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Westdeutscher Rundfunk Köln

Appellhofplatz 150667 Köln

Tel.: 0221 220 3682Fax: 0221 220 8676

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Die Wissenschaft von Zwillingen

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Text: Falko Daub, Uli Grünewald, Katrin Krieft, Martin Rosenberg; Redaktion: WolfgangLemme Copyright: wdr, Juni 2006; Gestaltung: Designbureau Kremer & Mahler, Köln;Kooperation: Die Einleitung entstand in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Wissenschafts-journalismus Dortmund, Friedel Groth

Bildnachweis: alle Bilder Freeze wdr 2006 außer S. 4 rechts: privat; S. 5: privat; S. 8rechts: RWTH Aachen; S. 9: akg-images; S. 10: akg-images; S. 15: akg-images; S. 16: akg-images; S. 17: Becker Collection of Eisenmann Photographs,Syracuse University Library,Department of Special Collection; S. 22: mauritius images

Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Doppelgänger. Er sieht genauso aus wie Sie, besitztdie gleichen Vorlieben und Abneigungen und gleicht Ihnen auch sonst in fast allen Charak-terzügen. Eine seltsame Vorstellung? Genau genommen ist das gar nicht so selten, denn beijeder 250ten Geburt in Deutschland kommt es zu diesem Phänomen: eineiige Zwillinge.Solche „natürlichen Klone“ sind für Zwillingsforscher höchst interessant. Mit ihrer Hilfe hof-fen sie, wichtige Fragen beantworten zu können, die auch Nicht-Zwillinge betreffen: Istunsere Identität durch unsere Gene bestimmt? Ist in unserem Erbgut festgelegt, was wirmögen und was nicht?

Doch Zwillingspaare sind nicht erst für Forscher der Neuzeit interessant, in derMenschheitsgeschichte spielte die Faszination Zwilling schon immer eine große Rolle. Inmanchen Kulturkreisen galten sie als göttliche Wesen, in anderen wurden sie verteufelt –Symbole von Gut und Böse. Auch Schriftsteller haben sich der spannenden Frage vonGleichem und doch Gegensätzlichem gewidmet, die vielleicht bekanntesten Zwillinge in derLiteratur sind die Schwestern in Erich Kästners Roman „Das doppelte Lottchen“.

Quarks & Co hat neben die Mythen und Geschichten den Alltags-Test gesetzt: SindZwillinge wirklich die perfekten Doppelgänger? Können sie die Rollen tauschen ohne er-kannt zu werden?

Ihr Quarks-Team hat all diese Fragen beleuchtet – natürlich von beiden Seiten!

4 Getrennt und vereint

7 Zwillingsforschung heute

9 Vererbt oder erworben?

10 Wie entstehen Zwillinge?

15 Auf ewig verbunden

18 Psychologie der Zwillingsbeziehung

21 Der Quarks-Test

22 Lese- und Linktipps

Weitere Informationen, Link- und Lesetipps finden Sie unter: www.quarks.de

InhaltInhalt

Die Wissenschft von ZwillingenDie Wissenschaft von Zwillingen

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Links:Die eineiigen Zwillinge Cornelia und Ulrike wurden als Babys voneinander getrennt

Mitte:Ein gemeinsames Bild der Zwillinge im Babyalter gibt es nur als Fotomontage

Rechts:Mit 26 Jahren beginnt Ulrike mit der Suche nach IhrerZwillingsschwester

Ein ganz normales Zwillingspaar?

Cornelia und Ulrike sehen sich so ähnlich, wie es füreineiige Zwillinge typisch ist: Sie haben die gleicheFrisur und den gleichen Geschmack, lieben es, sichim Partnerlook zu kleiden und sind gerne künstle-risch tätig. Sogar die Art, wie sie ihre Zigarette hal-ten, ist identisch. Das klingt nicht weiter verwunder-lich – bis man hört, dass sie bis zu ihrem 26. Lebens-jahr nichts voneinander wussten und trotzdemdiese Gemeinsamkeiten ausbildeten.

Unterschiedliche Adoptivfamilien

Cornelia und Ulrike werden 1969 in der DDR gebo-ren. Sie kommen noch als Babys in ein Kinderheimund werden zur Adoption frei gegeben. Bereits nachwenigen Wochen holen Adoptiveltern Ulrike ab.Dabei erfahren sie nur per Zufall, dass es noch eineZwillingsschwester gibt. Als sie wenige Tage späterversuchen, auch dieses Kind zu adoptieren, ist esschon an eine andere Familie vermittelt worden –zur damaligen Zeit durchaus üblich. Heute bemühensich die Behörden, Zwillinge immer in derselbenFamilie unterzubringen.

Ein erster Hinweis

Die Mädchen wachsen auf, ohne voneinander zuwissen. Erst als sie in der Pubertät sind, erfahren sievon ihrer Adoption. Aber nur die Eltern von Ulrikekönnen ihr auch von der Zwillingsschwester berich-ten. Natürlich denkt Ulrike darüber nach, ob sie dieSchwester suchen soll, doch sie verzichtet darauf.Schließlich weiß sie nicht, ob sie sie überhaupt fin-den kann und ob sie nicht das Leben der anderenvöllig durcheinander bringen würde. Doch jedesJahr an ihrem gemeinsamen Geburtstag denkt sie anihre Schwester.

Die Suche nach dem verlorenen Zwilling

Im Alter von 26 Jahren fasst Ulrike eines Abends denEntschluss, die Suche zu beginnen. Jetzt muss allesganz schnell gehen: Sie ruft die unterschiedlichstenÄmter an und drängt sie, ihr Auskunft über die ver-lorene Zwillingsschwester zu geben. Offenbar sinddie Beamten von der Geschichte und dem Engage-ment gerührt. Was normalerweise mehrereWochen dauern würde und nur auf schriftlichemWeg möglich wäre, geschieht innerhalb von kurzerZeit per Telefon: Ulrike hält die Telefonnummervon Cornelias Adoptiveltern in den Händen.

Erster Kontakt am Telefon

Cornelia erfährt am nächsten Tag von ihrer Mutter,dass sie eine Zwillingsschwester hat, die sich perTelefon gemeldet hat. Auf tausend Fragen willCornelia jetzt eine Antwort haben, aber die Muttervertröstet sie auf den nächsten Tag, an dem Ulrikenoch mal anrufen will. Der erste Kontakt verläuftdann überraschend vertraut. Nach einem erstenzaghaften „Hallo?“ brechen beide in Tränen aus. Esfolgt ein langes Gespräch, bei dem sich beide vielüber ihre Leben erzählen. Dabei entdecken sie, wieviele Gemeinsamkeiten sie haben: von der Frisurüber die Anzahl der Kinder bis zum persönlichenGeschmack. Beide haben außerdem eine künstle-rische Ader und in ihrem Wohnzimmer steht eineStaffelei sowie eine angekleidete Schaufenster-puppe. Trotz der großen Vertrautheit während die-ses ersten Gesprächs sind sie jedoch zurückhal-tend, was ein Treffen angeht. Zunächst schreiben siesich einen Brief und legen ein aktuelles Foto bei.Verblüfft stellen die jungen Frauen fest, dass siesich nicht nur extrem ähnlich sehen, sondern auchdie gleiche Schrift haben – beide haben das Gefühl,dass sie einen Brief von sich selbst lesen.

