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Kopf auf einem Relieftondo des Stupa-Zaunes. Bharhut. 2. Jahrhundert v. Chr. Großaufnahme eines Tschaturangaspielers? Zur Entwicklungsgeschichte des Schachspiels Sonderausgabe anläßlich der Schacholympiade 2008 in Dresden Clubzeitschrift des SC Weisse Dame e.V.

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Kopf auf einem Relieftondo des Stupa-Zaunes. Bharhut. 2. Jahrhundert v. Chr.Großaufnahme eines Tschaturangaspielers?

Zur Entwicklungsgeschichte des Schachspiels

Sonderausgabe anläßlich der Schacholympiade 2008 in Dresden

Clubzeitschrift des SC Weisse Dame e.V.

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Verehrte Leserin, verehrter Leser,

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der Schachclub WEISSE DAME freut sichsehr, dass der hochgeschätzte Gerd Borrisals Autor mit neuen Beiträgen, zu denen einEssay, eine Streitschrift sowie zwei Nach-träge gehören, in unsere Vereinszeitschriftzurückgekehrt ist. Wir alle erinnern uns nur zu gern an seine kurzweiligen, dabei stets liebenswerten Betrachtungen mehroder minder alltäglicher Begebenheiten imLeben eines Schachenthusiasten in derSerie »Schach-Allerlei« *.

Nunmehr wendet sich der Autor einem fun-damentalen – geradezu epochalen – Themazu. Es geht um nichts weniger als dieEntstehungsgeschichte des Schachspiels,dessen Irrungen und Wirrungen auf origi-nelle Art und Weise bis in die fernöstlichenUrsprünge zurückverfolgt werden.

Normalerweise könnte an dieser Stelle dasVorwort mit dem Wunsch enden, der kultu-rell interessierte Schachliebhaber – undbesonders dieser wird sich mit dem vorlie-genden Werk intensiver befassen – mögebei der Lektüre Freude und Inspiration inHülle und Fülle empfangen. Wäre da nichtin einem der Nachträge ein Querverweis,der einen gesonderten Hinweis gebotenerscheinen lässt. Konkret geht es um die

Abbildung eines Hakenkreuzes. Genauergesagt – um die bildliche Darstellung desdem Hakenkreuz zugrunde liegenden SWASTIKA-Symbols, das in vielen Kultur-räumen über Jahrtausende mit einergrundsätzlich positiven Bedeutung weitverbreitet war und zum Teil noch ist. Dasses im Land der Dichter und Denker möglichwar, diese langjährige Tradition in einerdazu vergleichsweise kurzen Zeitspanne zupervertieren, gehört zu den schwächstenStunden deutscher (Kultur-)Geschichte.Sowohl der Autor als auch der Chef-redakteur und die Herausgeber unsererVereinszeitschrift sind sich der Möglichkeiteiner missbräuchlichen Deutung dieserAbbildung bewusst – und treten ihr andieser Stelle ebenso klar entgegen. Dasgeneigte Lesepublikum wird die vom Autorbeabsichtigte, lediglich historisch erläu-ternde Bedeutung der Abbildung aus demKontext heraus zweifelsfrei erkennen.

Gönnen Sie sich nun das notwendige Maßan Zeit und Muße, um dem Thema und derSchaffenskraft des Autors gerecht zu wer-den, und beginnen Sie mit der Lektüre.

Christian GreiserSC WEISSE DAME, 2. Vorsitzender

* Schach-Allerlei: http://www.sc-weisse-dame.de/geschichten.html

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»Es ist eine oft gemachte, und durch die Ge-

schichte aller Zeitalter bestätigte Erfahrung, daß

sich die Kurzsichtigkeit des menschlichen

Geistes nie auffallender verrät, als bei der Beur-

teilung der Ereignisse, welche der ewige Wechsel

der Dinge hervorbringt ...«

Friedrich von Schiller

»Die Verbindung der Würfel mit dem Schachspiel

ist ein Dualismus, der nicht ursprünglich, son-

dern nur aus müßiger Klügelei entstanden sein

kann. Würfel und Kombinieren sind absolut

heterogen, daß eine mit einem solchen Wider-

spruch behaftete Erfindung für eine psychologi-

sche Unmöglichkeit gehalten werden muß.«

Antonius van der Linde

Antonius van der Linde

Das schöne Buch des Autors JoachimPetzold »Das königliche Spiel« hatte ich mirauch deshalb gekauft, weil ich den abgebil-deten Ausschnitt eines mittelalterlichenWandteppichs, der ein königliches Paarbeim Schachspiel zeigte, für ein Plakat ver-wenden wollte. Ich riß(!) diese Seite späteraus dem Buch, um sie besser kopieren zukönnen. Aus dem Plakat ist nie etwasgeworden.Dafür blieb ich beim Lesen an der vonAntonius van der Linde geäußerten (undoben zitierten) scharfen Kritik hängen.Meine Vorstellung von der naturwissen-schaftlichen Arbeit Charles Darwins wardamals durchaus oberflächlich, aber trotz-dem nicht ganz falsch. Deshalb stutzte ich:ein bedeutender Schachhistoriker des 19.Jahrhunderts hatte die grundlegend neueHypothese (1854) des englischen Orienta-listen Prof. Duncan Forbes, unser Schach-

spiel habe möglicherweise vor langer Zeitein inniges Verhältnis mit dem Würfel(!)gehabt, nicht vorurteilslos aufgenommen,sondern sie 1874 heftig verdammt.Und mußte er die Unverträglichkeit desWürfels mit dem Kombinieren besondersbetonen? Das war offensichtlich zu simpel.Denn es bedarf keines ungewöhnlich schar-fen Verstandes, um einzusehen, daß derWürfel jede langfristige Strategie und tiefeKombination blindlings zertrümmern wird.Mutwillig schoß mir folgendes durch denSinn: Wenn es jemals eine nicht standesge-mäße Verbindung zwischen dem edlenSchachspiel und dem leichtsinnigen, dum-men Würfel gegeben hatte, dann unbe-dingt ursprünglich und diese Jugendsündewürde ganz gewiß nicht durch »müßigeKlügelei« zustande gekommen sein.Also, was steckte hinter der »mit einem sol-chen Widerspruch behafteten Erfindung«,die als »psychologische Unmöglichkeit«hätte empfunden werden müssen?Ich ging bei meinen Überlegungen davonaus, daß es in diesem Fall möglich war, sichin eine längst vergangene Epoche hinein-zuversetzen: Weil Brettspieler, und nichtnur sie, keine völlig anderen Menschengeworden sind. Es ließ mir keine Ruhe. DieChristenheit hatte schlucken müssen, derMensch stamme vom Affen ab. Herr van derLinde sperrte sich jedoch erbittert gegendie vergleichsweise völlig harmlose An-nahme, das Schachspiel und der Würfelhätten mal auf vertrautem Fuße miteinan-der gestanden.Vielleicht fiel es ihm schwer, sich vomeingewurzelten Maßstab der biblischenSchöpfungsgeschichte zu lösen. In der fest

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Kindheit und Entwicklungsjahre des Schachspiels

VON

GERD BORRIS

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gefügten, von Gott geschaffenen Welt warein Baum zuverlässig ein Baum. Und daszierliche, auf seinem Zweig zwitscherndeRotkehlchen war ein Singvogel – ohne irri-tierende Vergangenheit. Der unerreichbaregute Mond ging stille und kühl wies er dieMenschheit in ihre Schranken, trotz JulesVernes »De la terre á la lune«. Auch daskönigliche Spiel, samt seiner rätselhaftenGeschichte, gehörte zur gesicherten Rea-lität.Undenkbar, daß die göttliche Schöpfungplötzlich abrutschen und im haltlosen Strömen der Evolution verlorengehenkönnte.Wenn zum Beispiel die elegante Elster – mitihrem üblen Leumund, kleine glänzendeGegenstände, die ihr nicht gehörten,schnell davonzutragen – auch über jedenVerdacht erhaben war, jetzt etwas andereszu sein als ihr Umriß und die Farben ihresGefieders bezeugten, so konnte sie vor fünfMillionen Jahren ein anderes Äußeresgehabt und ein anderes Verhalten gezeigthaben. Und für die Zukunft galt das gleiche.Kein Geschöpf mußte sich verpflichtet füh-len, die Gestalt und das Wesen einer belie-bigen Gegenwart bis zum Jüngsten Tagetreu beizubehalten.

Der unwillkommene Verwandte

»Da warf der Bodhisatta einen Würfel in die Luft,

und dreihundert Göttermädchen stiegen hernie-

der und begannen zu tanzen, und als er ebenso

den zweiten und den dritten Würfel in die Höhe

geworfen hatte, da waren neunhundert Götter-

mädchen herniedergestiegen und tanzten in der

angegebenen Weise.«

Buddhistische Märchen »Guttila, der Musiker«

»Das Würfelspiel ... tritt uns im Epos als die vor-

nehmste Unterhaltung des Adels, als das eigent-

liche Spiel der Könige entgegen ...«

So zitiert Joachim Petzoldden Indologen Heinrich Lüders.

»Nach vielen Jahren kam einmal zu Nal sein

Bruder Puschkara. Wir wollen spielen, rief er aus,

mit Würfeln, Bruder, wenn's beliebt. Und König

Nal vermochte nicht zu widerstehen; das Spiel

begann.«

Indische Sagen »König Nal«

»Des Abends komm' ich zurück zu Tische, es

waren noch wenige in der Gaststube; die würfel-

ten auf einer Ecke, hatten das Tischtuch zu-

rückgeschlagen.«

Johann Wolfgang von Goethe »Die Leiden des jungen Werthers«

Joachim Petzold macht seine Leserinnenund Leser mit jenem unwillkommenen Vor-fahren des Schachspiels bekannt, der viel-leicht ein Hochstapler war und den van derLinde erbost abgewiesen hatte. In den ge-glätteten Erdboden wurden Horizontalenund Vertikalen geritzt. Diese Linien teiltendie quadratische Spielfläche in acht malacht Felder. Vier Teilnehmer durften mit-spielen. Jeweils zwei von ihnen begannendie Partie als Verbündete. Sie saßen, an denEcken des Brettes, einander diagonal ge-genüber.Jeder Spieler verfügte über acht flacheSteine, nämlich vier Offiziere: König,Kriegselefant, Reiter und Streitwagen – undvier einfache Fußsoldaten. Alle Steinewaren mit Schrift- oder Bildzeichen mar-kiert. Außerdem konnte ihre Zugehörigkeitdurch die Farbe Gelb, Rot, Grün oderSchwarz mühelos erkannt werden.Der Streitwagen bewegte sich – wahr-scheinlich als springender Stein – auf denGeraden. Der Elefant übersprang diagonalein Feld. Des Königs Schritte und des Reitersspektakulärer Rösselsprung sind bis heuteunverändert geblieben. Die Fußsoldatenmarschierten einen Schritt vorwärts undschlugen schräg.Zunächst klärten die Teilnehmer das Wich-tigste: um welchen Einsatz sie spielen woll-ten. Daraufhin würfelte der erste. Von der

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Zahl, die gefallen war, hing ab, mit welchemSpielstein gezogen werden durfte.Es ließe sich zu diesem Spiel unendlich vielsagen! Egal, ob das Stichwort Kriegskunst,Mathematik, Spielleidenschaft, Königs-mord, Astrologie, Würfeln usw. heißt.Immer gibt es die Versuchung, das Wissender Menschheit auf achttausend SeitenDünndruckpapier vor der entsetzten Leser-schaft vollständig aufzuräufeln!Nun, im Ernst, niemand kommt drumherum, wenigstens einen winzigen Teil die-ser enzyklopädischen Fülle einzubeziehen,wenn von der Vergangenheit des Schach-spiels die Rede sein soll.

Auf Abwegen

»Sie erzählen Dinge, die vor vielen tausend

Jahren geschehen sind, Gott weiß, wo. Machen

Sie uns auch nicht etwas weiß? Woher wissen

Sie das?« fragte im Jahre 1790 ein Capitän denFeldprediger Lafontain, der vor preußischenOffizieren eine geschichtliche Vorlesung gehal-ten hatte.

Gustav Freitag»Bilder aus der deutschen Vergangenheit«

In der indischen Sage »König Nal« wirdgeschildert, wie der meisterhafte Wagen-lenker Bàhuka (in Wirklichkeit kein andererals König Nal, der seine Gründe hatte,inkognito unterwegs zu sein) und KönigRituparna, ein Großmeister der Zahlen-kunst, vereinbarten, sich ihre Geheimnisseund Kniffe gegenseitig anzuvertrauen. Werdie Zahlenkunst beherrschte, würde beimWürfeln – um hohe Einsätze – nie mehrverlieren.Ursprünglich warfen Zauberpriester derVorzeit bei magisch-religiösen RitualenKörner, Nüsse, Knöchelchen, Muscheln,Hölzer usw. Daraus entstanden allmählichGeschicklichkeits- und Glücksspiele. Abetwa 500 v. Chr. gab es eine technischeNeuerung. Die bisher in der Natur gesam-

melten, unterschiedlich geformten Gegen-stände erschienen als Zahlenpunkte oderAugen – genormt! – auf den vier Längs-seiten von Stangenwürfeln.Auch heutzutage noch werden beim Ora-keln kleine Kaurimuscheln verwendet.Madame Azira, orientalische Wahrsagerinund geweihte Meisterin der schwarzen undweißen Magie, bietet ihre Dienstleistungenper Internet an.In ihrem nach indischen Räucherstäbchenund tibetanischem Yogatee duftendenWohnzimmer in Berlin-Gesundbrunnen –mit Blick auf den Humboldthain – wirft sierituell die Muscheln. Entscheidend ist derMoment, in welchem die Kontrolle über dasRitual aufgegeben wird. Denn die Meisterinwirft ja die Muscheln – und legt sie nichtetwa fingerfertig hin, als handele es sichum Karten bei einer Patience. Anschließenderläutert sie den lauschenden Kundinnendie rätselhafte Botschaft der Muscheln.Früher hatte der Schamane – im heiligenHain – mit seinem Stab einen Kreis in denErdboden gezogen. Er tanzte, gestikulierte,sang, trank und opferte. Seine Fähigkeitaber, nach dem schwungvollen Wurf inzufälligen Gruppierungen verstreuter Ge-genstände sinnvolle Mitteilungen zu lesen,bestätigte beides: seine priesterliche Son-derstellung und vor allem die zeitweiligeGegenwart der beschworenen Gottheit. Nursie – wer sonst? – konnte Weisheit unter dieMuscheln gemischt haben.Wahrscheinlich hätte die Auffassung, derZufall sei ein plattes Geschehen, hinter demnichts stecke, vor Jahrtausenden dieMenschheit nicht beflügelt. Aber die tiefeÜberzeugung, verborgene Mächte seien amWerke, brachte die Phantasie unserer stein-zeitlichen Vorfahren ganz außerordentlichin Bewegung.Ausgehend von der alltäglichen!, unzähligeMale wiederholten unbewußten Beob-achtung, daß Geräte, Kleidung, Waffen,Schmuck, Behausungen usw. von Men-

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schenhand angefertigt wurden, stellte – einsteinzeitlicher Einstein – schließlich dieüberwältigende Frage: Wer hat das wasnicht Menschenwerk ist geschaffen?Pflanzen und Tiere, Gebirge, Seen undWälder, Sonne, Mond und Sterne, Erde undHimmel – und den Menschen?Wie konnte jemand vor so langer Zeit einenderartig komplizierten abstrakten Gedan-ken fassen? Das Rätsel ist wunderschön. Esführt zu dem überraschenden Zwischen-ergebnis, daß sich aus den vorzeitlichenLebensverhältnissen, soweit sie uns durchAusgrabungen, Rekonstruktionen usw. be-kannt sind, des Rätsels Lösung ergebenmüßte.Worum es dem genialen Philosophen vor50.000 Jahren eigentlich ging, wird denmeisten seiner Zeitgenossen völlig unver-ständlich geblieben sein. Einer kleinenGruppe priesterlicher Schüler leuchtete dieaugenscheinliche Logik ein: Alles wasMenschen nicht geschaffen hatten mußteebenfalls geschaffen worden sein. Hinteroder über der sichtbaren Welt wirkten folg-lich mächtige Wesen. Unzählige Beweise fürderen übermenschliche Fähigkeiten botendie Phänomene der Natur.Prompt wurde den Eingeweihten die heikleMission anvertraut, als diplomatischeVermittler gute Beziehungen zu jenen all-mächtigen Gewalten anzuknüpfen. Deshalbtanzte und opferte der Zauberpriester immagischen Kreis.Übrigens mußte es steinzeitliche Jäger und Sammler naturgemäß zutiefst beun-ruhigen, daß die unsichtbaren Wesen strengdarauf achteten, nie gesehen zu werden.Denn nichts war gefährlicher als ein Feind,der sich verborgen hielt, aber aus seinemsicheren Versteck heraus scharf beobach-tete. Andererseits mochte es unerträg-lich und sogar tödlich sein, die Gestaltender Unsichtbaren plötzlich vor Augen zuhaben.

