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Chronos & Kairos Inhaltsorganisation und Zeitkultur im Internet Vortrag von Katy Teubener anlässlich der 7. Tagung der deutschen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Wissensorganisation (ISKO) zum Thema "Wissensorganisation und Edutainment" vom 21. bis 23. März 2001 in der Humboldt- Universität, Berlin.

Chronos & Kairos Inhaltsorganisation und Zeitkultur im Internet Vortrag von Katy Teubener anlässlich der 7. Tagung der deutschen Sektion der Internationalen

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Chronos & KairosInhaltsorganisation und Zeitkultur im Internet

Vortrag von Katy Teubener anlässlich der 7. Tagung der deutschen Sektion der

Internationalen Gesellschaft für Wissensorganisation (ISKO) zum Thema

"Wissensorganisation und Edutainment" vom 21. bis 23. März 2001 in der Humboldt-

Universität, Berlin.

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»They came, they surfed, they went back to the beach«

Laut einer Studie des Marktforschers »Cyber Dialogue« gab es im September 1999 bereits 27,7 Millionen Amerikaner, die sich vom Internet verabschiedet haben. Im Frühjahr 1997 betrug deren Zahl erst 9,4 Millionen. Nur ein Drittel dieser sogenannten dropouts kann sich vorstellen, in absehbarer Zeit wieder online zu gehen, ganz zu schweigen von den 108 Millionen erwachsenen US-Bürgern, die erst gar nicht in die Netzgemeinde aufgenommen werden wollen.[1]

Wissenschaftler der Brunel University haben herausgefunden, dass vor allem Teenager das anfangs enthusiastisch gefeierte Medium mittlerweile eher langweilig finden und sich - zumindest in Großbritannien und den Staaten - schon wieder nach neuen Experimentierfeldern umschauen. Doch auch finanzielle Gründe spielen nach Angaben der britischen Forscher eine nicht unwesentliche Rolle. Die ersten Kontakte mit dem Netz erfolgen zumeist in Schulen, Universitäten oder am Arbeitsplatz. Fällt der kostenlose Zugang weg, können sich viele, insbesondere junge Online-Nutzer, das Internet nicht mehr leisten.

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Den vielleicht wichtigsten Ausstiegsgrund sehen die Experten jedoch in der ›Benutzerunfreundlichkeit‹ des Netzes. Von den knapp 28 Millionen US-Amerikanern, die 1999 dem Internet abgeschworen haben, sollen viele von dem dort herrschenden Chaos genervt gewesen sein. Und in der Tat: Das Internet ist in den letzten Jahren erheblich komplizierter geworden. Was als geordnetes Hilfsmittel der akademischen Elite begann, hat sich in der Zwischenzeit zu einem hochgradig kommerziellen, schwer zu durchschauenden Gebilde entwickelt.[2]

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© Cyber Dialogue

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1997 1999

Internet-Aussteiger in Mio. (USA)

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»Information Superhighway« - Sinnbild des digitalen Turbokapitalismus

Der immer lauter werdende Ruf nach Navigationshilfen, etwa in Form von Agenten, gibt Anlass zu der Behauptung, dass das riesige Informationsangebot im Internet lediglich ein Scheinangebot ist. Nur wenige, besonders engagierte Computeranwender verstehen es, mit den täglich wachsenden Daten- und Wissensbeständen umzugehen, dass heißt sie für sich persönlich nutzbar zu machen. Ein wesentlicher Grund für dieses Problem ist darin zu sehen, dass das Internet, gerade um es auch Laien verständlich zu machen, in der Vergangenheit mit Metaphern belegt worden ist, die ihm überaus geschadet haben. Die unseligste und leider populärste unter allen ist die des »Information Superhighway«.

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»The Road ahead«

© unbekannt

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Mit der Datenautobahn-Metapher hat sich die Vorstellung vom Internet als Service-Paradies durchgesetzt, in dem angeblich alles, jederzeit und völlig mühelos zu haben ist. Jeder, der seine praktischen Erfahrungen mit dem Netz gemacht hat, weiß, dass das so nicht stimmt. Denn im Unterschied zum Fernsehzuschauer, der, wie der Philosoph Günther Anders sagt, die Welt ins Haus geliefert bekommt, muss der Computeranwender sich immer selber auf den Weg machen und versuchen, das unbekannte Land namens Cyberspace zu kartographieren und für sich zu erobern, das heißt er muss im wahrsten Sinne des Wortes seine eigenen Er›fahrungen‹ machen. Sicher: Entdeckungsreisen in der Virtualität verlaufen nicht auf staubigen Straßen, sie sind aber genauso abenteuerlich und nicht selten auch genauso mühsam.