Das Wiedersehen

Drei Wochen später macht sich Ulrike dann mit ihrerAdoptivmutter auf den Weg zum ersten Besuch.Cornelia steht schon Stunden vor der vereinbartenUhrzeit immer wieder am Fenster. Sie möchte aufkeinen Fall die Ankunft verpassen und hofft,zunächst einen geschützten Blick auf ihre Schwes-ter werfen zu können, bevor sie selbst gesehenwird. Doch als sie ihre Schwester schließlich ausdem Auto aussteigen sieht, ist sie nicht mehr zu hal-ten. Sie stürmt ihrer Schwester auf der Straße ent-gegen und beide fallen sich in die Arme.

So glücklich dieser Moment ist, so unheimlich ist erdoch beiden. Minutenlang können sie sich nichtdirekt in die Augen schauen. Beide haben dasGefühl, in einen Spiegel zu schauen, doch dasSpiegelbild bewegt sich und hat eine eigene Persön-lichkeit. Nur langsam gewöhnen sie sich an diesenirritierenden Anblick. Aber als sie schließlich in derWohnung von Cornelia Kaffee trinken, fühlt sichUlrike schon wie zu Hause. Den ganzen Tag verbrin-gen die Zwillinge miteinander und stellen immermehr Gemeinsamkeiten fest, teilweise scheint esdie 26 Jahre der Trennung gar nicht gegeben zuhaben.

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Getrennt und vereintGetrennt und vereint

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Wunschtraum gemeinsame Wohnung

Seit dem ersten Besuch halten sie regelmäßig Kon-takt. Da sie in verschiedenen Städten wohnen, tele-fonieren sie fast täglich miteinander. Ihre engeBeziehung ist eine Selbstverständlichkeit gewor-den. Auch die Familien haben sich an den Zuwachsgewöhnt.

Doch für beide hat sich auch etwas geändert – siesind selbstsicherer geworden. Was kann es schließ-lich für eine bessere Bestätigung geben, als dassjemand anderes ein vergleichbares Leben führt,ähnliche Wünsche hat, Entscheidungen trifft, unddabei genauso glücklich ist? Natürlich nutzen siediese gemeinsame Linie auch. Wenn sie sich zusam-men etwas in den Kopf gesetzt haben, sind sie kaumzu bremsen. Ein großer Wunsch wird trotzdem nocheine Weile warten müssen: Um sich noch näher zusein, wollen beide irgendwann zusammenziehen.

Lohnendes Objekt der Forschung

Wissenschaftler interessieren sich besonders fürZwillinge weil sie an ihnen herausfinden können, fürwelche Eigenschaften eines Menschen die Verer-bung, also die Gene, verantwortlich sind und welcheEigenschaften durch Erziehung und Umwelt erwor-ben werden. Zwillinge sind für die Forschung des-halb perfekt geeignet: Wenn die Kinder in derselbenFamilie aufwachsen, unterliegen sie größtenteilsdenselben äußeren Bedingungen – das fängt schonin der Gebärmutter an und schließt Umweltfaktorenwie Ernährung, Hygiene, sozialen und finanziellenStatus der Eltern genauso ein wie kulturelle undgesellschaftliche Bedingungen. Wenn alle anderenBedingungen gleich sind, dann müssten Unter-schiede zwischen beiden an den Genen liegen, dieentsprechenden Eigenschaften also vererbt sein,vermuten die Wissenschaftler. Zwillingsforschersuchen also gezielt nach Merkmalen, in denen ein-eiige Zwillinge sich mehr ähneln als zweieiigeZwillinge oder normale Geschwister.

Zwillings-Arithmetik: die Häufigkeit entscheidet

Eine Eigenschaft, die wirklich vollständig vererbtwird, taucht bei eineiigen Zwillingen, die ja genaudie gleichen Gene haben, immer bei beiden auf –

oder eben bei beiden nicht. Zweieiige Zwillinge tei-len sich dagegen durchschnittlich nur die Hälfteihrer Gene. Bei ihnen taucht eine ererbte Eigen-schaft daher nur in der Hälfte aller Fälle gemeinsamauf. Mathematisch wird dieser Zusammenhangdurch die Korrelation ausgedrückt: Sie gibt an, wiegroß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Zwillingeine bestimmte Eigenschaft hat, wenn sein Ge-schwister über ebendiese Eigenschaft verfügt.Wissenschaftler können so über statistische Ver-fahren entscheiden, ob eine Eigenschaft vererbt istoder nicht: Bei hoher Korrelation zwischen Zwillings-paaren spricht vieles dafür, dass Gene die Eigen-schaft entscheidend beeinflussen, bei geringerKorrelation beider Zwillingsgruppen, dürften eherUmwelteinflüsse die betreffende Eigenschaft prägen.

Die fünf Säulen der Persönlichkeit

Psychologen teilen die vielen unterschiedlichenEigenschaften, die die Persönlichkeit ausmachen infünf Kategorien ein, die sogenannten „Big Five“:

Emotionale Ansprechbarkeit: Ängstlichkeit, Reiz-barkeit, Depression, Befangenheit, Impulsivität,VerletzlichkeitExtraversion: Herzlichkeit, Geselligkeit, Durchset-zungsfähigkeit, Aktivität, Erlebnishunger, Frohsinn

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Links:Ein erstes Treffen der Zwillinge nach 26 Jahren

Rechts:Zwillinge sind lohnende Objekte für Forscher

Zwillingsforschung heuteZwillingsforschung heuteGetrennt und vereint

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Links:Im Magnetresonanz-Tomographen lässt sich das Denken sichtbar machen

Mitte:Denkmuster bei eineiigen Zwillingen und ihrem dritten Bruder

Rechts:Der Begründer der Zwillingsforschung: Sir Francis Galton (1822–1911)

Vererbt oder erworbenOffenheit für Erfahrungen: Fantasie, Ästhetik,Gefühle, Handlungen, Ideen, Werte und NormenVerträglichkeit: Vertrauen, Freimütigkeit, Altruis-mus, Entgegenkommen, Bescheidenheit, Gutherzig-keitGewissenhaftigkeit: Kompetenz, Ordnungsliebe,Pflichtbewusstsein, Leistungsstreben, Selbstdiszi-plin, Besonnenheit

Inwiefern diese Persönlichkeitsmerkmale durchgenetische Faktoren bestimmt sind, hat eine Unter-suchung an der Universität Bielefeld ergeben, dieDeutsche Beobachtungsstudie an erwachsenenZwillingen (German Observational Study of AdultTwins, GOSAT). Darin wurden 300 gleichgeschlecht-liche Zwillingspaare für jeweils einen Tag in ver-schiedenen Situationen beobachtet: sie musstensich vorstellen, Streitgespräche mit den Nachbarnzu führen, Zeitungsschlagzeilen vorlesen oder einenWitz erzählen. Sie wurden auch beobachtet, wennihnen das gar nicht bewusst war, zum Beispiel beimWarten auf den nächsten Test.