Wenn es jemals einen Zeitraum gab, dersich als »das goldene Zeitalter« oder »dasverlorene Paradies« ins ewige Gedächtnisder Menschheit eingeprägt hat, dann warenes wohl die Jahrtausende der letzten Eiszeit(50.000 bis 10.000 v. Chr.). Während dieserEpoche, mit ihrem unermeßlichen steinzeit-lichen Hintergrund, wurden Religion, Kulturund Zivilisation vorbereitet und angelegt.Ein Schachfreund erzählte mir, amerikani-sche Wissenschaftler hätten folgendeEntdeckung veröffentlicht: Im Zweistrom-land an Euphrat und Tigris (dem heutigenIrak) bauten eiszeitliche Viehzüchter erst-mals Getreide systematisch an, weil sie denGenuß alkoholischer Getränke ungemeinschätzten!Ich kann mich nicht enthalten, diese entlar-vende Neuigkeit auf die Spitze zu treiben:Bei dem großen Palaver darüber, sich dochnicht länger mit dem zufällig wachsendenGetreide zu begnügen, hat gewiß auch dasüberschäumende Endprodukt sein Wört-chen mitgesprochen! Jedenfalls wird nie-mand bestreiten, daß eine endlose Ketteunbenommener Schlucke und Schlückchenuns mit jenen ersten Landwirten innig ver-bindet.Damit waren die Würfel gefallen. Das ewigunstete Nomadenleben wurde beseitigt vonder seßhaften Lebensweise in großen, um-mauerten Ansiedlungen. Und manch einerlangweilte sich bald. Schon König Salomoseufzte:»Und geschieht nichts Neues unter derSonne. – Geschieht auch etwas, davon mansagen möchte: Siehe, das ist neu! Es istzuvor auch gewesen – in den langen Zeiten,die vor uns gewesen sind.«Nun werden alle Leserinnen und Leser sichdaran gewöhnt haben, in endlosenZeiträumen der Vergangenheit schwindel-frei umherzuschweifen. Ich kehre jedochschnurstracks zurück auf den gradlinigenHauptweg.

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Tschaturanga

»Als leuchtend sich die Sonne erhob, erblickte

man die langen Reihen Fußgänger, Reiter,

Elefanten und Wagen mit blinkenden Waffen

aller Art ...«

Indische Sagen »Die Kuruinge«

»Und der mißachtete Würfel darf – seiner

schroffen Verurteilung besonnen spottend – für

sich beanspruchen, dem Tschaturanga auf die

Sprünge geholfen zu haben.«

»Tschaturanga«, aus vier Teilen bzw. vierGliederungen bestehend, so wurde das indi-sche Heer bezeichnet. Im nachhineinerscheint es naheliegend, daß eines Tagesein vielseitig gebildeter Mann den Fürstenund die Hofgesellschaft mit einem solchenSpiel überraschte. Erstaunlich daran isteigentlich nur der späte Zeitpunkt seinesErscheinens: etwa 400 v. Chr. Durch unge-wöhnlich gesteigerte Kriegsbegeisterungkann diese Erfindung nicht direkt angeregtworden sein. Denn sonst wäre wahrschein-lich schon Jahrtausende früher, zum Bei-spiel in Babylon, ein vergleichbares Spielerfunden worden. Es bedurfte vielmehreines genialen Geistesblitzes.Ohne den Würfel hätte das Tschaturanganicht funktioniert. In den Köpfen derTeilnehmer fehlte ja das nötige strategischeund taktische Denken. Und ein von PhilippReclam jun. gedrucktes informatives Lehr-büchlein gab es selbstverständlich auchnicht. Wie sollten Anfänger unter diesenVoraussetzungen mit den ungewohnt be-weglichen Spielsteinen selbständig undzielstrebig hantieren? Ihre Vorkenntnisseanderer Brettspiele wären wohl kaum sehrhilfreich gewesen. Hierbei muß unbedingtberücksichtigt werden, daß um hohe Ein-sätze gespielt wurde.Ich werde mich trotzdem hüten, zum besse-ren Verständnis der damaligen Lage denBesuch eines Spielkasinos zu empfehlen.Wer probeweise beim Roulette das »Nichts

geht mehr ...!« der Croupiers hören und diekreisende Kugel auf einer Zahl landen sehenmöchte, läuft Gefahr, sein Geld zu setzen –seine Seele zu verletzen. Bei aller Fürsorgewünschte ich aber doch, jede Leserin undjeder Leser könnte die aufgewühltenGedanken und Gefühle der Spieler nach-empfinden. Weil es darauf ankommt, dasursprüngliche Würfelschach – und ambesten sogar das ganze rauschhafte alteIndien! – genau zu verstehen.Will nun jemand behaupten, damals hättenintelligente Menschen akzeptiert, nicht nurauf unbestimmte Zeit planlos Züge mitbunten Steinen auszuführen, sondern dabeiauch noch ihr Hab und Gut aufs Spiel zusetzen?Ganz unzutreffend wäre die ironischeSpitze, ob denn das Würfeln eine risikoloseund grundsolide Art und Weise aussichts-reicher Vermögensbildung gewesen sei? DieSpieler betrachteten nun mal, ob das ver-nünftig war oder nicht, den durch verein-barte Regeln begrenzten Zufall als eineInstanz schicksalhafter höherer Gewalt.Und das Würfeln war so beliebt, daß demErfinder des neuen Spiels gewiß nie in denSinn kam, auf diesen Teil des Vergnügens zuverzichten. Ebensowenig stellte er dieGewohnheit in Frage, um halsbrecherischhohe Einsätze zu spielen.Das reizvolle Beiwerk der schmeichelhaftmartialischen Spielsteine fügte er hinzu.Wobei die aufeinander abgestimmtenSchritte und Sprünge seine Vorliebe undBegabung für die Zahlenkunst oder Mathe-matik beweisen. Außerdem wird er die Auf-regung des Spiels auch selber ausgekostethaben.Was aber den erwähnten genialen Geistes-blitz betrifft: Viel zu überwältigend war derAnblick eines Heeres, das – als leuchtendsich die Sonne erhob – mit blinkendenWaffen in Schlachtordnung bereitstand. DieMathematik als Steckenpferd, eine gewisse

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höfische Gewandtheit und die Spielleiden-schaft genügten, um das Tschaturanga zuerfinden.

Das unergründliche Werk

»Ja, Herrgott, was soll ich denn überhaupt erfin-

den? Das meiste haben ja die anderen schon

erfunden. Es wird von Tag zu Tag schwieriger – .«

Hendrik Ibsen »Die Wildente«

»Man hat in der Gangart des Springers etwas

höchst eigenartiges, ein Wunder von sinnreicher

Erfindung erblickt. Hier sehen wir sie aus

Notwendigkeit und nicht aus dem Scharfsinn

hervorgehen!«

Johannes Kohtz »Das indische Tschaturanga«

»Der (Mathematiker und Erfinder) Professor

Erhard Weigel in Jena schlug 1673 vor, statt der

Zahl 10 die Zahl 4 als Grundzahl zu verwenden,

und zwar aus dem oben angeführten Grunde:

weil die Vierteilung etwas Natürliches und

Naheliegendes, die Zehnteilung etwas Künst-

liches sei.«

Erich Schneider»Von der Null bis zur Unendlichkeit«.

Mathematische Plaudereien fürNichtmathematiker.

Der Nachthimmel, an dem Sternbilder wan-derten. Die heilige Zahl Vier. Das Quadrat.Horizontalen und Vertikalen. Ein König;Reiter, Streitwagen und Kriegselefanten.Sprünge gerade, diagonal und übereck.Schritte bei den Fußsoldaten. Spielsteine,die sich unterschiedlich bewegten! VierTeilnehmer. Zwei mal vier Spielsteine fürjede Armee. Acht mal acht Felder ...Gedankenverloren zeichnete der Gelehrtedie Linien einer Swastika in den feinenSand. Als er gegangen war, trat vorsichtigeine Gazelle aus dem Wald. Sie sprang zumFluß. Dabei drückte sie den Stempel einesihrer zierlichen Läufe in das Feuerzeichen.

Jahrelang hatte er Abende und Nächtebeim Spiel verbracht. Er bewunderte dasschnelle Auge und die Fingerfertigkeit dergeschicktesten Würfelspieler. Der Gastgeberkam und zeigte ihm ein uraltes Spielbrett.Sie rätselten, nach welchen Regeln damitgespielt worden sein mochte. In der Rundeneben ihnen waren die Würfel wiedergefallen. Lachend schöpfte der reiche Kauf-mann Sahadeva aus einer silbernen SchalePerlen, die nun ihm gehörten. Ein anderersprang auf und verließ leisen Schrittes denPavillon.Der Gelehrte strich mit den Fingerspitzenbehutsam über das glatte Holz und dieIntarsien des alten Spielbrettes.

Erfindungen fallen ebensowenig vomHimmel wie Meister. Der Möchtegern-erfinder Hjalmar Ekdal lag auf dem Sofa, aßButterbrote und beklagte sich bitter: »Ja,Herrgott, was soll ich denn überhaupterfinden? Das meiste haben ja die anderenschon erfunden.« Hunderttausend Jahrefrüher hätte er sehr bedauert, daß dieanderen das einzige, was es zu erfinden gab,schon vor ihm erfunden hatten: denGebrauch des Feuersteins.Im Gegensatz dazu wurde der indischeGelehrte von einer Idee stark bedrängt. Sieschien ihm recht unnütz, weil es bereitsmehr als genug Spiele gab. Und hatte viel-leicht irgend etwas Anspruch darauf, vonihm erfunden zu werden? Schließlich gab ernach.Er nahm eine übliche quadratische Spiel-fläche, einfache farbige Steine und begannzu tüfteln. In vier symmetrisch geordnetenGruppen versteckte er ein Laufwerk geome-trischen Denkens. Die Steine würden unter-schiedlich springen oder schrittweise gehenkönnen. Schritte und Sprünge verknüpfteer mit den Zahlen des Würfels.Seine Spielregeln überforderten nieman-den. Das Problem, für welchen SteinAnfänger sich entscheiden sollten, gab es

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gar nicht. Wer eine Drei gewürfelt hatte,mußte mit dem Reiter ziehen und durfteunter höchstens acht erlaubten Feldernwählen.Ansonsten würfelten und stritten die Teil-nehmer um hohe Einsätze – wie bisher. DasMilieu war ihnen also vertraut. Vom Würfelbei der Hand genommen ließen sieElefanten, Reiter und Wagen springen, denKönig schreiten, die Fußsoldaten marschie-ren usw.So etablierte sich das neue Spiel.Die Steine bildeten – abgesehen von ihrenFarben – ein symmetrisches Muster. Makel-lose Symmetrie der Grundstellung war fürden Gelehrten zweifellos: eine Frage derEhre.Das Schachspiel zeigt in dieser Hinsichteinen interessanten Schönheitsfehler. EineNarbe sozusagen, die eine Geschichte vonVerwerfungen aus »den langen Zeiten, dievor uns gewesen sind« zu erzählen hat. Der König und die Königin – bzw. die Dame – stehen als asymmetrisches Paar inder Mitte. Um die Gesetze der Symmetrieeinzuhalten, müßten dort zwei Könige ste-hen. Oder zwei Damen – wenn das königli-che Spiel auf die Könige auch ohne weite-res verzichten könnte.Sah der Erfinder des Schachspiels sich zudiesem Kompromiß genötigt? Verletzte erlieber ausnahmsweise einmal die strengenGesetze der Symmetrie, bevor er seinschwieriges Vorhaben ganz aufgab, weilihm nicht alles perfekt gelingen wollte? Daswäre sehr vernünftig gewesen. Die meistenSchachhistoriker sind jedoch davon über-zeugt, daß es einen Erfinder des Schach-spiels nie gab.Deshalb nahm ich ja das Tschaturanga sogenau unter die Lupe. Hier war die geome-trische Welt noch in Ordnung. Außerdemverscheuchte mir niemand meinen roman-tischen Helden, den gewandten Höfling,leidenschaftlichen Spieler und begabtenMeister der Zahlenkunst. Nicht irgendwer

– konnte er – gewesen sein. Denn ein aus-geklügeltes Laufwerk bewegte die regenSpielsteine. Wobei »ausgeklügeltes« nichtmit »aus müßiger Klügelei entstandenes«gleichgesetzt werden soll. Oder hatte vander Linde die Absicht, den köstlichenMüßiggang eines sinnenden und summen-den Gelehrten scharf zu kritisieren?

In seiner Hypothese »Das indischeTschaturanga«, veröffentlicht 1910 imDeutschen Wochenschach, erklärte Johan-nes Kohtz ohne Geheimniskrämerei, daßinnerhalb der vorausgesetzten Rahmen-bedingungen die Auswahl an sinnvollenVarianten, Kriegselefanten, Reiter undStreitwagen unterschiedlich springen zulassen, sehr begrenzt war.Das trifft zu. Wenn nämlich der Erfinderden geraden und den diagonalen Sprungbereits vornotiert hatte – und ihm diesebeiden keineswegs genügten – und wenn erdeshalb ein drittes Bewegungsmuster drin-gend brauchte – und er dabei vielleichtauch noch an die äußerst wendigen Reiterdachte: Wieviel geeignete Möglichkeitenboten sich dann an?So fiel ihm der Rösselsprung gewisserma-ßen in den Schoß. Woraufhin er sorgfältigüberprüfen mußte, ob dieses reizvolleSprungelement den bisherigen Ansatz desneuen Spiels nicht sprengte. JoachimPetzold stocherte im Nebel: »Rätselhafterscheint lediglich, wie der merkwürdigeSpringerzug zustande gekommen ist.«Wie entsteht etwas Neues? Mußte derGelehrte erst alle Tiefen der magischenQuadrate bis ins feinste ausgelotet haben,bevor er das betriebsame dritte Schwung-rädchen einbauen konnte? Oder andersgefragt: Studierten steinzeitliche Jäger erstdie Anatomie der Säugetiere, Fische undVögel, bevor sie mit aller Kraft Steine oderLanzen schleuderten? Und wieviel exaktesWissen der Astronomie mußten keltischeZauberpriester gesammelt haben, bevor

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eine Kultstätte wie Stonehenge entstehenkonnte?Mit diesen Fragen verbinde ich keineZweifel an der Intelligenz, an den Kennt-nissen und Fähigkeiten meines Helden.Selbstverständlich kontrollierte er immerwieder, ob seine Erfindung funktionierte. Erwollte sich keinesfalls vor dem anspruchs-vollen Fürsten, der Hofgesellschaft und denKonkurrenten blamieren.Verschwindend wenig wußte er jedoch vondem unerschöpflichen Potential, das in denzweiunddreißig Spielsteinen auf den vie-rundsechzig Feldern steckte. Und nochweniger davon, wie sehr sein Tschaturangain den folgenden Jahrhunderten weiterent-wickelt und verändert werden würde.

Zwischenbilanz

Wir wissen nicht, wer das Schachspielerfunden hat – und der Erfinder desSchachspiels wußte nicht, daß er es erfun-den hat.

Lernst du mir das?

»Der Blick – des Königs – der Wüste – wird – das

Zebra streifen.«

Kein Bild des surrealistischen Malers René Magritte, sondern nur ein Beispiel

korrekter deutscher Grammatik.

Dhanamjaya saß allein. Im abendlichenGarten dufteten Blumen und Sträucher.Musik und Gesang – aus den Gemächern derFrauen erklang. Eine Gesellschaft kehrteheim von der Jagd. Rosse wieherten. Späterstieg der Mond am Nachthimmel auf.Dhanamjaya betrachtete die Konstellationender Spielsteine. Seine berühmten Würfelbenutzte er nicht. Er würde erst Ruhe finden,wenn er das neue Spiel gemeistert hatte undkeinem Gegner mehr unterlag.

Im Unterschied zu Menschen, die mit denüblichen Hilfsmitteln eine weit verbreiteteSprache erlernen, mußten die Tscha-turangaspieler ihr spezialisiertes Denkenerst während der Partien nach und nacherfinden und allmählich aufbauen. Dennder Gelehrte kann ihnen kaum mehr als dieSpielregeln vermittelt haben.Wie gesagt, die vier Teilnehmer würfeltenreihum und setzten ihren Stein – ohne ausdem einzelnen Zug ein Drama zu machen.Die Atmosphäre solcher Runden dürfte leb-haft bis stürmisch gewesen sein. Allesbewegte sich auf den spannenden Momentder Entscheidung zu: Wer würde denEinsatz gewinnen?Bei aller Unbefangenheit, mit der dieseAnfänger ihre Züge ausführten, und trotzdes flotten Tempos, das der Würfel diktier-te, beobachteten sie aufmerksam. Auchohne bewußte Anstrengung und ehrgeizigeZiele hätten sie es kaum vermeiden können,Stellungsbilder, die sich oft wiederholten,spontan auswendig zu lernen.Selbstverständlich konnten sie nach gewis-ser Zeit zwischen guten und schlechtenZügen unterscheiden. Sie wiederholten kat-astrophale Fehler nicht endlos, undErfolgserlebnisse wurden erfreut registriert.Einer würfelte und zog, die anderen ver-folgten das Geschehen mit größtem Inter-esse: »O der ehrenwerte Kanva hat – glück-licherweise – den Vormarsch seines gefähr-lichsten Fußsoldaten verschlafen!«Und es gab Talente, die schneller und klarerals die meisten anderen begriffen worauf esbei dem neuen Spiel ankam. Sie hätten amliebsten sämtliche denkbaren Züge auswen-dig gelernt, wenn das möglich gewesenwäre, und sich auch vom Würfel nicht daranhindern lassen. Die weitere Entwicklung hingnun davon ab, wie reich das Potential war:auf den 64 Feldern – und in den Köpfen.

