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  • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1879

    Chronotopos

    bersetzt von Michael Dewey

    vonMichail M. Bachtin, Michael Dewey, Michael C. Frank, Kirsten Mahlke

    Originalausgabe

    Chronotopos Bachtin / Dewey / Frank / et al.

    schnell und portofrei erhltlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

    Thematische Gliederung:

    Literaturtheorie: Poetik und Literatursthetik Literaturtheorie: Poetik und Literatursthetik

    Suhrkamp Frankfurt;Berlin 2008

    Verlag C.H. Beck im Internet:www.beck.de

    ISBN 978 3 518 29479 6

  • Leseprobe

    Bachtin, Michail M.Chronotopos

    Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von MichaelC. Frank und Kirsten Mahlke

    Suhrkamp Verlagsuhrkamp taschenbuch wissenschaft 1879

    978-3-518-29479-6

    Suhrkamp Verlag

  • suhrkamp taschenbuchwissenschaft 1879

  • Als Michail M. Bachtins 1973 beendeter Essay zum Chronotopos erstmals indeutscher bersetzung erschien, stand die Bachtin-Rezeption hierzulandeganz im Zeichen von Karnevalismus, Polyphonie und Dialogizitt. Der Vor-schlag des Autors, die Kategorie des Raums in der Romananalyse strker zugewichten, stie auf vergleichsweise geringes Interesse. Aus heutiger Perspek-tive erweist sich sein Hinweis auf die untrennbare Einheit von Raum undZeit im Roman als frher Beitrag zu einer Theorieentwicklung, die gegen-wrtig als der spatial turn diskutiert wird. Die Wiederauflage des vergriffe-nen Essays Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman mit einemNachwort, das Bachtins Raumzeit theoriegeschichtlich kontextualisiert,mchte Anschlumglichkeiten fr die aktuellen Raumdebatten in den Ge-schichts-, Sozial- und Literaturwissenschaften erffnen.

    Michail M. Bachtin (1895-1975), russischer Altphilologe, ist der Autor zahl-reicher literatur-, sprach- und kulturtheoretischer Schriften.Michael C. Frank lehrt Anglistik an der Universitt Konstanz.Kirsten Mahlke lehrt Romanistik an der Universitt Konstanz.

  • Michail M. BachtinChronotoposAus dem Russischenvon Michael Dewey

    Mit einem Nachwortvon Michael C. Frank und

    Kirsten Mahlke

    Suhrkamp

  • Titel der russischen Originalausgabe:Woprocy literatury i hctetiki. Iccledowani rasnyx let Isdatelctwo Xudoqectwenna literatura, Mockwa 1975

    Der Text der deutschen bersetzung Formen der Zeit unddes Chronotopos im Roman entstammt der Ausgabe:

    Michail M. Bachtin: Untersuchungen zur Poetikund zur Theorie des Romans

    Hg. von Edwald Kowalski und Michael Wegner; a. d. Russ.von Michael Dewey unter Zugrundelegung einer

    deutschen Fassung von Harro Lucht und Rolf Gbner(Epos und Roman); mit Anmerkungen von

    Michael Dewey und einem Essay von Edward Kowalski.Die deutsche Erstausgabe erschien 1986 im Aufbau-Verlag.

    Aufbau ist eine Marke der Aufbau Verlagsgruppe.

    Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1879Erste Auflage 2008

    Lizenzausgabe der Suhrkamp Verlag GmbH & Co. KG Aufbau Verlagsgruppe GmbH & Co. KG, Berlin 1986

    Diese Ausgabe wurde vermittelt von der Aufbau Media GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten, insbesondere

    das des ffentlichen Vortrags sowie der bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

    Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

    ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfltigt oder verbreitet werden.

    Umschlag nach Entwrfen von Willy Fleckhaus und Rolf StaudtSatz: Hmmer GmbH,WaldbttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

    Printed in GermanyISBN 978-3-518-29479-6

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  • Inhalt

    Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman.Untersuchungen zur historischen Poetik . . . . . . . . . . . . . 71. Der griechische Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92. Apuleius und Petronius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363. Die antike Biographie und Autobiographie . . . . . . . . . 564. Das Problem der historischen Inversion und

    des folkloristischen Chronotopos . . . . . . . . . . . . . . 745. Der Ritterroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796. Die Funktionen des Schelms, des Narren und

    des Tlpels im Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877. Der Chronotopos bei Rabelais . . . . . . . . . . . . . . . . 958. Die folkloristischen Grundlagen des Rabelaisschen

    Chronotopos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1399. Der idyllische Chronotopos im Roman . . . . . . . . . . . 160

    10. Schlubemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

    Anmerkungen (Michael Dewey) . . . . . . . . . . . . . . . . . 197Nachwort (Michael C. Frank, Kirsten Mahlke) . . . . . . . . . 201

  • Formen der Zeit und desChronotopos im Roman.

    Untersuchungen zur historischen Poetik

    Die literarische Aneignung der realen historischen Zeit und desrealen historischen Raumes sowie des in ihnen zutage tretenden realen historischen Menschen war ein komplizierter, diskontinuier-lich verlaufender Proze. Angeeignet wurden immer wieder einzelneAspekte von Zeit und Raum, die auf der jeweiligen geschichtlichenEntwicklungsstufe der Menschheit zugnglich waren, und es bilde-ten sich gleichzeitig die entsprechenden genrebezogenen Methodenzur Widerspiegelung und knstlerischen Aufbereitung dieser ange-eigneten Realittsaspekte heraus.

    Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in derLiteratur knstlerisch erfaten Zeit-und-Raum-Beziehungen wollenwir als Chronotopos (Raumzeit mte die wrtliche bersetzunglauten) bezeichnen. Dieser Terminus wird in der mathematischen Na-turwissenschaft verwendet; als man ihn einfhrte und begrndete,sttzte man sich dabei auf die Einsteinsche Relativittstheorie. Derspezielle Sinn, den dieser Terminus innerhalb der Relativittstheorieerhalten hat, ist fr uns hier jedoch nicht von Relevanz; wir bertra-gen ihn auf die Literaturwissenschaft fast (wenn auch nicht ganz) wieeine Metapher. Fr uns ist wichtig, da sich in ihm der untrennbareZusammenhang von Zeit und Raum (die Zeit als vierte Dimensiondes Raumes) ausdrckt. Wir verstehen den Chronotopos als eineForm-Inhalt-Kategorie der Literatur (den Chronotopos in anderenBereichen der Kultur werden wir hier nicht behandeln).*

    Im knstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen rum-liche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkretenGanzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammenund wird auf knstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Inten-sitt, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichtehineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum,und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfllt und dimensioniert.

    * Im Sommer 1925 hatten wir Gelegenheit, einen Vortrag von A. A. Uchtomski1 berden Chronotopos in der Biologie zu hren, in dem auch Fragen der sthetik berhrtwurden.

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  • Diese berschneidung der Reihen und dieses Verschmelzen derMerkmale sind charakteristisch fr den knstlerischen Chronotopos.

    In der Literatur ist der Chronotopos fr dasGenre von grundlegen-der Bedeutung. Man kann geradezu sagen, da das Genre mit seinenVarianten vornehmlich vom Chronotopos determiniert wird, wobeiin der Literatur die Zeit das ausschlaggebende Moment des Chro-notopos ist. Als Form-Inhalt-Kategorie bestimmt der Chronotopos(in betrchtlichemMae) auch das Bild vomMenschen in der Litera-tur; dieses Bild ist in seinem Wesen immer chronotopisch.*Wie wir bereits sagten, war die Aneignung des realen historischen

    Chronotopos in der Literatur ein komplizierter, diskontinuierlich ver-laufender Proze. Angeeignet wurden immer nur bestimmte unterden jeweiligen historischen Bedingungen zugngliche Aspekte desChronotopos, und es bildeten sich lediglich bestimmte Formen derknstlerischenWiderspiegelung des realen Chronotopos heraus. Die-se zunchst produktiven Genreformen haben sich spter zur Tra-dition verfestigt und lebten auch dann beharrlich weiter, als sie be-reits ihre realistisch-produktive und adquate Bedeutung gnzlicheingebt hatten. Hieraus erklrt sich auch, da in der Literatur Ph-nomene, die vllig verschiedenen Zeiten entstammen, koexistieren,was dem literarhistorischen Proze einen auerordentlich komplexenCharakter verleiht.

    Diesen Proze mchten wir in den hier vorgelegten Untersuchun-gen zur historischen Poetik anhand von Material aus der Entwick-lung verschiedener Genrevarianten des europischen Romans vomgriechischen Roman bis zu Rabelais aufzeigen. Da die in diesenPerioden entstandenen Chronotopoi des Romans eine relativ stabileTypologie aufweisen, knnen wir darber hinaus das Augenmerkauch auf einige Romanvarianten spterer Epochen richten.

    Unsere theoretischen Formulierungen und Definitionen erhebenkeinen Anspruch auf Vollstndigkeit und Exaktheit. Erst in jngster* In seiner Transzendentalen sthetik (einem Hauptabschnitt der Kritik der rei-nen Vernunft) hat Immanuel Kant Raum und Zeit als notwendige Formen jeglicherErkenntnis, angefangen bei den elementaren Wahrnehmungen und Vorstellungen,definiert. Wir knnen seiner Einschtzung zur Bedeutung dieser Formen im Erkennt-nisproze zustimmen, begreifen diese Formen jedoch im Unterschied zu Kant nicht als transzendentale, sondern als Formen der realen Wirklichkeit selbst. Wirwollen versuchen darzustellen, welche Rolle diese Formen im Proze der konkretenknstlerischen Erkenntnis (des knstlerischen Sehens) unter Bedingungen, die demRomangenre eignen, spielen.

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  • Zeit hat man bei uns wie auch im Ausland damit begonnen, dieFormen von Zeit und Raum in Kunst und Literatur ernsthaft zu er-forschen. In dem Mae, wie diese Arbeit voranschreitet, werden dieCharakteristika der Romanchronotopoi, die wir hier aufgefhrt haben,ergnzt und mglicherweise auch grundlegend korrigiert werden.

    1. Der griechische Roman

    Schon die Antike hat drei Grundtypen der Einheit des Romans unddemzufolge auch drei entsprechende Verfahren zur knstlerischenAneignung von Zeit und Raum im Roman, kurz: drei Romanchrono-topoi, hervorgebracht. Diese drei Typen haben sich als uerst pro-duktiv und flexibel erwiesen und die Entwicklung des gesamtenAbenteuerromans bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in vielerlei Hin-sicht mitbestimmt. Deshalb mssen wir zunchst die drei der Antikeentstammenden Typen eingehender analysieren, um dann folgerich-tig deren Abwandlungen im europischen Roman auffchern unddas Neue aufdecken zu knnen, das nun bereits auf dem eigentlicheneuropischen Boden entstand.Wir werden uns im folgenden ganz auf das Problem der Zeit (als

    der ausschlaggebenden Komponente im Chronotopos) und auf alldas (und nur das) konzentrieren, was in direkter und unmittelbarerBeziehung zu diesem Problem steht. Historisch-genetische Fragen wer-den wir nahezu gnzlich beiseite lassen.

