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DFZ 3 · 2011 © Gina Sanders / shutterstock.com Chirurgische Therapien bei kompromittierten Patienten CME Redaktion Dr. Norbert Grosse, Frankfurt Prof. Dr. Bilal Al-Nawas, Mainz Dr. Wolfgang Bengel, Heiligenberg Dr. Lutz Laurisch, Korschenbroich Dieser CME-Beitrag ist nach den Leitsätzen der Bundeszahn- ärztekammer zur zahnärztlichen Fortbildung einschließlich der Punktebewertung von BZÄK/DGZMK erstellt. Pro Fort- bildungseinheit können 2 CME-Punkte erworben werden. CME c m e . s p r i n g e r. d e R. Lutz, K.A. Schlegel | Universitätsklinikum Erlangen Zusammenfassung Die Zahl der medizinisch-kompromittierten Patienten, die eine zahnärztlich-chirurgische Therapie benöti- gen, steigt mit der zunehmenden Lebenserwartung der Bevölkerung an. Für den chirurgisch tätigen Behandler sind daher Grundkenntnisse der Erkrankungen, der sich daraus ergebenden Risiken und der potenziellen Kom- plikationen essenziell. Der Behandler kann dann seine Kompetenz im Umgang mit Notfallsituationen abschät- zen, die relativ selten auftreten und daher für den Behandler keine Standardsituation darstellen, für den Patienten im Notfall von aber vitaler Bedeutung sein können. Im Zweifelsfall sollte der Patient im Vorfeld an ein entsprechendes Zentrum überwiesen werden, oder durch Konsultationen der mitbehandelnden Fachdiszi- plinen sollten die medizinische Situation des Patienten und sich daraus gegebenenfalls ergebende Therapie- limitationen evaluiert werden. Schlüsselwörter Zahnärztliche Betreuung chronisch Kranker - Zahnerkrankun- gen/Komplikationen - Zahnärztliche Behandlungsabläufe - Klinische Kompetenz - Notfälle Der Freie Zahnarzt 3 • 2011 • 70-78 • s12614-010-0832-9 • © Springer-Verlag 2011 fortbildung 70

Chirurgische Therapien bei kompromittierten Patienten

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DFZ 3 · 2011

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Chirurgische Therapien bei kompromittierten Patienten

CME

RedaktionDr. Norbert Grosse, FrankfurtProf. Dr. Bilal Al-Nawas, MainzDr. Wolfgang Bengel, HeiligenbergDr. Lutz Laurisch, Korschenbroich

Dieser CME-Beitrag ist nach den Leitsätzen der Bundeszahn-ärztekammer zur zahnärztlichen Fortbildung einschließlich der Punktebewertung von BZÄK/DGZMK erstellt. Pro Fort-bildungseinheit können 2 CME-Punkte erworben werden.

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R. Lutz, K.A. Schlegel | Universitätsklinikum Erlangen

ZusammenfassungDie Zahl der medizinisch-kompromittierten Patienten, die eine zahnärztlich-chirurgische Therapie benöti-gen, steigt mit der zunehmenden Lebenserwartung der Bevölkerung an. Für den chirurgisch tätigen Behandler sind daher Grundkenntnisse der Erkrankungen, der sich daraus ergebenden Risiken und der potenziellen Kom-plikationen essenziell. Der Behandler kann dann seine Kompetenz im Umgang mit Notfallsituationen abschät-zen, die relativ selten auftreten und daher für den Behandler keine Standardsituation darstellen, für den Patienten im Notfall von aber vitaler Bedeutung sein können. Im Zweifelsfall sollte der Patient im Vorfeld an ein entsprechendes Zentrum überwiesen werden, oder durch Konsultationen der mitbehandelnden Fachdiszi-plinen sollten die medizinische Situation des Patienten und sich daraus gegebenenfalls ergebende Therapie-limitationen evaluiert werden.

