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Collection Haut Moyen Age dirigee par Regine Le Jan 5

Collection Haut Moyen Age - MGH-Bibliothek · 2010. 1. 22. · Diözesen - fest umrissener Räume, innerhalb deren die bischöfliche Gewalt kirchenrechtlich definiert war. Bischöfe

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  • Collection Haut Moyen Age

    dirigee par Regine Le Jan

    5

  • LES ELITES ET LEURS ESPACES

    Mobilite, Rayonnement, Domination (du VIe au XIe siecle)

    sous la direction de Philippe DEPREUX, Francois BOUGARD

    et Regine LE JAN

    BREPOLS

    0V 1-14.

  • STEFFEN PATZOLD

    DEN RAUM DER DIÖZESE MODELLIEREN? ZUM EIGENKIRCHEN KONZEPT UND ZU DEN

    GRENZEN DER POTESTAS EPISCOPALIS IM KAROLINGERREICH

    Das Thema «Eliten und ihre Räume» klingt für deutsche Mediävistenohren fremd. Statt von «Elite» ist in der Litera- tur zum Früh- und Hochmittelalter bisher normalerweise

    von den «Großen des Reiches» oder einfach vorn «Adel» die Rede; und ein Gutteil der jüngeren deutschen Forschung neigt zu der Ansicht, daß zumindest von der späten Karolingerzeit an die politi- sche Ordnung wesentlich auf persönlichen Beziehungen zwischen König und Adel beruht habe. Uber die Zugehörigkeit zur politi- schen Elite entschied aus dieser Sicht der persönliche Rang inner- halb des Adels, der seinerseits vor allem auf der familiären Herkunft und auf personalen Bindungen wie Freundschaften, Bündnissen oder Gebetsbünden beruhte und permanent in symbolischen Akten neu ausgehandelt und öffentlich sichtbar vorgeführt werden mußten. Zugespitzt: Man gehörte zur politischen Elite, nicht weil man über einen bestimmten Raum, sondern weil man über die richtigen Bezie- hungen verfügte.

    Daß dieses Bild in hohem Maße durch die Quellenlage bedingt ist, liegt auf der Hand: Für das Frühmittelalter ist es unmöglich, die Grundherrschaft der politisch einflußreichen Laienadligen in ihrer räumlichen Ausdehnung und Lage genau nachzuzeichnen, und auch der Ausbau und die Modellierung von Adelssitzen innerhalb dieser

    1 Stelhertretend wandere seien hier genannt: H. Keller, Grundlagen ottonischerKönigsherr- schaft, in K. Schmid (Hg. ), Reich und liirrhe vordern Investiturstreit. Vorträge beim wissenschaftli- chen KoUoquium aus Anlaß des achtzigsten Geburtstags von Gerd Tellenbach, Sigmaringen, 1985, S. 17-34; id., Zum Charakterder R Staatlichkeit » zwischen karolingischerReichsrefonn und hochmit- telalterlichem Herrschaftsausbau, in Fr hmittela11erlicheStudien, 23,1989, S. 248-264; G. Althoff, Spielregeln derPolitik irn Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt, 1997, hier besonders die zusammenfassende Einleitung, S. 1-17; id, ZurBedeutungsymbolischerKommu- nikation furdas Verständnis des. llillelaliem, in Frirh: nittelalterlicheStudien, 31,1997, S. 370-389; id., Die Ottonen. Königshemdraft ohne Staat, Stuttgart et al., 2000 (Kohlhammer-Urban-Taschen- büch r, 473).

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  • STEFFEN PATZOLD

    Grundherrschaften sind den Schriftquellen nur ansatzweise zu ent- nehmen und daher bisher eher von Archäologen untersucht worden. Sehr viel dichter allerdings ist in dieser Hinsicht die Überlieferung im Bereich der Kirche, so daß es hier scheinbar leichter fällt, die Leitgedanken des vorliegenden Bandes umzusetzen: Als im Franken-

    reich die Metropolitanverfassung wiedereingeführt worden war und sich Pfarrgrenzen herauszubilden begannen entwickelte sich - dem Anschein nach - eine wohlgeordnete, flächendeckende und systema- tische kirchliche Raumgliederung. Für die Konstituierung der Bischöfe als geistlicher Elite spielte der Raum eine wichtige Rolle.

    Erstens nämlich galten Bischöfe als geistliche Oberhäupter ihrer Diözesen - fest umrissener Räume, innerhalb deren die bischöfliche Gewalt kirchenrechtlich definiert war. Bischöfe waren Herren über den Grundbesitz ihrer Kirche, der zumindest für einige Bistümer durch Traditionsurkunden oder urbariale Quellen in seinen räumli- chen Umrissen zu erkennen ist. Sie waren außerdem verantwortlich für Weihen nicht nur von Priestern, sondern auch von Kirchen, also sakraler Punkte im Raum. Im übrigen verwalteten Bischöfe den Zehn- ten, hatten die Getauften zu firmen, das geistliche Gericht abzuhalten, die Lebensführung von Klerus und Laien zu kontrollieren usw. All diese Kompetenzen aber waren räumlich begrenzt: Kein Bischof sollte Amtshandlungen in einer fremden Diözese vornehmen.

    Zweitens unterschieden sich die Hierarchien innerhalb der Kirche auch durch den Grad ihrer räumlichen Mobilität: Bischöfe durften zwar, einmal im Amt, dem kanonischen Recht zufolge nicht ihre Kir- che, ihre «Braut», zugunsten einer anderen aufgeben, also nicht den Bischofssitz wechselns. Aber sie durften reisen, und zwar nicht nur innerhalb ihrer Kirchenprovinz, sondern auch weiter - beispielsweise aus politischen Anlässen zu Reichsversammlungen bzw. Reichssyn- oden, als Gesandte des Herrschers, im Auftrag von Synoden oder als Pilger auch bis nach Rom, Byzanz oder darüber hinaus4. Zumindest

    2 Dazu J. Semmler, Zehntgebot und Pfarrtermination in karolingischer Zeit, in H. Mordek (Hg. ), Aus Kirche und Reich. Studien zu Theologie, Politik und Recht im Mittelalter. Festschrift fürFriedrich Kempf zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag und fünfzigjährigen Doktorjubiläum, Sigmaringen, 1983, S. 33-44, demzufolge die Herausbildung räumlich festumrissener Pfarrsprengel ab ca. 79o durch die Einführung des allgemeinen Zehntgebots begründet war. s Dazu S. Scholz, Transmigration und Translation. Studien zum Bistumswechsel der Bischöfe von der Spätantike bis zum hohen Mittelalter, Köln, 1992 (Historische Abhandlungen, 37). 4 Dazu etwa am Beispiel der Kölner Erzbischöfe: W. Georgi, Legatio uirum sapientem requirat. Zur Rolle der Erzbischöfe von Köln als königlich-kaiserliche Gesandte, in H. Vollrath und S. Wein- furter (Hg. ), Köln. Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters. Festschriftf ür Odilo Engels zum 65. Geburtstag, Köln et al., 1993 (Kölner Historische Abhandlungen, 39), S. 61-124; zur

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  • DEN RAUNZ DER DIÖZESE MODELLIEREN

    bei einem Teil des Episkopats ist daher geradezu mit einer «Weltläu- figkeib> zu rechnen. Die Landgeistlichen dagegen sollten möglichst ständig in ihrem Pfarrsprengel verharren, für Reisen benötigten sie Genehmigungsschreiben ihrer Bischöfe. Eine Ausnahme von dieser strikten Regel der Ortsbeständigkeit im Pfarrsprengel bildeten allen- falls die Diözesansynoden, zu denen die Priester möglichst zweimal jährlich zusammenkommen sollten.

    Drittens schließlich waren die Bischöfe der Karolingerzeit (und später auch der Ottonen- und Salierzeit) darauf bedacht, ihre jewei- lige Domkirche und ihre civitas zu Zentralorten ihrer Diözese zu for- men. Sie bauten nicht nur Kirchen, sondern auch Befestigungsanla- gen, ließen Hospitäler errichten, gründeten geistliche Institutionen in und bei ihrer Stadt, kümmerten sich um die urbane Wasserversor- gung, förderten den städtischen Handel und dergleichen mehr5.