Diese flüchtig skizzierten Lernschritte undErfahrungen führten an den entscheiden-

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den Wendepunkt. Der Gelehrte hatte einstSchritte und Sprünge mit dem Würfeln engverknüpft. Dagegen war nichts einzuwen-den gewesen. Oder hätten die Beteiligten– ohne strategisches und taktisches Wissenin ihren Köpfen – die Vormundschaft desWürfels lauthals beklagen und mehr Ge-dankenfreiheit fordern sollen?Die Lage veränderte sich jedoch grundle-gend, als geübte Spieler eines Tages fähigwaren, die Positionen der markierten Steinerasch zu überblicken und plötzlich immerwieder gute Züge erspähten: bevor siegewürfelt hatten!Jene widersprüchliche Situation war ent-standen, die van der Linde zweitausendJahre später für eine »psychologischeUnmöglichkeit« hielt.Er kommt mir vor wie ein ängstlicher jungerVater, dem niemand erklärt hat, daß Pickelund andere vorübergehende Unstimmig-keiten seine heranwachsenden Sprößlingenicht daran hindern werden, sich innerhalbweniger Jahre ganz prächtig zu entwickeln.Das Tschaturanga als die Pubertät desunreifen Schachspiels! Wäre dem unduldsa-men van der Linde diese exzentrischeInterpretation zuzumuten gewesen? SeineEmpörung hätte wohl eher keine Grenzengekannt! Aber durfte von einem aufge-weckten Zeitgenossen Charles Darwinsnicht erwartet werden, daß er auch derartigstarken Tobak unerschütterlich verkraftete?Allerdings schlitterten die Tschaturanga-spieler ja wirklich in eine psychologischunmögliche Situation. Van der Linde irrtesich trotzdem sehr, als er urteilte: »DieVerbindung der Würfel mit dem Schach-spiel ist ein Dualismus, der nicht ursprüng-lich, sondern nur aus müßiger Klügelei ent-standen sein kann.«Der von ihm allzusehr betonte Gegensatzzwischen dem Würfel und dem Kombi-nieren gehörte nur scheinbar zur Erfindungdes Gelehrten. Der indische Meister derZahlenkunst war kein Dummkopf. Sein Spiel

enthielt nichts, das vom Würfel hättebeeinträchtigt oder gar zerstört werdenkönnen. Die Neulinge setzten zwar – demWürfel folgend! – ihren Stein, aber sie kom-binierten nicht und sie entwickelten auchkeine strategischen Pläne.Das spätere Entwicklungsmuster war feinund kompliziert gewebt. Weil intelligenteMenschen beim Tschaturanga – einem für diesen Zweck ideal geeigneten Gegen-stand – ihre Lernfähigkeit bewiesen, stell-ten sie unabsichtlich eine der Spielregelnauf den Kopf. Denn sobald jemand in derLage war, vorteilhafte Züge zu sehen, bevorer gewürfelt hatte, mußte ihm mit enttäu-schender Klarheit bewußt werden, daß eszwischen dem erwünschten Zug und derZahl, die er würfelte, oft keine Übereinstim-mung gab. Der Pechvogel bewegte danneinen anderen Stein. Glücklich werdenkonnte er damit nicht. Wer sollte, gegensein besseres Wissen und obwohl um hoheEinsätze gespielt wurde, bereitwillig dieVorentscheidungen des Würfels weiterhinakzeptieren?Trotzdem blieb das Ärgernis zunächst ohneFolgen. Die Spielregeln galten für alle, inso-fern gab es keine Ungerechtigkeit. Gewiß,einzelne Teilnehmer stutzten hin und wie-der mal, und sie werden den hinderlichenWiderspruch empfunden haben. Sie maßtensich aber deshalb nicht gleich an, amTschaturanga der anderen herumzumäkelnoder gar das beliebte Würfeln grundsätzlichin Frage zu stellen. Und andernfalls hättewohl nur der nächstbeste Spötter siegefragt, warum sie ihre vorausschauendeGedankenakrobatik nicht einfach unterlie-ßen? Sie konnten sich an die Spielregelnhalten – wie andere auch.Doch dafür war es bereits zu spät. DerWiderspruch beruhte ja darauf, daß begab-te und eigenwillige Spieler ihre Lektionenbesonders eifrig und erfolgreich gelernthatten. Sie kamen nun mit dem leuchten-den Schatzkästlein des Wissens im Kopfe

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und hatten nicht vor, ihr Verhalten zuändern. Sie lernten vielmehr begeistert wei-ter. Obwohl sie dafür bestraft wurden. Denneinerseits sahen sie immer öfter Züge vor-aus, aber andererseits enttäuschte der Wür-fel sie nur um so mehr.Beschwerten sie sich, bekamen sie wiede-rum zu hören, daß sie an ihrem Dilemmaselbst schuld seien: Wer zwang sie denn zudem unsinnigen Kunststück, Entschei-dungen zu treffen, bevor sie gewürfelt hat-ten?Die Spannung eskalierte. Mit geschicktemManövrieren und guten Zügen konnte diePartie entschieden und der wertvolle Ein-satz gewonnen werden. O wenn man dochdie dämonische Eigenschaft besessen hätte,kontrolliert Würfeln zu können!Je bewußter diese kommenden Meister daskomplizierte Maßwerk der beweglichenStellungen erschlossen, desto schwierigerwurde ihr Verhältnis zum Würfel. In ihrerVerlegenheit gerieten sie auf einen skurri-len Irrweg.

Kontrolliert Würfeln?

»... ich aber, Wagenlenker, besitze die ganze

Zahlenwissenschaft. Du siehst dort den Wibhi-

taka; mit einem Blick erkenne ich im Fahren, daß

die Früchte des Baumes gerade hundert und eine

sind.«

Indische Sagen »König Nal«

»Der Spieler nahm die Würfel in die Hand, rollte

sie durcheinander und warf sie in die Luft. Sah

er, daß sie ungünstig fallen würden, so hatte er

das Recht, sie wieder aufzufangen, solange sie

noch in der Luft schwebten und den Wurf zu

wiederholen.«

Joachim Petzold »Das königliche Spiel«

Bei Fußballweltmeisterschaften zum Bei-spiel und beim Lawn-Tennisturnier inWimbledon wird vor dem Match eineMünze geworfen. Zauberpriester der Vor-

zeit warfen ihre Hölzer, Körner, Knöchel-chen usw. Sie hüteten sich, die allgewaltigeGottheit dabei zu beschummeln. Und inBerlin-Gesundbrunnen wirft die HellseherinMadame Azira ihre zweckdienlichen Mu-scheln. Auch sie ist zweifellos die Ehrlich-keit in Person.Das indische Märchen »Der betrogeneHauspriester« erzählt unter anderem vomWürfelspiel als einer Technik der Weis-sagung. Ein König spielte regelmäßig mitseinem Hauspriester um Geld. Dabei wur-den »die goldenen Würfel auf das silberneTablett« geworfen, und der König sang seinSpiellied: »Alle Flüsse gehn in Krümmen,und aus Holz ist jeder Wald. Findet sich nurein Verführer, sündigen alle Weiber bald.«Das Orakel der goldenen Würfel bestanddarin, daß der König stets gewann, solangeder Inhalt seines Spielliedes der Lebens-wirklichkeit entsprach. Dagegen kämpfteder Hauspriester vergeblich an, und einengroßen Teil seines Vermögens hatte erbereits verloren.Deshalb faßte er den Plan, das Spiellied desKönigs auf raffinierte Weise zu widerlegen.Er kaufte einer Mutter ihre neugeboreneTochter ab. Das Kind wuchs zur jungen Frauheran, deren Treue er argwöhnisch überwa-chen ließ. Als nun beide Männer erneutwürfelten, sang der König wie gewohnt seinSpiellied – und verlor. Er runzelte die Stirnund wunderte sich sehr. Bald schwante ihmjedoch, was dahintersteckte. Sogleichbeauftragte er einen Spitzbuben, die treueFrau zu verführen.Dies geschah und siehe da: die wahrsagen-den Würfel überschütteten den hinterlisti-gen König wieder mit Gewinnzahlen.Das Märchen mag schwer im Magen liegen.Aber der Hinweis auf das Werfen oderWürfeln als einer Technik des Orakelns soll-te vielleicht doch beachtet werden.

Im 1. Kapitel seines Buches behauptetJoachim Petzold vom Tschaturanga: »Vor

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dem Wurf mußte der Spieler wissen, wasund wie er ziehen möchte, denn er konnteja durch seine Geschicklichkeit jeden Zugaufs Brett zaubern.«Höchst erstaunlich! Ganz so kann es wirk-lich nicht gewesen sein! In seinem Eifer, ausdem vermeintlichen Glücksspiel immerhinein Geschicklichkeitsspiel zu machen – unddamit indirekt die Familienehre des edlenSchachspiels zu verteidigen, sah der hilfs-bereite Autor den Wald vor lauter Bäumennicht mehr. Seine Darstellung wäre selbstdann unsinnig, wenn ihr inhaltlich in kei-nem Punkte widersprochen würde. Übri-gens bröckelt die Logik verdächtig: Warummußte ein Spieler, der angeblich durchseine Geschicklichkeit jeden Zug aufs Brettzaubern konnte, vor dem Wurf wissen, wasund wie er ziehen möchte? Weil er ein Zielbrauchte, um seine Treffsicherheit demon-strieren zu können?Ich will aber den Autor beim Wort nehmen:Der Spieler wußte also vor dem Wurf, wasund wie er ziehen möchte. Und durch seineGeschicklichkeit konnte er jeden Zug aufsBrett zaubern. Das heißt: Wer mit demElefanten ein bestimmtes Feld besetzenwollte und deshalb eine Vier brauchte, derwürfelte wunschgemäß eine Vier – undführte seinen Zug aus.Du lieber Himmel! Joachim Petzold hättemerken müssen, daß es – wenn seineDarstellung richtig war – überhaupt keinenUnterschied machte, ob die Spieler wür-felten oder nicht. Es blieb ja stets bei demvorher ausgewählten Stein und Zug!Warum würfelten jene Männer denn über-haupt, wenn sie kontrolliert Würfeln konnten? Nur, um einander ihre erstaunli-che Geschicklichkeit immer wieder vorzu-führen?Aus buddhistischer Sicht mögen sie, wegenihrer Spielleidenschaft, verlorene Seelengewesen sein. Nichts weist darauf hin, daßsie einfältige Schildbürger waren.

Wo – im magischen Spielkreis – seit Jahr-hunderten beim Würfeln Vermögen gewon-nen oder verloren wurden, gab es zweifelloseinzelne Spieler, die unglaublich geschicktmit den Würfeln hantieren konnten. Fin-gerfertigkeit und Schnelligkeit des Augeszahlten sich aus. Und manch einer betrogblitzschnell – wie heutzutage die Hütchen-spieler.Beim Tschaturanga nützten geschickteHände wenig. Die Spieler erwarteten ge-spannt, welche Vorentscheidung der Würfeltraf. Dabei konnte es Anfängern, die nichtsplanten, ziemlich egal sein, welchen Steinsie bewegten. Vielleicht hatte trotzdemjemand eine besondere Vorliebe für den ori-ginellen Sprung des Pferdes. Aber währendaufregender Partien um wertvolle Einsätzehätten die Spieler nicht gewußt, warum sieerpicht darauf sein sollten, bestimmteZahlen zu würfeln.Diese Zeit paradiesischer Unbefangenheit – hinsichtlich der Zahlen des Würfels – gingzu Ende als gescheite Köpfe damit began-nen, Züge auszuwählen, ohne die Vorent-scheidung des Würfels erst abzuwarten.Damit wurde, wie gesagt, eine der Spiel-regeln gekippt. Offenbar hatte der Gelehr-te, als er seine Erfindung konzipierte, diedynamische Lernfähigkeit der Akteure nichtberücksichtigt. Jetzt wollten einzelne Teil-nehmer unbedingt und wohlbegründet miteinem bestimmten Stein ziehen. Dafürmußten sie allerdings erst die kompatibleZahl würfeln. Denn noch galt ja die alteSpielregel. In dieser veränderten Situationwünschte sich zweifellos mancher, kontrol-liert Würfeln zu können.Und Joachim Petzold behauptet, »derSpieler« habe das gekonnt. Ich fürchte, derritterliche Kämpfer für die Tugendhaftig-keit und Ehrbarkeit des königlichen Spielsging über wichtige Details zu leichtfertighinweg.Er sah, wie van der Linde, den unvereinba-ren Gegensatz zwischen dem Würfel und

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dem Kombinieren. Da nun das Tschaturangakein haltloses Glücksspiel gewesen sein soll-te (was es tatsächlich auch nicht war), son-dern wenigstens ein Geschicklichkeitsspiel,mußte dem Spieler halt zugetraut werden,jeden Zug aufs Brett zaubern zu können.Diese Patentlösung befreite den Autordavon, über das Problem weiter nachden-ken zu müssen. Zur Strafe blieb ihm derrichtige Weg durch das Labyrinth verbor-gen. Er verstand nicht mit der nötigenKlarheit, was für ein Spiel der Gelehrteerfunden hatte und warum es sich späterveränderte.Wie hätte auch jemand, dem am Herzenlag, das zwiespältige Tschaturanga mit demreifen Schachspiel zu versöhnen, eineräußerst abenteuerlichen und chaotischenArbeitshypothese vertrauen können: Spie-ler, die in eine psychologisch unmöglicheLage hineinschlitterten, weil sie sich vorzei-tig für Züge entschieden, obwohl sie dochwußten – daß sie noch würfeln mußten. Dieaußerdem weiter um hohe Einsätze spieltenund sich aufregten, wenn ihnen die Würfeimmer wieder mißlangen (weil es an dermärchenhaften Geschicklichkeit leider dochhaperte).Das Tschaturanga überstand diese merk-würdige Entwicklungsphase nicht nur un-beschadet, ihm wurden sogar ungeahntePerspektiven eröffnet.

Der Würfel mußte gehen

»... und wie mancherlei Spiel da gespielt werden,

ist nicht zu begreifen: Landsknecht, Tricktrack,

Pikett, Reversi, L'Hombre, Schach, Trou Madame,

Berlan, summa summarum was man nur erden-

ken mag von Spielen.«

Liselotte von der Pfalz als Herzogin von Orleansam 06.12.1682 in einem Brief aus Versailles

an ihre Schwägerin, die Kurfürstin WilhelmineErnestine von der Pfalz.

»Sie spielte alle Abend Damenziehen, Schach-

zagel oder Schaf und Wolf mit ihm; so oft er

einen ungeschickten Zug getan, schnitt er die

raresten Gesichter, keines dem anderen gleich,

nein, immer eines ärger als das andere ...«

Eduard Mörike »Historie von der schönen Lau«

»Auf einem kleinen Tisch sah man ein

Schachspiel stehen, und die Figuren standen

noch so da, als wäre die Partie plötzlich unter-

brochen worden.«Georges Simenon

»Maigret und die braven Leute«

Irren ist menschlich. Nicht nur verschwen-derisch prunkende Fürsten des barockenZeitalters versuchten, ihre bankrottenStaatshaushalte zu sanieren, indem sieAlchimisten und Astrologen beschäftigten.Unter August dem Starken gelang inSachsen dem Alchimisten Johann FriedrichBöttger mit der Nacherfindung des Por-zellans sogar ein großer Wurf.Beim Tschaturanga überschritten intelli-gente Spieler die vorgegebenen Grenzenund dadurch veränderte sich die Funktiondes Würfels. Damit begann nicht nur einneuer Weg, sondern auch ein amüsanterIrrweg. Zum erwünschten Zug immergeschickt die passende Zahl zu würfeln,diese Fähigkeit wäre jetzt sehr willkommengewesen. Ebenso hätten Alchimisten undSchwarzkünstler dem Teufel gerne ihreSeele dafür verkauft, Feldsteine, Raben-flügel und Pferdeäpfel in reines Gold ver-wandeln zu können.Astrologen lasen jedoch nur dunkel imSilber der Gestirne. Und in des TeufelsKünste eingeweihte Goldmacher verzehrtenihrerseits goldene Dukaten und Dublonenaus königlichen Schatullen, um dann imMorgengrauen über die Landesgrenze zuentwischen, wenn sie nicht vorher alsSchelme entlarvt und gehängt wurden.Ebensowenig konnten die indischen Brett-spieler – bei all ihrer Geschicklichkeit –kontrolliert würfeln. Deshalb wiederholte

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sich eine typische Situation: Der Spieler saheinen starken Zug, und er mußte nun wür-feln.Erhellt wird die seltsame Lage durch folgen-de Einsicht: »Niemand konnte seine Würfezuverlässig kontrollieren, gleichwohl ver-suchten die Betroffenen, ihr Dilemma so zulösen.« Was blieb ihnen denn anderes übrig,wenn sie weiter Tschaturanga spielen woll-ten? Van der Lindes »psychologischeUnmöglichkeit« bereitete ihnen tagtäglichKopfzerbrechen. Müßig ausgeklügelt hat-ten sie den sperrigen Widerspruch freilichnicht.Es gab also wahrscheinlich zwei GruppenSpieler. Die Mehrheit nahm weiter dieZahlen so, wie sie fielen und lag nicht imStreit mit dem Würfel. Dagegen waren dieunbotmäßigen Teilnehmer darauf angewie-sen, von vier Zahlen die richtige zu würfeln.Schlimmstenfalls mußten sie ihre Finger-fertigkeit fleißig trainieren, um die Treffer-quote möglichst zu erhöhen! Nur soviel von der fabelhaften Geschicklichkeit, dieJoachim Petzold ihnen zusprach, kann ichbestätigen. Übrigens hätte zu diesem Zeit-punkt niemand für denkbar gehalten, daßauf den Würfel ganz verzichtet werdenkönnte.Und beim Status quo einer mäßigenReibung und gelegentlichem Ärger blieb esnicht. Denn die Entdeckung der Wunder-welt eines von den Vorentscheidungen desWürfels befreiten Figurenspiels, bei demjeder Stein als Kandidat für den nächstenZug in Betracht kam, hatte ja erst begon-nen.Das heißt, einerseits lernten die vorpre-schenden Außenseiter unablässig weiter.Andererseits bemühten sie sich vergeblich,Meister in der Kunst des Würfelns zu wer-den.Artistisches Hantieren mit dem widerstre-benden Würfel war ein aussichtslosesUnterfangen. Den fortschrittlichen Spielernwurde allmählich bewußt, daß sie ihr