SchlüsselwörterZahnärztliche Betreuung chronisch Kranker - Zahnerkrankun-gen/Komplikationen - Zahnärztliche Behandlungsabläufe - Klinische Kompetenz - Notfälle

Der Freie Zahnarzt 3 • 2011 • 70-78 • s12614-010-0832-9 • © Springer-Verlag 2011

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Entscheidend bei der Versorgung medizinisch-kompromittierter Patienten, die eine zahnärztlich-chirurgische Therapie benötigen, ist nicht nur die Indikation zur Therapie, sondern auch die Fähig-keiten des Zahnarztes, potenzielle Notfälle und Komplikationen handhaben zu können. Daher empfiehlt es sich, Kenntnisse über die Behandlung von Notfällen und Komplikationen regelmäßig aufzufrischen. Optimalerweise wird durch eine gute Vorbereitung der Patienten und gegebenenfalls entsprechende Therapiemodifika-tionen, vor allem bei elektiven Eingriffen, die Zahl der intra- sowie postoperativen Notfälle und Komplikationen gering gehalten. Die häufigsten Erkrankungen, ihr Einfluss auf die chirurgische The-rapie und potenzielle Komplikationen werden in diesem Beitrag näher beleuchtet.

Grundlagen

»» Prävalenz»medizinisch-kompromittierter»zahnärztlicher»PatientenDurch die zunehmende Lebenserwartung der Bevölkerung, bedingt unter anderem durch den medizinischen Fortschritt, steigt die Zahl der Patienten mit komplexen medizinischen Erkrankungskonstella-tionen. Da zudem der Anteil der Bevölkerung über 65 Jahre kontinu-ierlich ansteigt und die Patienten auch in höherem Alter noch ihre natürliche Bezahnung aufweisen, nimmt die Zahl der zahnärztlich-chirurgischen Patienten, die einen medizinisch-kompromittierten Zustand aufweisen zu. In der Literatur wird an Anteil von zwölf bis 28 Prozent an medizinisch-kompromittierten zahnärztlichen Patienten beschrieben [12]. Dabei stehen Allergien, kardiovaskuläre Erkrankungen und Diabetes mellitus bei der Häufigkeit an erster Stelle (»Tab. 1; [2]).

»» Anamnese»und»klinische»UntersuchungBei der Behandlung von medizinisch-kompromittierten Patienten müssen die Behandler zum einen die Auswirkung der Erkrankun-gen und der eingenommen Medikamente auf die orale Gesundheit und zum anderen den Effekt ihrer Therapie auf den Gesundheits-zustand der Patienten einschätzen können. Dazu ist es unerlässlich, vor der Behandlung eine vollständige Anamnese zu erheben. Eben-so ist eine sorgfältige klinische Untersuchung obligatorisch. Dabei ist zu bedenken, dass sich viele Patienten trotz Mehrfachmedika-tion nicht als erkrankt ansehen, da ihnen das nötige Wissen um die Zusammenhänge zwischen ihrer therapierten oder nichttherapierten Erkrankung und dem chirurgischen Eingriff fehlt. Standardisier-te Anamnesebogen sind daher oft nicht ausreichend, und es muss

Tab1 Chronische Komplikationen im Zusammenhang mit Diabetes mellitus. (Nach [11])

Diabetes mellitus assoziierte Erkrankungen der Mundhöhle

Gingivitis

Parodontitis

Xerostomie

Kandidose

Oraler Lichen planus

Leukoplakie

Malignome der Mundhöhle

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bei entsprechenden Hinweisen in der Anamnese vom Behandler gezielt nachgefragt werden, um die Erkrankungen herauszufiltern, die von Relevanz für den chirurgischen Eingriff sind. Bei erneu-ten Behandlungen müssen die Anamnesebogen aktualisiert und auch ein Status idem sollte dokumentiert werden. Ebenfalls ist zu bedenken, dass Symptome des Patienten, die einen Einfluss auf die chirurgische Therapie haben, ihre Ursache in den unerwünschten

Arzneimittelwirkungen oder Arzneimittelinteraktionen haben kön-nen. So tritt beispielsweise Xerostomie nicht nur bei Patienten mit autoimmunologischen Erkrankungen, bei bestrahlten Patienten, bei Diabetes mellitus und anderen Erkrankungen auf, sondern auch unter der Therapie mit relativ häufig verschriebenen Medikamenten wie zum Beispiel Anticholinergika, Diuretika, Antidepressiva und Antihistaminika.

»» Einschätzung»der»BehandlungsfähigkeitSollten bei der Anamnese Erkrankungen erhoben werden, muss der Behandler beurteilen, ob diese die Behandlungsfähigkeit des Patien-ten einschränken, für die geplante Behandlung irrelevant sind oder ob die Behandlung kontraindiziert ist. Dazu kann es hilfreich sein, die Erkrankungen des Patienten in verschiedene Kategorien einzu-teilen, um mithilfe eines standardisierten Vorgehens nicht im Eifer des Gefechts unnötige Risiken auf sich zu nehmen.

