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Christoph Nonn, Tobias Winnerling (Hg.)Eine andere deutsche Geschichte 1517–2017

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Christoph Nonn, Tobias Winnerling (Hg.)

Eine andere deutsche Geschichte 1517–2017

Was wäre wenn…

Ferdinand Schöningh

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Umschlagabbildung:Martin Luther nach einem Portrait

Lucas Cranachs des Älteren (Lutherhaus Wittenberg) und Porträt Papst Gregors XIV., Kupferstich, vermutlich von Philipp Galle (1537–1612).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen

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© 2017 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;

Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland)

Internet: www.schoeningh.de

Einbandgestaltung: Nora Krull, BielefeldHerstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn

ISBN 978-3-506-78788-0

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Inhalt

Christoph Nonn/Tobias WinnerlingWozu eigentlich kontrafaktische Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Matthias PohligEine Neuzeit ohne Reformation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

Johannes DillingerDie Luther-Variationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

Tobias WinnerlingDarf ’s ein bisschen weniger sein? Ein zwanzigjähriger Krieg: 1618–1638 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Marian FüsselDas Debakel des Hauses Brandenburg 1762: Ein anderer Ausgang des Siebenjährigen Krieges . . . . . . . . . . . . . 87

Michael C. SchneiderEin deutscher Weg zur Industrialisierung oder: Warum Großbritannien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Dieter LangewiescheDie Glorreiche Deutsche Revolution von 1848/49 . . . . . . . . . . . . 120

Christoph NonnDeutschland ohne Bismarck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

Werner PlumpeDer Weg aus dem Abgrund: War die Weimarer Republik zu retten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

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6 INHALT

Wolfgang SchiederDeutschland ohne Hitler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

Guido ThiemeyerEuropa ohne die EU? Das Scheitern des Schuman-Planes 1951 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

Wilfried LothDie deutsche Wiedervereinigung 1952/53 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Christoph NonnLeipzig, 9. Oktober 1989: Ein Massaker findet nicht statt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

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Wozu eigentlich kontrafaktische Geschichte?

Alternativlos. Den Begriff benutzen nicht nur Politiker gerne, um die eigene Sicht der Dinge vor Kritik zu immunisieren. Auch Historiker tun das häufig. Demnach konnte etwa die Revolution von 1848 nicht gelingen. Als Otto von Bismarck 1862 zum preußischen Ministerprä-sidenten ernannt wurde, gab es dazu keine Alternative. Die Westbin-dung der Bundesrepublik nach 1945 war unvermeidbar. Oder an-dersherum: Sicher waren die sowjetischen Angebote zur Wieder- vereinigung und Neutralisierung Deutschlands 1952/53 nicht ernst gemeint. Zweifellos hätte die deutsche Geschichte eine andere Wen-dung genommen, wenn es eine Alternative zu Bismarck gegeben hätte, oder die Revolution von 1848 geglückt wäre.

Wirklich? Immer wenn Historiker Wörter wie „sicher“ oder „ohne Zweifel“ benutzen, ist Vorsicht angebracht. Denn deren Verwendung offenbart vor allem eins: einen Mangel an Belegen. Denn sonst könnte man ja handfeste Nachweise bringen, statt sich mit solchen krückenhaften Floskeln zu behelfen. Gerade wenn etwas für über je-den Zweifel erhaben erklärt wird, muss das Zweifel erwecken. Und wer in fachhistorischer Literatur das Wörtchen „sicher“ liest, kann einzig und allein darüber sicher sein, dass der Autor Unsicherheit und mangelndes Nachdenken über Alternativen verbal verkleistern möchte.

Im Grunde verraten solche Floskeln sogar, dass Historiker parado-xerweise gelegentlich selbst dann kontrafaktisch argumentieren, wenn sie ein solches Nachdenken über historische Alternativen für nutzlos erklären. Wenn es etwa heißt, dass die deutsche Geschichte bei einem Gelingen der Revolution von 1848 oder mit einem anderen preußischen Ministerpräsidenten als Bismarck „zweifellos“ anders verlaufen wäre, dann ist das nichts anderes als eine kontrafaktische Überlegung. Das gleiche gilt für die Behauptung, die sowjetischen Noten zur Wiedervereinigung 1952/53 seien „sicher“ nicht ernst ge-meint gewesen. Denn dahinter steht die Annahme, der rein taktische Charakter der Noten wäre enthüllt worden, wenn die Bundesregie-rung unter Adenauer und die Westmächte auf sie eingegangen wä-

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ren. Das geschah allerdings ebenso wenig, wie die Revolutionäre von 1848 ihre Ziele erreichten und Bismarck verhindert wurde.

Es gehört zu den gern strapazierten Argumenten gegen kontrafak-tische Methoden in der Geschichtswissenschaft, die Beschäftigung mit ungeschehener Geschichte sei ebenso überflüssig wie die mit un-gelegten Eiern. Schon Max Weber hat dem entschieden widerspro-chen. Denn die Frage nach möglichen alternativen Geschichtsverläu-fen sei, so Weber, alles andere als eine „müßige Frage“: „Denn eben sie betrifft ja das für die historische Formung der Wirklichkeit Entschei-dende“ – nämlich „welche kausale Bedeutung“ einzelnen Personen, Aktionen und Strukturen als Wirkungsfaktoren des realhistorischen Prozesses zukommt. Wolle „die Geschichte über den Rang einer blo-ßen Chronik merkwürdiger Begebenheiten und Persönlichkeiten sich erheben“, so bleibe „ihr ja gar kein anderer Weg, als die Stellung ebensolcher Fragen… In jeder Zeile jeder historischen Darstellung, ja in jeder Auswahl von Archivalien und Urkunden zur Publikation, ste-cken ‚Möglichkeitsurteile‘ oder richtiger: müssen sie stecken, wenn die Publikation ‚Erkenntniswert‘ haben soll.“1 Mit anderen Worten: Jede Form von Geschichtsschreibung, auch und gerade die mit wis-senschaftlichem Anspruch, geht eigentlich immer mit kontrafakti-schen Methoden vor. Nur geschieht das oft unbewusst und daher un-kontrolliert.

Max Weber klagte schon vor weit über 100 Jahren: „Wie sehr die Geschichtslogik noch im argen liegt, zeigt sich unter anderem auch darin, dass über diese wichtige Frage weder Historiker, noch Metho-dologen der Geschichte, sondern Vertreter weit abliegender Fächer die maßgebenden Untersuchungen angestellt haben.“ Zu seiner Zeit beschäftigten sich neben Philosophen etwa auch Juristen grund-sätzlich mit Fragen der Kontrafaktik: Denn schuldig ist ein Mensch für begangene Taten prinzipiell nur dann, wenn er auch hätte anders handeln können.2 Obwohl der Zusammenhang mit der Frage nach historischer Verantwortung auf der Hand liegt, wurde dagegen von der Geschichtswissenschaft die kontrafaktische Methode zu Webers Zeit fast völlig ignoriert.

Daran hat sich bis heute wenig geändert. Der Althistoriker Alex-ander Demandt versuchte zwar 1984 eine Lanze für die ernsthafte Beschäftigung mit „ungeschehener Geschichte“ zu brechen. Ein hal-bes Menschenalter später, als sein Buch dazu in einer Neuausgabe wieder erschien, konnte Demandt jedoch immer noch als Pionier

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gelten.3 Denn in der Zwischenzeit waren in Deutschland lediglich zwei dünne Sammelbändchen erschienen, die kontrafaktische Ge-schichte wissenschaftlich fruchtbar zu machen versuchten.4 Hin und wieder wurde ein solches Vorgehen vehement mit Argumenten abgelehnt, die schon Demandt widerlegt hatte.5 Hauptsächlich aber reagierte die Historikerzunft auf seinen Vorstoß mit Schweigen.

Kontrafaktisches in der Literatur – Alternative Welten

In Deutschland ist kontrafaktische Geschichtsschreibung in weiten Teilen des akademischen Mainstream immer noch verpönt.6 Dage-gen erleben kontrafaktische Gedankenspiele im historischen Ro-man hierzulande seit zwei Jahrzehnten einen wahren Boom. Die deutsche Wiedervereinigung hat hier wahrscheinlich auf manche Weise anregend gewirkt. Sie demonstrierte zum einen die Offenheit und Veränderbarkeit historisch scheinbar zementierter Strukturen. Zum anderen regte sie wohl besonders national gesinnte Geister an. Seit den 1990er Jahren toben sich jedenfalls nicht zuletzt Autoren vom rechten Rand des politischen Spektrums im Genre des kon-trafaktischen Romans aus, um ihnen genehme Alternativwelten auszumalen.