Dilemma anders lösen mußten. Wer gedan-kenlos würfelte und sich dann mit einemder wenigen möglichen Züge des freigege-benen Steins begnügte, blieb von diesermerkwürdigen Problematik unbehelligt.Aber einer der künftigen Reformer regtesich maßlos auf, als eine verlorene Partieihn teuer zu stehen kam. Verzweifelt undwütend demonstrierte er, wie leicht ergewonnen hätte, wenn ihm jeder Wurfgeglückt wäre!Daraufhin warf der Sieger den Würfel hochin die Luft und fragte lachend: »Habt ihrdenn wirklich vor, wie ich hörte, bald ohneWürfel zu spielen?«

Hierüber dachten Gleichgesinnte seit län-gerem intensiv nach. Ihnen schwebte einverändertes Tschaturanga vor. Sie konntensowieso nicht einfach zurück in denZustand einer gewissen leichtfertigenNaivität. Oder sollten sie sich wieder abge-wöhnen, während des ganzen Spiels auf-merksam hinzuschauen, viele Schritte undSprünge zu sehen und schnell durchzurech-nen? Dann wäre es ja am besten, mitgeschlossenen Augen zu spielen! Was hat-ten sie eigentlich mit dem Würfel zu schaf-fen? Genaugenommen war es schrecklichdumm: Warum ließen sie sich von ihm dik-tieren, welchen Stein sie setzen mußten?Den weit größeren Teil der Möglichkeitenschlossen sie damit aus.Doch längst nicht alle waren von der neuenRichtung angetan. Viele hielten es für reineZeitverschwendung, das Wegegewirr derSteine immer wieder eindringlich zu studie-ren und sogar auswendig zu lernen.Bestand denn der Reiz dieses Spiels nichtgerade darin, bei jedem Zug unbekannteKonstellationen vorzufinden, deren Varian-ten unzählig waren?Höchst witzig, wenn wieder einmal einerder bewußten klugen Herren die richtigeZahl vermasselt hatte! Welcher Zorn!Welche Verdrossenheit! Nein, das mußte

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nicht sein! Nur einer konnte gewinnen –und die nächste Runde sollte beginnen!Die Teilnehmer nahmen Platz. GeneralParantapa kommentierte das viele Geredeüber die baldige Verbannung des Würfelsmit sarkastischen Seitenhieben. Dann blik-kte er seinem Nachbarn feixend ins Gesichtund kündigte an: »So schwer ist das nicht.Ich werde jetzt eine Vier würfeln!«Er hob elegant – den Arm und die Hand –und würfelte dir – potztausend! – die Vier!Dämonisches Gelächter! Ohne langeUmstände eröffnete er die Partie mit demElefanten. Der nächste Spieler sagte nichtsvoraus. Er würfelte eine Zwei. Nach kurzemZögern setzte er den Wagen. Und flott ginges weiter.Was daran war falsch?»Alles!« riefen donnernd die Reformer.Durch langjährige Erfahrungen und mitihrem wachsendem Verständnis für dasfreie Figurenspiel hatte ihre Mentalität sichverändert. Sie waren sich ihrer Sache nunsicher. Und einflußreiche Würdenträger undHöflinge bestärkten sie darin. Der ersteRatgeber des Fürsten hatte bereits diebesten Spieler in seinen Palast gebeten,damit sie ihre Kunst, bei der sie den Würfelnicht mehr brauchten, zeigten und erklär-ten.Die neuen Meister wollten nicht länger hin-nehmen, daß ein unkontrollierbarer Mo-ment ihr Wissen und Können beständighintertrieb. Nur wer zu dumm oder zuunentschlossen war, sich mit den unter-schiedlichen Schritten und Sprüngen derfarbigen Steine aufmerksam und geduldigzu befassen, pochte darauf, daß weiterhinder Würfel rollte.Auch die alberne Zumutung, den Zufalldurch Fingerfertigkeit zu überlisten, hattensie schon viel zu lange ertragen. Schlußdamit! Kein häusliches Würfeltrainingmehr! Stolz wiesen sie jeden Kompromißzurück: Der Würfel mußte gehen!

Entwicklungsschritte

»Dieses vielversprechende Heer, die letzte

Hoffnung des Kaisers (Ferdinand II.), war nichts

als ein Blendwerk, sobald der Zauber sich löste,

der es ins Dasein rief; durch Wallenstein ward es,

ohne ihn verschwand es, wie eine magische

Schöpfung, in sein voriges Nichts dahin.«

Friedrich von Schiller »Geschichte des 30jährigen Kriegs«

Kuriosum: Bei den Umlauten stand ursprünglich

das E gleichberechtigt rechts neben dem A, O

oder U. Dann kletterte es auf den Stamm-

buchstaben und wurde immer winziger. Schließ-

lich blieben als Relikt von ihm nur noch zwei

Strichlein – heute Punkte. Dies könnte – scherz-

haft – so formuliert werden: »Ein Organ wechsel-

te seinen Standort. Dabei veränderte es seine

Form bis zur Unkenntlichkeit. Seine Funktion

blieb jedoch vollständig erhalten.«

Das ist kein Zitat aus einem der NotizbücherCharles Darwins!

Die Reformer hatten ihre bahnbrechendeForderung durchgesetzt und das Nebel-gewölk der Würfelei beseitigt. Auf dasbefreite Figurenspiel allein richtete sichjetzt die Aufmerksamkeit. Die neue Lagebrachte aber bald auch Konflikte hervor, diees vorher nicht gegeben hatte. So hadertendie verbündeten Spieler seit kurzem oftuntereinander.Wenn um hohe Einsätze gespielt wird undalle wissen, daß es auf jeden Zug ankommt,steigt die Reizbarkeit. Die Spieler sahengenau hin, und die Launenhaftigkeit desWürfels bot keine Ausreden mehr. Hatte derVerbündete offensichtlich eine gute Gele-genheit versäumt, entscheidenden Vorteilzu erringen, bekam er allerlei zu hören: »Dukonntest doch vorhin den Wagen ganzleicht gewinnen. Hast du das denn nichtgesehen? Was ist los mit dir? Spielst duimmer so schlecht?« Und es nervte, einenPartner zu haben, der die einfachstenFallstricke übersah. Da konnte man seinGeld ja gleich dem armen Brahmanen

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schenken, der am Rande des Dschungelsjämmerlich dahinlebte!Jedoch selbst dann, wenn jeder Teilnehmerklug und umsichtig zog, ließ sich manchesnur schwer in Übereinstimmung bringen.Der temperamentvolle Gamanitschandazum Beispiel manövrierte gut mit demElefanten. Er sah auch bei überraschendenAttacken der Pferde immer die entschei-denden Schwächen. Dagegen fehlte ihmjedes Verständnis für strategische Vorteile,die sein Verbündeter mit unscheinbarenSchritten der Fußsoldaten erreichen wollte.Es gab außerdem die grundsätzliche Frage,wie es einem Spieler gelingen sollte, richtigzu reagieren, wenn dessen Partner – genialbeflügelt – urplötzlich einen völlig uner-warteten und rätselhaften Zug präsentier-te?Das neue Ärgernis beruhte nicht etwa dar-auf, daß einzelne schlechte Verlierer waren.Sondern ein ebenso fundamentaler Kon-flikt, wie ihn einst das Würfeln verursachthatte, zeichnete sich nach der Reformimmer deutlicher ab.

Infolge des spontanen Lernens begabterAnfänger hatte zuerst die Bedeutung desWürfels sich verändert. Und nachdem derStörenfried endlich vertrieben worden war,führte diese energische Maßnahme zu wei-teren unvorhergesehenen Konsequenzen,nach dem Prinzip der fallenden Karte ineinem Kartenhaus.Jede Partie begann bekanntlich mit vierTeilnehmern, von denen jeweils zwei mit-einander verbündet waren. Diese Spielregeldes Gelehrten erwies sich mehr und mehrals problematisch – allerdings erst, seitdemnicht mehr gewürfelt wurde.Wer sich den Konfliktstoff in Form einesbeunruhigenden Alptraums vergegenwärti-gen möchte, stelle sich vor, legendäreSchachgrößen hätten zu ihren kämpferi-schen Turnierpartien immer paarweiseantreten müssen. Also Weltmeister Steinitz

gemeinsam mit Blackburn gegen Laskerund Zukertort; Morphy und Bird gegenAnderssen und Löwenthal; Tartakower undNimzowitsch gegen Capablanca und Rubin-stein usw. Vielleicht wäre es mancherLeserin und manchem Leser dann doch lie-ber, im Traum beim Schach zu würfeln.Die geplagten indischen Reformer hattendie häufigen Mißverständnisse und Strei-tereien der Verbündeten lange mit angese-hen, selbst ertragen müssen und sich ihreGedanken hierüber gemacht. Sie fandenschließlich eine erstaunlich naheliegendeLösung.Worum ging es denn eigentlich? Weil einstder Gelehrte sich von der Kriegskunst undder heiligen Zahl Vier inspirieren ließ,begann jede Partie mit vier Teilnehmern.Also aufgrund einer theoretischen mathe-matischen Idee – und logischerweise nichtals Ergebnis einer Praxis, die erst folgte.Alle für das Tschaturanga charakteristi-schen Zahlen passen übrigens in die simpelerscheinende Verdoppelungskette 1 – 2 – 4 – 8 – 16 – 32 – 64. Und als Fortsetzunggibt es die Legende von den verdoppeltenWeizenkörnern pro Feld des Schachbretts.Ein übermütiger Meister der Zahlenkunstriskierte offensichtlich lieber seinen Kopf,als den gefährlich unberechenbaren Fürstenetwas mehr zu respektieren. Dieser alge-braische Vorwitz wird gerne prahlerisch mitdem Schachspiel verknüpft: O! was für eineunfaßbar lange Zahl – und astronomischhohe Summe an Möglichkeiten!Beim Tschaturanga mußten sich bekannt-lich zunächst zwei der Teilnehmer nachein-ander geschlagen geben. Die Entscheidungum den endgültigen Sieg – und den Löwen-anteil des Einsatzes – wurde als Zweikampfausgefochten. Der Gelehrte hatte also einSpiel für vier, für drei und für zwei Teil-nehmer erfunden. Das Endspiel zu zweit bottausend andere Spannungsmomente, aberdie ärgerlichen Mißverständnisse bei derKommunikation mit dem Verbündeten blie-

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ben den beiden letzten Spielern selbstver-ständlich erspart.Als die Meister über die jüngsten Zwistig-keiten nachdachten, erschienen ihnen diesegewohnten Tatsachen in einem neuen Licht.Sie hätten sich nun damit begnügen kön-nen, einfach die Spielregeln so zu ändern,daß es keine Verbündeten mehr gab, son-dern jeder Teilnehmer seine Partie alsEinzelkämpfer bestritt.In ihren nachdenklichen Köpfen entwarfensie jedoch ein kühnes und weitreichendesProjekt. Die Endspiele gehörten zu ihrenaufregendsten und wichtigsten Erfahrun-gen. Und das nicht nur deshalb, weil sichhierbei herausstellte, wer die Partie ge-wann. Die Meister fragten sich, ob es sinn-voll sein könnte, die Bedingungen desEndspiels auf die ganze Partie zu übertra-gen: Nicht vier, sondern zwei Teilnehmervon Beginn an! (Die drängenden hellenWogen der unmittelbaren Erfahrung schlif-fen unablässig an felsigen Heiligtümern.)Das mochte ein großartiger Gedanke sein,wenn das Tschaturanga diese weitere Ope-ration auch noch überlebte und nichtzusammenbrach – wie ein allzusehr inBewegung geratenes Kartenhaus.Natürlich! – Ein Duell! – Ohne Verbündete!– Warum waren sie nicht schon viel früherauf diese einfache Idee gekommen?

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurdenmotorisierte Fahrzeuge konstruiert, die,unabhängig von Schienen, stark und schnellübers Land dahineilen sollten. Solche mobileHochdruckdampfmaschine – angetriebenvon rotglühenden Kohlen – befördertehauptsächlich ihren eigenen enormenVorrat an Brennstoff. Dabei verbrauchte siedenselben nach und nach, bis dieses mon-ströse Vehikel plötzlich ausbrach, unnach-giebig auf ein rechtschaffenes Häuschenlosfuhr – und es in Trümmer legte.Wer so ein Monstrum mit einem schickenbordeauxroten VW »Käfer« des Jahrgangs

1960 vergleicht, in dem Verliebte unbe-schwert durch den Taunus reisten, wird es – ganz im Gegensatz zu Herrn van der Linde – für ziemlich normal halten, daß vorrund zweitausend Jahren aus einemWürfel- und ansatzweise Denkspiel für vierTeilnehmer – ein Zweikampf werden konn-te, nachdem der Würfel bereits des Feldesverwiesen worden war.

Die Reifeprüfung

»Zwölf Tage brachte ich in Rudolstadt mit Essen,

Trinken und Schachspielen oder Blindekuh-

spielen (!) zu. Ich wollte ganz feiern, und diese

Erholung hat mir wohlgetan, obgleich sie mir

gegen das Ende unerträglich wurde. Lange kann

ich den Müßiggang nicht ertragen, solchen

besonders, wo der Geist nicht einmal durch gei-

stigen Umgang gepflegt wird.«

Friedrich von Schiller am 1. November 1790 in einem Brief an seinen Freund

Christian Gottfried Körner.

»Wollte ich ausgehen, so hatte ich seinen Arm;

wollte ich Schach spielen, so spielte er; wollte

ich mir vorlesen lassen, so las er; wollte ich

Musik, so sang er zur Guitarre; ... solch einen

Cicisbeo finde ich nie wieder.«

Johanna Schopenhauer zu Neujahr 1807 in einem Brief an ihren Sohn Arthur.

»Unter den wütendsten Allegros und Fortissimos

festlich aufgeregter Quartette von Rubinstein

und anderen ungezügelten neueren Komponi-

sten, gegen welche Beethoven die blanke

Schlafmütze ist, findet die Konversation statt,

und unter dem angelegentlichsten Durchein-

ander lauter Rede und Widerrede spielt die

Herzogin mit mir Armen noch obendrein ein paar

Partien Schach. Da ist's denn freilich vorgekom-

men, daß ich eine Zeitlang ohne König spielte,

weil meine erlauchte Feindin, die ihn für einen

Läufer gehalten, mir Allerhöchstdenselben weg-

geschlagen hatte.«

Wilhelm von Kügelgen am 28. Oktober 1859 in einem Brief an seinen Bruder Gerhard.

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Während beim Bau von Tempeln Bildhauererzählende Basreliefs und endlose orna-mentale Schmuckbänder – Ranken, Blätter,Blüten und Früchte – in Sandstein meißel-ten, Brahmanen den heiligen Veda studier-ten und buddhistische Lehrmeister ins ferneChina wanderten, übten die Verfechter desfreien Figurenspiels still besessen ihre spe-zielle KunstfertigkeitJeder der beiden Teilnehmer übernahmzusätzlich die 8 Steine des ehemaligen Ver-bündeten. Das war keine übermäßige Bela-stung, denn auf das Brett geblickt undmehr oder weniger mitgerechnet, wenn einanderer zog, hatten die indischen Strategenja immer. So wie jeder moderne Schach-spieler sich bemüht, in seine hoffnungsvol-len Absichten alle starken Erwiderungendes Gegners mit einzubeziehen und trotz-dem im entscheidenden Moment die Nasevorn zu haben.Meistens kannten sie einander und mancheiner brannte darauf, neue Schlingen undFallen schleunigst auszuprobieren. Dem ent-täuschten Verlierer blieb nur übrig, seinenEinsatz abzuschreiben und mit sich selber zuhadern: Den Würfel und den Verbündeten,die an allem schuld gewesen sein konnten,gab es ja beim Tschaturanga nicht mehr.Gute Spieler wünschten auch keine Rück-kehr zu den alten Regeln. Sie wollten wei-terhin allein, ohne stillschweigende Rück-sichtnahme, über jeden Zug entscheiden.Und der Gewinn eines kleinen Vermögensan Geld, Silber und Gold oder an Perlen undEdelsteinen, im Pavillon des reichen Han-delsherrn Patanjali, bedeutete ungleichmehr als wortreiche Bewunderung undschmeichelhaftes Lob.Nie wieder würde so ein Triumph durch dieunbegreifliche Begriffsstutzigkeit einesVerbündeten zerstört werden! Standendenn etwa auf den Streitwagen berühmterKrieger zwei Wagenlenker und diskutiertenwährend des Schlachtgetümmels langekontrovers darüber, ob und wann – das

rasende Gespann – gezügelt werden müsse?Exzentriker unter den Meistern neigtenallerdings dazu, den Gewinn des Einsatzesetwas zu vernachlässigen. Spötter meinten,es werde mit ihnen noch so weit kommen,daß sie höchst konzentriert und ange-strengt – um gar nichts spielten!