Kategorie 1. In diese Kategorie fallen Erkrankungen, die keinen Ein-fluss auf die Behandlung und die postoperative Therapie haben und bei denen auch die Behandlung keine negativen Auswirkungen auf den Zustand des Patienten hat. Dazu zählen zum Beispiel eine mil-de Hypertonie oder ein gut eingestellter Diabetes mellitus [Wert des glykosylierten Hämoglobins (HbA1c) <7%], wenn die Behandlungs-zeiten nicht übermäßig lange ausfallen.

Kategorie 2. Die Erkrankungen erfordern eine Modifikation der chirurgischen Therapie; diese können bestehen in:

D Bereithaltung von Aufbisstupfern, D Bereithaltung von blutstillenden Medikamenten (zum Beispiel Tranexamsäure) und Möglichkeit zur Blutstillung mithilfe des Elektrokauters bei erhöhter Blutungsneigung oder

D Anpassung der Behandlungszeiten bei Diabetikern. (Mehrere kurze Behandlungssitzungen morgens werden oft besser ver-tragen als eine lange Sitzung.)

Hier ist oftmals Rücksprache mit dem Hausarzt oder den entspre-chenden Fachdisziplinen hilfreich, um die Behandlung zu optimie-ren und Risiken zu reduzieren. Wichtig ist es auch, diese Konzile entsprechend zu dokumentieren.

Kategorie 3. Hierzu gehören Patienten, bei denen der derzeitige medizinische Zustand eine Kontraindikation für die geplante chi-rurgische Therapie darstellt, zum Beispiel Diabetiker mit einer Stoff-wechselentgleisung, oder auch elektive Eingriffe bei Schwangeren.

Notfälle

Notfallsituation treten in der zahnärztlichen Praxis relativ selten auf [4]. Deshalb ist es besonders wichtig, sich mit Notfallsituationen ver-traut zu machen und sein Wissen regelmäßig zu erneuern, um im Notfall rasch die richtige Therapie einleiten zu können. Die häufigs-ten Notfälle in der zahnärztlichen Praxis sind vasovagale Synkopen (ca. zwei Fälle pro Zahnarzt und Jahr), gefolgt von Hypoglykämien, Angina pectoris und epileptischen Anfällen (je ca. 0,1 bis 0,2 Fälle pro Zahnarzt und Jahr; »Tab. 2; [4]).

Schwerwiegende Notfälle wie anaphylaktischer Schock, Myokard-infarkt, hypertensive Entgleisung und Herz-Kreislauf-Stillstand sind deutlich seltener, erfordern jedoch ein rasches Eingreifen des Behandlers, da sie für den Patienten lebensbedrohlich sind.

Tab2 Häufigste Notfälle in der Praxis in absteigender Reihenfolge. (Nach [4])

Notfälle in der Praxis Anteil der betroffenen Patienten (Prozent)

Vasovagale Synkope 73,2

Hypoglykämie 6,6

Angina pectoris 6,5

Epileptischer Anfall 5,2

Atemwegsobstruktion 3,3

Asthmaanfall 2,5

Unspezifischer Kollaps 1,0

Hypertensive Krise 0,9

Anaphylaxie 0,5

Myokardinfarkt 0,2

Herz-Kreislauf-Stillstand 0,1

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Der Behandler muss dafür sorgen, dass für den Notfall die ent-sprechenden Notfallmedikamente in der Praxis vorhanden sind und er mit dem Umgang dieser Medikamente vertraut ist [6]. Dazu zählen vor allem [6]:

D Sauerstoff, D Adrenalin, D Nitroglyzerin, D Antihistaminika, D Salbutamol, D Glukagon und D oral verabreichbare Kohlenhydrate.

Je nachdem, wie das Therapiespektrum der Praxis ausgerichtet ist, kommen zusätzliche Medikamente hinzu. Dies gilt insbesonder, wenn in der Praxis Behandlungen in Sedation oder Intubations-narkose angeboten werden.

Komplikationen

»» Diabetes»mellitusDiabetes mellitus zeigt eine stark steigende Inzidenz; man schätzt eine weltweite Prävalenz von 300 Millionen Patienten mit Diabetes im Jahr 2025. Diese Stoffwechselerkrankung, die ihre Ursache unter anderem in der Zunahme des metabolischen Syndroms, vor allem der westlichen Bevölkerung hat, ist für viele Folgeerkrankungen verantwortlich. Pathophysiologisch entstehen die Langzeitschäden durch Makro- und Mikroangiopathien.

