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Gregor Streim Das Ende des Anthropozentrismus

Das Ende Des Anthropozentrismus

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Gregor StreimDas Ende des Anthropozentrismus

Quellen und Forschungenzur Literatur- und Kulturgeschichte

Begründet als

Quellen und Forschungenzur Sprach- und Kulturgeschichte

der germanischen Völker

von

Bernhard Ten Brink undWilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp undWerner Röcke

49 (283)

≥Walter de Gruyter · Berlin · New York

Das Ende des AnthropozentrismusAnthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur

zwischen 1930 und 1950

von

Gregor Streim

≥Walter de Gruyter · Berlin · New York

�� Gedruckt auf säurefreiem Papier,das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020103-1

ISSN 0946-9419

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

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� Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertungaußerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlagesunzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro-

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Printed in GermanyEinbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin

Dank

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die geringfügig überarbeiteteFassung meiner Habilitationsschrift, die im Januar 2007 vom FachbereichPhilosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin alserste Habilitationsleistung angenommen worden ist. Mein Dank gilt an ers-ter Stelle Prof. Dr. Peter Sprengel, der das Projekt von Beginn an auf vielfäl-tige Weise unterstützt und gefördert hat. Er gilt ebenso Prof. Dr. ErhardSchütz, der die Entstehung der Arbeit mit zahlreichen Hinweisen und Anre-gungen begleitet hat. Und er gilt Prof. Dr. Helmuth Kiesel für seine auf-merksame Lektüre und bereitwillige Mitwirkung am Habilitationsverfah-ren. Dank schulde ich auch allen Freunden und Kollegen, die mir mitGeduld, Gesprächen und kritischer Lektüre zur Seite gestanden haben, ins-besondere Dr. Wilhelm Amann, Dorothea Böhland, Dr. Justus Fetscher,Dr. Verena Kirchner und Dr. Kerstin Schoor. Astrid Herzog danke ich fürdie sachkundige und stilsichere Korrektur. Dem de Gruyter Verlag und denHerausgebern der Reihe „Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kul-turgeschichte“ danke ich für die Aufnahme des Bandes in ihr Verlagspro-gramm und Dr. Heiko Hartmann und Angelika Hermann für die umsich-tige Betreuung des Manuskripts. Schließlich möchte ich mich bei derDeutschen Forschungsgemeinschaft bedanken, die die Entstehung dieserArbeit durch die Gewährung eines mehrjährigen Habilitationsstipendiumserst ermöglicht hat.

Dezember 2007, Berlin und Madison Gregor Streim

Dank

Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I. Die „Krise des Menschen“. ExistenzialanthropologischesPhilosophieren in den dreißiger und vierziger Jahren . . . . . . . . . . 111. Philosophische Krisendiagnosen um 1930 . . . . . . . . . . . . . . . 112. Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio. Entwürfe einer

neuen „Philosophie des Menschseins“ um 1930 . . . . . . . . . . . 21a) Ausschaltung von Zeit und Natur.

Die Bewusstseinstechnik der Wissenssoziologie . . . . . . . . 24b) Der ‚exzentrische‘ Mensch der Philosophischen

Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30c) Die Entdeckung der ‚Existenz‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37d) ‚Situation‘ und ‚Entscheidung‘.

Politisierung am Ende der Weimarer Republik . . . . . . . . 433. Die „anthropologische Wende“ in der Philosophie

nach 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504. Kritik an der Geschichtsphilosophie im ‚Dritten Reich‘ . . . . 565. Transformation der Philosophischen Anthropologie:

Arnold Gehlens „Anthropo-Biologie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626. ‚Stimmung‘, ‚Haltung‘, ‚Weltanschauung‘.