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»Let the window be art, be mystic state« (Stéphane Mallarmé)

Eine Metapher, die wesentlich mehr zum Verständnis des Internet und besonders der damit verbundenen Hoffnungen, Ängste und Bedürfnisse beiträgt, ist die Fenster-Metapher. Es ist mehr als erstaunlich, dass diesem historisch so bedeutsamen Motiv in der Internetdiskussion kaum Beachtung geschenkt wird. Dabei hat erst die Einführung der ›Windows‹-Benutzeroberfläche den Computer zu einem Massenmedium werden lassen. Dass die Bedeutung des Fenstermotivs durchaus erkannt, wenn auch nur unzureichend öffentlich diskutiert wird, zeigt das kreative Spiel vieler Webdesigner mit diesem Motiv. Beispielhaft erwähnt sei die Homepage zur Faust-Inszenierung von Peter Stein, die auch deswegen bemerkenswert ist, weil sie nicht nur ein kulturelles Ereignis dokumentiert, sondern selber eines ist.[3] Es gibt nur wenige Seiten im Netz, die Kultur und Technik beziehungsweise Inhalt und Form so durchdacht miteinander verbinden.

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Wie sehr das Fenstermotiv zum Verständnis des Internet beitragen kann, zeigt jedoch besonders deutlich die Kunstgeschichte, die dieses Motiv seit weit über 3000 Jahren kennt. Eine hervorragende Beschreibung des Internetanwenders im Unterschied zum Fernsehzuschauer liefert beispielsweise der niederländische Maler Jan Vermeer mit seinen Bildern »Briefleserin in Blau« und »Der Geograph«. Da ist zum einen die junge, duldsam wirkende Frau, die lediglich über Briefe und die Landkarte an der Wand mit der Welt verbunden, ansonsten jedoch in der Abgeschiedenheit ihres Hauses gefangen ist - das Fenster, dem sie sich zuwendet, ist nur aufgrund der Lichtverhältnisse zu erahnen -, und da ist zum anderen der von Schaffenskraft erfüllte Gelehrte, der nur bei oberflächiger Betrachtung das Schicksal der Frau teilt. Im Unterschied zur »Briefleserin«, die - wie der TV-Zuschauer - lediglich mit Welt ›beliefert‹ wird und deshalb uner- ›fahren‹ bleibt, geht der Geograph - sprich Internet-Anwender - mit Hilfe seiner Vorstellungskraft in die Welt hinaus und macht sich im wahrsten Sinne des Wortes ein eigenes Bild von ihr. Stichwort: »Net Mapping«.

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TV-Zuschauerin Internet-Nutzer

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»Web Travelers Follow Beaten Paths to Similar Sites«

Bedauerlicherweise geraten viele Online-Nutzer bereits auf dem Weg ins Internet in die Hände von Netzanbietern, deren Ziel es ist, sie an den Toren zur Datenwelt - den Portalen - abzufangen, um sie von dort aus in festgeschriebene Denkbahnen und Handlungsroutinen zu lenken. Nicht selten mit Erfolg. Anstatt ins offene Datenmeer hinauszufahren, begeben sich viele Internetsurfer auf den Weg in die sicheren, da überwachten Info-Pools der Online-Dienste, wo sie garantiert auf zielgruppenspezifisch gebündelte Inhalte stoßen, niemals jedoch wirkliche Entdeckungen machen. Computeranwender, die das Internet mit Hilfe von professionellen Providern durchqueren, ähneln in gewisser Weise Pauschaltouristen. Auch diese vertrauen sich Dienstleistungsunter-nehmen an, die sie möglichst schnell und ohne Anstrengungen an ihren Zielort bringen sollen. Und so wie der Neckermann-Kunde von seinem Reiseland in der Regel nicht viel mehr kennenlernt als das gebuchte Hotel und den dazugehörigen Strand, so vermag auch der AOL-Kunde sein Ziel in keinen Zusammenhang zu stellen. Die angebotenen Informationen erscheinen ihm lediglich als isolierte Fakten. Computeranwender, die ihren Besuchsort dagegen in Eigenregie erkunden, lernen auch dessen Umgebung kennen.