So hat etwa Volkmar Weiss mit einer Parallelweltgeschichte über „Das tausendjährige Reich Artam“ einiges Aufsehen erregt. In dem Buch haben die Nationalsozialisten den USA nie den Krieg erklärt und deshalb im Zweiten Weltkrieg gesiegt. Im 21. Jahrhundert be-steht auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion die nationalsozi-alistische Herrschaft fort, während Deutschland selbst nach der Machtübernahme der „88er“ dort infolge von Masseneinwanderung und Zersetzung der Gesellschaft im Chaos versunken ist.7

Mindestens ebenso abstruse Geschmäcker bedient die „Kaiser- front“-Reihe, deren Schöpfer sich hinter dem vielsagenden Pseudo-nym „Heinrich von Stahl“ verstecken. In „Kaiserfront“ hat das Deut-sche Reich 1918 die Revolution blutig niedergeschlagen und den Ers-ten Weltkrieg gewonnen. Anschließend gewinnt es auch den Zweiten und damit die Weltherrschaft. Angesichts eines Mangels an weiteren irdischen Gegnern kämpft das Reich danach gegen außerirdische In-vasoren. Nationalkonservatives Wunschdenken wird hier mit Perry-Rhodan-Ästhetik aufgepeppt.8

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Historikern rollen sich bei solcher Lektüre die Fußnägel auf. Ver-gleichsweise amüsant liest sich „Plan D“ von Simon Urban. In Ur-bans Satire existiert die DDR auch nach 1990 weiter, weil eine rot-grüne Bundesregierung unter Oskar Lafontaine und Claudia Roth die Wiedervereinigung abgelehnt hat. Die Ostdeutschen, überwacht von der jetzt unter Otto Schilys Leitung stehenden Stasi, leiden des-halb weiter unter rapide schlechter werdenden Lebensumständen, in denen der einzige Lichtblick Actionfilme der DEFA sind  – mit Sahra Wagenknecht als Hauptdarstellerin.9

Bierernst, aber ausgesprochen erfolgreich sind dagegen die alter-nativhistorischen Kriminalthriller Christian von Ditfurths. Ditfurth bedient eher Leser mit linken Überzeugungen. In „Der Consul“ lässt er 1932 Hitler ums Leben kommen, ohne dass die Geschichte des-halb wesentlich anders verlaufen würde  – 1933 entsteht dennoch eine nationalsozialistische Diktatur, unterstützt von Konservativen, Katholiken und Liberalen. In dem Bestseller „Der 21. Juli“ wandelt der Autor dieses Rezept geringfügig ab: 1944 gelingt Stauffenbergs Attentat. Infolgedessen bildet sich eine Regierung mit dem konser-vativen Carl Friedrich Goerdeler als Reichskanzler, die den Zweiten Weltkrieg fortführt. In dieser Regierung ist Heinrich Himmler In-nenminister, Wirtschaftsminister wird Ludwig Erhard. Von Ditfurth, langjähriges Mitglied der DKP, breitet dabei genüsslich die These ei-ner an Identität grenzenden Affinität von Nationalsozialismus, Kon-servatismus und bürgerlicher Interessenpolitik aus.10

Offensichtliche Inspiration und Modell für Ditfurths Parallelwelt-geschichten waren zwei Erfolgsbücher aus Großbritannien: Robert Harris’ „Fatherland“ und Stephen Frys „Making History“. Harris’ in-ternationaler Bestseller spielt im Berlin des Jahres 1964. Auch bei ihm hat Deutschland den Zweiten Weltkrieg nicht verloren. Bei Fry nutzt der Protagonist, ein Geschichtsstudent, die Möglichkeit einer Zeitreise, um Hitlers Geburt zu verhindern. Daraufhin muss er in der Gegenwart mit Entsetzen feststellen, dass seine Tat den Lauf der Ge-schichte nur verschlimmert hat: Der in Deutschland allgemein ver-breitete Antisemitismus hat die Nationalsozialisten dennoch an die Macht kommen lassen, und ohne Hitler haben diese den Krieg und die Verfolgung der Juden wesentlich geschickter und effizienter ge-führt als mit dem wahnsinnigen „Führer“.11

„Fatherland“ und „Making History“ thematisieren unter der Ober-fläche des Thrillers dabei nebenher Fragen, mit denen sich Histori-

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ker jenseits plakativer politischer Instrumentalisierung ebenfalls beschäftigen. Bei Stephen Fry ist das die relative Bedeutung von Ein-zelpersonen und Strukturen in der Geschichte. Wie Harris macht er außerdem die Position des Nationalsozialismus in den Kontinuitä-ten deutscher Geschichte zum Thema. In „Fatherland“ klingt zusätz-lich noch die Frage nach Quellentradierung und Geschichtsfäl-schung in Diktaturen an.

Im Gegensatz zu Deutschland hat der kontrafaktische historische Roman in Großbritannien und den USA eine lange Tradition.12 Diese steht in enger Verbindung mit der literarischen Dystopie und deren Klassikern, wie George Orwells „1984“ oder Aldous Huxleys „Brave New World“. So malte etwa Kingsley Amis in „The Alteration“ mit sa-tirischer Schärfe ein Großbritannien aus, in dem die Reformation nie stattfand und der katholische Klerus eine totalitäre Terrorherr-schaft ausübt, unter der Shakespeare und moderne Wissenschaften verpönt sind. In „Queen Victoria’s Bomb“ skizzierte Ronald Clark die moralischen Dilemmata, die aus einer Erfindung der Atombombe schon im 19. Jahrhundert erwachsen wären. Das machte ihn zu ei-nem der Begründer des literarischen Steampunk.13 In den USA kulti-vierten Klassiker wie Ward Moore und Philip K. Dick schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg Geschichten über Parallelwelten, die gesellschaftliche und politische Zustände ihrer Entstehungszeit kri-tisch kommentierten. Norman Spinrad ließ in einem Buch sogar Hit-ler nach Amerika auswandern und dort zum Guru der Fantasy- und Science-Fiction-Literatur aufsteigen – eine bitterböse Satire auf die faschistischen Tendenzen in der Szene.14 Preisgekrönte Autoren des literarischen Mainstream wie Michael Chabon und Philip Roth ha-ben diese Tradition in den USA in jüngster Zeit fortgesetzt.15

Kontrafaktisches in der Geschichtsschreibung – Alternative Ereignisverläufe

In den angelsächsischen Ländern sind jedoch seit langem auch His- toriker für kontrafaktische Darstellungen wesentlich offener als in Deutschland. Bereits der Urvater moderner Geschichtsschreibung im Großbritannien des 18. Jahrhundert, Edward Gibbon, stellte kon-trafaktische Überlegungen an. Gibbons Zeitgenosse David Hume defi-nierte Kausalität kontrafaktisch als Abfolge „where, if the first object

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had not been, the second never had existed.“16 Der britische Historiker und renommierte Nationalsozialismus-Experte Ian Kershaw nutzte die Methode in einem Buch mit Essays über Wendepunkte des Zwei-ten Weltkriegs.17 Sein Landsmann und Kollege Niall Ferguson, mittler-weile Professor in Harvard, widmete ein Buch der Frage, welche Folgen das Ausbleiben des Ersten Weltkriegs gehabt hätte. Mit zahl-reichen amerikanischen und britischen Kollegen erarbeitete er einen Sammelband über „virtuelle“, ungeschehene Geschichte.18 In den USA erregte der Wirtschaftshistoriker Robert Fogel bereits in den 1950er und 1960er Jahren Aufsehen mit kontrafaktischen Beweisführungen. Mittlerweile ist die amerikanische Geschichtswissenschaft führend darin, die lange vor allem auf das europäische 20. Jahrhundert ange-wandte Methode auch für frühere Zeitepochen und globalgeschicht-lich fruchtbar zu machen.19

Die unterschiedlichen Einstellungen von Historikern in Deutsch-land einerseits, Großbritannien und den USA andererseits zur Kon-trafaktik stehen wohl im Zusammenhang mit einer grundsätzlich verschiedenen Ausrichtung der Geschichtswissenschaft. Deutsche Historiker erfanden bekanntlich die Fußnote. Ihre britischen und amerikanischen Kollegen konzentrierten sich vor allem auf die Pro-duktion lesbarer Texte. In Deutschland wird dagegen bis heute viel-fach die Überzeugung kultiviert, Wissenschaft und Lesbarkeit seien unvereinbare Gegensätze. Kontrafaktische Geschichtsschreibung mag auch deshalb hierzulande vielen suspekt erscheinen, weil sie ihre Leser nicht nur belehren, sondern auch unterhalten kann – und will.