    Den ersten Typ des antiken Romans (erster ist hier nicht imchronologischen Sinne aufzufassen) wollen wir als abenteuerlichenPrfungsroman bezeichnen. Hierzu zhlen wir vollends den soge-nannten griechischen oder sophistischen Roman, der sich zwi-schen dem 2. und 4. Jahrhundert u. Z. herausgebildet hat.An vollstndig erhaltenen Beispielen, die auch in russischer ber-

    setzung vorliegen, seien hier genannt: die thiopischen Abenteueroder Aithiopika des Heliodor, Leukippe und Kleitophon vonAchilleus Tatios, Chaireas und Kalirrhoe von Chariton, die Ephe-siaka des Xenophon von Ephesos, Daphnis und Chlo von Lon-gos. Einige andere charakteristische Ausprgungen dieses Typs sinduns in Fragmenten oder Nacherzhlungen berliefert.** Darunter die Wunder jenseits Thule von Antonius Diogenes, der Ninos-Romanund der Roman ber die Prinzessin Chione.

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  • In diesen Romanen finden wir einen hochentwickelten und detail-liert ausgebildeten Typus von Abenteuerzeit, der alle spezifischen Be-sonderheiten und Nuancen dieser Zeit aufweist. Die Herausarbei-tung einer solchen Zeit und die Technik ihres Gebrauchs im Romanstehen bereits auf einem so hohen Niveau und sind so umfassend,da die ganze sptere Entwicklung des reinen Abenteuerromans bisin unsere Tage hinein ihnen nichts wesentlich Neues hinzugefgt hat.Deshalb lassen sich die spezifischen Besonderheiten der Abenteuer-zeit am Material dieser Romane besonders gut verdeutlichen.

    Die Sujets aller dieser Romane (wie auch ihrer unmittelbarenNachfolger, der byzantinischen Romane) zeigen eine erstaunlichehnlichkeit und setzen sich im Grunde genommen aus ein und den-selben Elementen (Motiven) zusammen; was in den einzelnen Ro-manen voneinander abweicht, sind die Anzahl dieser Elemente, ihrAnteil am gesamten Sujet, ihre Kombinationen. Es ist nicht schwer,hierfr das zusammenfassende Schema eines typischen Sujets auf-zustellen und dabei auf einige der wichtigeren Abweichungen undVariationen hinzuweisen. Dieses Sujetschema sieht folgendermaenaus:

    Ein Jngling und ein Mdchen im heiratsfhigen Alter. Ihre Her-kunft ist unbekannt, geheimnisumwoben (nicht immer; z.B. fehlt die-ses Moment bei Achilleus Tatios). Sie sind von auergewhnlicherSchnheit. Und sie sind beraus keusch. Es kommt zu einer unerwar-teten Begegnung zwischen ihnen, gewhnlich an einem Festtag. Jh-lings und mit einem Schlage ergreift beide ein leidenschaftliches Ge-fhl freinander unberwindlich, schicksalhaft, wie eine unheilbareKrankheit. Aber es ist ihnen nicht vergnnt, sofort zu heiraten. EineEhe zwischen ihnen stt auf retardierendeHindernisse, die die Aus-fhrung dieses Vorsatzes hinauszgern. Die Liebenden werden ge-trennt, sie suchen einander, f inden sich wieder, verlieren einandererneut und finden sich abermals wieder. In der Regel haben sie fol-gende Prfungen und Abenteuer zu bestehen: Entfhrung der Brautam Vorabend der Hochzeit; fehlendes Einverstndnis der Eltern (fallses sie gibt), die fr die Liebenden einen anderen Brutigam und eineandere Braut vorgesehen haben (die falschen Paare); Flucht der Ver-liebten, ihre Reise, Sturm auf hoher See, Schiffbruch, wundersameRettung, Piratenberfall, Gefangennahme und Kerker, Anschlge aufdie Unschuld des Helden und der Heldin, Bestimmung der Heldinzum Shneopfer, Kriege, Schlachten,Verkauf in die Sklaverei, Schein-

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  • tode,Verkleidungen,Wiedererkennen und Nichtwiedererkennen, ver-meintlicher Verrat, Anfechtungen, die sich gegen Keuschheit undTreue richten, falsche Verbrechensanschuldigungen, Gerichtsverhand-lungen, bei denen Keuschheit und Treue der Liebenden auf die Probegestellt werden. Die Helden finden ihre Verwandten wieder (wenndiese unbekannt waren). Eine groe Rolle spielen Begegnungen mitunerwarteten Freunden oder unerwarteten Feinden, Weissagungenund Prophezeiungen, prophetische Trume, Vorahnungen und derSchlaftrunk. Der Roman endet damit, da sich der Jngling und dasMdchen glcklich zum Ehebund vereinigen. So sieht das Schemader wesentlichen Sujetmomente aus.