Aus den zahlreichen Beobachtungen, die bis zu 60Beobachter pro Person machten, filterten die Wis-senschaftler eine Zahl heraus: 42. Das ist der pro-zentuale Anteil, den die Gene zu den Unterschiedenim Verhalten zwischen Menschen beisteuern. 26Prozent macht die gemeinsame Umwelt der Paare

aus, 32 Prozent steuern die individuellen Erfah-rungen bei. Das muss aber nicht bedeuten, dasssich eineiige Zwillinge immer gleich verhalten: DieGene beeinflussen nur Tendenzen im Verhalten. Ineinzelnen Situationen entscheidet natürlich jederindividuell, was er macht.

Im Kopf der Zwillinge

Neurologen von der RWTH Aachen haben sichgenauer angesehen, wie Gedanken im Gehirn orga-nisiert werden. Dazu mussten eineiige Zwillings-paare Gegenstände auf Fotos übergeordnetenKategorien zuordnen: einen Apfel zum Obst, denHammer zum Werkzeug. Ihre Gehirnaktivitäten wur-den im Magnetresonanz-Tomographen aufgezeich-net und dann mit denen eines weiteren Bruders ver-glichen, der kein Zwilling war. So konnten dieForscher feststellen, dass die Funktionen einerReihe von Gehirnregionen offenbar genetisch vorbe-stimmt sind – wie das Gehirn verschaltet ist undarbeitet, ist bei den eineiigen Zwillingen ähnlicherals bei ihren normalen Geschwistern. Auch dieAachener Wissenschaftler konnten feststellen, dassnicht alles, was die Gene vorgeben, unausweichlichdas Handeln bestimmt. Denn es gibt Hirnbereiche,die zwar genetisch angelegt sind, aber nicht vonallen Menschen auf gleiche Weise genutzt werden.

Anfang im Zeitalter der Kolonien

Als Begründer der Zwillingsforscher gilt der briti-sche Allroundwissenschaftler Sir Francis Galton(1822–1911), ein Cousin Charles Darwins. BeiForschungsreisen im südwestlichen Afrika ver-glich er die intellektuellen Fähigkeiten der Afrika-ner mit denen der britischen Kolonialherren. Dassdie Afrikaner dabei schlechter abschnitten, warkein Wunder – schließlich wurden sie nach briti-schen Maßstäben von einem Briten getestet.

Galton schloss aus seinen Untersuchungen, dassdie Intelligenz vererbt wird und schlug als erstervor, zur Überprüfung dieser Hypothese Zwillings-paare heranzuziehen. Er führte seine Forschungenmit Fragebögen durch und fand seine Vermu-tungen bestätigt: So kam er zu dem Schluss, dassdie britische Oberschicht ihren Status als gesell-schaftliche Elite einem vererbten Genie verdankte.Galton machte sich Sorgen darum, dass dieseFamilien immer weniger Kinder bekamen, unddass deshalb die allgemeine Intelligenz abnähme.Der Staat sollte deshalb Heirat und Fortpflanzungin diesen Kreisen fördern und gleichzeitig dieFortpflanzung der unteren Klassen durch Kontin-gente begrenzen. Für dieses Prinzip, das auf eineOptimierung der Menschen hinauslief, prägte erden Ausdruck „Eugenik“.

Sind alle Menschen gleich?

Die Zwillingsforschung warf daher Fragen auf,über die ganze politische Systeme in erbittertemStreit lagen: Werden die Eigenschaften und Fähig-keiten von Menschen vererbt oder erworben? Seitder Aufklärung galt der Grundsatz: „Alle Menschensind gleich, Unterschiede entstehen ausschließ-lich durch unterschiedliche Lebensbedingungen“.Wenn jetzt doch die Gene über den Menschenregieren sollten, hätte der alte Feudalismus recht:eine hierarchische Ordnung der Gesellschaft lägein der Natur des Menschen.

Die beiden Standpunkte erlebten Anfang des20. Jahrhunderts unterschiedliche Ausprägungen– und Galtons Eugenik sollte dabei besondersunrühmliche Wirkungen zeigen.

Die Kommunisten in der Sowjetunion lehnten dieVorstellung von Vererbung durch Gene ab. Im Sinneder marxistischen Theorie ging der Biologe TrofimDenissowitsch Lyssenko (1898–1976) davon aus,dass für die Vererbung der gesamte Organismuszuständig ist und deshalb auch erworbene Fähig-keiten vererbt werden.

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Vererbt oder erworben?Zwillingsforschung in der GeschichteZwillingsforschung heute

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Der Biologe Trofim Denissowitsch Lyssenko (1898–1976)

Zwillingsforschung in der GeschichteSeine Folgerungen wurden später als falsch ent-larvt, doch zunächst machten sie die Zwillingsfor-schung überflüssig – sie wurde in der Sowjetunioneingestellt.

Gräuel unter den Nazis

Ganz anders in Deutschland – hier stieß die Lehrevon der Eugenik auf große Resonanz bei denNationalsozialisten. Galtons Vorstellungen kamenihnen gerade recht für ihr Konzept von einer nordi-schen Herrenrasse. Der Mediziner Otmar vonVerschuer (1896–1969) systematisierte die Zwil-lingsforschung und legte eine umfangreiche Karteider genetischen Defekte in der deutschen Bevöl-kerung am Frankfurter Institut für Erbbiologie undRassenhygiene an.

Sein Mitarbeiter Josef Mengele (1911–1979)forschte als Lagerarzt im KZ Auschwitz und kon-zentrierte sich besonders auf Zwillinge. Er ex-perimentierte mit Bestrahlungen, Bluttransfu-sionen, Geschlechtsumwandlungen und Gift undlegte dabei eine unfassbare Grausamkeit an den

Tag: Mengele ließ Neugeborene verhungern, umzu sehen, wie lange sie ohne Nahrung leben undtötete Kinder, wenn deren Zwilling starb, um dieLeichen zu vergleichen. Von rund 3.000 Zwillingenin Auschwitz überlebten nur 157.

