 10.00 bis 18.00 Uhr

zzgl. 10% Vorverkaufsgebührbundesweit zum Ortstarif, maximal 42 Cent pro Minute aus dem Mobilfunknetz

ERMÄSSIGUNGENStudenten und Auszubildende bis zum 27. Lebens-

jahr erhalten an der Abendkasse auf Einzelkarten

eine Ermäßigung von 50% in allen Platzkategorien.

Kinder und Jugendliche bis zum 16. Lebensjahr

erhalten im Vorverkauf und an der Abendkasse auf

Einzelkarten eine Ermäßigung von 50% in allen

Platzkategorien.

***

ABONNEMENT | 29

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 30 17.10.12 11:35

Page 16: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

30 | KONZERTVORSCHAU / IMPRESSUM

NDR CHOR

ABONNEMENTKONZERT

ABO-KONZERT 3TENEBRAESO, 10.02.2013, 18 UHR

HAMBURG, HAUPTKIRCHE ST. NIKOLAI

Dirigent

MARCUS CREED

CARLO GESUALDO

Ausgewählte Tenebrae-Responsorien

FRANCIS POULENC

Quatre Motets pour un temps de pénitence

JOHANNES BRAHMS

Drei Motetten op. 110

JAMES MACMILLAN

Tenebrae Responsories

Einführungsveranstaltung mit Habakuk Traber um 17 Uhr in der Kirche

Herausgegeben vom

NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK

PROGRAMMDIREKTION HÖRFUNK

BEREICH ORCHESTER UND CHOR

Leitung: Rolf Beck

Redaktion NDR Chor: Michael Traub

Redaktionsteam: Auli Eberle, Huberta Crombach,

Tanja Siepje

Redaktion Programmheft: Dr. Juliane Weigel-Krämer

Der Text von Habakuk Traber

ist ein Originalbeitrag für den NDR.

Fotos: Michael Müller | NDR (Titel, S. 5); Klaus

Westermann | NDR (S. 4); akg-images (S. 7, S. 8)

culture-images/Lebrecht (S. 10) Mit freundlicher

Genehmigung der Fondation Hindemith Blonay (CH)

(S. 11); Peermusic Classical (S. 13)

Stéphane Mallarmé, „Soupir“

Übersetzt von Carl Fischer

Aus: Stéphane Mallarmé, Sämtliche Dichtungen.

Zweisprachige Ausgabe

Übersetzt von Carl Fischer und Rolf Stabel

Mit einem Nachwort von Johannes Hauck

© 1992 Carl Hanser Verlag München

NDR | Markendesign

Gestaltung: Klasse 3b, Hamburg

Litho: Otterbach Medien KG GmbH & Co.

Druck: Nehr & Co. GmbH

NDR Chor im Internet: ndr.de/chor | [email protected]

Nachdruck, auch auszugsweise,

nur mit Genehmigung des NDR gestattet.

NDR BEREICH ORCHESTER UND CHORIMPRESSUMKONZERTVORSCHAU

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 31 17.10.12 11:35

DIE NEUE CD

Die CD ist ab dem 15.10.2012 im Handel erhältlich. ES-DUR ist ein Label von C2 Hamburg. www.c2hamburg.de

des NDR Chors mit seinem Dirigenten Philipp Ahmann: Venezia. Die Lagunenstadt ist Inspiration und Heimstadt für musikalische Höhenflüge.

WERKE VONGABRIELI, MONTEVERDI, LISZT, WAGNER, CASTIGLIONI, HENZE

PHILIPP AHMANN, NDR CHOR, NDR BRASS

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 32 17.10.12 11:35

Page 17: CHANSONS - Nachrichten | NDR.de · das bereits Hindemith vertont hatte, verlor seinen ironischen Unterton, und Mallarmés Textfragmente empfingen von Rilkes Todesbildern einen Sinn,

11025_CHOR_abo2_PRO_K2 1 17.10.12 11:35