Das hat ihr den wohlfeilen Vorwurf eingebracht, sich von histori-schen Romanen kaum zu unterscheiden. Tatsächlich sind Historiker, die kontrafaktisch arbeiten, sich aber wohl nur der Nähe zwischen Wissenschaft und fiktionalen Geschichtsdarstellungen bewusster als andere. Diese Nähe besteht weniger in der Verwendung literarischer Formen und Erzählmuster. Eher hat sie etwas mit dem Grad der Ver-ankerung in den zeitgenössischen Quellen zu tun, die sowohl bei fik-tionalen wie bei fachhistorischen Arbeiten mehr oder weniger ausge-prägt sein kann. So betreiben manche Autoren historischer Romane in gleichem Umfang Quellenstudien und orientieren ihre Arbeit ge-nauso am Forschungsstand, wie Fachhistoriker das tun  – oder tun sollten. Andererseits bleibt auch bei jeder noch so tief in Quellen und Fachliteratur verankerten historischen Forschungsarbeit die Konst-

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ruktion der Argumentation und die Kombination der Belege ein Stück weit willkürlich. Jede Form wissenschaftlicher Geschichtsschreibung arbeitet letztlich mit Plausibilitätsbeweisen, die mehr oder weniger stimmig sind. Sonst gäbe es keine akademischen Kontroversen unter Historikern darüber.

Dennoch existieren klar definierbare Grenzen zwischen fiktiona-len und nichtfiktionalen Geschichtsdarstellungen. Autoren histori-scher Romane können etwa Personen, auch Hauptfiguren der Dar-stellung, erfinden. Sie können so die Lücken in der Überlieferung füllen. Sie dürfen das bruchstückhafte Mosaik ergänzen, das uns die Quellen von der Vergangenheit bieten. Für kontrafaktisch arbeiten-de Historiker verbietet sich das. Und natürlich müssen Historiker die Quellen, aus denen sie schöpfen, gewissenhaft ausweisen.

Der Unterschied zwischen kontrafaktischer Dichtung und kon-trafaktischer Geschichte liegt also in der künstlerischen Freiheit. Dichter haben sie, Historiker haben sie nicht. Dafür haben sie Me-thode. Kontrafaktische Geschichte lebt aber wesentlich von der Imagination, sie ist immer auch ein kreatives Spiel mit der histori-schen Situation. Im Wesentlichen besteht sie darin, die Perspektive des Historikers umzukehren: Anstatt immer nur auf das schon Ge-schehene zurückzublicken, gilt es, von einem bestimmten Zeit-punkt an nach vorn ins Ungeschehene zu denken. Jede kontrafakti-sche Überlegung geht davon aus, dass das, was heute Vergangenheit ist, einmal noch offene Zukunft war – und versucht, deren Möglich-keiten von diesem Punkt aus abzuschätzen.

Sie bietet damit ein Korrektiv an zur üblicherweise nur auf dem anderen Weg vollzogenen Bildung historischen Sinns, oder „großer Zusammenhänge“. Die Methode muss flexibel genug sein, um sol-che Meistererzählungen fragwürdig machen zu können, um Spiel-räume zu lassen und zu eröffnen. Gefragt sind also weniger strenge Verfahrensregeln als vielmehr ein Gerüst zur selbstkritischen Evalu-ation und Plausibilisierung des kontrafaktischen Vorgehens.

Aber wozu das Ganze?

Bevor ein Gerüst montiert wird, sollten sich die Monteure erst ein-mal Rechenschaft darüber ablegen, ob sich die Mühe überhaupt lohnt. Das empfiehlt sich erst recht für Monteure, deren Konstrukti-

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onen aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, wie es bei professi-onellen Historikern meist der Fall zu sein pflegt. Wozu also kon-trafaktische Geschichte? Dass letztlich alle Geschichtsschreibung mit kontrafaktischen Methoden verbunden ist, auch wenn diese meist unbewusst bleiben, reicht als Rechtfertigung kaum aus. Worin liegt der Mehrwert davon, die Methode bewusst anzuwenden?

Er liegt unserer Meinung nach vor allem darin, eine Reihe von prinzipiellen Fragen an Geschichte wieder stark zu machen. An- gesichts immer stärkerer Spezialisierung historischer Forschung drohen solche Fragen zunehmend in den Hintergrund zu treten. Fachhistoriker wissen immer mehr über immer weniger. Das ist in mancher Hinsicht eine unvermeidbare Begleiterscheinung davon, dass das Universum unserer Kenntnisse sich in atemberaubendem Tempo ausdehnt. Wenn dabei freilich der Bezug zu den großen Fra-gen des Faches verloren geht, wird Wissenschaft zum Selbstzweck, und der Wissenschaftler zum Fachidioten.

Was sind diese großen Fragen? Etwa die nach der Rolle des Zu-falls, oder etwas hochgestochener formuliert: nach der Kontingenz. Machen nur Menschen durch ihr Handeln die Geschichte? Anfang Oktober 1688 hatte die niederländische Flotte alle Vorbereitungen für eine Invasion Großbritanniens abgeschlossen, als ein ungewohnt früher Einbruch der Winterstürme sie in den Häfen festhielt. Nach drei Wochen ermöglichte eine ebenso ungewohnte Flaute dann aber doch noch die Überquerung des Kanals. Hätte der Wind nicht ge-dreht, wäre die erst mit niederländischer Waffenhilfe zustande ge-kommene „Glorious Revolution“ dieses Jahres, die Absetzung der ka-tholischen Stuarts und ihre Ersetzung durch ein protestantisches Königshaus in Großbritannien, dann ausgeblieben? Als die russi-sche Zarin Elisabeth 1762 starb, beendete ihr Nachfolger Peter den Kriegszustand des Zarenreiches mit Brandenburg-Preußen, das zu diesem Zeitpunkt von einer übermächtigen Koalition von Gegnern an allen Fronten in die Enge gedrängt worden war. Was aber wäre ge-schehen, hätte Elisabeth länger gelebt? Oder Friedrich II. von Preu-ßen bei der Schlacht von Kunersdorf 1759 tödlich getroffen worden? Wäre dann aus dem Mirakel des Hauses Brandenburg ein Debakel geworden?20

Eine zentrale Frage in der Beschäftigung mit Geschichte ist auch die nach der Bedeutung von Personen und Strukturen. In diesem Zusammenhang haben, wie schon mehrfach anklang, besonders

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Adolf Hitler und der Nationalsozialismus die Phantasie von Roman-autoren angeregt. Wäre Hitler bei seinem Münchner Putschversuch am 9. November 1923 nicht nur verletzt, sondern wie 16 andere Put-schisten getötet worden, hätte es dann die späteren Wahlerfolge der NSDAP gegeben? Den Zweiten Weltkrieg und den Massenmord an den europäischen Juden, wenn Georg Elsers Attentat auf ihn 1939 er-folgreich gewesen wäre? Ein anderes Ende des Krieges, wenn Claus von Stauffenberg 1944 ein wenig mehr Glück gehabt hätte?21 Wäre es ohne Bismarck nicht zur Gründung des Deutschen Reiches 1871 ge-kommen? Oder lag diese angesichts der nationalen Bewegungen in Deutschland und Europa ohnehin in der Luft, im Geist der Zeit? Hätte es die Reformation auch ohne Luther gegeben?22 Welche Rolle spielen Personen, welche religiöse Strömungen und Ideologien in der Geschichte?

Eng verbunden damit ist die Frage nach der Wirkungsmächtig-keit sogenannter „großer“ Persönlichkeiten einerseits, „kleiner Leu-te“ andererseits. Waren Luther und Bismarck entscheidend für das Zustandekommen der Reformation oder der Gründung des Deut-schen Reiches? Oder spielten die ausschlaggebende Rolle dabei eher viele, aus den verschiedensten Gründen papst- und kirchenkritisch oder national gesinnte Einzelne, die keinen Eingang in die Ge-schichtsbücher gefunden haben?