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Die Angst vor Orientierungs- und Zeitverlust hat zu einer überaus betrüblichen Entwicklung geführt: »Webreisende folgen den ausgetretenen Pfaden zu ähnlichen Orten« titelte 1999 die »L.A. Times«. Sie hatte eine Studie in Auftrag gegeben, die zu dem Ergebnis kam, dass sich im Netz dieselben Konzentrationsprozesse vollziehen, wie überall sonst auch. So haben im Juni 1999 bereits 39,4 Prozent aller Webreisenden ihre Online-Zeit bei den Top 100 Websites verbracht. Bei den Top 50 Websites waren es 35 Prozent, bei den Top 10 Websites 19,2 Prozent. Der Marktforscher Reston glaubt, dass die 10 größten Websites sogar 32 Prozent der Aufmerksamkeit der Surfer auf sich ziehen. Das Web hat sich allem Anschein nach von einem zentrumslosen Boomtown zu einer hierarchisch strukturierten Metropole entwickelt. Und wie in jeder Metropole so ist auch im Web das Zentrum den finanzkräftigen Unternehmen vorbehalten.[4]

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Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch eine Erhebung der Firmen IBM, Compaq und Altavista. Demnach ist die weitverbreitete Vorstellung, im Netz sei alles mit allem verbunden, fern jeder Realität.[5] Die Untersuchung von mehr als 200 Millionen Internetseiten und 1,5 Milliarden Hyperlinks hat ergeben, dass das World Wide Web vielmehr die Form einer Fliege (in der Bedeutung einer Querschleife am Kragen) hat, das heißt in vier Regionen zerfällt, die nur eingeschränkt miteinander verknüpft sind. Der von den Forschern als »Knoten« der Fliege bezeichnete »Strongly Connected Core« des Internet wird von rund 30 Prozent aller Websites gebildet. Innerhalb dieses Kerns bestehend aus populären Portalen kann der Surfer problemlos hin- und herklicken. Mit dem Knoten der Fliege verbunden sind zwei »Schleifen«, deren Anteil jeweils 24 Prozent beträgt. Es handelt sich dabei zum einen um »Anfangsseiten«, von denen der Surfer zwar zum Knoten gelangen kann, aber nicht umgekehrt - als Beispiel seien private Homepages mit Linklisten genannt -, und zum anderen um »Endseiten«, die wiederum nur vom Knoten aus zu erreichen sind; hier befinden sich wichtige Informationen, darunter Forschungsberichte von Universitäten, aber keine Verweise auf das Zentrum. Der vierte Bereich des Internet, rund 22 Prozent, besteht aus Seiten, die überhaupt nicht mit dem Knoten verbunden sind und darauf warten, von ›Internet-Flaneuren‹

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Einbahnstraßenverkehr

© AltaVista, IBM, Compaq

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Visionen für eine neue Zeitkultur

Im Unterschied zu Kindern und Jugendlichen, die den Computer weitaus eher als Erlebnisraum begreifen und entsprechend viel Zeit darauf verwenden ihn zu erkunden, unterwerfen die meisten Erwachsenen vor allem das Internet genau jenem Leistungsprinzip, das sie tagtäglich in der Arbeitswelt erfahren und nicht selten erleiden. Demnach bemisst sich der Wert eines Computers an der Möglichkeit, Zeit und - damit verbunden - Geld zu sparen.

Nun sind Zeitsparen und Beschleunigung zweifelsohne wichtige Produktivkräfte - doch sind wir an einem Punkt angelangt, an dem die Beschleunigung an ihre Grenzen stößt, das Tempo nicht mehr zu überbieten ist. Und es stellt sich die Frage, welche Zeiten sich - abgesehen von der Beschleunigung - noch produktiv machen lassen.

Die Philosophie des alten Griechenlands sah zwei Wege zu einem erfüllten Leben und einer vollkommenen Gesellschaft: Zum einen über die quantitative Zeit der Bewegung, den Chronos, und zum anderen über die qualitative, die rechte Zeit, den Kairos.

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Kairos vs. Chronos

© Darren Almond

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Mit zunehmender Technisierung seit Ende des letzten Weltkrieges ist die Rede vom Kairos fast völlig verstummt. Nur selten noch Hoch-Zeiten, die auch Aus-Zeiten sind. Stattdessen ungehemmter Zeitverbrauch, Konsum, Hektik. Weil die Geschichte der Industrialisierung auf dem linearen Zeitmodell basiert, galt dem amerikanischen Techniksoziologen Lewis Mumford auch nicht die Dampfmaschine, sondern die Uhr als das wichtigste Instrument der industriellen Moderne. Das kommende Zeitalter der Telematik lässt sich jedoch immer weniger mit dem alten, linearen Zeitmodell beschreiben; mit Etablierung der neuen Computertechnologien beginnt sich vielmehr ein nichtlineares Zeitverständnis durchzusetzen, das jenseits des überholten Gegensatzes von Arbeitszeit und Freizeit neue Freiräume zum kreativen Erleben erschließt.