    Die hier skizzierte Handlung des Sujets entfaltet sich auf einemsehr breiten und geographisch wechselnden Hintergrund, zumeistin drei bis fnf Lndern, die durch Meere voneinander getrennt sind(Griechenland, Persien, Phnizien, gypten, Babylon, thiopien u. a.).Die Romane enthalten zum Teil sehr detaillierte Beschreibungeneiniger Besonderheiten von Lndern, Stdten, Bauwerken, Kunstwer-ken (z.B. Gemlden), Sitten und Gebruchen, von seltsamen exoti-schen Tieren sowie anderen Wunderdingen und Raritten. Darberhinaus werden (zuweilen recht umfangreiche) Errterungen zu ver-schiedenen religisen, philosophischen, politischen und wissenschaft-lichen Themen (ber das Schicksal, die Vorzeichen, die Macht desEros, die menschlichen Leidenschaften, die Trnen u. dgl.) in denRoman eingefhrt. Einen groen Platz nehmen in diesen Romanendie z.B. der Rechtfertigung dienenden Reden der handelndenPersonen ein, die nach allen Regeln der spten Rhetorik aufgebautsind. Wir knnen also sagen, da der griechische Roman seiner Zu-sammensetzung nach eine gewisse enzyklopdische Allseitigkeit an-strebt, wie sie ja diesem Genre berhaupt eigen ist.Ausnahmslos alle von uns (in ihrer verallgemeinerten Form) ange-

    fhrten Momente des Romans die sujetbezogenen wie auch diebeschreibenden und rhetorischen waren keineswegs neu; sie allegab es bereits gut ausgebildet in anderen Genres der antiken Li-teratur: die Liebesmotive (erste Begegnung, jhe Leidenschaft, Sehn-sucht) in der hellenistischen Liebesdichtung, andere Motive (Sturm,Schiffbruch, Krieg, Entfhrung) im antiken Epos; Motive wie dieWiedererkennung spielten in der Tragdie eine groe Rolle; be-schreibende Motive waren im antiken geographischen Roman undin historiographischen Werken (z.B. bei Herodot) entwickelt, Errte-

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  • rungen und Reden in den rhetorischen Genres. Man kann verschie-dener Meinung darber sein, welche Bedeutung die Liebeselegie,der geographische Roman, die Rhetorik, das Drama und das Genreder Historiographie fr die Entstehung (Genesis) des griechischenRomans hatten, aber ein gewisser Synkretismus der Genremomentelt sich in diesem Roman einfach nicht bersehen. Der griechischeRoman hat fast alle Genres der antiken Literatur in seiner Strukturgenutzt und weitertransportiert.

    Doch alle diese Elemente, die aus verschiedenen Genres bernom-men wurden, sind hier zur neuen spezifischen Einheit des Romansumgeschmolzen und zusammengefgt, deren konstitutives Momentgerade die Abenteuerzeit des Romans ist. In einem gnzlich neuenChronotopos einer fremden Welt, in der die Zeit des Abenteuersherrscht haben die den verschiedenen Genres entstammenden Ele-mente einen neuen Charakter und besondere Funktionen erhalten undsomit aufgehrt, das zu sein, was sie in den anderen Genres waren.Worin liegt nun das Wesen dieser Abenteuerzeit der griechischen

    Romane?Der Ausgangspunkt fr die Sujetentwicklung ist die erste Begeg-

    nung des Helden mit der Heldin und das jhe Auff lammen ihrer ge-genseitigen Liebe, der Schlupunkt ist ihre glckliche Vermhlung.Zwischen diesen beiden Punkten vollzieht sich die gesamte Roman-handlung. Die Punkte selbst Grenzpunkte der Sujetentwicklung stellen die entscheidenden Ereignisse im Leben der Helden dar, frsich genommen haben sie biographische Bedeutung. Doch der Ro-man baut nicht auf ihnen auf, sondern auf dem, was zwischen ihnenliegt (sich vollzieht). Im Grunde genommen aber drfte berhauptnichts zwischen ihnen liegen: Die Liebe zwischen dem Helden undder Heldin ist von Anfang an ber jeden Zweifel erhaben und bleibtden ganzen Roman hindurch absolut unverndert; auch die Keusch-heit der beiden bleibt bewahrt, und die Heirat am Schlu des Ro-mans schliet sich nahtlos an das Auff lammen der Liebe zu Beginndes Romans an, als ob zwischen diesen beiden Momenten gar nichtsgeschehen wre, als ob die Ehe bereits am Tag nach der ersten Begeg-nung geschlossen wrde. Zwei nebeneinanderliegende Momente desbiographischen Lebens, der biographischen Zeit werden direkt mit-einander verknpft. Die Kluft, die Pause, die Spanne, die zwischendiesen beiden unmittelbar aneinander grenzendenMomenten entstehtund in der sich ja gerade der ganze Roman entfaltet, geht in die bio-

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  • graphische Zeitreihe nicht ein, liegt auerhalb der biographischenZeit; sie vermag weder am Leben der Helden etwas zu verndern nochihm etwas hinzuzufgen. Wir haben es hier mit einer auerzeitlichenSpanne zwischen zwei Momenten der biographischen Zeit zu tun.Verhielte es sich anders, wrde z.B. die erste, pltzlich entstandene