    In einer solchen Sicht grenzten sich demnach die Bischöfe des früheren Mittelalters von den übrigen Geistlichen durch ihre spezifi- sche Verfügungsgewalt über den Raum ihrer Diözese, durch ihre pri- vilegierte räumliche Mobilität und durch ihre Fähigkeit zur Modellie- rung ihrer civitates ab. Nun hat allerdings schon Ulrich Stutz6 mit seinen Thesen über das sogenannte Eigenkirchemvesen die bischöf- liche Verfügungsgewalt über den Raum ausgehöhlt, indem er nämlich (Pfarr-)Kirchen als Vermögensobjekte laienadliger Grundherrschaf- ten beschrieb. Eine Eigenkirche, so seine klassische Definition, war

    ein Gotteshaus, das dem Eigentum oder besser einer Eigenherrschaft der- art unterstand, daß sich daraus über jene nicht bloß die Verfügung in

    Rolle von Bischöfen im Gesandtenaustausch mit den Abbasiden vgl. auch M. Borgolte, Der Gesandtenaustausch der Karolinger mit den Abbasiden und mit dein Patriarchen von Jerusalem, München, 1976 (Münchener Beiträge zurMedidvistik und Renaissance-Forschung, 25). 5 Zur Karolingerzeit vgl. M. Sot, Organisation de t espace et historiographie episcopate dans quelques cites de la Gaule carolingienne in B. Guence (Hg. ), Le tnetierd historien au Mayen

    Age. Etudes sur l'historiographie rnidiival, Paris, 1977, S. 31-43; zur Ottonen-und Salierzeit E G. Hirschmann, Stadtplanung Bauprojekte und Großbaustellen im 1o. und 11. Jahrhundert. Vergleichende Studien

    zu den Kathedralstädten westlich des Rheins, Stuttgart, 1998 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters,

    . 43). mit der älteren Literatur, skeptisch dagegen H. Fichtenau, n Stadtplanung

    im frühen Mittelalter, in K. Brunner und B. Merta (Hg. ), Ethnogenese und Überlieferung Ange-

    wandte Methoden derFrührnittelalterforschung, U ien et al., 1994, S. 232-249- 'Zu seiner Person vgl. K. S. Bader, Ulrich Stutz (1868-1938) als Forscher und Lehrer. Redegehal- ten arn 4. Mai 1968 auf Einladung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universi- tät Bonn, in id., Schriften zur Rechtsgeschidit, ausgewählt und hg. v. C. Schott, Sigmaringen, 1984, II, S. 548-576.

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  • STEFFEN PATZOLD

    vermögensrechtlicher Beziehung, sondern auch die volle geistliche Lei- tungsgewalt ergab7.

    Eigenkirchen seien sachenrechtlich als Vermögensobjekte aufge- faßt worden, als Eigentum desjenigen, auf dessen Grund und Boden der Altar errichtet war. Die Verfügungsgewalt des Eigentümers war deshalb weitreichend: Er konnte das gesamte Gut nutzen, das zur Kir- che gehörte, außerdem aber auch alle ihre Einkünfte - und das hieß seit dem Ende des B. Jahrhunderts nicht zuletzt: den Zehnten. Der Eigentümer konnte darüber hinaus seine Kirche verkaufen, verschen- ken, tauschen, vererben usw. Die Geistlichen seiner Eigenkirche waren wirtschaftlich und rechtlich stark von dem Grundherrn abhängig,

    der damit die kanonische Autorität des zuständigen Bischofs beeinträch- tigte und in der Praxis vielfach aufhob".

    Als Eigentümer kamen im g. Jahrhundert freie Laien in Betracht, vor allem der Herrscher und der Adel, daneben aber auch Geistliche

    - Klöster, Stifte und Bischöfe selbst. Spätestens im 9. Jahrhundert, so Stutz, seien Eigenkirchen im Frankenreich weit verbreitet gewesen; ihre Ausprägung habe von einfachen Oratorien über Pfarrkirchen bis hin zu Stiften und Klöstern gereicht. Mehr noch: Die Eigenkirche sei nun auch rechtlich anerkannt worden, wobei die Kapitularien von Frankfurt 79410 und Selz 8o311 sowie das Capitulare ecclesiasticuin Lud-

    7 Das folgende nach U. Stutz, Eigenkirche, Eigenkloster, in Realencyklopädie fur protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., XXIII, Leipzig, 1913, S. 364-377 (hier S. 366, die zitierte Definition) ; grundlegend war id., Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens von seinen Anfängen bis auf die Zeit Alexanders III., Stuttgart, 1895; eine konzise Zusammenfassung bietet id., Die Eigenkirche als Element des mittelalterlich-germanischen Kirchenrechts. Antrittsvorlesung; gehalten am 23. Oktober 1894, Berlin, 1895; eine gute Zusammenfassung für frankophone Leser bei P. Fournier, La propriiti des iglises dans Les premiers siicles du moyen äge, in Nouvelle Revue de droit francais et itrange, 21,1897, S. 486-506, hier S. 486-503. - Die Definition findet sich noch zitiert etwa bei P. Landau, Eigenkirchenwesen, in TheologischeRealenzyklopädie, IX, Berlin et al., 1982, S. 399-404, hier S. 399; R. Schieffer, Eigenkirchenwesen. I. Allgemein, in Lexikon des Mittelalters, III, München et al., 1886, Sp. 1705-1708, hier Sp. 1705; C. Bruckner, Das länd- liche Pfarrbenefizium im hoch m ittelalterlichen Erzbist um Trier, in Zeitschrift derSavigny-Stiflungfür Rechtsgeschichte, kanonistische Abteilung, 84,1998, S. 94-269, hier S. 108, Anm. 44. - Es sei betont, daß sich das Eigenkirchen-Konzept von Stutz nicht mit dem französischen Konzept der « eglise privee» deckt. 8 Vgl. dazu am Beispiel des Bistums Freising genauer U. Stutz, Das Eigenkirchenvermögen. Ein Beitrag zur Geschichte des altdeutschen Sachenrechtes auf Grund der Freisinger Traditionen, in Fest- schrift Otto Gierke zum siebzigsten Geburtstag, Weimar, 1911, S. 1187-1268. ° R. Schieffer, Eigenkirche... zit. Anm. 7, Sp. 1705. 10 SynodusFranconofurtensis, ed. A. Boretius, Hannover, 1883 (MGH, Capitularia, 1), C. 54, S. 78. n Capitula ecclesiastica ad Salz data, ed. A. Boretius, Hannover, 1883 (MGH, Capitularia, 1), c. 3, S. 119.

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  • DEN RAUM DER DIÖZESE MODELLIEREN

    wigs des Frommen von 818/81912 und das WVormser Kapitular von 82913 als Meilensteine zu gelten hätten. Die Kirche habe sich, abgese- hen von einigen wenigen Kritikern, damit begnügt, die ärgsten Miß- stände abzustellen, die sich aus der laikalen Kontrolle von Kirchen ergaben.

    Die Verfügungsgewalt eines Bischofs über die Kirchen seiner Diö- zese war aus dieser Sicht stark eingeschränkt'4. An zahlreichen Kir- chen, darunter auch Pfarrkirchen, mußte der Bischof von Laien ein- gesetzte Priester weihen, sofern sie rein formal den Anforderungen genügten; er verlor mithin ein Gutteil seines Einflusses auf die Beset- zung der Pfarreien. Die Einkünfte aus jenem Kirchengut, das zu den Eigenkirchen gehörte oder ihnen gestiftet wurde, waren ebenfalls seiner Verfügungsgewalt entzogen. Und selbst der Zehnt wurde der bischöflichen Kontrolle entfremdet und ging in die Hand der Eigen- kirchenherrn über. Die «volle vermögensrechtliche und geistliche Leitungsgewalt» hatte ein Bischof letztlich nur noch an einzelnen Punkten innerhalb seiner Diözese - nämlich dort, wo er selbst über Kirchen nach dem Eigenkirchenprinzip verfügte. Seine Verfügungs- gewalt an diesen Punkten innerhalb seiner Diözese ähnelte aber stark derjenigen über seine bischöflichen Eigenkirchen, die in den Diöze- sen anderer Bischöfe lagen. Kurzum: Die Diözese verliert durch die These des Eigenkirchenwesens einen guten Teil ihrer Bedeutung als räumlich umgrenztes Substrat bischöflicher Macht.

    Während die Stutzschen Thesen zu den germanischen Wurzeln der Eigenkirche mittlerweile widerlegt worden sind', haben seine

    12 Capitulareecclesiasticurn, ed. A. Boretius, Hannover, 1883 (M11GH, Capitularia, i), c. 6-11, S. 276£ t' Capitulare ll'onnatien e, cd. A. Boretius undV Krause, Hannover, 18go (MGH, Capitularia, 2), c. 14, S. 12. 14 Vgl. U. Stutz, Die Eigenkir he alsElenunt... zit. Anm. 7, S. 1g : «Bei jeder Eigenkirche war die bischöfliche Gelt über die Kirche und ihren Geistlichen so gut wie ganz in Frage gestellt» (so wörtlich auch id., Eigenkirche, Eigenkloster... zit. Anm. 7, S. 368); er sieht zudem als Folge des Eigenkirchenwesens im g. Jahrhundert «eine völlige Umwälzung in der Ver- theilung des kirchlichen Schwergeweichtes. (ibid, S. 23)- ` Dies gilt vor allem für die Herleitung der Eigenkirche aus dem germanischen Eigentem- pel (U. Stutz, Geschichte... zit. Anm. 7, S. 88-95; id., DieEigenkirrhe als Element... zit. Anm. 7, S. 171.; id., Eigenkirche, Eigenkloster... zit. Anm. 7, S. 366f. ). Heute vertritt die Forschung überwiegend die Auffassung von A. Dopsch, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen dereuropä- ischen Kulturentwicklung. Aus der Zeit von Caesar bis auf Karl den Großen, II. Teil, ND. der zhvei- ten, veränderten und env. Aufl. 1924, Aalen, 1961, S. 230-246, demzufolge das Eigenkir- chenwesen nicht germanischen Ursprungs, sondern « national indifferent » (S. 245) und ein «Attribut der Grundherrschaft» (S. 232) %%-an Vgl. zuvor ähnlich schon P. Fournier,