Orale Manifestationen sind neben einem vermehrten Auf-treten von Gingivitis, Periodontitis und oraler Kandidose bei schlecht eingestelltem Diabetes (HbA1c >9%) weiterhin auch eine verminderte Funktion der Speicheldrüsen und andere Kompli-kationen (»Tab. 1). Im Tierversuch weisen Implantate bei diabe-tischen Tieren einen verminderten Knochen-Implantat-Kontakt und eine reduzierte periimplantäre Knochendichte auf [9, 14]. Für elektive Eingriffe, wie eine Implantatinsertion, sollte präope-rativ eine optimale Einstellung des Diabetes erfolgen. Die Qua-lität der Einstellung des Diabetes kann durch die HbA1c-Mes-sung gesichert werden. Hier zeigen Werte unter 7% die optimale Einstellung des Blutzuckerspiegels an. Eine generelle antibioti-sche Abschirmung im Rahmen von chirurgischen Eingriffen bei diabetischen Patienten wird kontrovers diskutiert. Bei Implan-tatinsertionen konnte eine perioperative antibiotische Therapie in Kombination mit antibakterieller Mundspülung die Erfolgs-raten von Implantaten erhöhen (0,12%iges Chlorhexidin; [8]).

Neben der Beachtung von angepassten Behandlungszeiten muss der Behandler auch die Arzneimittelinteraktionen beachten, die in Kombination mit oralen Antidiabetika auftreten können. Hier-zu zählen unter anderem „non-steroidal anti inflammatory drugs“ (NSAID) und Antibiotika, die die blutzuckersenkende Wirkung der oralen Antidiabetika durch die gemeinsame Verstoffwechselung über Zytochrom P450 2C9 verstärken und dadurch zu Hypogly-kämien führen können. Typ-2-Diabetiker sollten bei kleineren chir-urgischen Eingriffen in Lokalanästhesie ihre Medikation fortsetzen, insulinabhängige Diabetiker die Hälfte ihrer normalen Insulindosis spritzen und beide vor der Behandlung normal essen [1]. Für größe-re Eingriffe in Intubationsnarkose bei nüchternen Patienten sollten die Einstellung der Medikation und eventuell eine Umstellung auf Insulin durch den betreuenden Internisten stattfinden.

Hypoglykämien können zu Notfallsituationen in der Praxis füh-ren. Akute Hypoglykämien können durch die Symptome Unruhe,

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1 Patient wurde zur Zahnsanierung (Extraktion tief zer-störter Zahn 46) vor allogener Stammzelltransplantation bei

Zustand nach akuter myeloischer Leukämie überwiesen

2 Zustand nach Extraktion der Wurzelreste. Präoperativ wurde die Thrombozytenzahl durch die Gabe von Thrombo-zytenkonzentraten durch den behandelnden Internisten von

20.000 auf 50.000/µl angehoben

Übelkeit, Schwitzen, Heißhunger bis hin zu Krampfanfällen und Schock erkannt werden. Gewissheit kann die Messung des Blut-zuckers mithilfe von Teststreifen geben. Es handelt sich dabei um einen potenziellen Notfall. Hypoglykämien sind immerhin für 2 bis 4 Prozent der Todesfälle von insulinpflichtigen Diabetikern verant-wortlich. Bei ansprechbaren Patienten kann eine orale Zuckergabe von 10 bis 20 mg Glucose zum Beispiel durch 200 ml Softgetränk (keine „Light“-Getränke!) erfolgen. Bei nichtansprechbaren Patien-ten kann Glukagon (zum Beispiel 1 mg intramuskulär) oder alter-nativ Glucose intravenös verabreicht werden. Nachdem der Patient wieder zu Bewusstsein gelangt ist und schlucken kann, ist es wich-tig, Glucose und kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel zu verabrei-chen. Seltener tritt das hyperglykämische Koma auf. Auch hier ist es sinnvoll, den Blutzucker des Patienten zu bestimmen. Ein Blutzu-ckermessgerät sollte daher in jeder Praxis vorhanden sein. Bei Ver-dacht auf ein hyperglykämisches Koma sollten der Rettungsdienst verständigt und Erste Hilfe geleistet werden.