    Leidenschaft der Helden im Resultat der bestandenen Abenteuerund Prfungen gefestigt, in der Praxis erprobt, und nhme sie dabeidie neuen Eigenschaften einer dauerhaften und bewhrten Liebe anoder gelangten die Helden selbst zur Reife und lernten einander bes-ser kennen, dann htten wir einen Typ des weitaus spteren undkeineswegs abenteuerlichen europischen Romans vor uns, in kei-nem Falle aber einen griechischen Roman. Blieben hierbei auch dieGrenzpunkte des Sujets dieselben (Leidenschaft zu Beginn, Hoch-zeit am Schlu), so gewnnen doch die Ereignisse als solche, die denEhebund hinauszgern, eine gewisse biographische oder zumindestpsychologische Bedeutung und wren in die reale Lebenszeit der Hel-den der Zeit, die die Helden und die (wesentlichen) Ereignisse ih-res Lebens verndert einbezogen. Gerade dies wird man jedochim griechischen Roman vergeblich suchen. Hier gibt es eine vlligeKluft zwischen zwei Momenten der biographischen Zeit, die im Le-ben der Helden und in ihren Charakteren keinerlei Spur hinterlt.Alle Romanereignisse, die diese Kluft ausfllen, stellen ausschlie-

    lich eine Abschweifung vom normalen Gang des Lebens dar, die derrealen Dauer entbehrt, wie sie Zustze zur normalen Biographie er-fordern wrden.Auch verfgt die Zeit im griechischen Roman ber keine elemen-

    tare biologische, altersbezogene Dauer. Die Helden begegnen sich zuBeginn des Romans im heiratsfhigen Alter und treten an dessenSchlu, der sie uns in demselben Alter, ebenso jung und schn, zeigt,in den Ehestand. Die Zeit, in deren Verlauf sie eine unglaublicheZahl von Abenteuern zu bestehen haben, wird im Roman nicht be-messen und nicht berechnet; dies sind einfach Tage, Nchte, Stun-den und Augenblicke, die technisch nur im Rahmen jedes einzel-nen Abenteuers gemessen werden. Auf das Alter der Helden wirktsich diese, was das Abenteuer betrifft, beraus intensive, aber unbe-stimmte Zeit in keiner Weise aus. Auch sie ist hier eine auerzeitlicheSpanne zwischen zwei biologischen Momenten: dem Erwachen derLeidenschaft und deren Befriedigung.Als Voltaire in seinem Candide den Abenteuerroman griechi-

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  • schen Typs parodierte, der (als sogenannter Barockroman) im 17.und 18. Jahrhundert sehr verbreitet war, versumte er es brigensnicht, die reale Zeit auszurechnen, die fr ein gewhnliches Quan-tum an Abenteuern und Launen des Schicksals in einem Roman er-forderlich ist. Seine Helden (Candide und Cungonde) gehen, nach-dem sie alle Wandlungen des Schicksals berstanden haben, amSchlu des Romans die vorher bestimmte glckliche Ehe ein. Aberach! Es erweist sich, da sie bereits im vorgerckten Alter sind undda die schne Cungonde nun einer alten hlichen Hexe gleicht.Die Befriedigung folgt der Leidenschaft, als sie biologisch schon un-mglich geworden ist.

    Es versteht sich von selbst, da die Abenteuerzeit der griechischenRomane gnzlich des Zykluscharakters von Natur und Alltagslebenentbehrt, der ja eine zeitliche Abfolge und menschliche Zeitmaein sie einbringen und sie mit den immer wiederkehrenden Momen-ten des natrlichen und des menschlichen Lebens verknpfen wrde.Auch liegt es auf der Hand, da von einer historischen Lokalisierungder Abenteuerzeit keine Rede sein kann. In der ganzen Welt des grie-chischen Romans mit all seinen Lndern, Stdten, Gebuden undKunstwerken gibt es nicht den geringsten Hinweis auf eine histori-sche Zeit, fehlt jede Spur der Epoche. Daher erklrt sich auch, dadie Chronologie dieser Romane von der Wissenschaft bis heute nichtgenau ermittelt worden ist und da noch unlngst die Meinungender Forscher ber die Entstehungszeit einzelner Romane um fnf bissechs Jahunderte differierten.Wir knnen also feststellen, da die gesamte Handlung des grie-

    chischen Romans, alle ihn fllenden Ereignisse und Abenteuer we-der in historische noch in alltagsbezogene, noch in biographischeoder elementare biologisch-altersmige Zeitreihen eingehen. Sie lie-gen auerhalb dieser Reihen und auerhalb der diesen Reihen im-manenten Gesetzmigkeiten und menschlichen Kriterien. In dieserZeit verndert sich nichts: Die Welt bleibt so, wie sie war; auch bio-graphisch wandelt sich das Leben der Helden nicht, und ihre Ge-fhle bleiben die gleichen, die Menschen altern in dieser Zeit nichteinmal. Diese leere Zeit hinterlt nirgends die geringsten Spuren;keine Merkmale ihres Verlaufs bleiben erhalten. Wir haben es, wiegesagt, mit einer auerzeitlichen Spanne zu tun, die zwischen zweiMomenten der realen im vorliegenden Falle der biographischen Zeitreihe entsteht.

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  • So stellt sich die Abenteuerzeit dar, wenn man sie als Ganzes ber-blickt. Wie aber ist sie in ihrem Inneren beschaffen?

    Sie setzt sich aus einer Reihe kurzer Abschnitte, die den einzelnenAbenteuern entsprechen, zusammen; innerhalb jedes dieser Aben-teuer ist die Zeit uerlich-technisch organisiert: Es ist wichtig, nochrechtzeitig entf liehen zu knnen, jemanden einzuholen oder ihmzuvorzukommen, in einem bestimmten Moment an einem ganz be-stimmten Ort zu sein oder nicht zu sein, mit jemandem zusammen-zutreffen oder diese Begegnung zu vermeiden usw. Innerhalb des ein-zelnen Abenteuers zhlen Tage, Nchte, Stunden, ja sogar Minutenund Sekunden wie in jedem Kampf und jedem aktiven uerlichenUnterfangen. Diese Zeitabschnitte werden von den spezifischenWrtern pltzlich und gerade eingeleitet und durchschnitten.