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Lob der Langsamkeit

© Nam June Paik

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Wildes Denken

Das Internet hat - soweit sich dies aus heutiger Sicht beurteilen lässt - nichts wirklich Revolutionäres hervorgebracht. Was ihm jedoch - wenn auch nicht bei allen Anwendern - gelungen zu sein scheint, ist nicht minder bemerkenswert: Es hat Fertigkeiten an die (Benutzer-)Oberfläche zurückgeholt, die vor allem im Bildungsbereich lange Zeit verschüttet waren. Neben der vermeintlich banalen Fähigkeit, sich eigenständig Ziele setzen und diese notfalls auch auf unkonventionellem Wege zu realisieren, ist dies vor allem das Vermögen zu nicht-linearem, assoziativem Denken. Das auf den ersten Blick so chaotisch wirkende Surfen ist nämlich bei genauer Betrachtung ein völlig natürlicher Vorgang. Bereits Oskar Negt und Alexander Kluge schrieben in ihrem 1981 veröffentlichten Buch »Geschichte und Eigensinn« - übrigens auch eine Art multimedialer Hypertext: »Im Innern der Menschen führen die Verarbeitungswege von inneren und äußeren Eindrücken praktisch niemals direkt von A nach B. Sie folgen variablen Bahnen des Assoziationsstroms, nach Art der Entstehung von Trampelpfaden«.[6]

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Kreuz- und Querverbindungen

© Yarbus, Eyemovements and Vision

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Das Gehirn als Benutzeroberfläche

Als es Wissenschaftlern des Max Planck Instituts zum ersten Mal gelang auf einem Silizium-Chip planvoll Verbindungen zwischen einzelnen Nervenzellen zu züchten, schien dies der Anfang einer neuen Ära.[7] Doch was auch heute noch wie pure Science Fiction klingt - der Versuch einer Vereinigung von Mensch und Maschine - ist in gewisser Hinsicht schon längst Realität. Denn bei genauer Betrachtung ist jeder erfahrene Internetsurfer ein - und das im besten Sinne des Wortes - ›Cyborg‹: Er bedient sich des Computers als eines gigantischen Wissensspeichers mit phantastisch schnellen Zugriffsmöglichkeiten und vereint ihn mit seiner Fähigkeit Informationen miteinander verknüpfen und in einen komplexen Sinnzusammenhang stellen zu können.

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Vereinigung zweier Denkformen

© Max-Planck-Institut

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Computergestütztes Denken

Es gibt mittlerweile eine Reihe von Softwarelösungen, die ganz gezielt mit dem Potential des Menschen auf der einen und dem des Computers auf der anderen Seite spielen. Besonders erwähnt sei die kalifornische Computerfirma »TheBrain Technologies«, die in Kritik an der Desktop-Metapher, das heißt der Vorstellung vom Internet als einem Schreibtisch mit Ordnern und Unterordnern 1998 ein Produkt mit dem Namen »The Brain« auf den Markt brachte.[8] »Jahrelang waren Personalcomputer für mich die natürlichste Sache der Welt«, erzählt Harlan Hugh, Mitbegründer von »TheBrain Technologies« und Erfinder von »TheBrain«, »doch dann wurde mir klar, dass sie alles andere als natürlich sind: Die Rechner zwingen Nutzern eine hierarchische Denkweise auf. Dabei sollte sich doch die Maschine an den Menschen anpassen. Und unser Gehirn funktioniert eher assoziativ«.[9] Ergebnis dieser Überlegungen ist ein Software-Programm, das Informationen unterschiedlichster Art, wie zum Beispiel Texte, Tabellen oder auch Internet-Adressen, nicht mehr mit Hilfe von elektronischen Ordnern verwaltet, sondern in ein Assoziationsgeflecht stellt und damit das Gehirn des Users abbildet.