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  • STEFFEN PATZOLD

    Definition und die grundlegende rechtliche Einordnung von Eigen- kirchen bis in die jüngste Vergangenheit hinein Anerkennung gefun- den16. Einzig Andreas Hedwig hat 1992 darauf aufmerksam gemacht, daß sich aus den urbarialen Quellen für die erste Hälfte des g. Jahr- hunderts für Kirchen in klösterlichen Grundherrschaften ein anderes Bild ergebe: Bei den weitaus meisten dieser Gotteshäuser sei eine unbeschränkte Verfügungsgewalt der Eigenkirchenherrn nicht zu erkennen; die «Einbindung in die Diözesangewalt» bleibe vielmehr bestehen17. Während Hans-Werner Goetz dieser Auffassung gefolgt

    Propriete... zit. Anm. 7, S. 504-506; zuletzt ausführlich dazu K. Schäferdiek, Das Heilige in Laienhand. ZurEntstehungsgeschichte derfränkischen Eigenkirche, in H. Schröer und G. Müller, Vom Amt des Laien in Kirche und 77heologie. Festschriftfuur Gerhard Krause zum 70. Geburtstag, Berlin et al., 1982, S. 122-140, der durch eine Durchsicht der einschlägigen Quellen des

    4. bis 7. Jahrhunderts Dopschs These bestätigt und zugleich differenziert; vgl. den For-

    schungsstand zusammenfassend M. Borgolte, Die mittelalterliche Kirche; München, 1992 (Enzy- klopädie deutscher Geschichte, 17), S. 99. - Festgehalten am germanischen Ursprung des Eigen- kirchenwesens haben H. E. Feine, Ursprung; Wesen und Bedeutung des Eigenkirchentums, in Mitteilungen des Instituts fur Österreichische Geschichtsforschung, 58,1950, S. 195-208, hier S. 197ff. (der allerdings nicht im Eigentempelwesen, sondern im alt-arischen Hauspriester- tum und im Kult am Ahnengrab die Wurzeln der Eigenkirche hat sehen wollen); O. Meyer, Die germanische Eigenkirche - Element, aber auch Risiko der Christianisierung Frankens und Thü-

    ringens, inJ. Lenssen und L. Wamser (Hg. ), 125oJahreBistum Würzburg. Archäologisch-histo-

    rische Zeugnisse der Frühzeit, Würzburg, 1992, S. 111-118, der, S. 113 und S. 118, ohne Ein-

    schränkung Stutz folgt; F. Pauly; GennanischesEigenkirchenrecht und Bistumsorganisation. Beob-

    achtungen zu den Titelkirchen der Archidiakonate 71oley und Karden im alten Erzbistum Trier, in Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, 38,1g86, S. 11-46, bezeichnet das Eigenkirchen-

    wesen mehrfach (z. B. S. 11, S. 15 und S. 23) als « germanisch », ohne jedoch näher auf die Ursprünge einzugehen. Vgl. außerdem zu den Wurzeln des Eigenkirchenwesens: R. Hös- linger, Die « alt-arische u Wurzel des Eigenkirchenrechts in ethnologischer Sicht, in Österreichisches

    Archiv für Kirchenrecht, 3,1952, S. 267-273, der sich allerdings darauf beschränkt, aus eth- nologischen Kulturtheorien zu kombinieren, statt Quellen heranzuziehen. 16 Vgl. zum Stand der deutschen Diskussion in den 1g8oerJahren etwa R. Schieffer, Eigen- kirche... zit. Anm. 7; P. Landau, Eigenkirchenwesen... zit. Anm. 7; W. Hartmann, Der rechtliche Zustand der Kirchen auf dem Lande: Die Eigenkirche in der fränkischen Gesetzgebung des 7. bis g. Jahrhunderts, in Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell'alto medioevo: espansione e resistenze, io-r6 aprile 198o, I, Spoleto, 1982 (Settimane di studio del CISAM, 28), S. 397-441; M. Borgolte, Stiflergrab undEigenkirche. Ein BegriffspaarderMitlelalterarchäologie in historischer Kritik, in Zeitschrift furArchäologie des Mittelalters, 13,1985, S. 27-38; id., Der chur- rätische Bischofsstaat und die Lehre von derEigenkirche. Ein Beitrag zum archäologisch-historischen Gespräch, in U. Brunold et al. (Hg. ), Geschichte und Kultur Churrätiens. Festschrift fürPaterIso Müller OSB zu seinem 85. Geburtstag, Disentis, 1986, S. 83-103; L. Carlen, Eigenkirchenwesen, in Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., III, Freiburg im Breisgau et al., 1995, Sp. 527f. -Vgl. auch J. Sayers, TheProprietary Church: a note on Ex ore sedentis (X5.33. -, 7), in Zeitschrift derSavigny-StflungfurRechtsgeschichte, kanonistischeAbteilung 74,1888, S. 231-245- 17 A. Hedwig, Die Eigenkirche in den urbarialen Quellen zurfränkischen Grundherrschaft zwischen Loire und Rhein, in ZeitschriftderSavigny-StiftungfuurRechtsgeschichte, kanonistische Abteilung, 78, 1992, S. 1-64, das Zitat auf S. 62; Grundsatzkritik, freilich ohne eigene Untersuchung, hat S. Reynolds, Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted, Oxford, 1994, S. 418f., geäußert.

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  • DEN RAUM DER DIÖZESE MODELLIEREN

    ist18, hat Carola Bruckner 1998 Hedwigs Versuch einer differenzier- teren Begriffsbildung abgelehnt19. Zuletzt hat Wilfried Hartmann gezeigt, daß in Alemannien Eigenkirchen keineswegs schon im frü- heren B. Jahrhundert weit verbreitet waren; er hat dabei aber das Eigenkirchenmodell von Stutz grundsätzlich akzeptiert20.

    Angesichts dieses Forschungsstandes soll im Folgenden der Blick auf eine Quelle gerichtet werden, die Stutz als ein zentrales Zeugnis für das Eigenkirchenwesen im g. Jahrhundert betrachtet hat: die Col- lectio de ecclesüs ei capellis aus der Feder des Erzbischofs Hinkmar von Reims21. Stutz hat diese Abhandlung als ein Rechtsgutachten zur Eigenkirche interpretiert22, und noch in der jüngeren Literatur ist sie «als die einzige monographische Behandlung» des Eigenkirchenwe- sens aus dem früheren Mittelalter bezeichnet ivorden23. Hinkmar, so der Konsens der Forschung, habe mit dem Text im Auftrag Karls des Kahlen Stellung bezogen in einer größeren Kontroverse über die Eigenkirche, die in den 85oerJahren durch Maßnahmen der Bischöfe Rothad von Soissons und Prudentius von Troyes ausgelöst worden sei.

    '8 HAW. Goetz, Europa Ün frülun, llittelalter5oo-to5o, Stuttgart, 2003 (Handbuch der Geschichte Europas, 2), S. 2312- 19 C. Brückner, Pfarrbenefiziurn... zit. Anm. 7, S. 153, Anm. 259, leitet aus der dürftigen Quellenlage für das g. Jahrhundert die Konsequenz ab, man werde « bei dem weit gefaßten Stutzschen Begriff bleiben müssen ". 20 W. Hartmann, DieEigenkirrhe: Grundelement derKirchensirukiurbei den Alemannen?, in S. Lo- renz et al. (Hg. ), Die Alemannen und das Christentum. Zeugnisse eines kulturellen Umbruchs, Leinfeldes et al., 2003 (Schriften zursüdwestdeutschen Landeskunde, 48 = Quart, 2; Veröffentli- chungen des Alemanniscluyt Instituts, 71), S. 1-11, zum Konzept der Eigenkirche bes. S. 1-5- - Ohne Kenntnis des Beitrags von A. Hedwig hat K. Karpf, FniheEigenkirchen irr Siidostalpen- raum und ihr historisches Umfeld, in R. Sennhatser (Hg. ), FriiheKirchen im östlichen Alpengebiet. Von der Spätantike bis in ottonische Zeit 11, München, 2003 (Bayerische Akademie der Wissenschaf- ten. Philosophisch-historische Klasse. Abhandlungen, Neue Folge, 123), S. 881-898, hier S. 883, S. 885 und S. 895, vollkommen an dem Stutzschen Modell der Eigenkirche festgehalten. 21 Hinkmar von Reims, Collectio de ecclesiis ei capellis, cd. M. Stratmann, Hannover, 1990 (b1GH, Fontes iuris Gennanici antiqui in usum scholarum separatirr editi, 14); zuerst bekannt gemacht hat den Text W. Gundlach, Zwei Schriften desEnbischofs Hinkinar von Reims, in Zeit- schrift fr Kirchengesc hichte 10,1889, S. 92-145 und S. 258-309. Die kürzere Rezension hat (ohne Kenntnis des Beitrags von Gundlach) A. Gaudenzi, Scripta anecdota antiquissimorum Glossatorum, Bologna, 1892,11, S. 7-23, publiziert. Eine erste Analyse der von Hinkmar benutzten Quellen botA. Gied, Hincmars Gollectio deecdesiis ei capellis. Eine Studie zur Geschichte des Kirchenrechts, in HistorischesJahrbudz, 15,1894, S. 556-573. -Aus der französischen For- schung vgl. jetzt Ph. Depreux u. C. Treffort, La paroisse do s leDe ecclesiis ei capellis d'Hincrnar de Reirns. L'enonciation dune nonne ä partir de la pratique? in tllidievales, 48,2005, S. 153- 160. 22 U. Stutz, Eigenkirche, Eigenkloster... zit. Anm. 7, S. 370; ausführlich id., Geschichte des kirch- lichen Benefzzialmesens... zit. Anm. 7, S. 280-295- " So R. Schieifer, Eigenhirrhe... zit. Anm. 7, Sp. 1706.