    Pltzlich und gerade diese Wrter charakterisieren am bestendiese ganze Abenteuerzeit, die ja allgemein dort beginnt und in ihreRechte tritt, wo der normale und pragmatisch oder kausal begriffeneGang der Ereignisse abreit und der reinen Zuflligkeitmit ihrer spe-zifischen Logik Platz macht. Diese Logik besteht in einer zuflli-gen Kongruenz, d.h. in einer zuflligen Gleichzeitigkeit, und in einerzuflligen Inkongruenz, d.h. in einer zuflligen Ungleichzeitigkeit.Hierbei ist auch das Frher oder Spter dieser zuflligen Gleich-zeitigkeit und Ungleichzeitigkeit von grundlegender und entschei-dender Bedeutung. Geschhe irgend etwas nur eine Minute frheroder spter, d.h., wre eine bestimmte zufllige Gleichzeitigkeit oderUngleichzeitigkeit nicht vorhanden, so ergbe sich auch keinerleiSujet, und der Roman wre gegenstandslos.

    Denn als ich 19 Jahre alt war und mein Vater Vorbereitungen traf,mich im folgenden Jahr zu verheiraten, begann das Schicksal sein Spiel,berichtet Kleitophon (Leukippe und Kleitophon2, I. Buch, Kapi-tel 3).*

    Und dieses Spiel des Schicksals, sein pltzlich und gerade,macht den gesamten Inhalt des Romans aus.

    Unerwartet ist zwischen Thrakern und Byzantiern ein Krieg aus-gebrochen. ber seine Ursachen wird im Roman keinWort verloren,doch infolge dieses Krieges gelangt Leukippe in das Vaterhaus desKleitophon. Als ich sie erblickte, berichtet Kleitophon, war ich so-gleich verloren (I. Buch, Kapitel 4).* Wir zitieren aus Leukippe und Kleitophon nach folgender Ausgabe: Achilleus Ta-tios von Alexandria, Leukippe und Kleitophon. Moskau 1925.

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  • Doch der Vater hat fr Kleitophon bereits eine andere Braut aus-ersehen. Er beschleunigt nun die Hochzeit, legt sie auf den nchstenTag fest und bringt auch schon die einleitenden Opfer dar. Als ichdas hrte, war ich verloren und suchte nach einer List, durch dieich die Hochzeit hinausschieben knnte. Whrend ich berlegte, er-hob sich pltzlich Lrm im Mnnergemach des Hauses (II. Buch,Kapitel 12). Es stellt sich heraus, da ein Adler das vom Vater vor-bereitete Opferf leisch davongetragen hat. Dies ist ein schlechtes Vor-zeichen, und so mu die Hochzeit um einige Tage aufgeschoben wer-den. Gerade in diesen Tagen aber wird zufllig die fr Kleitophonvorgesehene Braut geraubt in der falschen Annahme, es handle sichum Leukippe.

    Kleitophon entschliet sich, in Leukippes Schlafzimmer einzu-dringen. Gerade hatte ich das Schlafzimmer des Mdchens betre-ten, da geschieht etwas derartiges mit seiner Mutter: Es begab sich,da ein Traum sie aufschreckte (II. Buch, Kapitel 23). Die Mutterbegibt sich zur Tochter, bei der sie Kleitophon antrifft, der aber uner-kannt entkommen kann. Schon am nchsten Tage knnte jedoch al-les entdeckt werden, und deshalb mssen Kleitophon und Leukippef liehen. Die ganze Flucht besteht aus einer Kette zuflliger pltz-lich und gerade, die den Helden zustatten kommen. DennMcke,der auf uns aufpate, war zufllig an diesem Tage fortgegangen, umeinen Auftrag seiner Herrin auszufhren . . . Und wir blieben von Un-glck verschont. Denn als wir zum Hafen von Berytos kamen, fan-den wir ein in See gehendes Schiff, das gerade im Begriff war, dieTaue zu lsen (II. Buch, Kapitel 31).

    Auf dem Schiff: Es fgte sich, da neben uns ein junger Mann sei-nen Platz hatte (II. Buch, Kapitel 33). Er wird den beiden ein Freundund spielt in den weiteren Abenteuern eine wichtige Rolle.

    Dann folgen der Tradition entsprechend Sturm und Schiff-bruch. Als wir den dritten Tag auf See waren, ergiet sich aus ganzklarem Himmel pltzlich Finsternis, die das Licht des Tages verdun-kelt (III. Buch, Kapitel 1).

    Bei dem Schiffbruch kommen alle um, die Helden werden jedochdurch einen glcklichen Zufall gerettet. Als nun das Schiff ausein-anderbrach, rettete eine gute Gottheit fr uns einen Teil des Bugs(III. Buch, Kapitel 5). Das Paar wird an die Kste geworfen: Wiraber wurden gegen Abend durch einen glcklichen Zufall bei Pelu-sien angeschwemmt und gingen freudig an Land (ebenda).

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  • Hiernach stellt sich heraus, da auch alle anderen Helden, dieman beim Schiffbruch umgekommen whnte, durch glckliche Zu-flle gerettet waren. Im weiteren sind sie immer gerade zu der Zeitan demOrt, wo die Helden dringend der Hilfe bedrfen. Kleitophon,berzeugt, da Leukippe von den Rubern als Opfer dargebrachtworden ist, beschliet den Selbstmord: Ich hebe das Schwert indie Hhe, um es an der Mordstelle auf mich niederzustoen. Und 3

    ich sehe zwei Menschen gegenber (es war eine Mondnacht) eiligangelaufen kommen . . . Menelaos war es und Satyros. Obwohl dieMnner, die ich erblickte, gegen alle Erwartung noch am Leben undsie meine Freunde waren, so umarmte ich sie doch nicht noch gerietich vor Freude auer mich (III. Buch, Kapitel 17). Die Freunde ver-hindern natrlich den Freitod und berbringen die Nachricht, daLeukippe am Leben ist.