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© TheBrain Technologies

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Erwähnt sei darüber hinaus die Methode des »Mind Mapping«, die in den 70er Jahren konzipiert wurde. Das ›Kartographieren von Gedanken‹, für das es inzwischen ebenfalls Computerprogramme gibt [10], ist eine Arbeits- und Kreativtechnik, die dem Brainstorming verwandt ist. Vereinfacht gesehen handelt es sich dabei um eine gehirngerechte Notiztechnik. Das heißt, sie trainiert sowohl die linke Hirnhemissphäre, die bei den meisten Menschen für Sprache, Analyse, Logik und Zahlen zuständig ist, als auch die in der westlichen Kultur stark vernachlässigte rechte Hirnhemisphäre. Diese Hälfte des Gehirns arbeitet assoziativ, multi-sensoriell vernetzt und multidimensional. Und sie nimmt - das haben Versuche der Gehirnforschung bewiesen - gewöhnlich weniger verflossene Zeit an, als die linke Gehirnhälfte. Ein Training des rechten Gehirns könnte also zu einem ›Zeitgewinn‹ führen. Beide Hemisphären sind durch das sogenannte Corpus callosum (Balken), einen dicken Nervenfaserstrang, miteinander verbunden.

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»Der Weg in die Zukunft führt durch den Balken« (Carl Sagan, 1978)

Linke Hirnhemissphäre

LogikAbstraktion

AnalyseRationalität

LinearitätDigitales DenkenZeit-Orientierung

MathematikKurzfristigkeit

DetailsVerbale Kommunikation

MonotonieGedächtnis für Wörter und Sprache

Planung

Rechte Hirnhemissphäre

EmotionenKonkretisierungSyntheseIntuitionVernetzungAnaloges DenkenRaum-OrientierungMusik, Rhythmus, TanzDauerGanzheitlichkeitVisuelles Denken, KörperspracheVielfalt an Farben, Formen, MusterGedächtnis für Personen, ErlebnisseImprovisation

Corpus Callosum

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Renaissance alter Erzählformen

Mit der Wiederentdeckung des rechten Gehirns, das heißt des delinearen, assoziativen Denkens, sind auch alte Erzählformen wiederentdeckt worden. Besonders erwähnt sei das audio-visuelle Internetprojekt »Memory Palace«, das sich mit Vernacular-Kultur - gemeint sind kulturelle Aktivitäten außerhalb des Marktes - im digitalen Zeitalter beschäftigt. Das bemerkenswerte an dieser Website, die von dem kanadischen Filmemacher Clarke Mackey produziert wurde, ist weniger ihr Inhalt als die damit einhergehende Form. »Memory Palace« überträgt die Strukturprinzipien des Dokumentarfilms auf eine Präsentation im Internet. »You will see many of the familiar modes of documentary discource here: the development of an argument using audio-visual evidence, interviews with witnesses and commentators, images that illustrate or contradict the audio, voice over.« Weil das Internet gleichwohl ein Medium darstellt, das sich im Unterschied zum Film vor allem durch Delinearität auszeichnet, präsentiert Mackey seinen ›Gedächtnispalast‹ in Form eines virtuellen Museums, dessen Räume auf unterschiedlichste Art und Weise entdeckt werden können. Entgegen den Anweisungen soll der Besucher sich auch keinesfalls vor illegalen Wandkritzeleien oder verbotenen Türen fürchten, denn: »the most interesting culture always takes place at the margins«.

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© Clarke Mackey, Queens University

Interface Culture

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Mit zunehmender Popularität des Internet und seiner Erzählweisen wird es Zeit, sich der französischen Wissenschaftler Deleuze/Guattari zu erinnern, die im Protest gegen das Denken in Kausalketten das Wort »Rhizom« propagiert haben. In ihrem 1980 veröffentlichten Buch »Tausend Plateaus« schreiben sie: »Anders als zentrierte (auch polyzentrische) Systeme mit hierarchischer Kommunikation und feststehenden Beziehungen, ist das Rhizom ein azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General. Es hat kein organisierendes Gedächtnis und keinen zentralen Automaten und wird einzig und allein durch eine Zirkulation von Zuständen definiert«.[12] Deleuze/Guattari dachten dabei an ein im Werden befindliches »Zwiebel- und Knollengewächs«, dessen Wurzeln fortwährend beliebige Linien, Mannigfaltigkeiten und Plateaus miteinander verbinden. Und siehe da - das »Internet Mapping Project« der Amerikaner Bill Cheswick und Hal Burch zeigt, dass Online-Kommunikation genau in der von Deleuze/Guattari beschriebenen Form verläuft.[13]