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  • STEFFEN PATZOLD

    Beide Prälaten hätten im Kampf gegen den Laieneinfluß versucht, Eigenkirchen ihren Herren zu entziehen; dagegen habe Hinkmar - der als Erzbischof von Reims möglicherweise zu den Opfern dieser Besitzpolitik gehörte - die Rechte der Eigenkirchenherrn herausge- stellt und die Maßnahmen der beiden Prälaten als kirchenrechtlich unzulässig gebrandmarkt24. Ulrich Stutz galt Hinkmars Text deshalb sogar als ein wichtiger Schritt für die endgültige Durchsetzung der Eigenkirche im Frankenreich und in dessen Nachfolgereichen25 - eine These, die schon Wilfried Hartmann aufgrund der geringen handschriftlichen Verbreitung der Schrift bezweifelt hat2G

    Tatsächlich, so möchte ich im Folgenden zeigen, hat Hinkmar sich in seiner Collectio mit einer viel grundsätzlicheren Frage beschäftigt, als daß diese Abhandlung lediglich als ein Rechtsgutachten zur Frage des Eigenkirchenrechts gelesen werden dürfte. Der Reimser Rechts- kenner hat versucht, die Qualität jener potestas et ordinatio prinzipiell zu bestimmen, die ein jeder Bischof über einen festumrissenen Raum, nämlich das territorium seiner Diözese ausübte.

    In den späten 85oerJahren verfaßt, gerichtet an Karl den Kahlen, trug die in zwei Handschriften überlieferte Abhandlung27 wahrschein- lich schon im Original den Titel De ecclesiis ei capellis B. Bei der Lektüre des Textes fällt eines sofort ins Auge: Die Schrift handelt ganz offen- sichtlich nicht nurvon Problemen, die sich aus der heute als «Eigen- kirche» bezeichneten Rechtskonstruktion ergeben. Martina Strat- mann hat in ihrer Edition Hinkmars Abhandlung durch römische Ziffern in drei große Blöcke untergliedert und geurteilt, daß der zweite und dritte Teil «in geringerem Maße zum eigentlichen Thema dieses Gutachtens» gehörten29; sie vermutet, Hinkmar habe die Gele- genheit genutzt, um

    seine Bemühungen um eine bessere Diözesanvenvaltung einem größeren Kreis von Bischöfen bekannt zu machen30.

    Aus dieser Sicht gerät die gesamte zweite Hälfte des Textes zu einem Anhängsel, das das Kernthema gar nicht mehr behandelt. In

    24 Vgl. M. Stratmann, Collectio... Zit. Anm. 21, S. 12. 25 U. Stutz, Geschichte... Zit. Anm. 7, S. 294f. 26 W. Hartmann, Der rechtliche Zustand... zit. Anm. 21, S. 426. 27 Dazu M. Stratmann, Collectio... Zit. Anm. 21, S. 31-35- 28 ibid., S. 17£ 29 Ibid., S. 17; so schon A. Gietl, Hincmars... zit. Anm. 21, S. 562. 80 M. Stratmann, Collectio... Zit. Anm. 21, S. 27.

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  • DEN RAUM DER DIÖZESE MODELLIEREN ?

    den Handschriften wird dieser Teil allerdings nicht einmal durch einen Absatz vom Voranstehenden getrennt.

    Auch in der an Karl den Kahlen gerichteten Einleitung, die Hink- mar seinem Werk vorangestellt hat, ist von einer prinzipiellen Ausein- andersetzung zwischen Prudentius und Rotbad einerseits und Eigen- kirchenherrn andererseits nicht die Rede. Vielmehr erläutert Hink- mar, daß Rothad die Pfarrei (par nchia) des Priesters Adelold geteilt habe und in dem einen Teil eine neue Kirche habe errichten lassen. Ex hac causa habe auch Prudentius von Troyes in seiner Diözese Maß- regeln getroffen - die dann zu so weitreichender Kritik Anlaß gaben, daß Karl der Kahle Hinkmar um eine Stellungnahme bat52. Gegen- stand der Schrift ist demzufolge die Frage, inwieweit ein Bischof die kirchliche Raumgliederung seiner Diözese verändern, das heißt beste- hende Pfarreien teilen und neue Pfarreien schaffen darf; daraus folgt des weiteren die Frage, wie es uni die bischöfliche Kompetenz bestellt ist, Kirchen neu zu errichten und auszustatten. Beide Fragen können zwar die Frage des Eigenkirchenwesens berühren; aber sie reichen weit darüber hinaus.

    Mit entsprechend grundlegenden Bemerkungen eröffnet Hink- mar seine Schrift: In einem ersten Schritt stellt er diejenigen kirchen- rechtlichen Bestimmungen zusammen, die seiner Ansicht nach für das Verhältnis des Bischofs zu den seit alters her bestehenden Kirchen in seiner Diözese und zu den an ihnen dienenden Priestern einschlä- gig sind. Dabei betont er die Verfügungsgewalt des Bischofs über sein Bistum und über die Pfarreien, die darin liegen. Anschließend erör- tert er die Verfügungsgewalt des Priesters über seinen Sprengel, unter- streicht die festen Grenzen, die jede Pfarrei habe, diskutiert, wie Prie- ster eingesetzt werden sollen, erinnert an das Verbot, die Pfarrstelle zu wechseln, beschreibt die Gewalt des Bischofs über das Vermögen seiner Diözese und stellt den Verfahrensgang bei Streitigkeiten zwi- schen Geistlichen unterschiedlicher Weihegrade vor. Diesen ganzen ersten Abschnitt beschließt Hinkmar mit der Feststellung: Haec de antiquis ecclesiis atque panrrchiis suit a maioribus constituta33.

    In einem zweiten Schritt diskutiert er dann diejenigen Bestimmun- gen, die die Neuerrichtung von Kirchen betreffen. Daß unter bestimm- ten Bedingungen ein Kirchenneubau notwendig werden könne, räumt Hinkmar bereitwillig ein. Allerdings formuliert er Bedingun-

    31 Vgl. ibid, S. 16, Anm. 42- '2 Hinkmar, Collectio... Zit. Anm. 2 t, S. 63. n Ibid., S. 66-73; das Zitat im Text auf S. 74, Z. i.

    233

  • STEFFEN PATZOLD

    gen: Neue Kirchen müßten zwar angemessen ausgestattet werden, sie dürften aber keineswegs die Rechte bestehender Gotteshäuser beschränken; insbesondere sollten sie keinen eigenen Priester, keine Zehntrechte und keinen Teil der Pfarrei erhalten. Statt dessen sollten sie, so irgend möglich, als capellae der antiqua ecclesia untergeordnet werden34.

    Gegen diesen Grundsatz hatten Hinkmars Gegner verstoßen: parro- chias antiquitus constitutas sibi vindicant auf inrationabiliter dividunt 35, so formulierte der Erzbischof seinen Vorwurf gegen Prudentius und Rothad - und zieh sie dafür schändlicher Gewinnsucht. Das Verfah-

    ren, das Prudentius laut Hinkmar anwandte, war einfach: Er wies bestehende Kirchen, die in seiner Diözese lagen, als baufällig aus; auf entsprechende Normen gestützt, forderte er dann einen Kirchenneu- bau; und unter Hinweis auf das kirchenrechtliche Verbot, an Orten,

    an denen Tote bestattet waren, eine Kirche zu weihen, verlagerte er den Neubau an eine andere Stelle und eignete sich die betreffende parrochia an - oder teilte sie zumindest36. Soweit Hinkmars Abhand- lung erkennen läßt, beriefen sich Prudentius und Rothad bei diesem Verfahren vor allem auf zwei Kanones: den 17. Kanon des Konzils von Orleans 511 und den lg. Kanon des Konzils von Toledo 58937. Beide hatten bestimmt, daß sämtliche Kirchen, die in einer Diözese errich- tetwurden, der potestas (Orleans) bzww: der ordinatio et potestas (Toledo) des Bischofs dieser Diözese unterliegen sollten38.

    Gegen das beschriebene Verfahren und gegen die kirchenrechtli-

    che Begründung, mit der Prudentius und Rothad es rechtfertigten, führte Hinkmar folgende Argumente ins Feld39:

    - Das Kirchenrecht fordert die Wahrung der Vorrechte bestehen- der Kirchen bei der Errichtung neuer Kirchen, so daß es unzulässig ist, für neue Kirchen die Rechte älterer einzuschränken, bestehende Pfarreigrenzen zu verändern oder Pfarrsprengel zu teilen. Zwar kann es sein, daß tradierte kirchenrechtliche Normen unter bestimmten Bedingungen angepaßt werden müssen; eine solche Anpassung darf aber nur auf einem Konzil geschehen und weder der Bibel noch den decreta sanctorum zuwiderlaufen. Vernünftig ist es daher, verfallene

    31 Ibid., S. 74-76. 35 Ibid., S. 76f., das Zitat auf S. 77, Z. 4-5- 16 Vgl. M. Stratmann, Collectio... zit. Anm. 21, S. 8f. 37 Vgl. dazu den Beitrag von Celine Martin in diesem Band. 38 Vgl. Hinkmar, Collectio... Zit. Anm. 21, S. 76, Z. 13-24- 39 Das folgende resümiert die Argumentation ibid., S. 77-91 und S. 95f.