    Gegen Schlu des Romans wird Kleitophon auf Grund falscherAnschuldigungen zum Tode verurteilt und soll vor der Hinrichtungnoch die Folter erdulden. Als ich schon gefesselt und mein Krpervon der Kleidung entblt war, ich an Stricken in der Luft hing, einTeil der Leute Peitschen brachte, andere Feuer und Folterrad, Klei-nias klagte und die Gtter zu Hilfe rief, da sieht man, wie der Arte-mispriester lorbeerumkrnzt naht. Dies ist das Zeichen dafr, daeine Festgesandtschaft fr die Gttin kommt. Wenn das geschieht,mu jeder Strafvollzug so viele Tage lang ausgesetzt werden, wie dieFestgesandten ihr Opfer nicht abgeschlossen haben. So also wurdeich damals von den Fesseln befreit (VII. Buch, Kapitel 12).

    In den wenigen Tagen des Aufschubs klrt sich alles auf, die Dingenehmen eine andere Wendung, wobei es freilich zu einer Reihe wei-terer zuflliger Kongruenzen und Inkongruenzen kommt. Es zeigtsich, da Leukippe lebt; der Roman endet mit glcklichen Eheschlie-ungen.Wie man sieht (und wir haben hier nur einen Bruchteil der zufl-

    ligen Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten angefhrt), ist dieAbenteuerzeit im Roman recht spannungsgeladen: Ob etwas einenTag, eine Stunde, ja sogar eine Minute frher oder spter geschieht,ist hier allenthalben von entscheidender, schicksalhafter Bedeutung.Die Abenteuer selbst fgen sich in einer auerzeitlichen und im Grun-de genommen endlosen Reihe aneinander; denn man kann dieseReihe nach Belieben ausdehnen, sie enthlt keinerlei wesentliche in-nere Beschrnkungen. Die griechischen Romane haben einen rela-

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  • tiv geringen Umfang. Von den analog aufgebauten Romanen des17. Jahrhunderts werden sie darin um das Zehn- bis Fnfzehnfachebertroffen.* Innere Grenzen sind diesem Wachstum nicht gesetzt.Alle Tage, Stunden und Minuten, die im Rahmen jedes einzelnenAbenteuers registriert werden, verbinden sich nicht miteinander zueiner realen Zeitreihe,werden nicht zuTagen und Stunden desmensch-lichen Lebens. Diese Stunden und Tage hinterlassen nirgendwo Spu-ren, so da ihre Zahl beliebig gro sein kann.Alle Momente der unendlichen Abenteuerzeit werden von einer

    Kraft gelenkt: vom Zufall. Setzt sich doch diese ganze Zeit, wie wirgesehen haben, aus zuflligen Gleichzeitigkeiten und zuflligen Un-gleichzeitigkeiten zusammen. Die vom Abenteuer bestimmte Zeitdes Zufalls ist die spezifische Zeit der Einmischung irrationaler Krf-te in das menschliche Leben; es ist die Einmischung des Schicksals(der Tyche), der Gtter, Dmonen, Zauberer; in den spteren Aben-teuerromanen ist es die Einmischung der romanspezifischen Bse-wichte, die als Unholde die zufllige Gleichzeitigkeit und diezufllige Ungleichzeitigkeit als ihr Mittel gebrauchen, die jemandemauf lauern, jemanden abpassen, die sich pltzlich und geradein diesem Moment auf ihre Opfer strzen.

    DieMomente der Abenteuerzeit sind auf die Punkte verteilt, an de-nen ein Ri im normalen Ereignisverlauf, in der normalen, von Ursa-che oder Zweck bestimmten Lebensreihe klafft, an denen diese Reiheabbricht und das Eindringen bermenschlicher Krfte (Schicksal,Gtter, Bsewichte) ermglicht. Eben diese Krfte und nicht die Hel-den sind es, von denen innerhalb der Abenteuerzeit jede Initiative aus-geht. Natrlich agieren innerhalb der Abenteuerzeit die Helden selbst(sie f liehen, verteidigen sich, kmpfen, retten sich), aber sie handelngleichsam als physischeMenschen, die Initiative geht nicht von ihnenaus; sogar die Liebe wird ihnen unerwartet vom allmchtigen Eros ge-schickt. Mit den Menschen geschieht in dieser Zeit immer nur etwas(zuweilen fllt es ihnen zu, sogar Knigreiche zu erobern). Der echteAbenteuermensch ist ein Mensch des Zufalls. Als ein Mensch, mitdem etwas geschehen ist, tritt er in die Abenteuerzeit ein. Die Initia-tive in dieser Zeit liegt jedoch nicht bei den Menschen.

    * So belaufen sich, um nur die bekanntesten dieser Romane zu nennen, dUrfsAstre auf fnf Bnde mit insgesamt mehr als sechstausend Seiten, La CalprendesClopatre auf zwlf Bnde (mehr als fnftausend Seiten) und Lohensteins Gro-mtiger Feldherr Arminius . . . auf zwei Riesenbnde (mehr als dreitausend Seiten).