Transformationen der Existenzialanalytikbei Otto F. Bollnow und Hans Lipps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

7. Der ‚vierte Mensch‘. Krisendiagnosen um 1950 . . . . . . . . . . . 74

II. ‚Verzauberung‘. Zur Reflexion der Kultur- und Wissenskrisein programmatischen Texten der ‚jungen Generation‘ um 1930 . 881. Konzeptualisierungen einer ‚jungen Generation‘ . . . . . . . . . . 882. Die Krise des ‚naturwissenschaftlichen Weltbildes‘

und die ‚neue Lehre vomMenschen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003. Anthropologie, Naturphilosophie und literarische

Programmatik in den Beiträgen der ZeitschriftDie Kolonne . 110

III. Ernst Jünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1171. Operationen eines antikopernikanischen Geistes . . . . . . . . . . 1172. Jüngers Anthropologie der Moderne.

Vom Kampf als inneres Erlebnis (1922) zum Arbeiter (1932) . 1203. Abkehr vom Neovitalismus in den dreißiger Jahren . . . . . . . . 1234. Eintritt in die Äthersphäre:

Auf den Marmor-Klippen (1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1315. Die naturphilosophische Poetik der Strahlungen (1949) . . . . 1416. Zerstörung als Verwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1477. Jenseits von Humanismus und Nihilismus:

Heliopolis (1949) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

IV. Gerhard Nebel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1611. Zwischen Wissenschaft und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1612. Konzeptionen des Elementaren: die Essaybände

Feuer und Wasser (1939) und Von den Elementen (1947) . . . . 1653. Stoische Naturphilosophie und theoretische Physik . . . . . . . . 1704. ‚Stimmung‘ als psychophysisches Korrespondenzmodell . . . . 1755. Kosmos und Sympathie: das Kriegstagebuch

Bei den nördlichen Hesperiden (1942/48) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1786. Umwelt, Rasse, Freiheit.

Nebels Auseinandersetzung mit der Rassenbiologie . . . . . . . . 1857. Metaphysik vs. Humanismus.

Zeitkritik nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

V. Horst Lange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2031. ‚Landschaftliche Dichtung‘ 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2032. Schwarze Weide (1937), ein Heimatroman? . . . . . . . . . . . . . . 207

a) Struktur, Stil- und Gattungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208b) Primitivismus und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215c) Die Utopie der Vaterlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

3. Auf der Suche nach ‚Präsenznähe‘:Ulanenpatrouille (1940) . 2264. Krieg und ‚Sachlichkeit‘:Die Leuchtkugeln (1944) . . . . . . . . . 2345. Langes ambivalentes Verhältnis zur literarischen Moderne . . 2406. Versuche mit Mysterienspiel und mythologischer Komödie

in der frühen Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2467. Mythos vs. Heimat: Am kimmerischen Strand (1948) . . . . . . . 2508. Kolportage und Eschatologie in den späten Romanen:

Ein Schwert zwischen uns (1952) und Verlöschende Feuer(1956) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

VIII Inhalt

VI. Egon Vietta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2611. Der „wirkliche Jahrgang 1902“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2612. Ein ‚unsachlicher‘ Großstadtroman:

Der Engel im Diesseits (1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2633. Abkehr von der Neuen Sachlichkeit:

Die Kollektivisten (1930) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2694. Von den ‚Tatsachen‘ zur ‚Totalität‘.

Vietta und die künstlerische Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2735. Vietta und der ‚dritte Humanismus‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2826. Zwischen geschichtslosem Sein und faschistischer

Modernität: Ritt durch den Fezzan (1939)und Romantische Cyrenaika (1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

7. Jenseits von Mutterrecht und Vaterrecht: Corydon (1943) . . . 3058. Die Nachkriegspublizistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

VII. Gottfried Benn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3181. Perspektivierung von Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3182. Die Wirklichkeitskrise und die Suche

nach einer ‚natürlichen Weltsicht‘ 1930–32 . . . . . . . . . . . . . . 3233. ‚Leben‘ oder ‚Konstruktion‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3314. 1933 als anthropologische Verwandlung:

‚Züchtung‘ und ‚Mutation‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3365. ‚Formaler Absolutismus‘: Kunst und Macht (1934) . . . . . . . . 3436. Abstraktion und Realisation: Dorische Welt (1934) . . . . . . . . . 3497. Theoretische Physik und ‚Ausdruckswelt‘:

Physik 1943 und Bezugssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3578. Die Poetik der ‚absoluten Prosa‘:

Roman des Phänotyp undDer Ptolemäer (1949) . . . . . . . . . . . . 3639. „Phase II des nachantiken Menschen“ 1949/50 . . . . . . . . . . . 369

VIII. „Ultrahumanismus“. Die Begründung der Nachkriegsmoderneaus dem Geist der Anthropozentrismuskritik um 1950 . . . . . . . . 375

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427

Inhalt IX

Einleitung

Wieder war eine solche Stunde da, eine Stunde, in der sich etwasabzog von der Erde: der Geist oder die Götter oder das, was mensch-liches Wesen gewesen war –, es handelte sich nicht mehr um den Ver-fall des einzelnen Menschen, auch nicht einmal den einer Rasse, einesKontinents oder einer sozialen Ordnung, eines geschichtlichen Systems,sondern etwas weit Ausholenderes geschah: die Zukunftslosigkeit einesganzen Schöpfungswurfes trat in das allgemeine Gefühl, eine Muta-tion – an ein Erdzeitalter gebunden, an das hominine –, mit einemWort: das Quartär ging hintenüber. (Gottfried Benn)1

Die Krise unserer Zeit und unserer Welt bereitet einen vollständigenUmwandlungsprozeß vor, der […] einem Ereignis zuzueilen scheint[…], das, von einem nicht bloß anthropozentrischen Blickpunkt ausgewertet, sich als Neukonstellation planetaren Ausmaßes darstellenmuß. (Jean Gebser)2

Die These vom Ende des ‚homininen‘ Zeitalters ist kein originärer Gedankeeiner neueren Philosophie der Postmoderne. Deutungen, die einen Epo-chenwechsel im Sinne einer Überwindung der modernen Bewusstseinsformdiagnostizieren, haben, wie die vorangestellten Zitate belegen, in Deutsch-land bereits in der frühen Nachkriegszeit Konjunktur. Und sie finden sichauch schon in der Krisenphilosophie der späten zwanziger Jahre. GegenEnde der Weimarer Republik genauso wie unmittelbar nach dem ZweitenWeltkrieg wird die jeweilige kulturelle Krisensituation als eine „Krise desMenschen selbst“3 gedeutet, als Erschütterung des Glaubens, dass derMensch das Maß aller Dinge sei, oder: als Anfang vom Ende des neuzeit-lichen Anthropozentrismus.

Ausgangspunkt dieses Buches ist die Beobachtung, dass es in Folge derKultur- und Wissenskrise am Ende der zwanziger Jahre in einem bestimm-ten Spektrum der Literatur und Philosophie zu einer tiefgreifenden Ver-änderung in der Rede vomMenschen bzw. vom menschlichen Sein kommt.Verkürzt lässt sie sich auf die Formel einer Abkehr von Geschichte und

1 Gottfried Benn, Der Ptolemäer. Berliner Novelle (1947), in: ders., Gesammelte Werke inder Fassung der Erstdrucke, hg. von Bruno Hillebrand, Bd.: Prosa und Autobiographie,Frankfurt a.M. 1984, S. 193–234, hier S. 204.

2 Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart. Erster Band: Die Fundamente der aperspektivischenWelt. Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung, Stuttgart 1949, S. VII.

3 Ludwig Steinecke, Wissenschaft und Weltanschauung, in: Die literarische Welt 7 (1931), H.2, 15. Mai 1931, S. 1 f., hier S. 1.