Von harten Gegensätzen zum Ausgleich

Die Zwillingsforschung geriet durch die Nazi-Gräuel in Verruf. In der Folge erlebten wissen-schaftliche Theorien wie der Behaviorismus ihrenAufschwung, die den Menschen wieder haupt-sächlich als Produkt seiner Umwelteinflüssesahen. Folgerichtig fanden die wenigen Forscher,die Zwillingspaare untersuchten, auch keinerleiGemeinsamkeiten, die nicht durch die gemeinsa-me Umgebung zu erklären gewesen wären. Endeder 60er Jahre ging jedoch eine aufsehenerregen-de Studie durch die wissenschaftliche Welt, diedas Pendel wieder in die andere Richtung aus-schlagen ließ: Der britische Psychologe Cyril Burt(1883–1971) veröffentlichte 1966 Daten über 53getrennt aufgezogene Zwillingspaare.

Burt sah in diesen Daten den Beweis für eineVererbung der Intelligenz, denn trotz unterschied-licher Milieus, in denen die Zwillinge herange-wachsen waren, waren die Intelligenzquotientensehr ähnlich. Diese Befunde hatten Konsequen-zen: Politiker in den USA forderten, dass Schwarzenicht gemeinsam mit Weißen in die Schule gehensollten, Begründung: Ihr Intelligenzquotient liegedurchschnittlich um 15 Punkte niedriger. An diesergenetischen Voraussetzung könne die Umwelt janichts ändern, und die schwarzen Kinder würdendie weißen am Lernen hindern. Solche Forderun-gen verschärften die Rassenkonflikte in den USA,die in dieser Zeit gerade mit Vehemenz ausgetra-gen wurden. Vermutlich waren Burts Ergebnissejedoch gefälscht: Seine Daten waren viel zugenau, und die Stichprobe unglaubwürdig groß.

Heute haben sich die großen Stürme in derZwillingsforschung gelegt: Man hat sich daraufgeeinigt, dass sowohl die Gene als auch die Um-welt ihren Teil zur Persönlichkeit des Menschenbeitragen.

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Wie entstehen Zwillinge

Links:Das Leben entsteht auch bei eineiigen Zwillingen aus einer befruchteten Zelle

Mitte:Trennt sich die Fruchtanlage in diesem Stadium, hat jederZwilling seinen eigenen Mutterkuchen

Rechts:Teilt sich die Anlage erst in dieser Phase, wachsen dieZwillinge in einer gemeinsamen Fruchtblase heran. Nach dem13. Tag entstehen dabei siamesische Zwillinge

Tag. In diesen Fällen teilen sich die Embryos zwareinen Mutterkuchen, die Fruchtblasen entwickelnsich aber unabhängig voneinander. Mehr als 60Prozent aller eineiigen Zwillinge ist auf diese Weiseentstanden.

Bis zum vierten Tag ist die Fruchtanlage von einerfesten Hülle, der so genannten Glashaut, umge-ben. Die Zellen teilen sich zunächst innerhalb die-ser Umhüllung und wachsen nur in der Anzahl,nicht aber in der Größe. Etwa um den vierten Tagherum muss die Fruchtanlage dann aus der Hautschlüpfen, um sich in der Gebärmutterschleimhauteinnisten zu können. Am fünften bis sechsten Tagist das geschafft, und die Fruchtanlage stellt eineVerbindung zum Kreislauf der Mutter her. Um denachten bis zwölften Tag entwickelt sich dieKeimscheibe, auf der der Embryo heranwächst. DieErnährungsanlagen sind zu diesem Zeitpunktschon fertig ausgebildet. Auch in dieser Zeit kannes zu einer Trennung kommen. Das ist allerdingsextrem selten, die Zwillinge teilen sich dann einePlazenta und eine Fruchtblase. Nur etwa zweiProzent aller Zwillinge trennen sich nach dem sieb-ten Tag. Eine Trennung in dieser Phase ist auchgefährlich, sie ist nach dem 13. Tag oft nicht mehrvollständig, so dass die Embryos zusammenge-wachsen sind – und als siamesische Zwillinge zurWelt kommen.

Auslöser ist noch unbekannt

Warum sich die Fruchtanlage überhaupt teilt,weiß man noch nicht, Fachleute diskutieren dreiUrsachen: Zum einen kann es sein, dass bestimm-te Oberflächenmoleküle auf den Zellen, die nor-malerweise den Zellverbund zusammenhalten,nicht mehr richtig funktionieren. Zum anderenkönnen Mutationen im Erbgut dazu führen, dasssich die Zellen untereinander nicht mehr alszusammengehörig erkennen und abstoßen. Einedritte mögliche Erklärung ist, dass beim Schlüpfender Fruchtanlage aus der Glashaut ein mecha-nischer Impuls die Trennung auslöst.

Zwillinge – häufiger als man denkt?!

Bei vier von tausend Schwangerschaften kommeneineiige Zwillinge zur Welt; insgesamt kommen auftausend Schwangerschaften etwa 15 bis 20 Mehr-lings-Geburten. Doch man weiß inzwischen, dasseigentlich deutlich mehr Zwillinge geboren werdenmüssten. Das zeigen die Ultraschall-Untersuchun-gen: Von 100 in der 10. Schwangerschaftswoche alsZwillinge diagnostizierten Kindern kommen 60schließlich doch als Einzelkinder zur Welt.Experten gehen davon aus, dass – würden alleZwillinge überleben – acht von tausend Geburten

Wie entstehen Zwillinge?

wird zur Fruchtblase und zum eigentlichen Embryo –zunächst als Vorform, als Embryonalanlage. Manch-mal aber entstehen aus der befruchteten Eizellezwei solcher Anlagen. Je nachdem, zu welchem Zeit-punkt das geschieht, ergeben sich unterschiedlicheEntwicklungsmöglichkeiten für die beiden Kinder.

Totipotenz

Fähigkeit einer Zelle, sich in alle erdenklichen Gewe-bearten zu spezialisieren und somit einen komplettenlebensfähigen Organismus aufzubauen. Wichtig ist dieTotipotenz im Rahmen der Diskussion um Stammzellen.Auch Stammzellen sind totipotent und deshalb so inte-ressant für die Forschung und das Klonen.