Die Anzahl der Teilnehmer war auf zweireduziert worden. Dem folgte eine unpro-blematische technische Anpassung: ZweiFarben genügten jetzt, um die beiden Heereunterscheiden zu können. Und die nunmehrzwei Farben tendierten dazu, sich in daskräftig gegensätzliche Helldunkel oderSchwarzweiß umzuwandeln.Übrigens wäre das zukünftige Schachbrett-muster der 64 Felder wohl des Guten zuvielgewesen, solange vier Gruppen markierterSteine auch noch durch vier unterschiedli-che Farben gekennzeichnet waren.Spätestens als dann jeder Spieler seine ins-gesamt sechzehn gleichfarbigen Steine aufdem Brett liegen sah, bereitete dies dennächsten epochalen Reformschritt vor:Warum wurden denn Streitkräfte, die seitkurzem gewissermaßen einheitlich unifor-miert erschienen und deren Manöver undAttacken nun ein Spieler lenkte, nochimmer in zwei Gruppen geteilt und räum-lich getrennt? Wieder fiel eine Karte desalten Kartenhauses: Die Steine wurden jetztumgruppiert.Das Ergebnis eines recht einfachenVerfahrens, welches leicht auf einemSchachbrett zu demonstrieren ist, jedochschwer mit Worten zu schildern, war diewesentlich veränderte und im großen undganzen bis heute übliche Aufstellung aufden Grundlinien. Wobei die gewohnteReihenfolge der Offiziere bestehen blieb:König, Elefant, Pferd, Wagen und davor dieInfanterie. Die Symmetrie diente nicht nurder geometrischen Logik und Schönheit,sondern ebenso der Gerechtigkeit: Es durf-te ja keine Partei benachteiligt werden.

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Im Zentrum – sie wurden nicht etwa amluftigen äußersten Rande der Flügel posti-ert! – standen zwei Könige nebeneinander.Über diesen heiklen Punkt wird noch ernst-lich zu reden sein!Die neue Grundstellung entsprach demAufmarsch einer realen großen Armee mehrals die ursprüngliche Komposition desErfinders. Das mag als Indiz dafür gelten,daß er entweder kein »Naturalist« gewesenist oder sich an einem anderen Vorbildorientierte. Jedenfalls wäre es unsinnig zubehaupten, vom »Zeitgeist« ausgelösteübermäßige Kriegsbegeisterung habe ihndazu gebracht, an seinem Zahlenwerk undan den unterschiedlichen Sprüngen undSchritten der Steine beharrlich zu feilen.Übrigens paßten sich auch die Spieler denveränderten Rahmenbedingungen gering-fügig an. Sie rutschten nämlich von denEckplätzen, wo sie gesessen hatten als esnoch vier Teilnehmer gab, in die Mitte.Scheitern würde jeder Versuch, aus dergradlinigen neuen Grundstellung noch »derSwastika zierlich gelockte Ranke« heraus-zulesen. Die zitierte und damals unbedenk-liche Formulierung stammt von EdwinArnold, einem englischen Autor des 19.Jahrhunderts und »Ritter des Sterns vonIndien«.

Anfangs dominierte die heilige Zahl Vier.Den Aufbau des altindischen Heeres, dasaus vier Einheiten bestand, übernahm derMeister der Zahlenwissenschaft wahr-scheinlich als abstraktes mathematischesThema. Die verantwortlichen Feldherrenwären natürlich nicht so weit gegangen,diese Schlachtordnung ohne Rücksicht aufmilitärische Erfolge beizubehalten – alleineder heiligen Zahl Vier zuliebe.Was vor langer Zeit der sinnende und sum-mende Gelehrte an symbolischer und magi-scher Geometrie in seine Erfindung sichtbarhineingewebt hatte, war längst verblaßtoder ganz verschwunden. Dagegen wird

niemand bestreiten, daß es zwischen demmehrfach reformierten Tschaturanga unddem Schachspiel ja wohl doch gewisse Ähn-lichkeiten gibt. Zumal die neue Grund-stellung fast völlig derjenigen unseresSchachspiels entsprach. Wäre van der Lindeangesichts dieser verwandtschaftlichenNähe von Zornesröte übermannt worden? –oder hätte die Röte lebhaften Interesses ihnzart erglühen lassen?Wie dem auch sei, die Schlüsselzahl Vierwar von der Zwei verdrängt worden. Wasnicht heißen soll, die pragmatischen Re-former hätten ihre Entscheidungen imSinne solcher Zahlenkonkurrenzen getrof-fen. Dem Drang der Strategen zu verwickel-ten Kombinationen eröffnete das Zweipar-teiensystem durchaus Wege und Bahnen.Bevor jedoch die Vier endgültig von derBühne verschwand, trat sie noch einmal vordas Publikum, um sich spöttisch zu verab-schieden.

Das Ohr des Königs der Könige

»Der König, der, wenn ihn die Weisheit seines

Großwesirs nicht irremachte, ein ziemlich

gerechter Mann war ...«

Morgenländische Erzählungen »Der Kaufmann von Schirwan«

»Der König wäre allzeit gut, wenn man ihn sei-

nem eigenen Antrieb folgen ließe.«

Liselotte von der Pfalz am 23.03.1709in einem Brief aus Versailles

an die Kurfürstin Sophie von Hannover.

»Und dem alten Fritz bin ich recht nah worden,

da ich hab sein Wesen gesehn, sein Gold, Silber,

Marmor, Affen, Papageien, und zerrissene Vor-

hänge, und hab über den großen Menschen seine

Lumpenhunde räsonnieren hören.«

Goethe am 05.08.1778 in einem Brief aus Berlinan Johann Heinrich Merck.

Zwei Gegner saßen nun einander gegen-über und zu Beginn der Partie lagen vor

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jedem seine 16 Steine. In ihrem Eifer, sofortpraktische Erfahrungen mit dem neuenAufbau zu machen, wurden die Spielerplötzlich gebremst. Jede der ehemals vierArmeen hatte ihren König behalten. Des-halb standen auf den Grundreihen nun zweiKönige nebeneinander. Das entsprach denstrengen Forderungen der Symmetrie. Diefürstlichen Zwillinge verursachten trotzdemerhebliches Kopfzerbrechen.So brachte die verstoßene Vier sich nocheinmal boshaft in Erinnerung!Abgesehen von den Schwierigkeiten, diesich auf das Spiel selbst bezogen, hatten dieMeister folgendes zu bedenken: Herrschermußten immer befürchten, daß ein gefähr-licher Rivale auftrat. Das konnte ein Ver-wandter, sogar der eigene Sohn sein. Mili-tärisch unterstützt von mächtigen Adels-familien, deren ehrgeizige Wünsche bisherunerfüllt geblieben waren, forderte derPrätendent mit gezücktem Schwert dieKrone. Seine Truppen standen bereit, dasLand in einen blutigen Bürgerkrieg zu stür-zen.Auch auf dem Spielbrett durfte mit derUnantastbarkeit des Königs nicht leichtfer-tig umgegangen werden. Darum drehte dieDebatte der Theoretiker sich um das proble-matische Quartett gekrönter Häupter. EinenZeitvertreib öffentlich oder insgeheim aus-zuüben, bei dem es zwei Könige nebenein-ander gab, deren Verhältnis zueinanderunklar blieb, grenzte an Hochverrat undKönigsmord! Die Meister betasteten ängst-lich ihre Hälse. Sie beeilten sich, den jüng-sten Reformschritt zu überdenken und zukorrigieren.Zunächst war es unumgänglich, auf jederSeite einen der Könige kurzerhand vomBrett zu nehmen. Dann blieb jedoch seinFeld leer. Denn niemand hatte die Absicht,das Fundament der acht mal acht Felderanzutasten, es etwa um eine Linie zu ver-kürzen. Die Reformer hantierten schon wie-der an einem schwankenden Kartenhaus.

Sie mußten sich schnellstens etwas einfal-len lassen.Bald schwebte ihnen vor, daß der Neulingganz eindeutig ein Untergebener seinesfürstlichen Gebieters und gleichzeitig des-sen würdiger Nachbar sein sollte. Der ober-ste Ratgeber oder erste Minister galt als dievertraute Stimme am Ohr des Herrschers.Sprach nicht alles dafür, diese einflußreich-ste Persönlichkeit des Hofes nun auch aufdem Spielbrett erscheinen zu lassen?Fraglich blieb dann noch, welche Zugweisepassend für den neuen Stein war. Vielleichtein diagonaler Schritt – kein Sprung.Damit waren die Reformer schließlich ein-verstanden. Obwohl sie einen Schönheits-fehler nicht vermeiden konnten, den wir bisheute auf dem Schachbrett vor Augenhaben. Sie fanden nämlich keinen Weg, diereinen Gesetze der Symmetrie vollkommeneinzuhalten: Der König und sein Ratgeberbildeten ein asymmetrisches Paar. Aus derSicht des Gelehrten wäre das eine Kata-strophe gewesen.Die Nachfolger dachten pragmatischer. Siekamen zu dem Ergebnis, das alte Tschatu-ranga sei durchaus erfolgreich reformiertworden. Der formale Mangel an reinerSymmetrie würde das Spiel nicht stören.

»Bruder von Sonne und Mond –

Geselle der Sterne«

Der persische Sassanidenkönig Schapur I.

(241–272) nannte sich: »König der Könige, König

der Arier und der Nichtarier, Herrscher des

Weltalls, Abkömmling der Götter«. Sein Sohn,

Schapur II., fügte hinzu: »Bruder von Sonne und

Mond, Geselle der Sterne«.

Joachim Petzold »Das königliche Spiel«

»Warrlich seitdem ich gelernt habe daß mann ein

Sonnenstäubgen in einige 1000 teilgen teilen

könne, seitdem sage ich, schäm ich mich daß ich

jemahls einem Mädgen zugefallen gegangen

binn, das vieleicht nicht gewußt hat, daß es

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thiergen gibt, die auf einer Nadelspitze einen

Menuet tanzen können.«

Goethe am 06.12.1765 aus Leipzig, wo er stu-dierte, in einem übermütigen Brief an seine

Schwester Cornelie.

Indische Gesandte überreichten persischenFürsten ein kostbares Exemplar diesesBrettspiels, dessen Linien längst nicht mehrin den geglätteten Erdboden gezogen wur-den und das seine von Reformen geprägtenEntwicklungsjahre hinter sich gelassenhatte.Die Perser nannten es »Schatrandsch« undhandschriftliche Legenden berichten vonihm. Außerdem ist es auf leuchtend farbi-gen Buchillustrationen genau zu sehen, dieallerdings erst tausend Jahre später gemaltwurden:Der Fürst thront erhöht auf seinem Ehren-sitz. Wimpel flattern an den Helmen derKrieger. Würdenträger, Beamte, Hofbedien-stete und glatte Jünglinge schreiten daheroder hocken auf prächtigen Teppichen. Eswird gegessen und getrunken, geplaudert,musiziert und gelacht. Und Buzurgmihr, derpersische Arzt und oberste Ratgeber desKönigs, beweist den indischen Gesandten,die gespannt abwarten, daß er über Nachtohne fremde Hilfe den Sinn und die Regelndes rätselhaften Spiels verstanden hat.

Dagegen gibt es fast gar keine Darstellungdes Würfelvierschachs aus vorchristlicherZeit. Als sensationelle Ausnahme – sozusa-gen als die winzige Nadel im unermeßlichengoldenen Heuhaufen der frühen indischenund buddhistischen Kunst – ist ein kleineserzählendes Relief am Deckbalken desStupa-Zaunes von Bharhut um so mehr zubewundern.Vier Spieler sind detailliert und realistischdargestellt. Auch die Linien der Felder undflache markierte Steine sind deutlich zuerkennen. Drei der Männer saßen nochbeim Spiel. Zwei von ihnen springen in die-

ser dramatischen Szene zu Tode erschrok-ken auf. Denn ein Erdspalt öffnet sich - undwird »einen lügnerischen König nebst sei-nem Freund« verschlingen.Der vierte Teilnehmer sitzt etwas entferntvom Spielfeld. Er war nämlich, ehe der stra-fende Erdspalt sich öffnete, als vorzeitigerVerlierer ein Stückchen nach hinten wegge-rückt. Jetzt blickt er seinem Vordermannängstlich über die Schulter und hebt war-nend den Zeigefinger der rechten Hand.Ein derartig schreckliches Ereignis undmoralisches Exempel wurde bestimmt nichtvor einem buddhistischen Heiligtum inStein gemeißelt, um dem Publikum – das anden vier Toren und dem Zaun hochblickteund die belehrenden Bildergeschichten las – die Tiefsinnigkeit und Schönheit derBrettspiele besonders ans Herz zu legen.Deshalb stellt Joachim Petzold in seinerKulturgeschichte des Schachspiels vor-wurfsvoll die Frage, ob die Lehre Buddhasförderlich war »für die Ausbreitung undAusformung von Spielen aller Art«. (Beide,der Buddhismus und das Schachspiel, erleb-ten ihre größten Erfolge nicht in ihremUrsprungsland Indien.)Nun, Schachfreundinnen und Schachfreun-de werden sich gelassen damit abfindenmüssen, daß weder indische Bodhisattvasnoch chinesische Buddhameister dazu neig-ten, sich auf die staubige Ebene der Spiel-leidenschaft fallen zu lassen.Und wer hätte denn jemals die zwölfApostel für die Ausbreitung und Ausfor-mung von Spielen aller Art verantwortlichgemacht?Den Teufel (Franz Liszt war nach seinerPriesterweihe am 25. April 1865 in Rom u. a. auch Exorzist! Sollte er mit seinenhimmlischen Improvisationen böse Geisteraustreiben?) darf sich jeder am Spielbrettvorstellen. Zweifellos kennt Beelzebub,wenn die Stellung brennt, genügendSchliche und Paraden, um alle Gegner insBockshorn zu jagen.

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Andererseits träumen wir davon, wie einesTages ein gewitzter Sterblicher kommt, derseine Seele nicht verkauft, sondern – hihi! –dem höllischen Gesellen eins auf die schil-lernden Hahnenfedern der spitzen Kappegibt.Aber Matthäus, Johannes oder Petrus ver-bissenen beim Taktieren und Kombinierenoder beim Null ouvert –?Nein, auch buddhistische Lehrmeister imgelben Ordensgewand, die durch Täler undüber verschneite Pässe am Rande desunüberwindlichen Himalaya ins ferne Chinapilgerten, ließen sich nicht herab, ihreerbettelten Muschelpfennige beim Spiel umeinen kleinen Einsatz zu riskieren – mochtedas Tschaturanga auch noch so oft refor-miert worden sein.

Steine und Figuren

»Aus der Erinnerung fiel mir ein, daß meine

Mutter immer sagte 'prise to your queen', wenn

sie mich darauf aufmerksam machen wollte, daß

meine Königin in Gefahr sei. Ich glaube, sie sagte

prise; aber es kann auch preeze gelautet haben,

oder preys (ausgesprochen wie keys) oder sonst-

wie. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich

Schach gespielt habe; oder daß ich so viel davon

behalten haben sollte.«

Bernard Shaw am 29.01.1913 in einem Brief an Stella Patrick Campbell.

»Ich würde zur Feier des Geburtstages gerne eine

Partie Schach spielen falls Du nicht bis Weih-

nachten besetzt bist.«

Stella Patrick Campbell am 05.02.1913 in einem Brief an Bernard Shaw.

Es wäre in vorchristlicher Zeit indischenKünstlern nicht allzu schwergefallen, plasti-sche Figürchen für das Tschaturanga herzu-stellen. Das unterblieb schon deshalb, weildie flachen markierten Steine ihren Zwecktadellos erfüllten. Wahrscheinlich hatte derGelehrte sie einfach übernommen und nur

etwas angepaßt. Er fühlte sich gewiß nichtverpflichtet, jedes Detail neu zu erfinden.Vier Mannschaften in grünen, roten, gelbenoder schwarzen Trikots bestimmten ur-sprünglich das Bild. Die Spieler agiertenunter der Vormundschaft des Würfels. IhreFähigkeit, in den Stellungsmustern derSteine zu denken, war alles andere als bril-lant. Vom Würfel angefeuert bewegten dieEreignisse sich auf den Augenblick desGewinns oder Verlustes zu. Wer an derartigturbulenten und kostspieligen Runden teil-nahm, wird kaum darüber meditiert haben,ob es nicht besser wäre, die vorhandenenSpielsteine umzugestalten.Als etwa fünfhundert Jahre später im köst-lichen Rosengarten eines Sassanidenkönigsder geschminkte Dichter den klugenAstrologen endlich mal beim Schatrandschbezwingen wollte – ein verzweifeltes Un-terfangen, das wieder mit einer bitterenEnttäuschung endete –, hatte die Situationsich sehr verändert.Der Würfel war längst verbannt worden.Nur noch zwei Gegner saßen am Brett ein-ander gegenüber. Jeder dirigierte 16 Steineund beide mußten ungleich schwierigereAufgaben bewältigen. Dabei halfen pla-stisch gestaltete Elefanten, Pferde, Fußsol-daten usw. sehr. Die Markierungen hattensich gewissermaßen erhoben und die fla-chen Steine dienten ihnen nur noch alsSockel. Für die leidenschaftlich rechnendenPraktiker blieb jedoch immer die Zugweisedas entscheidende Merkmal. Mit der äußer-lichen Gestalt der Figuren und deren Iden-tität – abgesehen vom König – durftelockerer umgegangen werden.So löste in Persien der »ruhk« den indischenWagen ab. Persische Spieler wußten ver-mutlich, was mit diesem Wort gemeint war.Sie hätten es aber nicht unbedingt wissenmüssen.Denn sobald die Beteiligten untereinandergeklärt hatten, wie mit der fraglichen Figur(ungeachtet ihres Äußeren und ihres

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Namens) gezogen wurde, gab es beim Spielja keine Probleme. Diese Gleichgültigkeitermöglichte später, Schachfiguren denunterschiedlichsten Kulturen und Menta-litäten entsprechend umzugestalten. Be-kanntlich wurde im christlichen Europa desfrühen Mittelalters aus dem orientalischenWesir die Königin oder Dame.Und wären in Frankreich nach der Revo-lution von 1789 den Schachfiguren dieNamen und Umrisse von Pilzen, Schnecken,Schmetterlingen oder Pflanzen der Alpen-flora amtlich verordnet worden, alleSchritte und Sprünge aber vom revolutio-nären Eifer völlig verschont geblieben, dannhätten die Schachfreunde sich weiter insCafé de la Régence begeben können, umsich in botanische Partien zu vertiefen –unter dem Adlerblick Bonapartes.Daran hat sich bis heute nichts geändert.Ob die Figuren künstlerisch ausgearbeitetsind und was sie darstellen, ist den meistenProfis egal: solange nur das Berechnen derStellungsbilder nicht durch störende Farbenoder Formen erschwert wird. Dem bestaun-ten Blindspieler bleibt es ganz frei überlas-sen, wie die Schachfiguren aussehen, die erbewegt.