»» BlutungBlutungen sind eine der häufigsten Komplikationen in der zahn-ärztlichen Chirurgie und resultieren:

D aus angeborenen oder erworbenen Blutungsneigungen, D aus einer systemischen Erkrankung (»Abb. 1), D als Medikamentennebenwirkung oder D bei gerinnungshemmender Therapie.

Die häufigste Ursache für eine erhöhte intra- und postoperative Blu-tungsneigung bei chirurgischen Eingriffen ist eine orale Antiko-agulationstherapie (Markumar) oder die Gabe von Thrombozyten-aggregationshemmern (Acetylsalicylsäure, ASS). Eine Pausierung dieser Therapie, um die Blutungsneigung zu verringern, kann zu

thrombembolischen Ereignissen und im schlimmsten Fall zum Tod des Patienten führen. Bei kleineren chirurgischen Eingriffen, wie der Extraktion von einem oder mehreren Zähnen, sollte daher die orale Antikoagulationstherapie im therapeutischen Bereich fort-gesetzt werden. Bei größeren Eingriffen sollte eine Einstellung der Blutgerinnung oder eine Heparinisierung des Patienten durch den Hausarzt oder Internisten erfolgen. Bei komplexen Gerinnungspro-blemen, zum Beispiel im Rahmen von systemischen Erkrankungen (»Abb. 2), kann es hilfreich sein, einen Hämostaseologen zu kon-sultieren. Eine ausreichende Blutstillung kann in diesen Fällen in der Regel über die lokale Blutstillung durch Vernähen der Wunde (»Abb. 3), durch Applikation von Tranexamsäure, Fibrinkleber oder resorbierbaren Kollagenschwämmen und durch das Anlegen von blutstillenden Wundverbänden erreicht werden [7].

»» AllergienBei der zahnärztlich-chirurgischen Therapie von Patienten sind vor allem Allergene interessant, die in der Lage sind, allergische Reaktio-nen vom Immunglobulin- (Ig)E-vermittelten Sofortyp auszulösen. Diese können von relativ mild bis zum lebensbedrohlichen ana-phylaktischen Schock verlaufen. In der Praxis sind dabei vor allem als Allergene Latex, Lokalanästhetika und Antibiotika relevant [10]. Daneben können anaphylaktoide Reaktionen, die nicht-IgE vermit-telt sind, unter anderem auch bei NSAID-Therapie (zum Beispiel Ibuprofen) auftreten. Die Symptome eines anaphylaktischen Schocks äußern sich je nach Schweregrad von Juckreiz, „flush“, Urtikaria über Rhinorrhö, Dyspnoe bis hin zu Atem- und Herz-Kreislauf-Stillstand. Bei eingeschränkter Atmung sollte eine Sauerstoffzufuhr mit 12 bis 15 l pro Minute erfolgen.

Bei Verdacht auf einen anaphylaktischen Schock müssen zual-lererst der im Verdacht stehende Auslöser beseitigt und ein Notarzt verständigt werden. Der Patient sollte anschließend bei kontinu-ierlicher Überwachung der Vitalparameter in Schocklage positio-niert werden. Zur Therapie des anaphylaktischen Schocks ist Adre-nalin das Medikament der ersten Wahl. Dazu wird die handelsüb-liche 1-ml-Ampulle auf 10 ml Kochsalzlösung aufgezogen, und es werden 0,01 mg/kgKG 5- bis 15-minütlich, bei Bedarf auch häufi-ger, bis zu einer intramuskulären Maximaldosis von 0,5 mg verab-reicht [10]. Liegt bereits ein intravenöser Zugang, wird Adrenalin bei hypotonen Patienten als 5-bis 10-µg-i.v.-Bolus (0,2 µg/kgKG)

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3 Plastischer Wundverschluss zur Blutungsstillung und Deckung der Extraktionsalveole

4 Bisphosphonatassoziierte Knochennekrose im linken Ober-kiefer bei Zustand nach i.v.-Bisphosphonatapplikation

und bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Kollaps als 0,1 bis 0,5 mg-i.v.-Bolus verabreicht [15].

Bleibt der Patient darunter hypoton, sollte über einen intravenö-sen Zugang Ringer-Lösung oder physiologische Kochsalzlösung appliziert werden. Bei Atem- und Herz-Kreislauf-Stillstand muss eine Reanimation begonnen werden.