Eine Frage des Zeitpunktes

Entstehen die Zwillinge bis zum dritten Schwan-gerschaftstag, gibt es zwei voneinander unabhän-gige Fruchtanlagen, die sich später auch an vers-chiedenen Stellen in der Gebärmutter einnisten.Die Embryos haben dann jeweils eine eigeneFruchtblase und werden von einem eigenenMutterkuchen ernährt. Etwa ein Drittel aller eineii-gen Zwillinge wächst so heran. Weitaus häufiger isteine Trennung zwischen dem vierten und siebten

Geschwister oder Klone

Jedes menschliche Leben entsteht aus einer einzigenZelle. Wenn im Körper einer Frau zufällig zwei Eizel-len zur selben Zeit reif geworden sind und jede vonihnen von einer Samenzelle befruchtet wird, wach-sen zweieiige Zwillinge heran – sie sind sich gene-tisch nicht ähnlicher als normale Geschwister. Andersist das bei eineiigen Zwillingen: sie entstehen auseiner einzigen befruchteten Eizelle, haben dieselbegenetische Ausstattung – und könnten daher auchals Klone bezeichnet werden. Doch auch bei dieseneineiigen Zwillingen gibt es Unterschiede in derEntwicklung, je nachdem, wann sie entstanden sind.

Eineiige Zwillinge: zwei Leben aus einer Zelle

Sobald die Eizelle befruchtet ist, beginnt sie sich zuteilen. Am dritten Schwangerschaftstag ist sie zueinem kugeligen Zellhaufen geworden. Alle Zellendarin können sich noch in jedes erdenkliche Gewe-be oder Organ verwandeln, in der Biologie heißtdiese Eigenschaft Totipotenz. Nach dem dritten Tagorganisieren sich diese Zellen neu: Sie bilden eineäußere und eine innere Zellschicht. Diese Schichtenhaben später verschiedene Aufgaben. Aus deräußeren Zellschicht entstehen ein Teil des Mutter-kuchens und der Dottersack. Die innere Zellschicht

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eine Zwillingsgeburt wäre, nicht nur vier. Rein rech-nerisch hätte dann jeder Dreißigste einen Zwillings-bruder oder eine Zwillingsschwester.

Reger Austausch unter Zwillingen

Zwillinge sind sich manchmal noch näher als mandenkt – sie tauschen gelegentlich sogar Zellenmiteinander aus. Mediziner nennen sie dann„Chimären“ – ein Sonderfall der Natur. Der Begriffstammt aus den antiken Sagen und bezeichnet dortein Feuer speiendes Ungeheuer, ein Mischwesenaus verschiedenen Tieren. In der modernen Medizinund Biologie verwendet man die Bezeichnung fürZellgebilde mit unterschiedlichem Erbmaterial. Sokönnte man etwa Patienten nach einer Organ-transplantation als Chimären bezeichnen: Nebenihren Zellen mit eigenem Erbmaterial haben sieauch das Erbmaterial des Organspenders. Aufnatürlichem Weg entstehen Chimären im Mutter-leib: Wenn sich die Zwillinge einen Mutterkuchenteilen oder ihre beiden Mutterkuchen nah nebenein-ander liegen, kommt es zu Verbindungen der Blut-gefäße zwischen den Embryos. Mit dem Blut könnendann Zellen von einem Körper zum anderen gelan-gen. Da in der frühen Entwicklungsphase das Immun-system noch nicht richtig ausgeprägt ist, könnensich die eigentlich fremden Zellen im Körper ansie-deln. Wahrscheinlich geschieht dieser Zellaustausch

recht häufig, bei eineiigen Zwillingen mit iden-tischem Erbmaterial fällt er aber nicht auf. Je nach-dem, wie viele fremde Zellen sich dann im Körpertatsächlich ansiedeln, können verschiedene Aus-prägungen zustande kommen, von unterschiedlichgefärbten Hautarealen bis hin zu unterschiedlichenBlutgruppen.

Ein ungewöhnlicher Fall wurde im Jahr 2001 aus derUniversitätsklinik Magdeburg bekannt. Hier fiel Ärz-ten auf, dass das Blut einer Frau den männlichenChromosomensatz enthielt – mit Y-Chromosomen,obwohl sie als Frau doch eigentlich nur X-Chromo-somen im Körper haben dürfte. Zwar gibt es rechthäufig Menschen, die rein genetisch Männer, äußer-lich aber Frauen sind, und umgekehrt. Meistenskönnen sie aber keine Kinder zeugen oder bekom-men – die Magdeburger Patientin hatte aber schonKinder geboren. Eine Bauchspiegelung zeigte, dasssie anatomisch eine ganz normale Frau mit Eier-stöcken und Gebärmutter war. In diesen Organenfand sich auch die weibliche Ausstattung der Zellenmit zwei X-Chromosomen. Als die Ärzte nachfragten,berichtete die Patientin davon, dass sie einenZwillingsbruder hatte. Offensichtlich hatte die Fraunoch im Mutterleib als Embryo Zellen von ihremBruder erhalten. In diesem Fall müssen es Knochen-markszellen gewesen sein, denn die stellen das Bluther – und deswegen hatten ihre Blutzellen denmännlichen Chromosomensatz.

Die Sensation aus Siam

Antike Skulpturen und Höhlenzeichnungen zei-gen, dass es siamesische Zwillinge seit jehergegeben hat. Die Bezeichnung entstand aber erstin der Mitte des 19. Jahrhunderts, als ein Fall ausThailand – dem damaligen Siam – weltbekanntwurde. Am 11. Mai 1811 brachte eine Chinesin inMae-Klong, etwa 60 Kilometer westlich vonBangkok, Zwillinge zur Welt. Die Geburt der bei-den Jungen war eine kleine Sensation: Sie warenvom Brustbein bis zum Bauchnabel miteinanderverwachsen. Die Dorfbewohner betrachteten dasMonster argwöhnisch – die seltsamen Zwillingegalten vielen als Omen für den Weltuntergang.Organe teilten sie sich nicht, aber ihre Blutkreis-läufe waren über die Lebern miteinander verbun-den. Heute könnte man sie mit einer Operationleicht trennen, damals jedoch hätte ein so massi-ver Eingriff für einen von beiden den Tod bedeu-tet.

Eine fast normale Kindheit

Chang und Eng wuchsen wie normale Kinder auf.Durch tägliches Training gelang es ihnen, dieKnorpel-Hautbrücke zu dehnen, die sie verband,

so dass sie nebeneinander stehen, laufen, rennenund sogar schwimmen konnten. Als die beiden 13Jahre alt waren, wurden sie von dem englischenHändler Robert Hunter und seinem amerikani-schen Geschäftsfreund Abel Coffin entdeckt. Diebeiden überzeugten die Mutter davon, dass dieZukunft der Zwillinge außerhalb Siams lag – dieSumme von 3.000 Dollar soll dabei die Überzeu-gungsfähigkeit von Hunter und Coffin gesteigerthaben.