Zwei Varianten kann man bei dieser Perspektivverschiebung auf die Rolle der „gesichtslosen“ historischen Akteure unterscheiden. Ers-tens lässt sich das Augenmerk auf die Bedeutung von Kollektiven richten. Der Dreißigjährige Krieg hatte bereits lange vor seinem Ende weitgehend den Charakter einer Auseinandersetzung um religiöse Fragen oder über die Mächtehegemonie in Europa verloren. Er entwi-ckelte jedoch ein Eigenleben, weil er für viele der Kämpfenden Selbst-zweck und Existenzgrundlage geworden war. Und er hätte auch frü-her zu Ende gehen können, wenn diese Zwecke weggefallen wären.23 Zweitens kann die Aufmerksamkeit der Bedeutung von scheinbar un-bedeutenden Individuen gelten. Dabei geht es um den sogenannten Schmetterlingseffekt: Wenn der Flügelschlag eines Schmetterlings weitreichende Auswirkungen in einer weit entfernten Weltgegend haben kann, kann dann eine noch so banale Handlung eines namen-losen Einzelnen die Weltgeschichte verändern? Könnte also etwa Na-poleon eine entscheidende Schlacht verloren haben, weil sein Kam-merdiener ihm am Tag zuvor keine wasserdichten Stiefel bereitgestellt

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hatte, weshalb der Feldherr sich einen Schnupfen zuzog und im kriti-schen Moment nicht voll leistungsfähig war?24

Vielleicht die wichtigste Funktion kommt kontrafaktischen Ana-lysen in der Geschichtsschreibung bei der Überprüfung von Thesen mit aktuellen Bezügen zu. So muss die Weimarer Republik häufig als Beispiel für die potentielle Stabilität oder Instabilität demokrati-scher Systeme herhalten. Unter welchen Bedingungen die erste deutsche Demokratie möglicherweise hätte dauerhaft erfolgreich sein oder zumindest ein weniger schlimmes Ende finden können, lässt sich letzten Endes nur mit kontrafaktischen Überlegungen un-tersuchen.25 Auch politisch motivierte Kulte um „große Männer“ können damit auf ihren realen historischen Gehalt geprüft werden. Ob etwa Bismarck zu Recht als Gründer des deutschen National-staats gilt, kann eine Analyse zeigen, die von seinem frühen Tod vor der „Reichsgründungszeit“ ausgeht.26

Weil Geschichte oft als Argument für politisches Handeln in der Gegenwart benutzt wird, ist das von mehr als nur theoretisch-wis-senschaftlichem Interesse. Nach 1990 gewann in den USA eine histo-rische Schule viel Einfluss, die das Ende des Kalten Krieges als Folge der aggressiven „Roll-Back“-Politik Ronald Reagans interpretierte. Als die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten sich ab 2001 mit neuen Gegnern im globalen Maßstab konfrontiert sahen, diente die-se historische Interpretation der Bush-Administration zur Rechtfer-tigung der Interventionen in Afghanistan und dem Irak. Historiker hätten damals lautstärker darauf hinweisen können, dass neben Konfrontation auch Entspannungspolitik und Kooperationsangebo-te zum Ende des Kalten Krieges beitrugen. Kontrafaktische Analy-sen machen es sogar wahrscheinlich, dass mehr Kooperation und Entspannung den globalen Ost-West-Konflikt wenn nicht vermie-den, so doch in Schärfe und Ausdehnung eingehegt hätten.27

Kontrafaktische Überlegungen können schließlich sogar aktuel-len Erkenntnisinteressen dienen. „Der Historiker, der davon ausgeht, hört auf, sich die Abfolge von Begebenheiten durch die Finger laufen zu lassen wie einen Rosenkranz“ und „erfasst die Konstellation, in die seine eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getre-ten ist,“ wie Walter Benjamin in seiner Abrechnung mit dem von ihm als historistisch geschmähten Aufzählen von „Fakten“ schrieb.28 In einer Zeit, in der nach sechzig Jahren ihres Bestehens die europäi-sche Einigung zu zerbrechen droht, kann es durchaus sinnvoll sein,

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sich an ihre Anfänge in den 1950er Jahren zu erinnern. Denn schon damals schien das europäische Projekt beinahe zu scheitern. Die da-malige Situation näher zu betrachten, mag in der heutigen Lage hilf-reich sein.29 In einer Zeit, in der industrielle Entwicklung die Res-sourcen der Erde über Gebühr strapaziert, kann es Sinn machen, nach alternativen Wegen der Industrialisierung in der Vergangen-heit zu fragen.30 In einer Zeit schließlich, in der in der arabischen Welt, in Asien, in Afrika und nicht zuletzt auch an den Rändern Eu-ropas Transformationen von autoritären politischen Systemen hin zur Demokratie schwerfallen und von Gewaltausbrüchen begleitet sind, kann es vielleicht helfen, solche Transformationsprozesse in der entfernteren und näheren Vergangenheit zu betrachten und zu fragen, welche Faktoren damals für Erfolg oder Misserfolg, Gewalt oder Gewaltlosigkeit ausschlaggebend waren.31

Und wie ist das zu machen?

In all diesen Fällen bietet sich als Ausgangspunkt das berühmte „Was wäre gewesen, wenn…?“ an.32 Eigentlich ist die dahinterliegende Frage zugleich einfacher und trennschärfer: Hätte es einen Unter-schied gemacht, wenn…? So lassen sich Forschungskontroversen in den Blick nehmen und neue Perspektiven auf vermeintlich sichere Behauptungen gewinnen. Walter Benjamin definierte gerade das als Hauptaufgabe des Historikers: „In jeder Epoche muss versucht wer-den, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewin-nen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.“33 Hätte es also einen Unterschied gemacht, wenn Luther seinen Anfechtungen nachgege-ben und im Schoß der Kirche verblieben wäre? Wenn die Revolution von 1848 erfolgreich gewesen wäre? Wenn Hitler bereits 1923 den Tod gefunden hätte? Die intuitive Antwort auf alle diese Fragen dürfte jedes Mal „Ja, natürlich!“ lauten. Aber Wissenschaft will es ge-nauer wissen: Was für einen Unterschied macht es? Welche Fakto-ren sind dafür ausschlaggebend? Für wen macht es jeweils einen Unterschied? Welche weiteren Folgen ergeben sich möglicherweise daraus? Wie wahrscheinlich sind diese?

Um das halbwegs befriedigend beantworten zu können, muss ausgehend von einer klaren Fragestellung ein Szenario abweichen-der Geschichte definiert werden. Dabei sollte idealerweise ein Aus-

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gangspunkt gewählt werden, an dem eine möglichst kleine Abwei-chung vom bekannten historischen Verlauf genügt, um alternative Geschichtsverläufe möglich zu machen. Hitler hätte am 9. Novem-ber 1923 beim Marsch auf die Feldherrnhalle von einer verirrten Ku-gel tödlich getroffen werden können. Luther hätte auch anders ge-konnt. Die Entwicklung der Dampfmaschine oder die „kleine Eis- zeit“ ausfallen zu lassen, würde dagegen möglicherweise schon an der vergeblichen Suche nach einem Ausgangspunkt scheitern. Zu-dem sollte die für die Abweichung grundlegende Situation durch Quellen gut belegt sein, um alle sich ergebenden Möglichkeiten ver-folgen zu können.

Ist diese Abweichung einmal beschrieben, gilt es, den Ursachen-faktoren nachzugehen. Die Komplexität der Aufgabe ist nicht zu un-terschätzen. Welche Faktoren waren für den gewählten Punkt be-stimmend? Welche werden durch die Abweichung neu oder anders bestimmt? Zu welchen kontrafaktischen Entwicklungen könnten diese Abweichungen führen? Für einzubeziehende Akteure heißt das vor allem, die Handlungsspielräume aufzuzeigen, die sich je-weils ergeben hätten, und wie sie möglicherweise genutzt worden wären.