    234

  • DEN RAUM DER DIÖZESE MODELLIEREN

    Kirchen an Ort und Stelle wieder aufzubauen. Der Verweis auf die Toten ist dabei theologisch kein Gegengrund, da auch die verstorbe- nen Christen Teil des corpus Christi sind, das die Kirche darstelle. Im übrigen sind Bestattungen seit alters her in bedeutenden Kirchen üblich; und über die Lebensführung der ja bereits lange Verstorbenen ist ohnehin kein menschliches Urteil mehr möglich.

    - Wenn eine Kirche aber derart verfallen ist, daß sie an Ort und Stelle nicht wiedererrichiet werden kann, dann soll sie in unmittelba- rer Nachbarschaft neu entstehen. Falls jedoch aus bestimmten Grün- den eine weitere Verlagerung notwendig ist, darf sich der Bischof dabei nicht von Habsucht leiten lassen, sondern nur von den Bedürf- nissen des betroffenen Priesters und seiner Gemeinde. Nirgendwo und unter keinen Umständen sehen das Kirchenrecht oder die Kapi- tularien der karolingischen Herrschervor, daß ein Bischof eine Kirche zerstören und die Reliquien daraus entfernen darf, sofern ihr Bestand materiell abgesichert ist; nirgendwo wird bestimmt, daß eine Kirche vor ihrer Weihe von ihren Erbauern der matrix ecclesia episcopii über- eignet (tradewe) werden müsse40; eine solche Norm ist schon deshalb unvorstellbar, weil sie einem Simonie-Gebot gleichkäme.

    - Wenn sich Prudentius und Rotbad für ihre Maßnahmen auf das Konzil von Orleans 511 und auf das von Toledo 589 berufen, so inter- pretieren sie deren Kanones falsch: Die Rede ist hier nämlich von der Potestasund der ordinatio des Bischofs; damit sind die dispositio und die gubernatio gemeint, nicht jedoch eine dominii proprii evindicatio41. Anders gewendet: Zwar- darf der Bischof über sämtliche Kirchen in seiner Diözese potestasund ordinatiofürsich beanspruchen, aber unbe- rührt davon ist das Besitzrecht (das ins possessionis, die dicio, das domi- nium, die dominatio), das bei den Erbauern oder Eigentümern der Kirche verbleibt;

    Schon diese Argumentation in der ersten Hälfte der Abhandlung enveist: Es ging Hinkmar zunächst einmal um die Frage, inwieweit ein Bischof im territorium seiner Diözese Kirchen «schließen», verlagern bzw. neu errichten durfte und inwieweit er bei alledem willkürlich neue Pfarrgrenzen ziehen durfte; es ging also um ein Problem des bischöflichen Zugriffs auf die Raumgliederung der Diözese. So erklärt

    40 Ibid., S. 86, Z. 25 - S. 87, Z. 3. Ibid., S. go, Z. 4-9.

    'Y Die zitierten Begriffe ibid., S. go, Z. 8; S. gi, Z. g und Z. 17; S. 92, Z. 25f.; S. 93, Z. 24; S- 95, Z. igf.

    235

  • STEFFEN PATZOLD

    sich die Unterteilung des Textes in Ausführungen zu seit alters beste- henden Kirchen einerseits und zu neu zu gründenden Kirchen ande- rerseits; und so auch erklärt sich der wohl zeitgenössische Titel der Abhandlung: de ecclesiis ei capellis. Dieses schon in der Einleitung klar

    umrissene Grundsatzproblem war aber an sich unabhängig von der Frage, welchen Besitzrechten eine betroffene Kirche unterlag. Wich- tig wurde diese Frage für Hinkmar nur insofern, als er zeigen wollte, daß seine Auffassung auch für diejenigen Kirchen galt, die im Besitz (possessio) nicht des Bischofs, sondern des Königs, freier Laien oder von Klöstern oder anderen Bischöfen waren.

    Das hat Hinkmar den Ruf eingetragen, prinzipell ein Befürworter des Eigenkirchenwesens zu seins. Doch bei genauerem Hinsehen

    wird man differenzieren müssen. Richtig ist: Hinkmar ging wie selbst- verständlich davon aus, daß der König, freie Laien, Klöster und Bischöfe Kirchen (und auch Pfarrkirchen) «besitzen» konnten - also, wie Hinkmar sich ausdrückte, die possessio innehatten, das dominium, die ditio über diese Kirchen ausübten. Aber welche rechtlichen Kon-

    sequenzen erwuchsen daraus nach Hinkmars Auffassung? Als Eigen- kirchenherren im Sinne des mediävistischen Forschungskonzepts hätten diese Kirchenbesitzer «die Verfügung in vermögensrechtlicher Beziehung» und «die volle geistliche Leitungsgewalt» haben müssen, und das heißt insbesondere die Verfügungsgewalt über die Zehnt- rechte und die Nutzungsrechte an den Einkünften aus demjenigen Gut, das der Kirche bereits gehörte oder ihr durch Stiftungen zuge- eignet wurde44. Diese Rechte aber räumte Hinkmar den Besitzern der Kirche gerade nicht ein. Seine Formulierungen sind in dieser Hin- sicht unzweideutig: Was die Kirchenbesitzer von den Priestern ihrer Kirche fordern durften, waren spiritalia obsequia sine ullo tipo vel conten- tione auf rebellatione- nicht mehr, aber auch nicht weniger45. Die Prie- ster sollten sich nicht weigern, den seniores mit schuldiger Demut (cum debita humilitate) die mit ihrem Amt verbundenen «geistlichen Dien-

    as Vgl. unter anderem U. Stutz, Geschichte... zit. Anm. 7, S. 280-293; P. Landau, Eigenkirche... zit. Anm. 7, S. 401; R. Schieffer, Eigenkirche... zit. Anm. 7, Sp. 1706; M. Stratmann, Collectio... zit. Anm. 2 t, S. i 2f.; differenzierter rekonstruiertW. Hartmann, Der rechtliche Zustand... zit. Anm. 16, S. 424-433, Hinkmars Sicht der Eigenkirchen. 44 Für das Konzept der Eigenkirche ist dies wesentlich: Aus diesen Einkunftsaussichten erklärte Stutz nämlich das Interesse der Eigenkirchenherrn an der Errichtung eines Got- teshauses; aus der jüngeren Literatur etwa R. Schieffer, Eigenkirche... zit. Anm. 7, Sp. 1705; P. Landau, Eigenkirche... zit. Anm. 7, S. 40of.; W1: Hartmann, Eigenkirche... zit. Anm. 20, S. ii. 45 Hinkmar, Collectio... zit. Anm. 2 1, S. 91, Z. 20f.

    236

  • DEN RAUM DER DIÖZESE MODELLIEREN

    ste» zu erweisen46. Sie seien ja, so begründete Hinkmar diese Sicht, ohnehin verpflichtet, allen Menschen ihre geistlichen Dienste kosten- los zur Verfügung zu stellen; um so mehr müsse das selbstverständlich gegenüber den Mitgliedern ihrer Gemeinde und den Kirchenbesit- zern gelten - da doch die Priester von deren Gaben lebten. Gott ver- lange Rechenschaft über die Seele jedes einzelnen Gemeindemit- glieds, das einem Priester anvertraut sei. Daher sollten die Priester sich davor hüten, durch ihre Nachlässigkeit oder Unverschämtheit die Gemeinde und die seniowrs gegen sich aufzubringen:

    sicut ab eis dotem ecclesiae decimas e igrurt, ita onmia obsequia spiritalia illis sine aliqua larditate ininistient''.

    Die Kirchenbesitzer, so formulierte es Hinkmar an anderer Stelle, sollten von dem Besitz, der einer Kirche übereignet worden war, kein

    servitium fordern dürfen (abgesehen eben vom «geistlichen Dienst»);

    sed i/ua ecclesia cunt dotesua ac decima sic sub iumunitate existeret et ad episcoPi dispositionem atque ad presbiteri dispensationem pertineret,

    wie es einst Ludwig der Fromme bestimmt habe"'. Zu den Aufga- ben des Bischofs rechnete es Hinkmar, diese Rechtssituation zu kon- trollieren und zu schützen: Sie sollten dafür Sorge tragen,

    ut singulae rusticanum ecclesiannn panvchiae hoc, quod constitutum est, habeant

    et, cuicumque donentur vel in cuiuscumque dominio sint, sub inmunitate debita

    maneant et nulluni praeiudicium vel exactionem indebitam ex earundem eccle-

    siarum dolibus neque de decimis a quoquam prrsbiteri patiantur49.