Der Bogen

»An jenem Tage gewann nun Zeirek gegen den

Schloßvogtsohn und fing dann wie gewöhnlich

an, ihn zum besten zu haben. Da er es aber mit

seinen Späßen etwas weit trieb, so wurde sein

Gegner sehr zornig, und sich schämend, daß im

Beisein seiner Freunde ein so gemeines Wesen

wie ein Affe ihn zum besten gehabt, ergriff er in

der Aufwallung den elfenbeinernen König und

schlug damit den armen Zeirek so stark auf den

Kopf, daß dieser sich spaltete und vom herab-

strömenden Blut das Schachbrett rubinrot

wurde.«

»Das Papageienbuch«, indische und persischeErzählungen, von Georg Rosen 1858

aus der türkischen Fassung übertragen.

Den Anfang des weiten Bogens, der überetwa fünf Jahrhunderte gespannt wurde,machte das Tschaturanga. Diese genialeVariante naiver Brett- und Würfelspieleenthielt schlußendlich unser Schachspiel –wie die steinalte Buche, samt all ihrenmächtigen Ästen und unzähligen Zweigen,einst in einer winzigen Buchecker steckte.Zweifel daran, ob der Meister der Zahlen-kunst gebildet und einfallsreich genuggewesen sein kann, die Schritte des Königsund der Fußsoldaten sowie die Sprünge desElefanten und des Wagens mit dem Rössel-sprung zu krönen, verkennen und beleidi-gen das Wissen und die Kunstfertigkeit deralten Kultur Indiens.Spielleidenschaft, Lernfähigkeit, Ehrgeiz,Kampfgeist, Gewinnsucht usw. trafen dannmit dem zusammen, was als unerschöpfli-ches Potential im Tschaturanga angelegtwar. Dabei ergab sich mehrfach die Not-wendigkeit, das größtenteils theoretischeGedankenwerk des Erfinders der Praxisanzupassen.Die handfesten Ergebnisse der Reformenkönnten grundsätzlich mit dem Spaten aus-gebuddelt werden (wie uralte Schädel). Dermit den bedächtigen Spatenstichen ver-bundene Optimismus wird jedoch durch dieÜberlegung gebremst, ob aus Epochen, indenen Königsresidenzen und Metropolenspurlos verschwanden, Spielsteine oder -bretter erhalten geblieben sein werden.Noch weniger Hoffnung bleibt, wenn diePriesterschaft strikt verboten hatte,Verstorbenen die Utensilien einer verwerf-lichen Leidenschaft als unterhaltsameGrabbeigabe mitzugeben – auf die langeReise ins Jenseits.Der Bogen endet in Persien, dem Reich derGroßwesire und Magier. Zu überbrückenwar die Kluft zwischen der ursprünglichenFassung des Würfelvierschachs und demgeschliffenen Schatrandsch. Auch der indi-sche Gelehrte trat nun schemenhaft hervor.Insofern nämlich, als sich jetzt mancher für

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die Vergangenheit und den Erfinder diesesbewundernswerten Spiels interessiert ha-ben wird.

Geniale Kinder –

und des Schachspiels Erfinder

»Lieber Sohn! Eine Erscheinung aus der Unter-

welt hätte mich nicht mehr in Verwunderung

setzen können als dein Brief aus Rom –«

Goethes Mutter im November 1786 in einem Brief an ihren Sohn,

der inkognito nach Italien gereist war.

»Ich habe ihm einen Spaten gegeben um Erde

umzugraben und ein Hackebeil zum Holz spal-

ten. Aber er, er geht lieber an seine Schach-

probleme – Was für eine Welt – Was für ein

dummer Witz! –«

Stella Patrick Campbell am 17.12.1921 in einem Brief an Bernard Shaw.

Zu der Frage nach dem Erfinder desSchachspiels erklärt Joachim Petzold in derEinleitung seines schönen Buches (das anallem Schuld ist): »Es wurde sogar in derÜberzeugung geschrieben, daß es ihn über-haupt nicht gegeben hat, weil dasSchachspiel in einem jahrhundertelangenProzeß entstanden ist.«Nun, wenn die Eltern Albert Einsteins zueinem gewissen Zeitpunkt stolz behauptethätten, einen genialen Physiker gezeugt zuhaben, wäre das eine nachträgliche An-maßung gewesen. Denn genaugenommenzeugten sie keinen genialen Physiker – dersich anläßlich einer festlichen Ehrungunterstand, zum dunklen Anzug nacktenFußes in die eleganten schwarzen Schuhezu schlüpfen –, sondern ein Baby, dessenSchicksal ungewiß war.Und die widersprüchliche Erfindung desGelehrten entwickelte sich schrittweisezum geschliffenen und gereiften Tschatu-ranga. Aus dieser indischen Innovationwurde dann durch feindliche Übernahme

das erfolgreiche persische Schatrandsch. Eswäre unsinnig, haargenau klären zu wollen,ob letzteres und das moderne Schachspielneue Arten oder lediglich Varietäten desarchaischen Vorfahren sind.Das Brett mit den acht mal acht Feldernund flache farbige Spielsteine mag derGelehrte ja vorgefunden haben. Er mußteauch Kriege und Schlachten, Mathematik,Geometrie und Zahlenmystik, das Würfelnund die Spielleidenschaft selbstverständlichnicht erst erfinden. Sensationell war jedochseine Konzeption (seine Software!): fünfmartialisch angehauchte Steine, die sichunterschiedlich bewegten.Alles spricht dafür, diese geniale Idee alsErfindung anzuerkennen.Joachim Petzold spürte den blassen Kon-turen einer schemenhaften Person nichtnach, bei der es sich vielleicht um den Vaterdes Schachspiels handelte. Er ließ diesenKandidaten, von dem er nichts genauereswußte, getrost »tief im dunkeln derGeschichte« verschwunden sein. Die fragli-che Vaterschaft übertrug er einem »jahr-hundertelangen Prozeß«. Hätte er seineMeinung geändert, wenn ihm doch nochbiographische Daten des unbekanntenErfinders auf den Schreibtisch geflattertwären?Der anfangs so unentbehrliche Geburts-helfer und Wegbegleiter, der Würfel, wurdelästig und schließlich gefeuert. KonstanterSchwerpunkt aller späteren Weiterent-wicklungen blieb die ebenso simple wieunergründliche mathematische Ebene desWürfel- und Denkspiels Tschaturanga. ImEuropa der Renaissance erfolgten die letz-ten großen Reformen. Die Königin oderDame und die Läufer bekamen die Freiheitzugesprochen, mit langen Schritten weit-reichende Interessen zu verfolgen – wieSchiffe, die nach China, Indien oder in dieNeue Welt segelten.Der Gelehrte hielt seine Erfindung wahr-scheinlich für eine recht hübsche und

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durchaus gelungene Fingerübung ange-wandter Zahlenkunst. Aber er beanspruchtegewiß nicht, daß er damit die Kulturge-schichte der Menschheit bewegen werde.Ohne von seiner genialen Vaterschaft

jemals etwas geahnt und sich ihrer gerühmtzu haben, verschwand er hinter jenen bos-haften Schleiern, deren einziger Zweckoffensichtlich darin besteht, sich nie undnimmermehr lüften zu lassen.

Traum der Königin Maya auf einem Relieftondo.Roter Sandstein.

Bharhut. 2. Jahrhundert v. Chr.

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»Aber, werden Sie fragen, warum sind Sie denn

so hypochondrisch? Ja, liebe Freundin, dieses

kann ich Ihnen nicht so genau sagen. Die Bücher

– o hüten Sie sich vor den Büchern!«

Christian Fürchtegott Gellert am 29. Dezember 1758 in einem

ungewöhnlich witzigen Brief an eine Freundin.

»Meine Bücher, die dauern mich; alle Aufsätze

und Manuskripte, die nach meinem Tode sollten

gedruckt werden, sind verbrannt. Ein großes

Glück für die Narren künftiger Zeit!«

Aus einem Brief des Obersteuersekretärs Rabenervom 9. August 1760 an seinen Freund Gellert.

Er schilderte darin die Belagerung und dasBombardement Dresdens durch preußische

Truppen – und sein eigenes trauriges Schicksal.

»Freund Woltmann hat wieder eine sehr

unglückliche Geburt und in einem sehr anma-

ßenden Ton von sich ausgehen lassen. Es ist ein

gedruckter Plan zu seinen historischen Vor-

lesungen: ein warnender Küchenzettel, der auch

den hungrigsten Gast verscheuchen müßte.«

Schiller am 15. Mai 1795 in einem Brief an Goethe.

Als ich eines Abends auf dem Teppichkniend Bücher aussortierte, die bei Oxfamgespendet werden sollten, und mich dannwieder dem überfüllten Bücherschrankzuwandte, las ich erstaunt direkt vor meinerNase den Namen: Ernst Strouhal. Ein ge-wichtiges Werk dieses Autors »Schach – DieKunst des Schachspiels« war unbestreitbarmein Eigentum. Aber auf welche Weisehatte ein so dickes und schweres Buch – und noch dazu ein rotes mit froschgrü-nem Rücken! – sich aus meinem Bewußt-sein fortstehlen können?Ich blätterte in dem Fundstück und trafrasch auf einen guten alten Bekannten. Die

Seite 194 zeigt nämlich jenes für Schach-historiker so beachtenswerte, in rotenSandstein gemeißelte altindische Relief, dasursprünglich den Deckbalken des Stupa-Zaunes in Bharhut schmückte. Es gehörtjetzt zu den Kunstschätzen des IndischenMuseums zu Kalkutta.Auf Seite 194 steht unter dem reproduzier-ten Schwarzweißfoto des Reliefs folgenderText:»Spieler und Kiebitze bei einem unbekann-ten Brettspiel, Relief an einem Stupa inBharhut (Nordindien), 2. Jhdt. v. Chr.«Ich widerstehe der Versuchung, mich langund breit darüber auszulassen, ob es sichnicht um ein Brettspiel handelt, das uns invieler Hinsicht durchaus bekannt ist – vondem wir nur leider die Spielregeln nichtgenau kennen. Jedoch die Frage: Wie kamHerr Strouhal zu dem Ergebnis, bei den vierdargestellten Männern handele es sich um»Spieler und Kiebitze«? geht mir nicht ausdem Sinn.

»So sprechend ging sie um den Baum, die Hände

faltend, rechts herum.«

Zitat aus der indischen Sage »König Nal«. Dazu wird in den Anmerkungen erklärt:

Das (gewöhnlich dreimalige) Rechtsumwandeln,d. h. das Herumgehen um eine heilige

oder ehrwürdige Person oder Sache, so daß man diese zur Rechten hat,

ist ein uraltes Zeichen der Verehrung nicht nur bei den Indern, sondern auch bei

anderen indogermanischen Völkern.

Ich muß jetzt etwas ausholen, um mein Zielzu erreichen (wie ein Leichtathlet Anlaufnimmt für den schwungvollen Dreisprung).

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Eine Seite aus einem dicken, schweren Buch

VON

GERD BORRIS

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In vorbuddhistischer Zeit waren Stupashalbkugelförmige Grabdenkmäler indischerWeltherrscher. Nach diesem Vorbild wurdeüber dem Grabe Buddhas ein Stupa errich-tet. Später baute man sie auch an heiligenOrten der Buddhalegende, über Reliqienusw. Zwischen dem Stupa und dem steiner-nen Zaun entstand ein Gang, auf dem dieGläubigen rituell rechts um den Stupaherum schritten und wandelten.Die Brettspielszene schmückte also einst,neben anderen Bildern und reichen Orna-menten, den Deckbalken des Stupa-Zaunesin Bharhut. Solche Reliefs weckten durchebenso einfache wie charakteristische Dar-stellungen die Erinnerung an volkstümlicheLegenden, belehrende buddhistische Erzäh-lungen usw.Sie entsprachen etwa den Reliefs undSkulpturen mittelalterlicher Kathedralen –wo eine kleine nackte Frauengestalt mitfließendem Haar, die einen Apfel in derHand hält, und in deren Nähe eine Schlangeüber belaubte Zweige gleitet, bei denchristlichen Betrachtern sofort die Ge-schichte Adams und Evas, des Sündenfallsund der Vertreibung aus dem Paradieselebendig werden ließ.Um einen Maßstab für das Verständnis derBrettspielszene zu gewinnen, wird es hilf-reich sein, zunächst eine vergleichbare alt-indische Bildhauerarbeit anzuschauen. ZweiReliefs, die ebenfalls aus Bharhut und vondem steinernen Zaun stammen, gehöreninhaltlich zusammen. Sie illustrieren dieebenso humorvolle wie drastische Erzäh-lung »Der Brahmane und der Schafbock«.Ein Brahmane, der als Bettelmönch imKloster lebte, schulterte einst ein Joch, andem Körbe voll Tonwaren hingen. Er mach-te sich auf den Weg und kam an denKampfplatz der Schafböcke. Ein kräftigerWidder lief angesichts des bepacktenMannes rückwärts und senkte den Kopf.Der Brahmane, sehr eingenommen vomAdel seiner Vorfahren und von seiner eige-

nen Vollkommenheit, bildete sich törichter-weise ein, das Tier wolle ihm Ehrfurchtbezeugen. Er legte dankbar die Händezusammen – zu der weltbekannten »Anjali-mudra« genannten Geste – und streckte siegrüßend dem Widder entgegen.Ein als weiser Kaufmann wiedergeborenerBodhisatta saß in seinem Laden und beob-achtete das Geschehen. Er versuchte verge-blich, das offensichtliche Mißverständnisaufzuklären und den Bettelmönch zu war-nen.Der Schafbock stürmte los, und mit einemheftigen Stoß gegen dessen Oberschenkelwarf er den Brahmanen zu Boden. Dabeiblieb nicht nur von den Tonwaren keinStück ganz, sondern der verblendete Bettel-mönch wurde so schwer verletzt, daß ersterben mußte.

Das erste Relief zeigt links (vom Betrachteraus gesehen) den ankommenden Bettel-mönch. Auf seinen Schultern liegt das Joch,an dem zwei schwere Körbe hängen. In derMitte, etwas im Hintergrund, senkt eingewaltiger Widder den Kopf. Die ganzeBewegung des Tieres richtet sich eindeutiggegen den Brahmanen. Rechts steht alsAugenzeuge der weise Kaufmann – hiersitzt er also nicht in seinem Laden. Er blicktzu dem bedrohten Ankömmling hinüberund gestikuliert dezent mit der Hand desangewinkelten rechten Armes. Die meistenBesucher des Stupa kannten die Geschichteja bereits, und sie wußten, daß er denBrahmanen warnen wollte.Das zweite Relief zeigt links den Schafbockin der ganzen Fülle seiner Mächtigkeit undKraft. Mit einem gewaltigen Rammstoß dessteinharten Schädels hat er den Bettel-mönch niedergeworfen. Das Opfer liegtschwerverletzt am Boden und hebt wehkla-gend den rechten Arm. Der Kaufmannsteht, etwas in den Hintergrund gerückt, inder Mitte. Diesmal stemmt er den angewin-kelten linken Arm in die Hüfte, und er

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blickt wieder zum Brahmanen hinüber.Mimik und Gestik des mitfühlenden Beob-achters mögen ungefähr besagen: Warumbist du denn nicht schnell ausgewichen?Wie konntest du nur so schrecklich dumm sein, dem blindwütigen Tier zu ver-trauen?Wer beide Reliefs mit der entsprechendenErzählung vergleicht, wird feststellen, daßder indische Bildhauer seiner Aufgabedurchaus gewachsen war. So ist z. B. derSchafbock kein Ziegenbock, keine Antilopeund auch kein junger Büffel.

»Verloren hatte alles Gut, verloren selbst das

Königreich an Puschkara der König Nal. Mit

Lachen sagte Puschkara: Willst du noch weiter

spielen, o Nal? was setzest du zum Spiele ein?

Dir bleibt noch Damajanti allein, verloren hast

du alles sonst. Wohlan, um Damajanti gilt's! so

würfle, wenn's gefällig ist. Bei diesen Worten

Puschkaras zerriß der Zorn des Königs Herz;

stumm blickte er den Bruder an, stand auf und

legte Stück für Stück von allen Gliedern die

Zeichen der Würde, den Königsschmuck mit

Schweigen ab.«

Indische Sagen »König Nal«, übersetzt von Adolf Holtzmann.