Optimaler Weise sollten alle wahrscheinlichen Entwicklungen zumindest im Ansatz verfolgt und die sich daraus ergebenden Sze-narien gegeneinander abgewogen werden. Weil historische Kausali-täten aber nie monolinear sind und zumeist aus vielfach ineinander verwickelten Ursachenbündeln erfolgen, lassen sich viele mögliche neue Entwicklungen und Verwicklungen postulieren, sobald der Pfad der halbwegs gesicherten Erkenntnisse einmal verlassen ist. Nicht alle diese abweichenden Entwicklungen sind allerdings gleich wahrscheinlich: Soviel dürfte – wieder einmal – intuitiv plausibel er-scheinen. Und wieder einmal verlangt das wissenschaftliche Verfah-ren nach größtmöglicher Sicherheit. Nur: Welche Möglichkeiten ha-ben wir, um den Grad der Plausibilität verschiedener abweichender Szenarien einzuschätzen? Um ehrlich zu sein: wenige. Was uns bleibt, ist der Rückgriff auf realhistorisch belegte vergleichbare Ent-wicklungen, wie sie sich synchron oder diachron in ähnlichen Konfi-gurationen bereits abgespielt haben und die uns so ähnliche Daten liefern können. Luther war nicht der einzige, der religiöse Reformen angestrebt hat  – vielleicht hilft ein Vergleich mit Calvin, Jan Hus, Franz von Assisi oder sogar Jesus. Die Revolution von 1848 war nicht

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der einzige einschneidende Umbruch in der Geschichte – vielleicht hilft ein Blick auf den englischen Bürgerkrieg oder die französische Revolution von 1789. Andere totalitäre oder autoritäre Regime mö-gen Ausblicke für ein NS-Deutschland ohne Hitler bieten.

Bis jetzt war es ein hübscher Spaziergang durch die Imagination, begleitet und befeuert vom methodischen Handwerkszeug des His-torikers. Einmal Luther bekehren, auf den Barrikaden den Sieg der Revolution feiern, Hitler umbringen – und sehen, was passiert sein könnte. Die größte Herausforderung des ganzen Unternehmens wartet jetzt allerdings noch: Wissen, wann es Zeit ist, aufzuhören.

Weil historische Kausalitäten multipolar, multilinear und durch die stets einzurechnende prinzipielle Handlungsfreiheit der Akteu-re zusätzlich kompliziert sind, potenzieren sich die Unwägbarkeiten der kontrafaktischen Analyse mit jedem Schritt. Je weiter sich das Szenario von der Abweichung fortentwickelt, desto schwerer wird es, daraus Aussagen abzuleiten, die Plausibilität beanspruchen kön-nen. Irgendwo verläuft die schwer definierbare, aber definitiv vor-handene Grenze zwischen historischer Analyse und historischer Fiktion. Während Schriftsteller sich auf diesem Terrain weiter bewe-gen dürfen, ist Historikern die Einreise verboten. Sicher darf man auch einmal die Phantasie weit in die Zukunft schweifen lassen und aus der Abweichung neue Welten entwickeln. Aber man darf diese neuen Welten nicht zur Grundlage für Hypothesen machen, die die alte Welt erklären sollen.

Das Verfahren ist also in seiner Reichweite begrenzt. Gleich einer kleinen Kerze erhellt es nur einen engen Umkreis um den ursprüng-lich gewählten Abweichungspunkt mit einiger Sicherheit. Aber wol-len wir denn mehr? Nein. Genau darum ging es ja ursprünglich: The-sen hinterfragen, Kontroversen neu aufrollen, andere Perspektiven gewinnen  – also den Bereich einer klaren Fragestellung neu aus-leuchten. Voilá: Mögen die Spiele beginnen!

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Eine Neuzeit ohne Reformation?

Drei Szenarien stehen am Anfang. Erstens ein humanistischer und kirchenreformerischer Papst Erasmus II., aus Deutschland stam-mend, der in den 1540er Jahren eine Reise durch sein Heimatland un-ternimmt und dabei auch die florierende, aber kleine und letztlich unwichtige Reformuniversität Wittenberg besucht, die nur darunter leidet, dass sie nie einen überregional berühmten Professor besessen hat. Zweitens ein Dreißigjähriger und noch längerer Friede im 17. Jahr-hundert – weil die christliche Religion immer wieder mäßigend auf die machtpolitisch ambitionierten Fürsten Europas einwirkt. Schließ-lich drittens eine Gegenwart, die politisch und kulturell von Russland, von China und Europa beherrscht wird: Die amerikanischen Länder sind nach wie vor reine wirtschaftliche Ausbeutungsgebiete; eine Großmacht namens Vereinigte Staaten ist nie gegründet worden – es gab keine protestantischen Migranten, die dafür den Grundstein hät-ten legen können, und auch keinen aus protestantischem Geist er-wachsenen Kapitalismus, der die USA groß gemacht hätte.

Absurde Szenarien? Und umso absurder, je weiter sie sich zeitlich von der Reformation entfernen? Natürlich. Und dennoch: Was wäre, wenn die Reformation nicht stattgefunden hätte? Zum fünfhundert-jährigen Jubiläum der Reformation 2017 ist das keine irrelevante Fra-ge. Denn wir bringen die Reformation mit einer ganzen Reihe von kurzfristigen Phänomenen in Verbindung – der Kirchenspaltung, dem Bauernkrieg, der Entstehung einer komplizierten religiösen Friedens-ordnung im Heiligen Römischen Reich, für die die Daten 1555 und 1648 stehen. Gleichzeitig verbinden wir aber, mindestens im Alltags-verständnis, mit der Reformation zu Recht oder zu Unrecht auch Ele-mente, die, zeitlich weit ausgreifend, in die Moderne weisen: den mo-dernen Staat, die Religionsfreiheit, das moderne Individuum, den Kapitalismus, die Massenmedien, das moderne Deutsch, die Säkulari-sierung. Daher ist die kontrafaktische Frage danach, wie die Neuzeit ohne die Reformation verlaufen wäre, ein guter Einstieg, um über ihre kurz- und langfristige Konsequenzen nachzudenken. Gleichzeitig führt die kontrafaktische Perspektive dazu, vor dem spätmittelalterli-

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chen Hintergrund auch noch einmal nach der Zwangsläufigkeit oder Unvermeidlichkeit der Reformation zu fragen. Das Gedankenexperi-ment provoziert daher in besonderer Zuspitzung grundsätzliche Fra-gen der Reformationsforschung – nämlich nach ihren Voraussetzun-gen und Folgen.

Was ist „die Reformation“?

Was meinen wir eigentlich mit „Reformation“, wenn wir nach deren kontrafaktischen Verläufen fragen? Die Antwort auf diese Frage ist nicht ganz einfach, aber sie hat große Auswirkungen auf unsere Ur-sache-Wirkung-Konstruktionen. In anderen Fällen scheint das ein-facher zu sein: Wenn ich frage, was passiert wäre, wenn Hitler nicht Reichskanzler geworden wäre, beziehe ich mich auf ein klar einge-grenztes Ereignis. Hitler wurde am 30. Januar 1933 zum Reichskanz-ler ernannt. Dies hätte auch nicht passieren können  – und dann könnte man sich überlegen, was stattdessen am oder nach dem 30. Januar passiert wäre. Doch fand die Reformation am 31. Oktober 1517 statt? Das wäre sicher unzutreffend. Ich versuche absichtlich nicht, die Frage zu beantworten, was passiert wäre, wenn Luther sei-ne Thesen nicht veröffentlicht hätte. Stattdessen geht es mir um das Ausbleiben der Reformation als ganzer. Aber was heißt das: Refor-mation? Will ich fragen, was geschehen wäre, wenn es Luther nicht gegeben hätte? Wenn es Luther, Zwingli und Calvin nicht gegeben hätte? Wenn Luther seine 95 Thesen nicht geschrieben und publi-ziert hätte? Wenn die römische Kirche anders oder gar nicht darauf reagiert hätte? Wenn Luther auf dem Wormser Reichstag 1521, wie dort von ihm gefordert, seine Schriften widerrufen hätte? Wenn er dort, wie sein Vorbild Jan Hus gut 100 Jahre zuvor in Konstanz, auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden wäre? Dies letztere ist ein Szenario, das Geoffrey Parker kontrafaktisch durchgespielt hat. Par-ker ist der Meinung, dass dann nicht nur der Bauernkrieg weniger radikal verlaufen wäre, sondern dass es dann auch kein konfessio-nelles Zeitalter, keinen Dreißigjährigen Krieg, keine Vereinigten Staaten gegeben hätte. In dieser Hinsicht, so Parker, zeige das kon-trafaktische Gedankenexperiment, dass große Männer, wie eben Lu-ther, manchmal eben doch sehr entscheidend Geschichte machen.1 Ich will das gar nicht grundsätzlich in Frage stellen. Aber: Was wäre,