    Mehr noch: Unabhängig davon, ob ein Priester nur einen einzi- gen Mansus als Ausstattung an seiner Kirche zur Verfügung hatte oder noch etwas darüber hinaus, sollte er seinem senior den «schul- digen Dienst erweisen»; aber dieser Dienst war eben nicht derjenige Pro consuetudinario ac debito censu, sondern umfaßte -je nach Mög- lichkeit-freiwillige Opfergaben und Eulogien. Sie sollten ausdrück- lich «ohne Einbußen für die Kirche und ohne Schaden für die Ehre» des Priesters geleistet werden - und Hinkmar verglich den geistli- chen Dienst des Pfarrers deshalb mit dem honor cum orationis instan-

    I Ibid., Z. 22f. 47 Ibid, S. 92, Z. 14f. 48 Ibid., S. 85, Z. t t-13; Hinkmar meint das vierte Kapitel des Capitulate Wormatiense von 829: Vgl. oben, Anm. 13- 49 Ibid., S. 9 1, Z. i 1-15.

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  • STEFFEN PATZOLD

    tia, den Bischöfe dem König zu erweisen hatten-". Es fällt schwer, in den so umschriebenen freiwilligen «Diensten» etwas anderes als den

    geistlichen Dienst des Priesteramts und den Gebetsdienst zu sehen, über die Hinkmar ja auch zuvor bereits geschrieben hatte51. Mit Eigenkirchen, die aufgrund ihrer Zehntrechte und der Stiftungen

    von Kirchengut durch Gläubige als wirtschaftlich einträgliche «Gewerbebetriebe» für ihre Herren fungieren sollen52, hat das nichts gemein.

    Als wirtschaftliche Opfer der von Prudentius und Rothad vorge- nommenen Kirchenneubauten und Grenzverschiebungen in Pfar-

    reien betrachtete Hinkmar dementsprechend nicht in erster Linie die Kirchenbesitzer, sondern die betroffenen Priester selbst. So kritisierte

    er, daß die Bischöfe sub hac occasione quasi Bibi ecclesias ut proprias vindi- cantes (... J presbiteros (! ) depraedarentur5s. Die Priester also waren es, die

    aus seiner Sicht durch die Maßnahmen der Bischöfe von Soissons und Troyes «ausgeplündert» worden waren. Dabei sollten Bischöfe doch den Unterdrückten und Beladenen zur Hilfe eilen -

    et non pro hoc ullam indebitam ab eis subiectionem requirere, ecclesiis quoque cum dotibus suis inmunitatem et a tribulis indebitis libertatem sine traditionis indebitae

    requisitione optinere ei presbiteris quieten ecclesiasticam pmvidere debemus 4.

    Prudentius und Rothad hatten die libertas und die inmunitas, die quies ecclesiastica der Priester an den betroffenen Kirchen verletzt. Erst dadurch erklären sich übrigens auch Hinkmars detaillierten Ausfüh- rungen zu Beginn der Abhandlung: Er erläuterte dort ja nicht die Rechte von Eigenkirchenherren und den Verfahrensgang bei Strei- tigkeiten zwischen Eigenkirchenherren und Bischöfen, sondern die Verfügungsgewalt der Priester über ihre Sprengel, die Pfarreigrenzen, das Translationsverbot für Pfarrer und die Gerichtsbarkeit bei Strei- tigkeiten zwischen Bischof und Pfarrer. Betroffen also (und zu vertei-

    5o Ibid., S. 107, Z. 14 - S. 108, Z. 9. 5I Hinkmar schärfte hier also das ein, was später, im Jahr g 16, auch die Synode von Hohen- altheim forderte: Einmal in ihrAmt erhoben, sollten Priester nicht gegenüber den Besitzern der Kirche-d. h. möglicherweise ihren ehemaligen Herren -hochmütig werden und dann sich weigern, für ihre domini die Messe zu lesen, Psalmen zu singen und das Stundengebet abzuhalten: Vgl. dazu W. Hartmann, Der rechtliche Zustand... zit. Anm. 16, S- 438f, mitAnm. 104- 52 So U. Stutz, Eigenkirche, Eigenkloster... zit. Anm. 7, S. 37of. 59 Hinkmar, Collectio... zit. Anm. 21, S. go, Z. 9-11. 54 Hinkmar, Collectio... zit. Anm. 21, S. 93, Z. 10-14.

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  • DEN RAUA1 DER DIÖZESE MODELLIEREN ?

    digen) waren hier aus Hinkmars Sicht in erster Linie die Landgeistli- chen, nicht die senioren5.

    Damit zeichnet sich die eigentliche Zielrichtung von Hinkmars Argumentation ab: Er trat dafür ein, den Zugriff der Bischöfe auf die kirchliche Raumgliederung ihrer Diözesen eingeschränkt zu halten. Sie sollten, wenn irgend möglich, die Pfarreigrenzen in ihrer Diözese nicht dadurch verändern, daß sie bestehende Kirchen «schlossen», verlagerten oder durch neue Kirchen an anderem Ort beeinträchti- gen. War eine solche Veränderung aber unumgänglich, dann sollten die Bischöfe dennoch das Wohl der Gemeinden und der betroffenen Priester berücksichtigen. Kritik verdiente das Vorgehen der Bischöfe von Troyes und Soissons also nicht deswegen, weil es (vermeintlichen) Eigenkirchenherren ihre (vermeintlichen) Einkunftsquellen - Zehnt und Abgaben aus Kirchengut- nahm; sondern weil die Priester «aus- geplündert» wurden und jene inm unit as und quies ecclesiastica verloren, die sie bisher genossen hatten51. Kirchenrechtlich war es für Hinkmar dabei entscheidend, zwischen der potestas bz«: der ordinatio einerseits und dem dominium, der ditio, dominatioandererseits zu unterscheiden: Potestas und ordinatio standen jedem Bischof über alle Kirchen in sei-

    5s Selbstverständlich ist vorstellbar, daß auch die Kirchenbesitzer bei Karl dem Kahlen Beschwerde geführt hatten; allerdings ist Hinkmars Text hier nicht eindeutig. Er spricht lediglich von den Aktivitäten des Prudentius, quae in u 11 is inconvenientia videbantur et ex quibus ad vos p1urimoru in perversere clamores (Collectio... zit. Anm. 21, S. 63, Z. 13-14). Es ist gut möglich, daß zu den multi und plurimi auch betroffene Priester gehörten; auf der Synode von Toulouse 844 jedenfalls hatten sich Priester in Septimanien bei Karl dem Kah- len über ganz ähnliche Maßnahmen ihrer Bischöfe beschwert: Vgl. Synode von Toulouse 844, ed. W Hartmann, Hannover, 1984 (MGH, Concilia, 3), hier c. 1, S. 20 und c. 7, S. 22. - Hink- mar, Collectio... zit. Anm. 21, S. 82, Z. i6-2o, wies zudem darauf hin, daß bei der Neugrün- dung einer Kirche so verfahren werden müsse, ut [... ] non pro ulla indecenti occasione sua cuiquam ecclesia tollatur neque decima vel panochia indebite abripiatur vel dividatur, wahrschein- lich meinte Hinkmar auch hier den Priester- dein seiner Meinung nach ja die Pfarrei und der Zehnt zustanden. ss Eine der Verfahrensweisen, die hierbei von den Priestern als « Ausplünderung » empfun- den werden konnten, erhellen die Akten der Synode von Toulouse 844... zit. Anm. 55, C. 7, S. 22, wenn dort nämlich für die (bisweilen notwendige) Teilung von Pfarreien von den Bischöfen gefordert wird: seautdum quad subtraxerint cuilibet presbyytero de parrocitia, de dispensa quoque debita ab Üb o rninus ac ipiant et alten, qui quod dividitur, a parrochia suscipit, sub hac eadem mensura inponant. Offenbar hatten hier Bischöfe neue Kirchen gegründet, dadurch beste- hende Pfarreien geteilt, von dem davon betroffenen Priester jedoch weiterhin einen Teil der Zehnteinkünfte in gleicher Höhe wie zuvor eingetrieben. Daß auch dies im Hintergrund gestanden haben dürfte, wird daran ersichtlich, daß Hinkmar im dritten Teil seiner Collec- tio (S. 11g, Z. 13-2o) eigens mahnend darauf hinwies, daß dem Bischof nicht etwa ein Viertel des Zehnten der Riesterzustand, sondern nur ein Viertel seines eigenen Zehnten (also desjenigen, den die Gemeinde der Bischofskirche selbst und der bischöflichen familia dem Bischof zu entrichten hatte: Vgl. J. Semmler, Mittgebot... zit. Anm. 2, S. 42f. ).

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  • STEFFEN PATZOLD

    nem territorium zu; das dominium dagegen nicht. Erst wenn diese bei- den Verfügungsgewalten bei verschiedenen Personen lagen, erhielt der einzelne Pfarrer in Hinkmars Augen offenbar seine besondere inmunitas.

    Bei einer solchen Rekonstruktion der Aussageabsicht erschließt sich auch der Sinn des zweiten und dritten Abschnitts des Textes. Im

    ersten Teil hatte Hinkmar die potestas und ordinatio, die jeder Bischof über sämtliche Kirchen seiner Diözese ausübte, lediglich von dem Besitzrecht der Kirchenbesitzer geschieden - also dargelegt, was pote- stas und ordinatio eben nicht umfaßten. Im nächsten Schritt mußte er nun konsequenterweise positiv definieren, welche Aufgaben und Rechte die bischöfliche potestas bestimmten. Auch hier ist Hinkmar

    unzweideutig - schließt er doch diesen Teil seiner Argumentation mit dem klaren Fazit: Haec est ordinatio ei potestas episcopi de parrochianis ecclesiis57.