Natur bringen. Hierbei handelt es sich nicht um einen allgemeinen Paradig-menwechsel, sondern um die Herausbildung einer besonderen Varianteanthropologischen Denkens. In kritischer Abgrenzung von den verschie-denen rationalistischen und irrationalistischen Anthropologien dieser Zeitsuchen viele Intellektuelle eine ‚philosophische‘ Sicht auf den Menschen zugewinnen. Dabei werden nicht nur der wissenschaftliche „Tatsachen-“ und„Begriffsglaube“ (Klages)4 und die neuzeitliche „Selbstgewißheit desmenschlichen Subjekts“ (Heidegger)5 als ‚Anthropozentrismus‘ kritisiert,sondern es werden auch die Kränkungen, die Darwin und Freud dieser ver-meintlichen Hybris zugefügt haben, als rationalistische Verkennungen desMenschen bewertet. Mit dem Cartesianismus verwirft die neue Denkrich-tung zugleich alle naturalistischen und psychologischen Erklärungen desMenschen. Zugleich – und hierin liegt ihr Spezifikum – grenzt sie sich aberauch von der in den zwanziger Jahren verbreiteten lebensphilosophischenKulturkritik ab, die dem modernen Fortschritts- und Wissenschaftsglaubendie Irrationalität des Lebens entgegensetzte und den Gegensatz von Lebenund Geschichte aufzuheben versuchte.6 Stattdessen wird das Anthropologi-sche nun existentiell, als ein nicht ableitbares Sein verstanden. Die Denk-figur der Unbestimmtheit des Menschen findet sich in verschiedenen Dis-kursen dieser Zeit und gewinnt vor allem in der PhilosophischenAnthropologie und in der Existenzphilosophie theoretische Bedeutung.Max Scheler spricht von der ‚Weltoffenheit‘ und ‚existentiellen Entbunden-heit‘, Helmuth Plessner von der ‚exzentrischen Positionalität‘, Arnold Geh-len von der ‚Sonderstellung‘ des Menschen, Karl Jaspers von der ‚Existenz‘und Martin Heidegger vom ‚Dasein‘.

Die Wendung zu einer existentiellen oder philosophischen Auffassungdes Anthropologischen lässt sich genauso in der Literatur der dreißiger undvierziger Jahre verfolgen. Auch die Literatur unternimmt Versuche, denMenschen in eine transhumane bzw. „transmundane Perspektive“7 zurücken. Martin Raschke stellt 1930 angesichts neuer astronomischerErkenntnisse die Frage: „Was gilt ein Mensch vor Billionen Sonnen?“.8 Imselben Jahr skizziert Ernst Jünger in seinem Sizilischen Brief an den Mannim Mond eine kosmische Perspektive, in der das menschliche Leben –

4 Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, 5., ungekürzte Aufl., Leipzig 1972(Erstveröffentlichung 1929–32), S. 121.

5 Martin Heidegger, Der europäische Nihilismus (1940), in: ders., Nietzsche, 2. Bd., hg. vonBrigitte Schillbach (= Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 6/2), Frankfurt a.M. 1997,S. 23–229, hier S. 113.

6 Zum Stellenwert der vitalistischen Kulturkritik in den Wissenschaften in den zwanziger unddreißiger Jahren siehe in jüngster Zeit den Aufsatzband von Thomas Keller/WolfgangEßbach (Hg.), Leben und Geschichte. Anthropologische und ethnologische Diskurse derZwischenkriegszeit, München 2006.

7 Benn, Der Ptolemäer, S. 214.8 Martin Raschke, Der kosmische Snob, in: Die Kolonne 1 (1930), H. 9, S. 59–60, hier S. 59.

2 Einleitung

Natur, Geschichte und Kultur – durch Abzug von Zeit und Zweck zur„kristallische[n] Struktur“ wird;9 in seinen Erzählungen und Tagebüchernaus den dreißiger und vierziger Jahren versucht er sie literarisch zu realisie-ren. Gottfried Benn prophezeit 1932 eine unmittelbar bevorstehende „an-thropologische Wendung“,10 in der sich das Bewusstsein vom Leben ablö-sen werde, und legitimiert seine avantgardistische Poetik in der frühenNachkriegszeit mit der Formel vom Übergang in die „Phase II des nachanti-ken Menschen“.11 Egon Vietta konstatiert 1948, dass sich Dichtung undPhilosophie seit einiger Zeit darum bemühten, den Menschen nicht mehr,wie im Abendland üblich, „aus dem Menschen heraus“, sondern „außer-menschlich“ zu denken.12 Und Hans Egon Holthusen erkennt im „Durch-brechen und Überschreiten der überkommenen und für unser Gefühl nai-ven Bewußtseinsordnung unserer Väter“ 1949 eine gewichtige Tendenzder modernen Literatur.13 Immer wieder begegnet man in Texten aus dendreißiger und vierziger Jahren solchen Figuren der Distanzierung undDezentrierung des Menschen, die die „unmenschlichen Perspektiven“14 derNeuen Sachlichkeit aufnehmen und ins Philosophische und Zeitlos-An-thropologische transponieren. Die Besonderheit der ‚existenzialanthropolo-gischen‘ Perspektive liegt dabei darin, dass sie ‚den Menschen‘ einerseits inerkenntnistheoretischer, geschichtlicher und anthropologischer Hinsichtrelativiert, diese Relativierung andererseits aber mit der Erwartung einergrundlegenden kulturellen Erneuerung verknüpft.