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wenn sich Humanisten, Städte und Fürsten nicht der von Luther an-gestoßenen Bewegung angeschlossen hätten? Das passierte ja zum Großteil erst nach dem Wormser Edikt vom Mai 1521, als über Luther die Reichsacht verhängt worden war. Mir scheint, dass man also ‚die Reformation‘ nicht zu eng und punktuell fassen darf, will man, auch kontrafaktisch, nach ihren Wirkungen fragen. Man wird sie insge-samt definieren müssen als die von Luther angestoßene, aber nicht auf ihn reduzierbare religiöse Reformbewegung, die sich dogma-tisch wie organisatorisch von Rom ablöste und die eine Reihe sozia-ler, politischer und kultureller Auswirkungen in Gang setzte. Es reicht also nicht, die Reformation auf Luther zu reduzieren – um ein kontrafaktisches Szenario zu entwerfen, muss bis zu einem gewis-sen Maße auch Luthers ‚Erfolg‘ einbezogen werden.

Auf der anderen Seite sollte man ‚die Reformation‘ auch nicht zu breit fassen, will man in einem kontrafaktischen Gedankenspiel pro-duktive Ideen entwickeln. Wenn man nämlich, wie dies etwa in der jüngeren angloamerikanischen Forschung geschieht, von einer ‚long reformation‘ ausgeht, die vom 12. bis zum 18. oder vom 14. bis zum 17. Jahrhundert dauert und die katholischen Reformen einbezieht, ist es praktisch unmöglich, Ursachen und Wirkungen voneinander zu trennen.2 Auch wenn wir nicht der Reformation als solcher oder Luther als historischer Person die Erklärungslast für umfassende Prozesse oder Phänomene der Moderne aufzuhalsen bereit sind, kann man die Konfessionsspaltung plausibel als Ausgangspunkt für eine Reihe von Modernisierungsprozessen betrachten. Der Um-stand, dass die Reformation die lateinische Kirche spaltete, setzte bestimmte Entwicklungen frei oder begünstigte sie. Diese Sicht, vor allem wenn sie langfristig argumentiert, ist allerdings mit allerlei schwierig zu überprüfenden Annahmen verbunden, was denn nun „Moderne“ und „Modernisierung“ eigentlich ausmachen.

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Ursachen, Wirkungen, kontrafaktische Fragen

Sind kontrafaktische Fragen überhaupt legitim, und wozu dienen sie?3 Die meisten Historiker werden instinktiv eher reserviert reagie-ren – nach meinem Eindruck gar nicht so sehr, weil die Frage nach dem Was-wäre-wenn generell als unwissenschaftlich eingeschätzt wird, sondern weil sie methodisch so schwer zu kontrollieren ist. Drei Aspekte mögen dies deutlich machen.

Die kontrafaktische Frage läuft erstens fast immer auf kausale Ur-sache-Wirkungs-Modelle hinaus. Man kann das ‚genetische‘ Histori-ographie nennen, also eine Geschichtsschreibung, die die Genese, das Entstehen von Ereignissen thematisiert. Eine solche Perspekti-ve, die nach den Ursachen und Wirkungen – oft eben den Ursachen und Wirkungen ‚großer‘, weltgeschichtlich einschneidender Ereig-nisse – fragt, ist aber nicht der einzige und sicher nicht der vorherr-schende Zugriff der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft. Histori-ker fragen heute oft eher nach dem Funktionieren historischer Gesellschaften und kultureller Logiken, und nicht nach dem Warum bestimmter Ereignisse. Vor allem dafür aber ist die kontrafaktische Frage des Was-wäre-wenn sinnvoll.

Lässt man sich aber zweitens auf diese Art von Warum-Fragen ein, fällt auf, dass viele historische Phänomene, etwa umfassende gesellschaftliche Krisen, zu denen die Reformation ganz sicher zählt, sich nicht einfach in Ursachen und Wirkungen zerlegen lassen und sich daher einer minuziösen Kausalanalyse verweigern.4 Man müss-te für eine solche Analyse, egal ob man sie faktisch oder kontrafak-tisch konstruiert, eindeutige Ursachen isolieren und klar entschei-den, was kurz- und was langfristige Implikationen und beabsichtigte wie unbeabsichtigte Konsequenzen eines Ereignisses gewesen sind. Genau dies fällt aber oft sehr schwer, weswegen sich Historiker eher darum herumdrücken.5 Dass es gerade im Hinblick auf die Reforma-tion schwierig ist, Ursachen und Wirkungen auseinanderzuhalten, ist anhand der Forschungsdebatten darüber, was ‚Reformation‘ be-deutet, bereits deutlich geworden.

Wenn also Historiker drittens die Warum-Frage stellen, dann er-klären sie Ereignisse oft, indem sie Geschichten erzählen  – ohne wichtige und unwichtige Faktoren analytisch klar voneinander zu scheiden.6 Die Narration, das Erzählen tritt an die Stelle der Fakto-renanalyse.7 Eines der Probleme, das Historiker unterschwellig mit

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kontrafaktischen Konstruktionen haben mögen, scheint mir in der theoretischen Unklarheit über Modelle historischen Wandels zu lie-gen, die es eben schwer machen, überzeugende Faktorenanalysen durchzuführen.8

Trotz all dieser Probleme: Die methodischen Unterschiede zwi-schen dem, was Historiker normalerweise tun, und dem, was der kontrafaktische Ansatz vorschlägt, sind lediglich graduell. Nur wenn kontrafaktische Geschichten besonders krass ausgemalt werden, werden sie als „Science Fiction“ von der Geschichtswissenschaft ab-getrennt. Dann ist es so einfach wie legitim, die kontrafaktische Vor-gehensweise als unwissenschaftlich zurückzuweisen. Doch richtig verstanden, hilft das kontrafaktische Fragen, sich genauer Rechen-schaft abzulegen über die historische Erkenntnis. Damit wird es zu einem Instrument, das zu präziserem Fragen anhält – etwa danach, was historischer Wandel ist und wie er entsteht, und welche kurz- und langfristige Faktoren besonders bedeutsam für Veränderungen sind. Dann kann kontrafaktisches Fragen zwar weniger neues Wis-sen etablieren, aber immerhin kritische Fragen zur Schlüssigkeit vertrauter Argumentationsmuster und zur Überprüfung eingespiel-ter Kausalverknüpfungen anregen.

Mir scheint, dass es zwei verschiedene Arten kontrafaktischen Fragens gibt, die unterschiedlich stark etabliert sind. Geht man da-von aus, dass der Kern kontrafaktischer Geschichtserzählungen eine Ursache-Wirkung-Hypothese ist, kann entweder die Ursache oder die Wirkung kontrafaktisch angesetzt werden. Das heißt: Ich kann entweder die Wirkung, das spätere Ereignis also, voraussetzen, und dann – auch mittels kontrafaktischer Unterstellungen – fragen, wel-che Ursachen dafür relevant waren. Frage ich also etwa nach der Entstehung der Reformation, werden eine Reihe von Faktoren in den Blick geraten, und bei jedem einzelnen dieser Faktoren kann ich seine historische Wirkmächtigkeit abschätzen, indem ich kontrafak-tisch frage: Wäre es eigentlich zur Reformation gekommen, wenn es diesen Faktor X nicht gegeben hätte? Das ist ein weit verbreitetes, methodisch kaum fragwürdiges Vorgehen.9

Schwieriger erscheint die kontrafaktische Konstruktion immer dann, wenn nicht Ursachenforschung zu einem Ereignis betrieben wird, sondern man die Perspektive umdreht: Wenn man also ein Er-eignis, zum Beispiel die Reformation, als Ursache setzt und nach Wirkungen fragt bzw. wenn man die Ursache ‚Reformation‘ weg-

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denkt und fragt, ob spätere Prozesse, Phänomene, Ereignisse auch ohne sie zustande gekommen wären. Dies ist vor allem deshalb kom-pliziert, weil hier das Problem der Monokausalität durchschlägt: Be-hauptet man zum Beispiel, dass die Aufklärung ohne die Reformati-on nicht zustande gekommen wäre, nimmt man eine sehr starke Reduktion möglicher Entstehungsfaktoren der Aufklärung vor. Und genau hier liegt das Problem – man gerät dann in die Schwierigkeit, die jede Wirkungsgeschichte eines historischen Ereignisses zu be-denken hat: Zeitlich weit von einem entfernten Ereignis liegende Wirkungen könnten eben auch alle möglichen anderen Ursachen besitzen. Des Weiteren ergibt sich daraus, dass man oft nur einzelne, auf bestimmte Bereiche begrenzte Szenarien ausmalen, diese aber nicht wieder aufeinander beziehen kann: Zu viele Unwägbarkeiten und offene Variablen machen es fast unmöglich, eine in sich stimmi-ge alternative Geschichtserzählung zu konstruieren. Man wird sich also auf punktuelle und vielleicht auch widersprüchliche „Phanta-siebilder“ beschränken müssen.