    Daß dieser Abschnitt58 auf den ersten Blick über weite Strecken

    einem Bischofskapitular ähnelt59, erklärt sich vor diesem Hintergrund leicht. Bischofskapitularien sind unmittelbarer Ausdruck der Lei- tungsgewalt eines Bischofs über die Priester seiner Diözese; in ihnen formuliert der Bischof diejenigen Normen, durch die er die priester- liche Lebensführung reguliert wissen will. Da Hinkmar nun gerade die bischöfliche Leitungsgewalt positiv zu erfassen suchte, listete er hier all jene Punkte auf, die potentiell auch in Bischofskapitularien behandelt werden konnten. Sachlich und rechtlich handelt es sich - im Kontext seiner Abhandlung - freilich dennoch um etwas ande- res: Normieren Bischofskapitularien die priesterliche Lebensführung bzw. deren Kontrolle, so beschreibt Hinkmar - gewissermaßen in einem «Metatext» - die Leitungsgewalt des Bischofs über die Priester, die sich dann (unter anderem) schriftlich in Bischofskapitularien manifestieren konnte, daneben aber auch im bischöflichen Umgang mit den Archidiakonen seiner Diözese erwies, im Rahmen der Visita- tion wirksam wurde und auch bei anderen Gelegenheiten spürbar war.

    Entsprechend breit ist das Aufgabenspektrum, das Hinkmar an dieser Stelle entfaltet: Es reicht von der Aufsichtspflicht des Bischofs in Hinblick auf die Lebensführung und die Bildung der Priester über

    57Hinkmar, Collectio... ziLAnm. 21, S. 1 12, Z. g. 58 Ibid., S. gg, Z. lo-S. 112, Z. 18. 59 M. Stratmann, Collectio... ziG Anm. 21, S. i6.

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  • DEN RAUM DER DIÖZESE MODELLIEREN 7

    die Kontrolle der priesterlichen Amtsehrung und Pflichterfüllung und die Sorge für den materiellen Bestand der Kirchengebäude und deren Ausstattung sowie die korrekte Verwendung des Kirchenzehn- ten durch den Priester bis hin zur bischöflichen Visitation, die nicht zur wirtschaftlichen Belastung für die Landgeistlichen werden dürfe. Die hier von Hinkmar zusammengestellte Liste bischöflicher Kompe- tenzen wird man nun aber ohne weiteres unter dem Stichwort der «vollen geistlichen Leitungsgewalt» zusammenfassen. Mehr noch: In einzelnen Bereichen - etwa bei der Sorge für den Erhalt des Kirchen- guts, für den materiellen Bestand der Kirchengebäude und für die Verwendung des Zehnten - reichten diese Kompetenzen sichtlich auch in Fragen des Vermögensrechts hinein. Aus Hinkmars Sicht umfaßten die ordinatio und potestas, die jedem Bischof an allen Kirchen in seiner Diözese zukamen, demnach gerade jene Verfügungsgewalt, die das Eigenkirchenkonzept allein dem Eigenkirchenherrn zuschrei- ben möchte.

    Der letzte Teil der Abhandlung60 schließlich «wendet sich», so hat es Martina Stratmann treffend zusammengefaßt, «fast ausschließlich gegen die Ausbeutung von Priestern durch die Bischöfe und ihre ministri anläßlich der Visitation»61. Dieses Thema aber bestätigt die Interpretation des ersten Abschnitts noch einmal von anderer Seite her. Denn nun erst wird der enge Bezug des Schlußteils zum Rest der Abhandlung deutlich: Bischöfe sollen nicht nur nicht aus Gewinn- sucht das dominiun: über Pfarreien an sich reißen, wie es Prudentius und Rothad getan hatten; sie sollen generell die Priester ihrer Diözese nicht ausbeuten, weder bei ihren Visitationsreisen, noch bei den Rei- sen ihrer Amtsträger, geschweige denn bei irgendwelchen anderen Gelegenheiten. Dazu fügt es sich, daß Hinkmar am Ende des Gesamt- werks in extenso aus der 17. Evangelienhomilie Gregors des Großen zitiert62. Dies war ein weitbekannter Grundlagentext, in dem das rechte Verständnis des Bischofsamtes in der Karolingerzeit festge- schrieben war. Zu Hinkmars Anliegen aber paßte er nicht deshalb, weil er die Rechte von Eigenkirchenherrn verteidigt hätte, sondern weil er den Bischöfen eindringlich vor Augen führte, welche Verant- wortung sie mit ihrem geistlichen Amt für die ihnen anvertrauten Gemeinden übernommen hatten. Bischöfe, so rügte Gregor, durften

    G0 Hinkmar, Collectio... ziLAnm. 2 i, S. 112, Z. 19-S- 127,7- 35- 61 Ni. Saatmann, Collectio... ziG Anm. 2 i, S. 16. 6Y Hini: mar, Collectio... zit. Anm. 2 t, S. 123,7-- 5-S. 127, Z. 35.

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  • STEFFEN PATZOLD

    über ihrem Gewinnstreben, ihrem Ehrgeiz und ihrer Beschäftigung mit weltlichen Dingen nicht ihre Kernaufgaben vernachlässigen, näm- lich die Predigt zu und die Ermahnung von Klerus und Volk ihrer Diözesen. Prudentius und Rothad dürften ohne weiteres verstanden haben, auf wen der Vorwurf gemünzt war....

    Damit ist ein Gutachten über die Rechte der Eigenkirchenherren verloren, aber eine Abhandlung zur Qualität der polestas und ordinatio des Bischofs über die verschiedenen Kirchen im territarium seiner Diö- zese gewonnen - ein Text also, der sich sehr grundsätzlich über Fra- gen äußert, die im vorliegenden Band zur Debatte stehen. Für das Thema «geistliche Elite und Raum» ergeben sich aus Hinkmars Aus- führungen drei Folgerungen:

    - Zum einen legte Hinkmar dar, wie weit die Gewalt des Bischofs über die Kirchen im Raum seiner Diözese reichte. Die «volle geistliche Leitungsgewalt» sah er unter keinen Umständen beim Besitzer einer Kirche, sondern bei dem zuständigen Diözesanbischof. Mehr noch: Die Einkünfte aus dem der Kirche zugehörigen Gut und aus dem Kirchenzehnt standen aus Hinkmars Sicht nicht dem Besitzer der Kirche, sondern deren Priester zu - während es dem Bischof oblag zu kontrollieren, ob der Priester den Zehnt und die Einkünfte aus dem der Kirche zugehörigen Gut dem Kirchenrecht entsprechend ein- setzte63. Das weist in dieselbe Richtung wie die Ergebnisse, die Andreas Hedwig aus urbarialen Quellen erzielt hat; daher ist das Konzept der Eigenkirche wohl noch einmal grundsätzlich zu hinterfragen. Zwei- fellos gab es im g. Jahrhundert die Vorstellung, daß eine Kirche jemandem «gehörte»; aber die Rechte, die diese Person deswegen an der Kirche hatte, waren sehr viel begrenzter, als es das Eigenkirchen- Konzept voraussetzt6 '.

    es Hinkmar, Collectio... zit. Anm. 21, S. 78, Z. 13-15, sprach das klar aus: Die Priester sollten cum consilio et dispositione sui episcopi dotes ecclesiae et parrochiarum decimas sub divino timore dispensare. 64 Betrachtet man vor diesem Hintergrund noch einmal die einschlägigen normativen Texte der früheren Karolingerzeit, so wachsen die Zweifel an der Stutzschen These eines Eigen- kirchenrechts noch weiter. Es läßt sich auch hier nämlich - durchaus in Übereinstimmung mit Hinkmars Sicht - folgendes zeigen: i. ) Weder der Zehnt noch die Einkünfte aus dem Kirchengut und den Stiftungen von Gläubigen sollten den Kirchenbesitzern zustehen; sie sollten vielmehr den Priestern zur Verfügung stehen, die wiederum durch die Bischöfe in ihrem Umgang mit diesen Einkünften kontrolliert werden sollten. 2. ) Die geistliche Lei- tungsgewalt des Bischofs über sämtliche Kirchen seiner Diözese ist in keinem Kanon und keinem Kapitular der Karolingerzeit jemals bestritten wvorden; statt dessen wurde die bischöfliche potestas und die Aufsichtspflicht über die Priester der Diözese seit 744 mehrfach

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  • DEN RAUM DER DIÖZESE MODELLIEREN

    - Zweitens lag Hinkmar daran, bestimmte Grenzen der bischöfli- chen potestas ei ordinatio über seine Diözese deutlich zu machen. Ein Bischof durfte Priester nicht einfach von einer Kirche, für die sie geweiht worden waren, zu einer anderen bestellen; und er war keines- wegs frei, bestehende Pfarrgrenzen innerhalb seines Sprengels zu verändern. Der Reimser Metropolit erkannte zwar die Zwänge an, die der Landesausbau mit sich bringen konnte: Er rechnete damit, daß neue Kirchengebäude dort errichtet werden mußten, wo die Entfer- nungen zur Pfarrkirche für einzelne Gemeindemitglieder zu groß geworden oder wegen der naturräumlichen Gegebenheiten - wie Wäl- dern, Sümpfen, Überschwemmungsgebieten - unzumutbar waren. Aber eine neue Pfarrei sollte dort dennoch nicht entstehen: Lediglich eine capella sollte errichtet werden, für die der «alte» Priester die Zuständigkeit und die Zehntrechte behielt,

    quia non licet nobis pro libitu nostro antiquanun ecclesianan privilegia pro novis oratoriis convellere vel transinutare nec panocluas antiquitus constitutas vel dis- lributas dividerd's.