»Es kann auch an meiner augenblicklichen

Stimmung liegen, mir kommt aber immer vor,

wenn man von Schriften, wie von Handlungen,

nicht mit einer liebevollen Teilnahme, nicht mit

einem gewissen parteiischen Enthusiasmus

spricht, so bleibt so wenig daran, daß es der

Rede gar nicht wert ist. Lust, Freude, Teilnahme

an den Dingen ist das einzige Reelle, und was

wieder Realität hervorbringt; alles andere ist

eitel und vereitelt nur.«

Goethe am 14. Juni 1796 in einem Brief an Schiller.

In seinem Buch »Das königliche Spiel«zitierte Joachim Petzold den Kultur-historiker Hellmut Rosenfeld, der dieermahnende Botschaft der Brettspielszenekurz zusammenfaßte: ... wie ein lügneri-scher König nebst seinem Freund mitten

beim friedlichen Spiel vom Erdboden ver-schlungen wurde.Oh, oh, oh! klingt das nicht ein bißchen zuhalbherzig und fad? Ein lügnerischer Könignebst seinem (ganz unschuldigen) Freund?Und: mitten beim friedlichen Spiel ...?Handelte es sich nicht vielmehr um zweihinterhältige Komplizen, die beim aufrei-benden Spiel um hohe Einsätze andere vor-sätzlich betrogen?Oder ging der Erdspalt, als Gerichts-vollzieher des Schicksals, bei einer blitz-schnellen Taschenpfändung so rigoros vor,daß der ehrliche Freund eines gekröntenLügners gleich mit dran glauben mußte –und beide in eine tiefe Erdtasche stürzten?Wie bitter hätte sich das unschuldige Opferdann über jenes »nebst« zu beklagengehabt, das in Schachkreisen beim Analy-sieren und Kommentieren so beliebt ist!Nun – wie dem auch sei. Der Bildhauerkonnte z. B. einen ungeheuren Erd- oderFelsspalt darstellen und zwei Männer, diebetroffen hinunter in die Tiefe blicken, wovor Sekunden ihre Mitspieler verschwan-den.Das Relief zeigt jedoch ein sublimerespsychologisches Drama. Die vier handeln-den Personen sind alle zu sehen. Zwei ste-hen über dem Abgrund, der Erdbodenbricht bereits unter ihnen weg. Kurz zuvorsaßen sie noch am Brett, und beim fürch-terlichen Donnern des Erdbebens – das inihrem schlechten Gewissen widerhallte –sprangen sie vor Schreck auf.Im Gegensatz dazu veränderten die beidenanderen Männer ihre Sitzpositionen kaum.Sie scheinen zu ahnen, daß sie sich auf dersicheren Seite befinden. Ansonsten gibt eskeine wesentlichen äußerlichen Unter-schiede zwischen den vier Figuren. Alle tra-gen z. B. die gleichen gewickelten Kopf-tücher oder Turbane, deren Zweck wohldarin bestand, üppige Haarpracht dekorativzu bändigen.

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Deshalb rätsele ich vergeblich, wie ErnstStrouhal beim Studium des ebenso schönenwie schlichten Reliefs »Spieler und Kiebitze«voneinander unterscheiden konnte. Dieangeschnittene Randfigur links, die ihremVordermann über die Schulter blickt, werdeich noch ins hellste Licht rücken.»Kiebitze« – es müßten also mindestenszwei sein. Das hieße, wir sehen ein Brett-spiel für zwei Teilnehmer und zusätzlichzwei (zufällig anwesende?) Zuschauer. Waswürde dann aber aus der künstlerischenKonzeption einer klaren ökonomischenBildersprache? Warum meißelte der Bild-hauer vier um ein Spielbrett versammelteMänner, obwohl er ein Spiel für zweiTeilnehmer zeigen wollte? Hatte denndamals jeder Spieler einen getreuen Kiebitzals Bewunderer, Schüler und Wasserträgerzur Seite – wie der mittelalterliche Ritterseinen blondgelockten Schildknappen? Nurwenn es typischerweise solche Paare gab,stellte der Künstler sie selbstverständlichauch dar.Bei den beiden anderen Reliefs stimmtenalle Details: des Bettelmönches Joch mitden angeknoteten schweren Körben, dieunterschiedlichen Frisuren der beidenMänner, Schädel und Körperbau des Schaf-bockes usw. Warum arbeitete der Bildhauerbei der Brettspielszene den Unterschiedzwischen Spielern und Zuschauern nichtdeutlich heraus? Existierte dieser Unter-schied überhaupt? Aus welchem Grundehätte denn der indische Meister – imRahmen eines verhältnismäßig kleinen undauf die wesentlichsten Motive reduziertenWerkes – beliebige »Zuschauer« hinzufügensollen?Trotz des Strouhalschen Nebels werde ichder Beobachtungsgabe und dem techni-schen Können jener Bildhauer weiter ver-trauen. Ich behaupte sogar, daß sie unterkeinen Umständen etwas anderes abgelie-fert hätten, als präzise und klar verständli-che Werke. Allerdings konnten nur diejeni-

gen, denen die entsprechenden Legenden,Erzählungen, Märchen usw. bekannt waren,die Bildergeschichten ohne weiteres lesen.

Die Höhe der Bandreliefs beträgt etwa 43 cm. Sie zeigen, wie gesagt, nur Figuren,Tiere, Pflanzen und Gegenstände, dieunentbehrlich waren. So könnte z. B. dasgesamte Inventar der Brettspielszene anden Fingern einer Hand aufgezählt werden.Das Bäumchen rechts hat ausnahmsweisemit den dramatischen Ereignissen wenig zuschaffen. Es sei denn, wir machen unsSorgen um sein weiteres botanischesWohlergehen. Der Platz, an dem es steht, istnämlich sehr ungünstig. Voraussichtlichwird es bald mitgerissen in die Tiefe.Besondere Beachtung verdient die ange-schnittene Randfigur links. Dieser Anwe-sende hat offenbar gekiebitzt bevor dieKatastrophe begann. Ist er womöglich derverzweifelt gesuchte Zuschauer? Die nähe-re Untersuchung der allgemeinen Umstän-de förderte jedoch zutage, daß der ver-meintliche Kiebitz die wahre Bedeutungseiner bescheidenen Existenz am Außen-rande triumphierend rechtfertigen und alleMißverständnisse vollkommen ausräumenkann. Auf der Seite 194 steht allerdings:»und Kiebitze«. Wir müßten also mindestensnoch einen weiteren finden.Die Übeltäter sind vor Schreck aufgesprun-gen. Sehr schön! Sie sprangen auf – umdesto tiefer abzustürzen! Der Künstler warjedoch geschickt genug, hartnäckig nach-fragenden Betrachtern durch die auffälligeParallelität beider Gestalten glaubhaft zuversichern, daß sie vorher nebeneinanderam Brett gesessen haben. Bei einem sym-metrischen Spiel für vier Teilnehmer wärezu erwarten, daß auch die beiden Spielergegenüber, die nicht aufgesprungen sind,nebeneinander sitzen. Sie sitzen aberhintereinander – wie auf einem Tandem.Was nun?

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Mein bewunderndes Vertrauen in das mei-sterliche Können des Bildhauers wird auchhierdurch keineswegs irritiert.Auf dem leeren Platz, der vermutlich demvierten Spieler vorbehalten war, liegensechs markierte Spielsteine. Nun begnügtenjene lügnerischen Könige, rasanten Wagen-lenker, mysteriösen Meister der Zahlen-kunst, steinreichen Kaufleute usw. sichnicht damit, sportlich ambitioniert Spiel-steine hin und her zu schieben. Sie setztenvielmehr mit leidenschaftlicher Hingabehohe Vermögenswerte aufs Spiel. Deshalbwiderfuhr ihnen ja die Ehre, vor einembedeutenden buddhistischen Sakralbau inroten Sandstein gemeißelt und über Jahr-tausende angeprangert zu werden.Liegen also die sechs wertvollen Spielsteinerein zufällig auf dem verlassenen Platz desvierten Mannes? Bedeutet dieses Detail garnichts? Oder hat der am Brett verbliebeneSpieler diese Steine bereits gewonnen? Undzwar auf Kosten desjenigen, der als vorzei-tiger Verlierer ein Stückchen wegrückenmußte? Letzterer blickt seinem Vordermannüber die Schulter und verführt uns - miterhobenem Zeigefinger – zu der irrigenAnnahme, er sei jetzt und immerdar einKiebitz.Jedenfalls kiebitzten vorzeitige Verliererunfreiwillig bis zum Ende der Partie. Um sobegieriger werden sie darauf gewartethaben, bald wieder mitzumischen. WieKönig Nal, der erst zur Besinnung kam, bit-ter enttäuscht, als Bruder Puschkara ihmauch noch die geliebte Damajanti ab-knöpfen wollte.Der Bildhauer mußte also das Kunststückfertigbringen, die Randfigur so darzustel-len, daß dort ein »Spieler« saß – dermomentan zuschaute. Und da schließlichvier Männer und ein Spielbrett zu sehenwaren, meinte er wahrscheinlich, daß diesesMotiv selbstverständlich so verstandenwerden würde, wie es gemeint war: nämlichschlicht und einfach als Darstellung eines

Brettspiels für vier Teilnehmer. Er zerbrachsich übrigens hierüber gewiß nicht allzus-ehr den Kopf. Denn er zeigte ja nichtsRätselhaftes, sondern nur einen Ausschnittder allgemein bekannten Realität.

Die Bildersprache der Reliefs wurde durch-aus nicht verschlüsselt. Trotzdem konntedas Ergebnis meiner eingehenden Betrach-tung nur bruchstückhaft und unsicher sein.Wir haben zwar die Spielszene so drastischvor Augen wie z. B. die raufenden Karten-spieler eines Adriaen Brouwer, aber wederden flämischen noch den indischen Kün-stler packte der konservatorische Ehrgeiz,Spielregeln zu dokumentieren, die nachJahrhunderten oder gar Jahrtausenden! inVergessenheit geraten sein mochten.Immerhin sind die Details so vollständig,daß die frommen Besucher des Stupa zwei-fellos erkannten, um welches Spiel es sichhandelte. Der Bildhauer wird ja kein ganzunbedeutendes ausgesucht haben, zumalmindestens zwei gekrönte Häupter sichdaran beteiligen. Es könnte sogar in denPalästen der Herrscher besonders beliebtund deswegen buddhistischen Lehrmeisternein Dorn im Auge gewesen sein.Als begleitendes Thema des dramatischenStrafgerichts ist eine charakteristischeSituation dieses Spieles dargestellt: Von vierTeilnehmern befinden sich nur noch dreidirekt am Brett. Der vierte sitzt etwas ent-fernt. Nichtsdestoweniger gehört er zurversammelten Runde. Die asymmetrischeSitzordnung weist also unmißverständlichdarauf hin, daß einer die Partie bereits ver-loren hatte.Teilten nun üblicherweise drei Spieler sofortden Gewinn unter sich auf? Wohl kaum.Eine andere Schlußfolgerung liegt näher:Dem ersten vorzeitigen Verlierer – um die-ses prächtigen Titels willen, müßte man sichja förmlich anstrengen, die Partie undseinen Einsatz möglichst schnell zu verlie-ren! – folgte zunächst ein Leidensgenosse.

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Und auch danach wurde der Gewinn nochnicht verteilt. Denn jetzt begann erst dasspannende Endspiel. Zwei der anfangs vierAkteure saßen noch am Brett, und nur einerkonnte die Partie und den Löwenanteil desEinsatzes gewinnen.Das Brett ist quadratisch. Bezeichnender-weise gestattete der Bildhauer nicht einmaldem zerstörerischen Erdspalt, diesen Ein-druck wesentlich zu mindern. Die Propor-tionen des Brettes mit seinen Feldern fügensich ein in die Komposition.Wie würde das Brett optisch wirken, wennes acht mal acht Felder hätte – wie unserSchachbrett? Um zwei Reihen und Linienvergrößert unterschiede es sich erheblichvon dem, dessen Proportionen der Bild-hauer für angemessen hielt.Wer trotzdem weiter die Überzeugung ver-tritt, es seien in Wirklichkeit acht mal achtFelder gewesen, unterstellt, der indischeMeister habe aus künstlerischen Beweg-gründen Felder reihenweise verschwindenlassen. Woraufhin die Brettgröße ebensostimmte wie das Format der zahlenmäßiggestutzten Felder. In das vorhandene Brettdurften freilich keine vierundsechzig zähl-baren Felder eingepfercht werden, weilsonst die einzelnen Quadrate zu sehrgeschrumpft wären.Und die markierten Spielsteine? Auf demzerbrochenen Brett liegen keine. Es fallenauch keine haltlos in den Abgrund. Nur vordem steinernen Tisch oder Altar (der mögli-cherweise so zu interpretieren ist, daß dieMänner sich an einer festgelegten Spiel-stätte trafen, wo die Linien des Brettes inden Fels gemeißelt waren) wurden sechsSpielsteine locker geordnet deponiert.Außerdem liegt direkt zu Füßen des alleinam Brett sitzenden Mannes ein kleiner qua-dratischer Gegenstand. Dieses handlicheObjekt sieht genau wie die Spielsteine aus.Entpuppt es sich trotzdem als Würfel, dannist es jedenfalls kein prismatischer Stangen-

würfel mit Zahlenpunkten auf den vierLängsseiten.Hierzu erklärt Hellmut Rosenfeld: »DasBharhuter Relief zeigt links von den beidensiegreichen Königen einen einzelnen Spiel-stein, wohl den Würfel, sowie sechs aufein-andergeschichtete Würfel mit verschiede-nen Zeichen, die nicht mit der in der Stupazur Beschriftung benutzten Schrift über-einstimmen. Wahrscheinlich haben wir hierdie durch Zeichen unterschiedenen Spiel-steine vor uns.«O wie konfus sind diese beiden Sätze! Sechsaufeinandergeschichtete Würfel? Flachequadratische Spielsteine liegen nebenein-ander am Boden. Sie sind allerdings in nai-ver Aufsicht zu sehen – wie auch das Brettmit seinen Feldern. Und warum bezogHellmut Rosenfeld sich umständlich auf diebeiden siegreichen Könige, als er den ein-zelnen Spielstein erwähnte? Der Stein liegtdoch direkt vor dem Spieler, der auf deranderen Seite des Brettes sitzt. Die Lese-rinnen und Leser haben akrobatisch nach-zuvollziehen: daß dieser Spielstein wohl derWürfel ist – während andererseits die sechsaufeinandergeschichteten Würfel wahr-scheinlich Spielsteine sind. Ich traue michschon gar nicht mehr, pikiert anzufragen,warum Herr Rosenfeld die beiden zum Todeverurteilten Könige, unter denen derHöllenschlund sich bereits öffnet, als »sieg-reiche« apostrophierte.Interessant ist, daß mindestens zwei derSpieler Könige sind – ob nun lügnerischeoder nicht. Denn Joachim Petzold zitiert im1. Kapitel seines Buches »Das königlicheSpiel« den Indologen Heinrich Lüders: »DasWürfelspiel ... tritt uns im Epos als die vor-nehmste Unterhaltung des Adels, als daseigentliche Spiel der Könige entgegen ...«Vielleicht ist also allein schon die Teilnahmeder Könige ein indirekter Beweis dafür, daßbei diesem Spiel auch gewürfelt wurde,obwohl es sich nicht um das von HeinrichLüders angesprochene reine Würfelspiel

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handelt. Und niemand müßte sich mehrbemühen, in dem einzelnen Spielsteinunbedingt den versiebten Würfel zu erken-nen.Wenn ich jedoch daran denke, wie sorgfäl-tig bei den anderen Reliefs der Bettelmönchmit dem Joch oder der mächtige Schafbockausgearbeitet ist, kann ich mir kaum vor-stellen, daß der indische Künstler, als er einWürfelspiel dargestellte, für das wichtigsteRequisit keinen Platz mehr fand.Viel einfacher und klarer würde die ganzeAngelegenheit, wenn die Bharhuter Brett-spieler den Würfel gar nicht (mehr) ge-brauchten. Wir hätten dann ein vertrautesBild vor uns: die Teilnehmer einer Partie,das in Felder aufgeteilte Brett, geschlageneSteine, die außerhalb des Brettes liegen undeinen einzelnen Stein, dem vielleicht nochHeldentaten zugedacht waren. Die Spiel-szene wird zwar von den dramatischenEreignissen des Erdbebens überlagert – dasrächende Schicksal läßt seinen Würfel rol-len –, aber damit müssen wir uns hier janicht hauptsächlich beschäftigen.Die Spielsteine entsprechen im Format etwaden Feldern des Brettes. Für das Probebrettmit vierundsechzig Feldern wären sie zugroß gewesen. Entsprechend verkleinerthätten sie wohl nur von Menschen mitungewöhnlich scharfen Augen erspäht underkannt werden können: winzige Detailseines der vielen Bandreliefs, oben am orna-mentierten und bilderreichen Deckbalkendes steinernen Zaunes.