Die Behinderung als Kapital

Am 1. April 1829 verließen Chang und Eng Siamund kehrten nie zurück. In Amerika waren sie sehrerfolgreich: Viele bezeichneten sie als das achteWeltwunder. Für 50 Cent Eintritt konnte dasPublikum sie beim Laufen und Rennen beobach-ten und ihnen Fragen stellen. Später erweitertendie beiden ihr Programm durch Rückwärtssaltiund Kraftübungen, bei denen sie zum Beispielden schwersten Zuschauer auf der Bühne umhertrugen. So wurden die Brüder als die „Siame-sischen Zwillinge“ weltberühmt. Da sie in jederStadt von Ärzten untersucht wurden, erfreuten siesich bester Gesundheit. Diese Untersuchungendienten aber weniger der Vorsorge, vielmehr

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Links:Wenn Zwillinge über den Mutterkuchen Zellen austauschen, kann auch eine Frau in bestimmten Organen einen männlichen Chromosomensatz mit Y-Chromosom haben

Links:Chang und Eng, die berühmten siamesischen Zwillinge, als junge Männer

Wie entstehen Zwillinge Siamesische ZwillingeAuf ewig verbundenSiamesische Zwillinge

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Links:Im Jahr 1843 heirateten die Bunker-Zwillinge. Insgesamt bekamen sie 21 Kinder

Links:Phineas Taylor Barnum war ein amerikanischer Zirkuspionier

lien aus. Sicher ist aber, dass es im gesamtenHaus nur ein einziges Ehebett für alle vier gege-ben hat.

Familienleben nach Zeitplan

Die Familien wurden immer größer – und nach fastzehn Jahren unter einem Dach trennten sie sich1852, Adelaide zog mit ihren Kindern aus. Eng undSally hatten schon neun Kinder, Chang undAdelaide sieben. In den folgenden Jahren beka-men Chang und Adelaide noch drei weitere Kinder,Eng und Sally noch zwei. Der Grund für dieTrennung: die Frauen hatten begonnen, sich zustreiten. Chang und Eng lebten von nun an nacheinem strengen Zeitplan: immer drei Tage in einemund drei Tage im anderen Haus, wobei der „Gast-Bruder“ nach Lust und Laune des „Hausherren-Bruders“ leben musste.

Verbunden bis zum Ende

Am 16. Januar 1874 erwachte Eng neben seinemtoten Bruder. Chang war mitten in der Nacht aneinem Schlaganfall gestorben. Der eilends herbei-

gerufene Arzt, der die beiden nun doch noch tren-nen sollte, kam zu spät. Eng starb nur dreiStunden nach seinem Bruder. Woran er gestorbenist, blieb unklar, auch eine Autopsie konnte dasnicht klären. Wahrscheinlich ist er dem Schockerlegen. So haben die siamesischen Zwillinge dieWelt auf dieselbe Art verlassen, wie sie sie betre-ten haben: zusammen!

Auf ewig verbunden: Siamesische ZwillingeHochzeit im Doppelpack

Nach zehn Jahren in der Öffentlichkeit wollten sichdie Männer schließlich zur Ruhe setzen. Inzwi-schen hatten sie ein kleines Vermögen angehäuft.1839 ließen sich Chang und Eng in Wilkesboro inNorth Carolina nieder, nahmen den NachnamenBunker an und kauften eine Tabakplantage. Aufder Hochzeit eines Freundes lernten sie dieSchwestern Adelaide und Sally Yates kennen undlieben – was in Wilkesboro auf wenig Gegenliebestieß. Zu bizarr schien sogar engen Freunden dieVorstellung, dass die Paare ein normales Fami-lienleben führen könnten. Chang und Eng fuhrenheimlich nach Philadelphia – sie wollten sich dortoperieren lassen, um die Schwestern heiraten zukönnen. Das konnten die beiden Bräute im letztenMoment verhindern, und damit ihren Männern dasLeben retten. So fand am 15. April 1843 im Hausder Eltern von Sally und Adelaide eine Doppel-Hochzeit im kleinen Kreis statt.

Nur ein Jahr später bekamen Sally und Adelaide jeeine Tochter, im Abstand von sechs Tagen. Auchdie zweiten Kinder kamen mit nur acht TagenAbstand auf die Welt. Wie genau diese Kinder ge-zeugt wurden, darüber schwiegen sich die Fami-

sollten sie die Verbindung der beiden bestätigenund die Auftritte der siamesischen Zwillingeglaubwürdiger machen.

Mehrere Stunden täglich verbrachten Chang undEng auf der Bühne – gerade einmal 10 Dollar plusSpesen verdienten sie im Monat, während dieShows durchschnittlich 1000 Dollar im Monat ein-brachten. Mit 21 beendeten Chang und Eng dieGeschäftsbeziehung zu Coffin, der sich schonJahre zuvor von Hunter getrennt hatte. Statt-dessen gingen die Zwillinge mit Phineas TaylorBarnum, dem berühmten amerikanischen Zirkus-direktor, auf Tournee. Mit ihm tingelten sie nochsieben weitere Jahre durch Amerika.

Phineas Taylor Barnum

Phineas Taylor Barnum (5. Juli 1810 bis 7. Juli 1891)war ein amerikanischer Zirkuspionier. Sein Zirkus warnicht nur für die Künstler und Artisten berühmt, son-dern vor allem auch für Darsteller, die sich durch kör-perliche Makel auszeichneten. So gehörten neben densiamesischen Zwillingen auch Zwerge, Riesen, Albinos,Männer und Frauen ohne Kopf, Arme oder Unterleibzum Ensemble der „größten Show der Welt“.

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Wie lebt es sich im Doppelpack?

Wie Zwillinge sich fühlen, sich verhalten und ihrLeben führen, ist ein eher wenig beachtetesNebenprodukt der Zwillingsforschung. Sind eineii-ge Zwillinge wirklich so gleich, wie sie auf den erstenBlick scheinen? Ist mit identischen Genen auchdas Erleben und Verhalten gleich? Eineiige Zwil-linge besitzen nicht nur denselben genetischenBauplan, sie wachsen in der Regel auch gemein-sam in derselben Umwelt auf – Familie, Nachbars-kinder, Kindergarten und Schule werden gemein-sam erlebt. In den ersten Jahren sind Zwillingemeistens nicht für längere Zeit voneinandergetrennt. Und doch sind Unterschiede zwischenden beiden Geschwistern festzustellen.