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  • Es versteht sich von selbst, da die Momente der Abenteuerzeit,alle diese pltzlich und gerade, nicht mittels verstandesmigerAnalyse, Erforschung,weiser Voraussicht, Erfahrung usw. wgbar sind.Statt dessen lassen sich diese Momente durch Weissagungen, Auspi-zien,berlieferungen, Prophezeiungen, Orakelsprche, prophetischeTrume und Vorahnungen in Erfahrung bringen. Mit all dem sinddie griechischen Romane angefllt. Kaum hat das Schicksal seinSpiel mit Kleitophon begonnen, da hat er bereits einen propheti-schen Traum, der ihm seine knftige Begegnung mit Leukippe undihrer beider Abenteuer enthllt. Auch im weiteren Verlauf enthltder Roman eine Flle derartiger Erscheinungen. Das Schicksal unddie Gtter halten bei den Ereignissen die Initiative in ihren Hn-den und geben den Menschen Kunde von ihrem Willen. Die Gott-heit liebt es, den Menschen oft die Zukunft nachts zu sagen, sagtAchilleus Tatios mit dem Munde seines Kleitophon, nicht damitsie sich vor dem Unheil in acht nehmen, denn ber das Verhngtehaben sie keine Macht, sondern damit sie die Leiden leichter tra-gen (I. Buch, Kapitel 3).

    berall,wo in der spteren Entwicklung des europischen Romansdie griechische Abenteuerzeit zutage tritt, geht im Roman die Initia-tive auf den Zufall ber, der die Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitig-keit der Erscheinungen lenkt sei es als eine unpersnliche, im Ro-man nicht genannte Kraft, sei es als das Schicksal oder als die gttlicheVorsehung, sei es als die romanspezifischen Bsewichte und ge-heimnisvollen Wohltter. Finden sich doch die letzteren auch nochin den historischen Romanen von Walter Scott. Zusammen mit demZufall (der verschiedene Masken trgt) gelangen unausweichlichverschiedene Arten von Prophezeiungen, vor allem aber prophetischeTrume und Vorahnungen in den Roman. Und selbstverstndlichmu auch nicht der ganze Roman auf der Abenteuerzeit griechischenTyps aufgebaut sein; es gengt eine kleine Beimengung von Elemen-ten dieser Zeit zu anderen Zeitreihen, um die Erscheinungen zu-tage treten zu lassen, die die Abenteuerzeit unabdingbar begleiten.

    In diese Abenteuerzeit des Zufalls, der Gtter und der Bsewichte,der eine spezifische Logik innewohnt, wurden im 17. Jahrhundert in den ersten europischen historischen Romanen sogar die Schick-sale ganzer Vlker, Reiche und Kulturen einbezogen, z.B. in Made-leine de Scudrys Roman Artamne oder der Groe Cyrus, in Lo-hensteins Roman Gromtiger Feldherr Arminius . . ., in den histo-

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  • rischen Romanen von La Calprende. Es entsteht eine besondere diese Romane durchdringende Geschichtsphilosophie, die dieEntscheidung ber die historischen Schicksale jener auerzeitlichenKluft anheimstellt, die sich zwischen zwei Momenten der realen Zeit-reihe ffnet.

    Einige Momente des historischen Barockromans sind ber dasBindeglied des gotischen Romans auch in den historischen RomanWalter Scotts eingedrungen und bestimmen einige seiner Besonder-heiten: das verborgene Walten geheimnisvoller Wohltter und Bse-wichte, die spezifische Rolle des Zufalls, verschiedenartige Prophe-zeiungen und Vorahnungen. Freilich handelt es sich hierbei umMomente, die im Roman Walter Scotts ganz und gar nicht dominie-ren.

    Es mu jedoch gleich dazugesagt werden, da es hierbei um diespezifische Initiativcharakter tragende Zuflligkeit der griechischenAbenteuerzeit geht, nicht aber um Zuflligkeit schlechthin. Die letz-tere ist eine der Erscheinungsformen der Notwendigkeit und kannals solche in jedem Roman wie auch im Leben selbst vorkommen.In den realeren menschlichen Zeitreihen (wobei der Realittsgradhier differiert) entsprechen den Momenten der griechischen Initia-tivcharakter tragenden Zuflligkeit (allerdings handelt es sich da-bei keineswegs um eine Entsprechung im strengen Sinne) Momentewie menschliche Fehler, Verbrechen (zum Teil schon im Barockro-man), wie das Schwanken und Entscheiden, wie menschliche Ent-schlsse mit Initiativcharakter.

    Um unsere Analyse zur Abenteuerzeit im griechischen Roman ab-zurunden, mssen wir noch auf ein allgemeineres Moment eingehen,nmlich auf die einzelnenMotive, die als konstituierende Elemente indie Sujets der Romane eingehen. Motive wie Begegnung und Tren-nung (Abschied),Verlieren undWiedergewinnen, Suchen und Finden,Wiedererkennen und Nichtwiedererkennen gelangen als konstituie-rende Elemente nicht nur in die Sujets von Romanen, die verschie-denen Epochen angehren und verschieden geartet sind, sondernauch in die Sujets von literarischen Werken anderer (epischer, dra-matischer und sogar lyrischer) Genres. Diese Motive sind ihrer Na-tur nach chronotopisch (wenngleich in den einzelnen Genres auf ver-schiedene Weise). Wir wollen uns hier mit einem dieser Motive, daswohl auch das wichtigste sein drfte, nher befassen: mit demMotivder Begegnung.

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