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Datenverkehr

© Bill Cheswick / Hal Burch

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Alexander Kluge hat in Ablehnung einer - wie er es nennt - »Verwaltung im Denken« eine dem Rhizom ähnliche Metaphorik verwandt. Er schreibt: »Ich bin der Meinung, dass die wirkliche Qualität eines Autors in der Aufmerksamkeit liegt, durch die er aus der Vielfalt gesellschaftlicher Phänomene ein Bild herauswählt, das dann wie ein Kristallgitter funktioniert. Um dieses Kristallgitter, die ursprüngliche idée fixe, kristallisiert sich jetzt ein ganzer Zusammenhang.« Und auch diesem Bild verhilft das Internet zu einem Comeback. Als Beispiel sei das Projekt »Star Walker« von Chaomei Chen genannt. Es handelt sich dabei um eine räumliche Benutzeroberfläche, die helfen soll, komplexe Sammlungen elektronischer Dokumente zu sichten.[14]

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Contentmanagement

© Chaomei Chen

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»Auf ausgetretenen Pfaden kommt man nur dort an, wo andere schon gewesen sind.« (RWE)

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»Je mehr wir uns kritisch mit traditionellen Denkansätzen auseinandersetzen, desto mehr Durchbrüche erzielen wir.«

(United Technologies)

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© www.cassiopeia.com

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Die Vorstellung vom Internet als Experimentierfeld für Andersdenkende hat der Computerhersteller Apple mit seinem »Think Different«-Werbespot von 1998 hervorragend in Szene gesetzt. Gezeigt werden Querdenker und Visionäre, die die Welt im 20. Jahrhundert nachhaltig verändert und mitgestaltet haben. Zu den ausgewählten Persönlichkeiten gehören unter anderem Albert Einstein und Mahatma Ghandi - Menschen, die den Mut hatten, neue Wege einzuschlagen. Ihnen gilt Apples Hoch auf die Ver›rückten‹.

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Here's to the crazy ones... the misfits...the rebels...

the troublemakers... the round pegs in the square holes... the ones who see things differently.

They're not fond of rules and they have no respect for the status quo.You can quote them, disagree with them, glorify or villify them.

About the only thing that you can't do is ignore them... because they change things, they push the human race forward. And while some may see them as the crazy ones, we see genius.

Because the people who are crazy enough to think they can change the world... are the ones who do.

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[01] vgl. Cyber Dialogue (1999), U.S. Internet Audience Growth Slowing, in: http://www.cyberdialogue.com/news/releases/1999/11-29-ic-slowdown.html sowie Louis Trager (2000), I Hate the Net, in: http://www.zdnet.com/intweek/stories/news/0,4164,2574598,00.html

[02] vgl. o.V. (2000), 30 Millionen Netz-Aussteiger, in: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/nf/0,1518,106592,00.html

[03] s. Peter Stein (2000), Faust I + II, in: http://www.faust-stein.de/

[04] vgl. Florian Rötzer (1999), Das Web wird zum Massenmedium, in: http://www.heise.de/tp/deutsch/special/auf/5227/1.html

[05] s. Andrei Broder u.a. (2000), Graph structure in the web, in: http://www.almaden.ibm.com/cs/k53/www9.final/#[06] Negt, Oskar/ Alexander Kluge (1981), Geschichte und Eigensinn, Frankfurt

[07] s. Peter Fromherz (2001), Interfacing von Nervenzellen und Halbleiterchips. Auf dem Weg zu Hirnchips und Neurocomputern?, in: http://www.biochem.mpg.de/mnphys/projects/abstracts/00fro/abstract.html

[08] TheBrain Technologies (2001), Products, in: http://www.thebrain.com

[09] zit. nach Ludwig Siegele (1998), Das Gehirn als Oberfläche, in: Die Zeit vom 29.04.1998

[10] s. Creativity Web (2000), Mind Mapping, in: http://www.ozemail.com.au/~caveman/Creative/Mindmap/index.html

[11] s. Mackey, Clarke (2001), Memory Palace: Vernacular Culture in the Digital Age, in: http://sunsite.queensu.ca/memorypalace/welcome.html

[12] Deleuze, Gilles/Félix Guattari (1992), Kapitalismus und Schizophrenie, Bd. 2, Tausend Plateaus, Berlin

[13] s. Bill Cheswick/Hal Burch (2001), Internet Mapping Project, in: http://www.cs.bell-labs.com/who/ches/map/index.html

[14] s. Chaomei Chen (1997), Star Walker. Spatial Hypermedia for Social Construction of Knowledge, in: http://www.brunel.ac.uk/~cssrccc2/