Beide Wege (die kontrafaktische Frage nach Ursachen wie die nach Wirkungen) sind legitim. Allerdings ist der erste einfacher und wird daher öfter beschritten als der zweite. Ich möchte mich also zu-erst den faktischen und kontrafaktischen Ursachen der Reformation zuwenden, bevor ich mich ihren faktischen und kontrafaktischen Wirkungen widme.

Ohne X keine Reformation: Die Ursachen der Reformation

100 Jahre vor der Reformation gab es schon einmal eine religiöse Re-formbewegung von vergleichbarer Radikalität, die sich ebenfalls mit politischen und sozialen Kräften verbündete – aber trotz einigen Er-folgs letztlich eine regionale Randerscheinung blieb. Ich meine die hussitische Bewegung in Böhmen, die eben nicht zur europaweit durchschlagenden Reformation der Kirche mit unabsehbaren Wir-kungen auf Politik und Gesellschaft geworden ist.10 Nun geht aus theologischer Sicht Luther sicher über das hinaus, was Hus forder-te  – und theologische Lutherforscher werden die Grundlinien der Lutherschen Reformation so zeichnen, dass Luther als der bei wei-tem originellere, systematischere und auch konsequentere Reforma-

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tor erscheint. Dennoch waren die Hussiten sicher diejenigen, die die Reformation am ehesten vorwegnahmen.11 Dass – bei allen Ähnlich-keiten – die hussitische Bewegung anders als die Reformation aber im Wesentlichen auf Böhmen begrenzt blieb, hat nicht nur mit der größeren politischen Unterstützung der lutherischen Anliegen durch die Fürsten zu tun, die der Reformation ein sehr viel stabileres politi-sches Fundament gab. Der Erfolg der Lutherschen Reformation be-ruht auch, im Reich und weit darüber hinaus, zu einem unvergleich-lich großen Maß auf einer technischen Neuerung, die Hus eben noch nicht zur Verfügung stand: dem Buchdruck. Ende 1519 waren etwa 250.000 Exemplare von Lutherschriften auf dem Markt, dane-ben noch eine riesige Vielzahl von Texten anderer Autoren. Die erste Luther-Gesamtausgabe, die Wolfgang Capito 1518 in Basel heraus-gab, wurde auch im europäischen Ausland ein massiver Erfolg.12 Flugschriften, Flugblätter und Bibelübersetzungen erreichten riesi-ge Auflagen. Nun waren die Printmedien nicht die einzige Art und Weise der Verbreitung der Reformation in Deutschland und darüber hinaus.13 Aber Luthers eigene große Bemühungen um den Druck und die Verbreitung seiner Werke,14 die Auflagenzahlen seiner Trak-tate und derer anderer Autoren lassen darauf schließen, dass ohne den Buchdruck die Reformation nicht annähernd den Erfolg gehabt hätte, den sie in ihren ersten Jahrzehnten hatte. Ohne Buchdruck keine Reformation – und daher auch keine internationale und lang-fristige Wirkung des Hussitentums. Die „wahre Vorgeschichte der Reformation“, so kann man mit Johannes Burkhardt formulieren, ist der Buchdruck.15 Er erscheint in lutherischen Deutungen des 17. Jahrhunderts konsequenterweise als „Werck des Heiligen Geistes“ und „Vrsprung vnnd Wegbereitung“ der Reformation.16

Was ich hier mit einem kontrafaktischen Seitenblick durchge-spielt habe, ist in der Reformationsforschung keine methodische Ausnahme, sondern geradezu der Regelfall. Gerade die Reformati-onsforschung arbeitet, ohne dies immer als solches auszuweisen, mit kontrafaktischen Denkfiguren. Oft sind dies allerdings nur noch Schwundstufen kontrafaktischen Denkens, die keine Szenarien aus-malen, sondern eher thesenhaft zuspitzen, dass ohne diese oder jene Ursache die Reformation nicht stattgefunden hätte. Wenn doch fast alle anderen Reichsstädte eine erfolgreiche Reformation erleb-ten und Bob Scribner, bezogen auf den Fall der größten deutschen Reichsstadt, fragte: „Why was there no reformation in Cologne?“ –

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dann ist dies die Keimzelle einer kontrafaktischen Frage.17 Scribner beantwortet die Frage nicht mit einem einzelnen Faktor, legt aber den Akzent vor allem auf die Schwäche des Humanismus an der Kölner Universität und auf die Wirtschaftsbeziehungen, die die Stadt über den Rhein mit den noch katholischen Niederlanden pflegte. Bei Änderung dieser Variablen, so muss man Scribner ver-stehen, hätte sich die Reformation durchaus auch in Köln durchge-setzt. Man kann Scribners Antwort sicher kritisieren18  – sie zeigt aber bereits, dass auch in der Reformationsforschung Warum-Fra-gen nur mit einem, und sei es auch noch so reduzierten, Maß an kontrafaktischer Konstruktion formulier- und beantwortbar sind. Im Gefolge des Kirchenhistorikers Bernd Moeller hat sich immer dann, wenn eine scheinbar unabdingbare Ursache der Reformation dingfest gemacht worden ist, eine Formel eingebürgert: ohne X kei-ne Reformation. Seitdem die „Pulverfasstheorie“, nach der eine Krise der spätmittelalterlichen Kirche oder deren kompletter Verfall mehr oder weniger automatisch zur Reformation habe führen müssen, an Plausibilität verloren hat,19 geht es immer wieder darum, einem be-stimmten Faktor eine unumgängliche Bedeutung für die Reformati-on oder deren Erfolg zuzusprechen. Daraus ergibt sich die Formel: Ohne Humanismus keine Reformation.20 Ohne Städte keine Refor-mation. Aber auch: Ohne Buchdruck keine Reformation.21 Waren Buchdruck und Städte, vor allem Reichsstädte, im ersten Reformati-onsjahrzehnt die treibenden Kräfte, wird man für die Zeit ab 1530 sa-gen müssen: Ohne Fürsten keine Reformation.22 Die Universitäten des Heiligen Römischen Reichs als Katalysatoren sind ebenfalls ins Spiel gebracht worden, genauso wie das Mönchtum als Ausgangs-punkt und geheime Utopie der Reformatoren: Ohne Universitäten und ohne Mönchtum keine Reformation.23 Auch die Bedrohung durch das Osmanische Reich und der dadurch erwachsene Zwang, die Glaubensspaltung nicht zu einem Reichskrieg ausarten zu las-sen, habe das Überleben der Reformation gesichert: Auch ohne Tür-ken also keine Reformation.24 Die Suche nach dem Faktor X ist nicht abgeschlossen, aber der Kirchenhistoriker Heiko Oberman hat mit einiger Ironie gegen seine profanhistorischen Kollegen und ihre Be-geisterung für Kontextualisierungen bereits einen weiteren Kandi-daten ins Spiel gebracht: Ohne Reformatoren, so Oberman, keine Reformation.25 Offenbar hat die gesellschaftliche Kontextualisie-rung, so muss man Obermans Spitze verstehen, die theologischen

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Faktoren an den Rand gedrängt. Grund genug, eben auch die Refor-matoren als zentral für die Reformation auszuweisen.