    Hinkmar räumte sogar ein, daß die «Schließung» einer bestehen- den Kirche und der Bau einer neuen an anderer Stelle unter bestimm- ten Bedingungen notwendig werden konnten, etwa wenn Räuber an einem Ort einen Priester immer wieder überfielen, wenn der Boden, auf dem die Kirche stand, sumpfig war und deshalb dort keine Toten beerdigt werden konnten, oder wenn die Besitzer einer Kirche dem Priester und dem Gebäude lex ei honor nicht in der Weise zollten, wie es sich gehörte. Auch dann aber hatte ein Bischof die neccesitas presbi-

    festgeschrieben. 3. ) Bestimmungen gegen die Weihe von Unfreien sind - anders als Stutz meinte - in erster Linie gegen die weihenden Bischöfe gerichtet und schützen die Interes- sen der Herren dieser Unfreien: Die Herren sollten nicht ohne ihre Zustimmung durch eine Priesterweihe die Kontrolle über einen ihrer Unfreien verlieren. - Im karolingerzeit- lichen Kirchenrecht ist zwar ein Besitzrecht von Laien an Kirchen akzeptiert gewesen, aber dieses Besitzrecht schloß nicht die Verfügungsgewalt über Einkünfte aus dem Kirchengut oder aus dem Zehnten ein und sicherlich auch nicht die volle geistliche Leitungsgewalt. Tatsächlich interpretierte Stutz die normativen Texte der Karolingerzeit einseitig: Wann immer eine Norm dem von ihm entworfenen Bild der Eigenkirche widersprach, erklärte er sie als in der Praxis wirkungslos und zudem als nicht dem «germanischen» Rechtsdenken der Laienadligen entsprechend. Zur Problematik dieser Methode bei der Auswertung nor- mativer Quellen der Karolingerzeit vgl. die grundlegenden Bemerkungen von F. J. Felten, Konzilsakten als Quellen fur die Gesellschafsgcschichte des g. Jahrhunderts, in G. Jenal (Hg. ), Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Festschrill fürFiiedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag, Stuttgart, 1993 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 37), S. 177- 201, hier bes. S. 187f. 65 Hinkmar, Collectio... zit. Anm. 21, S. 79,7- 4-7-

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  • STEFFEN PATZOLD

    teri et commoditas populi zu beachtenw. Mit dieser Auffassung stand Hinkmar im übrigen nicht allein: Im Jahre 844 hatte die Synode von Toulouse in Gegenwart Karls des Kahlen, wohl ebenfalls auf Beschwer- den von Priestern hin, in der Sache gleich geurteilts7. Und noch ein halbes Jahrhundert später hielt die Synode von Trosly Hinkmars Aus- führungen für so überzeugend, daß sie Teile seiner Abhandlung zu Synodalbeschlüssen erhob'.

    - Drittens aber ergibt sich für die Kernfrage nach der Bedeutung der Verfügungsgewalt über Raum für die Konstituierung einer geistli- chen Elite - zumindest was Hinkmars Sichtweise anbetrifft - ein etwas ernüchterndes Bild. Einerseits wäre die Abhandlung kaum entstan- den, wenn diese Frage in den 85oer Jahren marginal gewesen wäre. Andererseits aber war Hinkmars Botschaft, die immerhin an Karl den Kahlen und sicherlich auch an andere Mitglieder der politischen Elite des westfränkischen Reichs gerichtet war, im Grunde doch diese: Die Frage der freien Verfügungsgewalt über die Pfarreigrenzen und die

    räumlichen Binnenstrukturen innerhalb der Diözese bildete keines-

    Ibid., S. 82, Z. 21 - S. 83, Z. 3. Synode von Toulouse 844... zit. Anm. 55, c. 8, S. 22.

    cs Die entsprechenden Stellen sind in der Edition von Ni. Stratmann, Collectio... zit. Anm.

    21 nachgewiesen. -W. Hartmann, Derrechtliche Zustand... zit. Anm. 16, S. 44of., deutet einen Canon von Trosly gog, dahingehend, daß hier in «

    Übereinstimmung mit der Anschauung der alten Kanones [... ] noch einmal der Versuch gemacht [worden ist], zwischen Besitz

    und Herrschaft auf der einen Seite und geistlicher Leitung auf der anderen zu unterschei- den »; und er sieht in der betreffenden Passage zudem einen Beleg dafür, « dass die Vor-

    stellung, dass die Bischöfe nicht nur durch Eigentum und direkte Herrschaft über eine Kirche, sondern durch ihre geistliche Gewalt alle Kirchen ihrer Diözese lenken sollen, noch nicht tot war ». Der betreffende Kanon rezipiert nun allerdings mit wörtlichen Anklängen

    und im Sinn vollkommen übereinstimmend Hinkinars Kernaussage: die Trennung zwischen bischöflicher potestas ei ordinatio (= dispensio ei gubernatio) über alle Kirchen der Diözese

    einerseits und dem dominium andererseits, das den Kirchenbesitzern belassen bleiben soll ([... ) nequaquam seniorum ab eis tollirnus dominium, quasi ipsi nomen senioratus in rebus sibi a deo

    concessis habere non debeant auf non possint, sed polius eccle-siae iuris episcoporuin esse debeant. Designamus denique gubernationem episcopi, non nobis vindicarnus poles: atein dominii. Vgl. dazu Hinkmar, Collectio... zit. Anm. 21, S. 95, Z. 13-26 : Ei [... ) manifestum est, qualiter intellexerunt

    pat res ac praedecessores nostri capitulum Toletani concilii, [... ) non [... ) quod dicitur, ut ad episcopi potestalem pertineant, debere intellegi, ut ab aliorum ditione, quoruinfuerant, debeant tolli ecclesiae, ut honorem congruum vel obsequium debitum, id est spiritale atque ecclesiasticum seu etiam senioratus nomen, funditus non debeant inde necpossint habere, sed in totuin iuris debeant esse episcopi; verum, ut ibidem scriptum est: ad episcopi ordinationem ei polestatem, id est iustam ei ralionabilem dispositio-

    nem, quae ecclesiae sunt, perlinere debere intellexerunt [... ). ) Akzeptiert man Hartmanns Analyse des Kanons von Trosly, dann muß sein - für diese Synode als späte Ausnahme gezogenes - Fazit tatsächlich auch für Hinkmars Sichtweise gelten: « Damit ist ein wesentliches Merk- mal der Eigenkirche nach der Definition von Stutz [... ] nicht akzeptiert, daß nämlich der Eigentümer auch die geistliche Leitung über eine Kirche ausübt » (W, Hartmann, Derrecht- liche Zustand... zit. Anm. 16, S. 44 1, Anm. i 1o).

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  • DEN RAUM DER DIÖZESE MODELLIEREN

    Wegs einen zentralen Aspekt bischöflicher Amtsgew%alt; viel wichtiger, so mahnte Hinkmar, war die von Gott übertragene Verantwortung für die Priester und deren Gemeinden, für die rechte, gottgefällige Lebensführung von Klerus und Volk - und damit letztlich für deren Seelenheil. Alles andere waren jene «weltlichen», «äußeren Sorgen», die der Erfüllung des eigentlichen von Gott dem Bischof erteilten Auftrags geradezu zuwiderliefen. Derjenige Bischof, der in erster Linie um den Besitz seiner Kirche besorgt war und sich vornehmlich um dessen räumliche Ausdehnung kümmerte, verlor aus Hinkmars Sicht seinen Anspruch, als Mitglied einer geistlichen Elite über den übrigen Menschen zu stehen. In einer Zeit, in der Bischöfe (und auch Hinkmar selbst) längst eine Vielzahl politischer und militärischer Auf- gaben übernommen hatten, erinnerte der Reimser Erzbischof an die eigentlichen Grundlagen ihrer elitären Abgrenzung von den übrigen Menschen: Sie beruhte weder auf familiären Banden, noch auf der Verfügungsgewalt über den Raum der Diözese; sie beruhte auf dem von Gott auferlegten Dienst und einer entsprechend vorbildhaften Lebensführung. So ist es kein Zufall, wenn gerade dieser mächtige Ratgeber und Höfling Karls des Kahlen gegen Ende seiner Abhand- lung wörtlich Gregors des Großen an den Episkopat gerichtete Mah- nung zitierte:

    Locum sanctitatis accepimus ei tenrnis act thus itnplicamur. Itrtpletum est in nobis profecto, quad scripluin est: Et erit sicttt poptdus, sic sacerdos. Sacerdos enim non distat a populo, quando nullo vitae stiae nterilo vulgi transcendil actionetn69.

    Steffen PATZOLD Universität Hamburg

    Steffen. Patzold@uni-hamburg. de

    6f Hinkmar, Ccllectio... zit. Anm. 21, S. t 25, Z. 1-4; vgl. Osea 4,9.

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