Kleine Unterschiede gleichen sich aus

Oberflächliches Wissen über eineiige Zwillingeberuht oft auf Gemeinplätzen – so heißt es häufig,dass der Erstgeborene der Dominantere ist, selbstwenn nur wenige Minuten Altersunterschied zwi-schen den beiden Geschwistern besteht. Rein sta-tistisch ist eine solche Aussage aber nicht haltbar.Inzwischen hat sich nach Feststellung der Geschwis-

terforscher ein grundlegender Wandel in derErziehung vollzogen. Den „erstgeborenen Stamm-halter“ gibt es so gut wie nicht mehr. EinenZusammenhang zwischen Dominanz und Geburts-reihenfolge liegt laut Untersuchungen des Psycho-logen Hartmut Kasten von der UniversitätMünchen unter fünf Prozent und ist damit statis-tisch nicht relevant. Stattdessen haben Psycho-logen festgestellt, dass es bei Zwillingen einedurchaus ausgewogene Rollenverteilung gibt.Dabei gleichen sich Über- und Unterlegenheit aufverschiedenen Gebieten aus – ist der eine zumBeispiel gut darin, auf andere Leute zuzugehen,punktet der andere dafür vielleicht beim logischenDenken.

Zweifach ist nicht einfach…

Weil sie sich so gleichen, verwechseln Außen-stehende die eineiigen Zwillinge oft miteinander.So leiden die Kinder häufig darunter, dass sie nichtals eigenständige Persönlichkeiten betrachtet wer-den. Selbst die eigenen Eltern machen es ihnennicht leicht – sie neigen dazu, die Zwillinge ständigmiteinander zu vergleichen. Kleine Unterschiedewerden dann stark überhöht, der Kontrast zwischen

beiden Geschwistern vergrößert sich in der Wahr-nehmung. Die Eltern weisen den Kindern auch oftRollen zu, etwa die des Dominanten und desZurückhaltenden. Dieser Kontrast ist objektiv meistgar nicht so stark vorhanden, beeinflusst aber dieKinder in ihrer eigenen Beziehung zueinander. Einenbemerkenswerten Beleg dafür haben Forscher derTechnischen Universität Braunschweig gefunden.

In ihrer Studie zur Identitäts- und Sprachentwick-lung von Zwillingen wussten die Forscher nicht, obsie es mit eineiigen oder zweieiigen Zwillingen zutun hatten. Die Psychologen wollten damit vermei-den, dass ihre Ergebnisse durch Vorurteile beein-flusst werden. Nach Ende der Beobachtungenwurde durch einen genetischen Fingerabdruck fest-gestellt, ob die untersuchten Zwillinge eineiig oderzweieiig waren.

Im Rahmen der Studie fragten die Forscher auch diejeweiligen Eltern, ob sie glaubten, eineiige oderzweieiige Zwillinge zu haben. Alle Eltern vonzweieiigen Zwillingen lagen bei ihrer Einschätzungrichtig. Doch fünf von zwölf Elternpaaren mit eineii-gen Zwillingen hielten ihre Kinder eher für zweieiig– so überzeugt waren sie von der Verschiedenheitder Geschwister. Sie glaubten fest daran, dass die

von ihnen wahrgenommenen Unterschiede nur aufverschiedene Gene zurückzuführen sein können.Dass sie selbst die Unterschiede überhöhten, warihnen nicht bewusst.

Wer bin ich?

Wie erleben die Zwillinge einander? Viele Studienarbeiten mit Fragebögen, in denen sich Zwillingeselbst einschätzen. Die Selbstwahrnehmung kannjedoch kein vollständiges und objektives Bildzeichnen und gerade die ersten Lebensjahre sinddamit kaum zu erfassen. Um der Entwicklung inden frühen Jahren auf die Spur zu kommen,haben die Braunschweiger Wissenschaftler unter-sucht, ab wann eineiige Zwillinge sich selbstnamentlich benennen können, und zwar im Ver-gleich mit anderen Geschwisterkonstellationen.

Normalerweise entwickeln Kinder zwischen demzweiten und dritten Lebensjahr die Fähigkeit, ihrAbbild im Spiegel oder auf Fotos mit dem eigenenNamen benennen zu können. Das Wörtchen „Ich“taucht erst später auf. Eineiige Zwillinge haben esda schwerer. Im Spiegel oder auf Fotos glaubensie nicht, sich selbst zu sehen – sie erkennen

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Psychologie der ZwillingsbeziehungPsychologie der

Zwillingsbeziehung

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Sind Zwillinge austauschbar?

Eineiige Zwillinge sehen sich meistens so ähnlich,dass sie häufig verwechselt werden, vor allem alsKinder. Es soll sogar vorkommen, dass manche imSchulunterricht die Chance einfach mal kurz nutzen,die Rollen zu tauschen und ihr Umfeld hereinzule-gen – oder bei einer Klassenarbeit besser abzu-schneiden. Im Roman „Das doppelte Lottchen“ vonErich Kästner tauschen Zwillinge, die bei ihrengetrennt lebenden Eltern aufwachsen, sogar ihregesamten Lebensumstände: Luise fährt als Lotte zurMutter, Lotte als Luise zum Vater.

Quarks & Co wollte wissen, ob so ein Rollentauschwirklich funktioniert, und zwar bei erwachsenenZwillingen. Die beiden eineiigen Zwillinge Miriamund Christiane waren begeistert von der Idee, füreinen Tag das Leben der anderen zu führen. Quarks& Co hat sie begleitet und beobachtet, wen die bei-den täuschen können.

Außenstehende haben kaum eine Chance

Frühstücken im Stammcafé, ein Rezept oder eineJeans abholen – kein Problem: Der Tausch derPersonen bleibt unbemerkt. Auch beim Türken um

die Ecke kann die falsche Schwester anschreibenlassen. Menschen, die die Zwillinge nicht sehr gutkennen, werden offenbar vom äußeren Erschei-nungsbild getäuscht.

Freunde sind kaum zu täuschen

Bei Freunden wird die Sache schon komplizierter.Kurzzeitig lassen sich einige von der Doppel-gängerin täuschen. Wenn dann allerdings dasOriginal dazu kommt, dauert es nicht lange, bis derSchwindel auffliegt.

Bei Partnern oder guten Freunden, die zumindesteinen von beiden sehr gut kennen, funktioniert dieTäuschung dagegen nur für wenige Sekunden. Denmeisten fällt der Schwindel schon aus der Ent-fernung auf. Selbst wenn die Zwillinge noch versu-chen, den Tausch zu leugnen, lassen sich die gutenFreunde nicht umstimmen. Dafür sind selbst eineii-ge Zwilling zu verschieden. So einfach ist einIdentitätswechsel also doch nicht – zum Glück.

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Links:Alf und Sven Fehnhann – Achtzig Jahre im Doppelpack

die Liebesbeziehung nicht als gleich nah undintensiv empfinden wie das Verhältnis der Zwil-linge zueinander.

Im Alter ist die Nähe und Verbundenheit zwischenZwillingen im Vergleich mit der zwischen norma-len Geschwistern besonders groß. Das belegenStudien des Max-Planck-Instituts für psychologi-sche Forschung.