Man sieht: Der Versuch, die sozialen, politischen und kulturellen Faktoren zu würdigen, die die Reformation ermöglicht oder herbeige-führt haben, führt zu einer gewissen Anhäufung dieser Faktoren, ohne dass deren Verhältnis zueinander ganz klar wäre. Zuweilen hat man den Eindruck, dass die Faktoren dem von Hans Blumenberg kari-kierten Muster des „undenkbar ohne“ folgen:26 Die Reformation war undenkbar ohne Reformatoren, Reich, Städte, Buchdruck, Fürsten, Universitäten, Mönchtum und Türken. Dies ist zutreffend, aber letzt-lich auch unbefriedigend. Bei so vielen Faktoren wird die Faktoren-analyse in der Tendenz identisch mit dem Versuch, den gesamten his-torischen Kontext des 15. und 16. Jahrhunderts zu beschreiben. Damit beraubt sie sich aber der Möglichkeit, das Gewicht einzelner Faktoren einzuschätzen. Außerdem hat die Anhäufung möglicher Gründe für ein in seiner Entstehung rätselhaftes Phänomen zu einer gewissen Überdeterminierung geführt: Inzwischen können für die Reformation ein Dutzend von einander unabhängiger kausaler Faktoren in An-schlag gebracht werden, ohne die diese nicht hat stattfinden können. Die Mehrheit der Reformationshistoriker ist zwar bereit, mit der For-mel ‚Ohne X keine Reformation‘ zu arbeiten, aber kaum jemand möchte mehr eine direkte kausale Ableitung vornehmen. Buchdruck, Städte und Reich werden in der Regel nicht mehr als Ursachen der Re-formation und ihres Erfolges gehandelt, sondern viel bescheidener als „Voraussetzungen“. Wenn die Reformation also einerseits auf sehr vie-len, für eine befriedigende Erklärung fast zu vielen Faktoren aufruht, aber nicht aus dieser Vorgeschichte ableitbar ist: Wie erklärt sie sich dann? Die jüngere Forschung hat in dieser Situation mit Modellen wie „Emergenz“ gearbeitet, also der Vorstellung, dass die Reformation einen Umbruch dargestellt habe, der sich nicht vollständig aus seinen Voraussetzungen ableiten lässt.27 Die geschilderten Faktoren verän-dern damit ihren Status: Sie werden von hinreichenden zu nur not-wendigen Bedingungen, die aber den Systembruch der Reformation letztlich nicht vollständig erklären können.

Ich möchte diese Sicht der Reformation als emergent gar nicht grundsätzlich in Frage stellen. Im Kern scheint sie mir zuzutreffen. Und doch meine ich, dass ein latent kontrafaktischer Blick auf das Hussitentum und die Rolle des Buchdrucks helfen kann, die Ge-wichtung der verschiedenen Faktoren noch einmal zu bedenken.

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Wirkungen der Reformation: Kontrafaktische Überlegungen

Wenn es noch relativ konsensfähig und auch einfach ist, von einer als gesetzt geltenden Wirkung vielfältiger Ursachen eben diese Ursa-chen nach ihrem jeweiligen Gewicht zu befragen, so ist eine andere Frage deutlich spekulativer: die Frage nämlich danach, was sich an-ders entwickelt hätte, wenn eine mögliche Ursache späterer Ent-wicklungen nicht stattgefunden oder keinen Erfolg gehabt hätte. Gleichzeitig ist gerade die Reformation, wie bereits erwähnt, ein im-mer wieder zitierter, offenbar erstklassiger Kandidat für alle mögli-chen Entwicklungen, die die Neuzeit charakterisieren und/oder die Moderne mit herbeigeführt haben. Das deutsche 16. Jahrhundert, aber auch die neuzeitliche Geschichte generell, so wird man ohne große Gefahr behaupten können, wären ohne Luther und die Refor-mation anders verlaufen. Aber in welcher Hinsicht anders? Blickt man auf das 16. Jahrhundert und fragt, ganz in einer Perspektive der großen Männer, nach den epochemachenden Gestalten und deren Wirkungen, so wird man behaupten dürfen: Die drei Portalfiguren der Neuzeit, die um 1500 auftreten, sind Luther, Kolumbus und Ko-pernikus. Der eine steht für die religiöse Reformation mit ihren viel-fältigen gesellschaftlichen Auswirkungen, der zweite für die europä-ische Expansion, der dritte für die grundstürzende Veränderung des Bildes der Welt und des Kosmos. Gesamtgesellschaftlich gesehen wird man dennoch nuancieren müssen: Ohne Kopernikus wäre die Geschichte des 16. Jahrhunderts aufs Ganze gesehen nicht anders verlaufen  – aber die Geschichte der späteren Neuzeit sehr wohl. Ohne Kolumbus wäre die Geschichte des 16. Jahrhunderts anders verlaufen: einerseits ökonomisch, durch Globalisierung, Welthandel und Silberzufuhr, andererseits aber auch, weil das europäische Welt-bild sich mittelfristig dezentrierte. Während aber die ökonomischen Auswirkungen der überseeischen Expansion relativ schnell einset-zen, ist für den Wandel des Weltbilds eher ein langsameres Tempo anzunehmen: zumal in Deutschland, das zwar ökonomisch von den geographischen Entdeckungen betroffen wurde, das aber bekannt-lich relativ wenig Anteil an der direkten Begegnung mit den frem-den Welten hatte.28 Für Luther sieht die unmittelbare Wirkung schon anders aus: Ohne Luther wäre die deutsche Geschichte des 16. Jahr-hunderts nicht nur vermittelt, sondern ganz direkt anders verlaufen. Die Wirkungen der Reformation sind also zu differenzieren: einer-

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seits in relativ unmittelbare Effekte, die das 16. Jahrhundert und die erste Hälfte der Frühen Neuzeit betreffen, andererseits, schon deut-lich schwieriger und verdünnter, in mittelbare Effekte, die auf den Zusammenhang von Reformation und Neuzeit generell zielen.

Versuchen wir also spaßeshalber, uns das 16. Jahrhundert ohne Luther und ohne die Reformation vorzustellen. Wenn die Reformati-on nicht stattgefunden hätte, hätte es möglicherweise eine andere Reformation gegeben. Die alleinige päpstliche Oberhoheit über die Kirche war um 1500 alternativlos. Ein grundsätzlicher Umbau des römischen Zentralismus ist kaum das, worauf eine alternative Refor-mation gezielt hätte.29 Doch angesichts der immer deutlicher artiku-lierten Unzufriedenheit mit den kirchlichen ‚Missständen‘, der Kri-tik am Ablass auch schon vor Luther, dem Eindruck finanzieller Ausbeutung durch das Renaissancepapsttum und seine Bauvorha-ben,30 auch angesichts der breit diskutierten humanistischen Versu-che einer Moralisierung von Kirche und Klerus und einer Verein- fachung der scholastischen Theologie scheint mir eines nicht unwahrscheinlich: dass nämlich auch ohne Luther das Renaissance-papsttum eines Alexander VI. oder Julius II. ein Ende gefunden hät-te. Oberster Hirte wäre vielleicht ein durch Erasmus von Rotterdam geprägter Humanist geworden. In gewisser Weise ist Erasmus’ Leh-rer, Papst Hadrian VI., der 1523 nach nur 16 Monaten im Amt starb, die Blaupause für einen solchen kirchenreformerischen, humanis-tisch gesonnenen Papst gewesen.31 Der Straßburger Reformator und Geschichtsschreiber Kaspar Hedio jedenfalls schrieb Hadrian VI. Pläne zu, die Kirche zu „reformieren“. Er sei allerdings vorschnell ge-storben, weil, wie Hedio sarkastisch bemerkt, „disen Reformatoren der stul zu Rom nit gemöcht erdulden.“32 Ein humanistischer Re-formpapst, der die Spannungen zwischen Rom und den europäi-schen Fürsten auf versöhnliche Weise angegangen wäre, die Ausbil-dung des Klerus verbessert und eine Reform der Frömmigkeit angestoßen hätte: Unvorstellbar erscheint das nicht. Dann hätte es moderate Kirchenreformen gegeben, vielleicht ähnliche wie die, die das tridentinische Konzil später unter dem Druck der Reformation vornahm, aber ohne die schroffe theologische Abgrenzung von der Reformation – die dann auch nicht notwendig gewesen wäre. Und es hätte keine ‚Konfessionsbildung‘ gegeben – also eine in der Ge-schichte des Christentums neuartige ausdrückliche Festlegung und Systematisierung theologischer Glaubensinhalte, und auch keine

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