»» Kardiovaskuläre»ErkrankungenBei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen sollte auf eine möglichst stressarme Behandlung geachtet werden. Dazu gehört auch eine suffiziente Lokalanästhesie, die mit Lokalanästhetika und adäquatem Adrenalinzusatz (1:200.000) zu erreichen ist, ohne bei den vorbelasteten Patienten kardiovaskuläre Ereignisse auszulösen [3]. Die Schmerzfreiheit des Patienten wird als wichtiger angesehen als ein Verzicht auf adrenalinhaltige Lokalanästhetika, da dadurch eine endogene Ausschüttung von Adrenalin reduziert werden kann.

Für den Fall eines akuten Angina-pectoris-Anfalls sollten Sauer-stoff und Nitroglyzerin, zum Beispiel als sublinguales Spray zur Akuttherapie bereitgehalten werden. Falls sich die Beschwerden des Patienten (Atemnot, Engegefühl im Brustkorb, retrosternaler Schmerz, Angstgefühl) nach Nitroglyzerin- und Sauerstoffgabe nicht bessern, ist von einem Myokardinfarkt auszugehen und umgehend der Notarzt zu verständigen. Der Behandler muss hierbei in ständi-ger Reanimationsbereitschaft stehen.

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»» Bisphosphonatassoziierte»KiefernekroseBisphosphonate werden unter anderem zur Therapie des multiplen Myeloms, ossärer Metastasen und bei Patienten mit Osteoporose eingesetzt. Bisphosphonatassoziierte Knochennekrosen (BAKN) treten vor allem bei einer intravenösen Applikation, wie sie zur The-rapie von Knochenmetastasen oder des multiplen Myeloms einge-setzt wird, auf. Die klinischen Symptome äußern sich häufig in frei liegendem Knochen (»Abb. 4), Schmerz, Schwellung und Foetor ex ore. Liegt bereits eine BAKN vor, empfiehlt es sich, den Patienten zur Therapie an ein entsprechendes Zentrum zu überweisen [13]. Zur Prophylaxe des Auftretens einer BAKN bei notwendigen chirurgi-schen Eingriffen sollte bei Patienten unter Bisphosphonattherapie neben lokalen antiinfektiösen Maßnahmen auch eine perioperative systemische Antibiotikaprophylaxe durchgeführt werden (zum Bei-spiel 3-mal täglich 625 mg Amoxicillin/Clavulansäure; [5]). Weiter-hin ist auf eine möglichst atraumatische Operationstechnik und die plastische Deckung der Wundflächen zu achten, um die Gefahr des Auftretens einer BAKN zu minimieren [5].

Antibiotikaprophylaxe

Eine perioperative antibiotische Abschirmung sollte bei medizinisch-kompromittierten Patienten erfolgen, die aufgrund einer metabo-lischen oder immunologischen Erkrankung eine eingeschränkte Immunabwehr haben. Dies beinhaltet zum Beispiel Patienten mit einem schlecht eingestellten Diabetes mellitus, bisphosphonatasso-ziierter Kiefernekrose, mit angeborenen oder erworbenen Immun-schwächen oder Patienten unter immunsupressiver Therapie nach Organtransplantation.

Fazit für die Praxis

Um potenzielle intra- sowie postoperative Notfälle und Kompli-kationen weitgehend zu vermeiden, ist es notwendig, präoperativ eine geeignete Einschätzung der Gesundheitssituation des Patienten durchzuführen und auf die ermittelten Befunde adäquat, gegebenen-falls in Form einer Therapiemodifikation, zu reagieren. Beim Auf-treten von Notfällen ist die Beherrschung dieser Ereignisse in der

» Dr. med. dent. Lutz studierte Zahnmedizin in Erlangen-Nürnberg.

» Seit 2006 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Mund-, Kie-fer- und Gesichtschirurgischen Klinik Erlangen. Seit 2006 studiert er außerdem Humanmedizin in Erlangen-Nürnberg.

» Dr. Lutz ist Gewinner des Förderpreises 2007 des Vereins zur För-derung der wissenschaftlichen Zahnheilkunde in Bayern e. V. und seit 2008 Mitglied im Beirat der Zeitschrift Implantologie (Quintessenz-Verlag).

Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Dr. Rainer LutzGlückstr. 1191054 [email protected]

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Praxis für den Patienten mitunter von lebensrettender Bedeutung. Hierbei helfen entsprechende Weiterbildungen.