»Selbst der Anblick seiner Kleider, vor allem der

seiner engen schwarzen Hosen, läßt das Grauen

erkennen, das von ihm ausging. Es sind die

Hosen eines Menschen, der in ihnen geschlafen

hat, weil er zu krank oder zu berauscht war, um

auf sie zu achten, und der die ganze Nacht mit

merkwürdigen Gesellen hasardiert hat. Paganini

war tatsächlich ein leidenschaftlicher Hasard-

spieler; kurz vor jener Zeit war er einmal sogar

genötigt gewesen, seine Geige zu versetzen, um

Spielschulden zu bezahlen. Später ruinierte er

sich beinahe vollkommen mit dem Projekt des

´Casino Paganini´, einer Spielhölle, für die ihm

die behördliche Bewilligung versagt wurde.«

Sacheverell Sitwell »Franz Liszt«

Zeigt das Bharhuter Relief vier Spieler beimTschaturanga? Die Beantwortung dieserFrage hängt nicht davon ab, ob ein Würfelvorhanden ist oder nicht. Joachim Petzoldbeschrieb es als ein Würfelspiel, bei dem dasErgebnis des einzelnen Wurfes nicht demZufall überlassen blieb, sondern durchunerhörte Geschicklichkeit kontrolliertwurde. Ihm lag eben sehr daran, sozusagendie Familienehre zu retten. Deshalb wollteer einen vermutlichen Vorfahren des könig-lichen Spiels, das Tschaturanga, vor demschlechten Ruf bewahren, es sei ein haltlo-ses Glücksspiel gewesen.Aber bei der Metamorphose dieses indischenWürfelspiels zum persischen Schatrandschemanzipierten die Spieler sich. Sie verzich-teten, als sie so weit waren, höflich auf dieweitere Zusammenarbeit mit dem Würfel.Der einst unentbehrliche externe Motor mitZufallsfaktor wurde durch das interne – imKopfe – Berechnen verheißungsvoller Vari-anten ersetzt. Wer also in dem schlichtenRelief keinen Würfel entdecken kann, darfkühn schlußfolgern, die dargestellten Kö-nige hätten im 2. Jahrhundert v. Chr. dasTschaturanga bereits ohne den umständ-lichen Außenbordmotor gespielt.Mir ist leider nicht bekannt, ob sachkundi-ge Kultur- und Schachhistoriker die Spe-kulation einer derartigen Metamorphoseentsetzt verwerfen. Ich wünschte natürlich,es spräche alles dafür, den historischenEntwicklungsroman eines Brettspiels fürdenkbar zu halten. Er wäre ein Spiegelbildmenschlichen Lernens. Das »kontrollierteWürfeln« als amüsanter Irrweg inbegriffen.Wenn dem nicht von seiten der Fach-wissenschaft widersprochen werden muß,könnten die Tschaturangaspieler sich im

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2. Jahrhundert v. Chr. von den Einschrän-kungen schon befreit haben, die das Wür-feln ihnen auferlegt hatte.

»Denn das einzige, was bleibt, sind Texte!«rief Prof. Holländer im Dezember 2007 wäh-rend einer aufgeregten Mitgliederversamm-lung der Emanuel Lasker Gesellschaft.In meinem Essay »Kindheit und Ent-wicklungsjahre des Schachspiels« habe ich kein Gras über das Tschaturanga wachsen, sondern vielmehr allerlei spe-kulatives Wildkraut bunt und breit in derVor- und Frühzeit u. a. sprießen lassen. O wenn doch alle Leserinnen und Leser aus dem beendeten Text wenigstens einen Bruchteil des gesteigerten Wohl-befindens für sich schöpfen könnten, dasder Autor während des Schreibens so reich-lich genoß!Meinem Herzenswunsch, diesen köstlichenGenuß freigebig mit vielen anderen

Menschen zu teilen, steht einzig und alleindie enttäuschende Tatsache im Wege, daß – kein Aas meinen Text lesen will!Prof. Holländers stolze These mag ja stim-men und jeder Autor dabei an seine Textedenken. Mir drängt sich aber doch die Frageauf die Lippen: Wo bitte bleibe denn ichdabei? Muß der arme Poet wiederum ein-sam verdorren – oben im engen Dach-stübchen über seine bleibenden Texte ge-beugt, und Spitzwegerich gedeiht imfeuchten Blumenkasten?Das bahnbrechende Schachgeschichtswerkdes Autors Ernst Strouhal verschwindetjedenfalls wieder, samt der Seite 194, in denunübersichtlichen Schluchten und Verliesenmeines Bücherschrankes. Den Seiten 193und 195 gönne ich vorsichtshalber keinenBlick mehr. Ganz zu schweigen von denübrigen 459 Seiten!Nein – ich setze hier den Schlußpunkt.

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»O mein prophetisches Gemüt!«

Shakesspeare »Hamlet«

Nachtrag I

Nachdem ich den Schlußpunkt endgültiggesetzt hatte, blätterte ich, einer Ahnungfolgend, doch noch mal in dem Strouhal.Dieser Ahnung hätte ich schon viel frühernachgehen sollen. Auf Seite 7 wurde ichfündig – und wäre vor Aufregung fast leb-los in meinem Schaukelstuhl zusammenge-sunken!Ich überflog den kurzen Abschnitt und las:Ein Relief an einem hübschen Stupa in

Bharhut (Nordindien) gewährt vielleicht

einen vagen Blick durch die Zeitmauer.

Ach du lieber Himmel! Dafür wäre ein vor-zeitiges Ende im Schaukelstuhl ein zu hoherPreis gewesen! Wie stellt Herr Strouhal sichdiese »Zeitmauer« vor? Wie den EisernenVorhang, die Schallmauer oder den scham-haften Zaun eines Nacktbadestrandes?Sehr interessant könnte jedoch die Infor-mation sein, daß die kleinen Gegenstände,die ich für Spielsteine hielt, tatsächlichGeldplättchen sind: aus Zinn geschnittene

und gepunzte Karsapanas.

Mit der neuen Sachlage würde ich michbrennend gerne auseinandersetzen. MeinVertrauen in sie wird leider vom Inhalt deranderen Zeilen völlig untergraben. Ich laskonsterniert: Zwei Zuseher stören offenbar

die Partie der beiden Spieler mit Bemer-

kungen und Gelächter, wie es die »Kiebitze«

zu aller Zeit getan haben.

Ich hatte ja schon enorm darüber gestaunt,daß Herr Strouhal zwischen Spielern undKiebitzen überhaupt unterscheiden konnte.Jetzt weiß ich mich gar nicht mehr zu fas-sen! Bin ich blind? Wo sind sie, die zweiKiebitze, die mit Bemerkungen und Geläch-ter die Partie stören – während gleichzeitigdie Erde bebt? Ist den beiden Spaßvögeln,die aufgesprungen sind, entgangen, daß

Erde und Fels unter ihren Füßen bereits ber-sten? Tanzen sie übermütig »auf demVulkan«? Oder steht der Linksaußen, der sobescheiden und besorgt hinter dem Rückendes Vordermannes den Zeigefinger hebt,abermals unter dem dringenden Tatverdacht,jedenfalls einer der Kiebitze zu sein?Aber Herr Strouhal sah noch mehr: DasBrett durchschneidet ein Riß, durch den derBetrachter in eine noch rätselhaftereVergangenheit des Schachspiels stürzenkönnte: voll zoroastrischer Symbole undmagischer Quadrate – in eine Zeit, daRationalität und Magie noch verschmolzenwaren.Ich sehe mich in der glücklichen Lage, alleLeserinnen und Leser beruhigen zu können.Niemand wird durch den Riß, der das Brettdurchschneidet, in eine noch rätselhaftereVergangenheit des Schachspiels stürzen –und Kopf und Kragen dabei riskieren. Dieeinzige drohende Gefahr besteht nämlichdarin, von feinbesohlten intellektuellenZaubersprüchen vorübergehend verdreht,verwirrt, verstrickt und gebannt zu werden.Vom: vagen Blick durch die Zeitmauer. Von:zoroastrischen Symbolen und magischenQuadraten.Zu Beginn jener 11 Zeilen schreibt HerrStrouhal: So bleibt alles über den Ursprungdes Schachspiels bloße Vermutung undreizvolle Spekulation. Gestand er damitschon ein, wie wenig er mit dem naivenRelief anfangen konnte?Wie es die »Kiebitze« zu aller Zeit getanhaben. Mußte er dieses Klischee ohne kriti-sche Brechung auf die Brettspielszene über-tragen? Das war schlichtweg falsch. Dennerstens irritierte das Erdbeben die vierMänner wohl doch ein wenig. Und zweitenserleben Kiebitze, die mit Bemerkungen undGelächter stören, spätestens dann einegrobe Abfuhr, wenn um hohe Einsätzegespielt wird.So wird in dem altindischen Novellenzyklus»Die Abenteuer der zehn Prinzen« geschil-

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dert, wie es jemandem erging, der im Spiel-haus und unter dem Gesindel der Würflereinmal über den einfältigen Wurf (JoachimPetzold übersetzt: »das leichtsinnige Fi-gurenopfer«) eines unvorsichtigen Spielersein wenig lachen mußte: Da sprang derGegenspieler auf und blickte mich mitzornglühendem Auge an, als wollte er michniederbrennen ...Das ist übrigens heutzutage noch genauso. Injedem x-beliebigen kleinen Schachclub, wozwei verbiesterte Schachfreunde nur darumspielen, wer die laufende unregelmäßigePartie gewinnt, muß jeder Kiebitz, der lautkommentiert oder lacht, damit rechnen, vonbitterbösen Blicken verdammt und mittelsharter Worte weggescheucht zu werden.Wenn Herr Strouhal sich ausmalte, derKünstler zeige zwei Zuseher, die eine Partiestören, bei der zwei Könige um Karsapanasspielen (Spielten indische Könige wirklichum Geld aus Zinn?) während gleichzeitigein göttliches Strafgericht stattfindet, derFels bebt und die Erde sich öffnet, dann hater halluziniert.Besonnenen Blickes und mit ruhigem Ver-ständnis für die künstlerischen Eigenartenund den begrenzten Rahmen der verhält-nismäßig kleinen und naiven Bandreliefs,hätte er ohne weiteres einsehen können,daß es dem Bildhauer absurd erschienenwäre, »Zuschauer« abzubilden. Was solldenn den Künstler dazu bewegt haben,Personen in Sandstein zu verewigen, die imalten Indien – wenn um selbstmörderischhohe Einsätze gespielt wurde – wahrschein-lich im inneren Kreis der Spieler gar nichtgeduldet worden wären: übermütig scher-zende und lachende Kiebitze?Vielleicht dachte Herr Strouhal zu sehr andie persische Buchmalerei. Er zeigt auf Seite195 als Nachbarn unseres Reliefs eine far-big illustrierte Seite aus dem Shah-nâme,dem Buch der Könige von Ferdousi.Inhalt der persischen Miniaturen sind aberhöfische Szenen mit vielen Menschen usw.

Und sie sind natürlich nicht gemeißelt, son-dern mit feinstem Pinsel gemalt. Das isteine andere Zeit, eine andere Kultur, einanderes Spiel – kurz eine andere Welt.Wenn hier in Gegenwart des Fürsten zweijunge Krieger Schatrandsch spielen undandere zuschauen, dann hat man allerdingsden Eindruck, daß diese Männer nichtimmer nur um Geld spielten, sondern auchangeregt plaudernd Varianten ausgiebiganalysierten.Nun – mancher wird meine Vermutungenund Spekulationen ebenfalls anzweifeln.Meine Behauptung z. B., die auffälligenParallellinien der beiden Männer, die aufge-sprungen sind, ließen die Schlußfolge-rungen zu, beide seien Spieler und beidehätten vorher nebeneinander am Brettgesessen.

Plötzlich schießt ein boshafter assoziativerBlitz herbei. Ich erinnere mich an eineSzene aus dem Ernst Lubitsch-Film »Seinoder Nichtsein«. Dort muß der köstlichwehleidige und selbstgefällige Hamlet-darsteller Joseph Tura überstürzt den Platzdes Spions Professor Siletsky einnehmen.Dieser wurde nämlich von den Wider-standskämpfern auf der Bühne des leerenTheaters erschossen. Und trotz der töd-lichen Gefahr, in der Tura sich befindet,kann er es nicht unterlassen, im Haupt-quartier der Gestapo den SS-Gruppen-führer Ehrhardt lässig zu fragen: »Kennensie den großartigen Schauspieler Tura?« DieAntwort lautet: »Oh ja! – was der mitShakespeare gemacht hat, das machen wirjetzt mit Polen!«Wie komme ich bloß darauf?Ich fürchte, ich mache mir Sorgen. DieBrettspielszene wurde offensichtlich fürallerlei Phantastereien mißbraucht.Wer garantiert mir, daß es dem armenAkiba Rubinstein besser ergangen ist – indem roten Buch mit dem froschgrünenRücken?

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»Hat der alte Hexenmeister

Sich doch einmal wegbegeben!

Und nun sollen seine Geister

Auch nach meinem Willen leben!«

Goethe »Der Zauberlehrling«

Nachtrag II

Ich möchte mich auch der Magie ergeben undzeige als Anfänger eine kinderleichte Übung:

Man vergleiche nun die Swastika mitJoachim Petzolds schematischer Dar-stellung des indischen Vierschachs:

Es ist eine getrübte Freude, Swastikenanzuschauen. Ich verwende lieber dasSanskritwort anstelle der deutschen Be-zeichnung Hakenkreuz. Meine Leserinnenund Leser mögen es mir aber nachsehen,daß ich nicht den Drang empfinde, sämtli-che Swastiken an allen altindischen Kunst-werken aus Stein mit einem Schlagbohrerzu zertrümmern.Ich hole also tief Luft und begebe michwieder nach Nordindien, in den Zeitraumzwischen der Geburt des Prinzen Siddhar-tha, etwa 480 v. Chr., und der GeburtChristi. Die Frage, wann Christus geborenwurde, stelle ich nicht, denn ich bekäme ja doch nur die Antwort: vor 2000 und soundso viel Jahren.Um so beharrlicher frage ich: Wer außereinem Meister der Zahlenkunst kann dasTschaturanga ausgetüftelt haben? Denn dieUmsetzung der Idee eines Würfelspiels, beidem zusätzlich Schlachten mit Spielsteinengeschlagen wurden, erforderte ein eigen-ständiges System spezieller Kenntnisse. Dasreale Kriegsabenteuer mußte ebenso trans-formiert werden wie z. B. Komponisten ver-

Das Viereck oder Quadrat als Symbol der»heiligen« Zahl Vier.

Die Unterteilung in vier Quadrate (vier sol-cher Elemente bilden ein Viertel des ganzenSchachbrettes) ...

... und eine Modifikation – bitte nichterschrecken! – in Form einer Swastika,dem uralten Sonnen- und Feuerzeichen.

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gangener Jahrhunderte ihr geistliches oderweltliches Opus durch die traditionellenMittel der Tonkunst realisierten.War also »tschatur«, die heilige Zahl Vier,der mathematische Schlüssel zum Tschatu-ranga? Als der Meister der Zahlenkunstseine Spielsteine und deren unterschiedli-che Zugweise entwarf, hatte er die vierEinheiten des indischen Heeres vor Augen:Kampfwagen, Reiterei, Kriegselefanten undFußsoldaten. Inspirierte ihn auch dieSwastika? Oder fand er sie erst während dergeometrischen Tüftelei als unerwartetenGast vor? Auf die Dauer entging ihm ihreAnwesenheit gewiß nicht. Und sie wird ihneher erfreut als gestört haben: in einer Zeit,da Rationalität und Magie noch ver-schmolzen waren.Wegen der Schlußfolgerungen, die aus derTeilnehmerzahl eventuell gezogen werdenkönnen, störte es mich so sehr, daß HerrStrouhal die vier gemeißelten Figurenleichthin als Spieler und Kiebitze bezeich-nete. Sogar dann, wenn die kleinen quadra-tischen Gegenstände keine Spielsteine, son-dern Geldplättchen sind, bleibt immer nochHoffnung auf ein greifbares Resultat: Dasquadratische Brett, möglicherweise unter-teilt in acht mal acht Felder, und vierTeilnehmer, von denen zwei nacheinanderaufgeben mußten usw. Auch der Hinweis,daß Könige dieses Spiel bevorzugten, ver-dient beachtet zu werden.Wer berücksichtigt, was für ein warnendesmoralisches Exempel der Bildhauer haupt-sächlich darstellen wollte, wird nicht nochmehr detaillierte Auskünfte zu den Spiel-

regeln erwarten. Und falls die PlättchenKarsapanas sind, sehen wir sogar siebenGeldstücke, um die gespielt wurde. (MeinerWunschvorstellung entspräche es, wenn diePlättchen doch Spielsteine wären. War esdenn nicht selbstverständlich, daß vierhochrangige erwachsene Männer nicht umnichts, sondern um Geld oder andereKostbarkeiten spielten?)Niemand wird dem Künstler verübeln, daßer bei der Anzahl der Felder großzügig wal-tete. Mittelalterliche Buchmaler unter-schlugen noch viel mehr Details, obwohl siees wesentlich leichter hatten. Denn siemußten sich nicht mit Sandstein abplagen.Und das einprägsame Schachbrettmusterhalf ihnen zusätzlich wie ein Marken-zeichen.Was persische und arabische Gelehrte tau-send Jahre später von den Geheimnissenmagischer Quadrate aufzeichneten, mußübrigens der indische Erfinder nicht auchschon gewußt haben, um sein Ensemble mitdem bizarren Rösselsprung beleben zu kön-nen.Noch ein abschließender Gedankensprung:Nach Shakespeares Tod erschienen zumHamlet unzählige wunderbar scharfsinnigeund kenntnisreiche Interpretationen, Dis-sertationen, Analysen usw. Der Dichter wärevon diesen Einsichten und Erkenntnissensehr überrascht worden – obwohl das alleseines seiner Werke betraf. Nichtsdesto-weniger war er es, der im Jahre 1602: THETragicall Historie of HAMLET, von derTruppe Lord Chamberlain's Men gespielt,auf die Bühne gebracht hatte.

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Clubzeitschrift des SC Weisse Dame e.V.22. Jahrgang · November 2008

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