In allen untersuchten Bereichen der Geschwis-terbeziehung hatten eineiige Zwillinge die höchs-ten Werte: Sie wohnen näher zusammen, sehensich häufiger, unterstützen sich gegenseitig undsind mit ihrer Beziehung zufriedener. Ihre Bezie-hung wird im Alter wieder so nah, wie sie in Kin-dertagen gewesen ist.

Der Quarks Testnicht sich, sondern ihren Zwillingsbruder oderihre Zwillingsschwester. Im Vergleich mit zwei-eiigen Zwillingen und normalen Geschwisternhinken sie in der Entwicklung ein paar Monatehinterher. Erst mit vier Jahren ist kein Unterschiedmehr zwischen eineiigen Zwillingen und anderenKindern festzustellen.

Neue Nähe im Alter

Wenn sie klein sind, nutzen Zwillinge gerne dieVorteile des Lebens im Doppelpack. Wenn dereine in einem Bereich etwas besser kann, wird erin der Regel vorgeschickt und zieht den anderenmit. Diese Verbundenheit und Vertrautheit zwi-schen eineiigen Zwillingen ist in den meistenFällen größer als bei anderen Geschwistern undzieht sich durch alle Lebensphasen.

Am Anfang des Erwachsenenalters löst sich diestarke Bindung zu Gunsten von Beziehungspart-nern. Diese fühlen sich jedoch oft dem Zwillinggegenüber zurückgesetzt und berichten, dass sie

Der Quarks-Test:

Das doppelte LottchenPsychologie der Zwillingsbeziehung

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Lesetipps

Ähnlich und doch verschieden? – Prägen die Anlagen unserer Gene oder die Einflüsse der Umwelt das Verhalten des Menschen?Autoren: Heike Wolf, Frank M. Spinath,

Prof. Dr. Alois AngleitnerHerausgeber: forschung 1/2003

Eine allgemeinverständliche Darstellung der GOSAT-Studie:Teilnehmer, Testmethoden und das umfangreiche Auswer-tungsverfahren

Multimodale Untersuchung von Persönlichkeiten undkognitiven Fähigkeiten. Ergebnisse der deutschenZwillingsstudien BiLSAT und GOSATAutoren: Frank M. Spinath, Heike Wolf,

Alois Angleitner, Peter Borkenau, Rainer Riemann

Herausgeber: ZSE, 25. Jhg. 2005, H. 2, S. 146-161

Die GOSAT-Studie und ihre Vorläufer-Studie BiLSAT im Detailmit einer ausführlichen Literaturliste – eine sehr detaillierteDarstellung über den aktuellen Stand der Persönlich-keitserforschung bei Zwillingen.

Hereditary Genius: An Inquiry Into Its Laws andConsequences (Great Minds Series)Autor: Francis GaltonVerlag: Prometheus Books 2006Sonstiges: ISBN: 1591023580, EUR 15,95

Nachdruck des Original-Werkes des Vaters der Zwillingsfor-schung, Francis Galton von 1869.

Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger ÄrzteprozessesHerausgeber: Alexander Mitscherlich, Fred MielkeSonstiges: Frankfurt 1995, 16. Aufl;

ISBN: 3596220033, EUR 12,90

Protokoll des Nürnberger Ärzteprozesses 1946, bei dem 47Mediziner wegen Versuchen an Menschen in Konzentra-tionslagern angeklagt waren, darunter der ZwillingsforscherJosef Mengele.

Children of the Flames: Dr. Josef Mengele and the Untold Story of the Twins of AuschwitzAutoren: Lucette Matalon Lagnado, Sheila Cohn DekelVerlag: Penguin Books, 1992Sonstiges: ISBN: 0140169318. EUR 13,50

Das Buch ist entstanden aus Interviews mit Zwillingen, dieMengeles Versuche in Auschwitz überlebten. Ihre Lebens-geschichten werden parallel zu Mengeles Karriere erzählt.Leider nicht in deutscher Übersetzung erschienen.

Josef Mengele. Der Arzt von AuschwitzAutor: Ulrich VölkleinVerlag: Steidl, November 2003Sonstiges: ISBN: 3882437472. EUR 9,00

Kurze Biographie des KZ-Arztes und Zwillingsforschers JosefMengele, die vor allem seine Versuche im Konzentrations-lager Auschwitz beschreibt.

Cyril Burt: Fraud or Framed?Autor: N. J. MackintoshVerlag: Oxford University Press 1995Sonstiges: ISBN: 019852336X

Das aktuellste Buch zur Frage, ob die Forschungen vonCyril Burt echt oder erfunden waren.

Chang und EngAutor: Irving WallaceVerlag: Lübbe, Bergisch-Gladbach, Juni 1991; Sonstiges: ISBN: 340401331X; nur noch gebrauchterhältlich

Die Biografie der siamesischen Zwillinge, sehr informativund gut recherchiert. Das Buch ist leider schon vergriffen,daher nur noch in Bibliotheken oder gebraucht erhältlich.

Zwillinge – Zeitschrift für MehrlingselternVerlag: von GratkowskiSonstiges: Postfach 401111; 86890 Landsberg/Lech

www.twins.de – Zeitschrift in der Mehrlingseltern von ihrenErfahrungen berichten

Linktipps

Der Embryologiekurs für Medizinstudenten wurde von denSchweizer Universitäten Freiburg, Bern und Lausanne ent-wickelt und erklärt sehr gut und anschaulich die Entstehungeineiiger und zweieiiger Zwillinge.www.embryology.ch/allemand/fplacenta/gemell01.html

Zwillinge aus Deutschland, die seit dem 21. November 2003täglich Porträtfotos online stellen, um die Veränderungen zudokumentieren. www.twindex.de

Eine österreichische Internetplattform für werdende Elternbietet viele Informationen rund ums Thema Zwillinge. www.zwillinge.at

Seite des Instituts für Entwicklungspsychologie der TUBraunschweig mit Zwillingsstudie zur Sprachentwicklungund anderen Fähigkeiten. Eher für Fachleute und wissen-schaftlich vorgebildete Leser.http://psypost.psych.nat.tu-bs.de/Seiten/Zwillinge.htm

Seite des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neuro-wissenschaften, Arbeitsbereich Psychologie mit Infor-mationen über das 1937 begonnene Zwillingsforschungs-projekt GOLD (Genetisch orientierte Lebensspannenstudiezur differentiellen Entwicklung). www.mpipf-muenchen.mpg.de/BCD/PROJECTS/gold_g.htm

Weitere Informationen, Link- und Lesetipps finden Sie unter: www.quarks.de

Lese- und LinktippsLese- und Linktipps