Literatur

Das vollständige Literaturverzeichnis finden Sie im Beitrag auf CME.springer.de oder kann bei der Redaktion angefordert wer-den: [email protected], Tel: 06221/487 8170.

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Welche Patienten sollten eine periopera-tive Antibiotikaprophylaxe erhalten?

òAlle Patienten ab 70 Jahren. òSchwangere. òPatienten mit eingeschränkter Immun-abwehr. òPatienten mit Hypertonie. òPatienten mit Latexallergie.

Woran erkennt man einen gut eingestell-ten Diabetes mellitus?

òDer Patient hat selten Hypoglykämien. òAcetongeruch in der Atemluft des Pa-tienten. òDer Wert des glykosylierten Hämoglo-bins (HbA1c) ist kleiner 7%. òDer HbA1c-Wert ist größer 12%. òDer Patient weist keine diabetischen Spätschäden auf.

Wie hoch schätzt man die Prävalenz von diabetischen Patienten im Jahr 2025 ein?

ò3 Millionen. ò50 Millionen. ò200 Millionen. ò300 Millionen. ò800 Millionen.

Was ist das Mittel der ersten Wahl zur Therapie eines anaphylaktischen Schocks?

òSauerstoff. òAcetylsalicylsäure. òSalbutamol. òAdrenalin. òGlukagon.

Wie wird eine Hypoglykämie bei einem nichtansprechbaren Patienten therapiert?

òKeine Therapie, da die Hypoglykämie sich im Regelfall selbst normalisiert. òNitroglyzerin sublingual. òOrale Gabe von Glucose (z. B. durch Soft-drinks). òGlukagon intramuskulär. òSchmerzreize setzen.

Was sollten Sie bei Patienten vor kleine-ren chirurgischen Eingriffen mit oraler Antikoa gulationstherapie beachten?

òDie orale Antikoagulation muss abgesetzt werden, um das Blutungsrisiko zu mini-mieren. òMan sollte die Patienten zur präoperati-ven Eigenblutspende animieren. òDie Patienten sollten auf Heparin umge-stellt werden. òDer International Normalized Ratio (INR) muss durch den Behandler neu eingestellt werden. òSie müssen sicherstellen, dass die Mög-lichkeiten zur lokalen Blutstillung in der Praxis vorhanden sind.

Welche Maßnahmen sollten zur Behand-lung von Diabetikern getroffen werden?

òAuch bei kleineren Eingriffen sollten die oralen Antidiabetika abgesetzt werden. òTyp-2-Diabetiker sollten unbedingt auf In-sulin umgestellt werden. òPlanung der Behandlung am frühen Abend. òDie Patienten sollten vor der Behandlung in Lokalanästhesie nüchtern bleiben. òPlanung der Behandlung in kurzen Inter-vallen.

Welcher Notfall tritt am häufigsten in der zahnärztlichen Praxis auf?

òEpileptischer Anfall. òAngina-pectoris-Anfall. òVasovagale Synkope. òHypoglykämie. òHerzinfarkt.

Wie viele Synkopen sieht ein Behandler im Durchschnitt pro Jahr?

òEinen. òZwei. òFünf. òZehn. ò25.

Welcher Anteil an Patienten in der zahn-ärztlichen Praxis weist einen medizinisch-kompromittierten Zustand auf?

ò<1%. òZirka 2 bis 7%. òZirka 5 bis 10%. òZirka 12 bis 28%. òZirka 33 bis 47%.

CME-Punkte Sammeln in 4 Schritten1. Registrieren/Anmelden: FVDZ Mitglieder

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2. Einloggen: Ihre persönlichen Zugangs-daten erhalten Sie per E-Mail. Loggen Sie sich mit diesen auf CME.springer.de ein und wählen Sie unter dem Punkt „Fortbildungs-einheiten für Zahnärzte“ die Zeitschrift Der Freie Zahnarzt aus.

3. Teilnehmen: Es ist immer nur eine Antwort richtig. Die Reihenfolge der Fragen und der Antworten wird online neu durchmischt.

4. Punkte sammeln: Mit mindestens 7 rich-tigen Antworten haben Sie bestanden. Sie erhalten sofort per E-Mail eine Teilnahme-bestätigung mit 2 CME-Punkten.

Kontakt CME-Helpdesk: Tel.: +49 (0) 6221-487-8926, E-Mail: [email protected]