Die folgende Untersuchung versucht, das Profil dieser Denkrichtung in derin Deutschland entstandenen Literatur der dreißiger und vierziger Jahrenachzuzeichnen. Sie will damit zugleich einen neuen Blick auf eine literari-sche Periode werfen, mit deren Bestimmung sich die Literaturwissenschafttraditionell schwer tut. Durch die Wahl des Untersuchungszeitraums zwi-schen 1930 und 1950 rücken hier zum einen literatur- und denkgeschicht-liche Verbindungslinien zwischen der Endphase der Weimarer Republikund der Nachkriegszeit in das Zentrum des Interesses. Und zum anderenwird ein neuer Zugang zu dem Bereich der in der Zeit des Nationalsozialis-

9 Ernst Jünger, Sizilischer Brief an den Mann im Mond (1930), in: ders., Blätter und Steine,Hamburg 1934, S. 107–121, hier S. 118.

10 Gottfried Benn, Der Nihilismus – und seine Überwindung (1932), in: ders., GesammelteWerke in der Fassung der Erstdrucke, hg. von Bruno Hillebrand, Bd.: Essays und Reden,Frankfurt a.M. 1989, S. 207–222, hier S. 212.

11 Gottfried Benn, Doppelleben (1950), in: ders., Prosa und Autobiographie, S. 355–479, hierS. 472.

12 Egon Vietta, Die Selbstbehauptung des Abendlandes im Werk von T. S. Eliot, Hamburg1948, S. 28.

13 Hans Egon Holthusen, Die Bewußtseinslage der modernen Literatur, in: Merkur 3 (1949),S. 537–553 und S. 680–689, hier S. 539 f.

14 Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 2. Bd., Frankfurt a.M. 1983, S. 823.

Einleitung 3

mus entstandenen Literatur gesucht, der in der Forschung heute zumeistmit dem – eher einer Verlegenheit als einer definitorischen Übereinkunftentspringenden – Begriff der ‚nicht-nationalsozialistischen‘ Literatur umris-sen wird. Die in diesem Forschungsfeld bislang üblichen Klassifikations-muster werden nicht übernommen. So orientiert sich diese Studie weder anpolitisch-weltanschaulichen Kriterien, etwa dem einer unpolitischen oderkritischen Distanz zum NS-Staat, wie sie der umstrittene, gelegentlich aberauch heute noch verwendete Begriff der ‚Inneren Emigration‘ insinuiert,15

noch am soziologischen Kriterium einer Generationseinheit oder einesGenerationsstils, das vor allem in Forschungsarbeiten zur Literatur der ‚jun-gen Generation‘ zugrunde gelegt wird,16 noch an ästhetischen und stiltypo-logischen Kriterien, wie solche Untersuchungen, die literarische Zusam-menhänge mit Begriffen wie ‚moderne Klassik‘ oder ‚magischer Realismus‘zu fassen versuchen.17 Stattdessen wird hier ein denk- und wissensgeschicht-licher Ansatz gewählt. Dabei geht es nicht um eine Ideen- oder Einfluss-geschichte, in der die Rezeption einer bestimmten Theorie oder Philoso-phie, beispielsweise der Existenzphilosophie, verfolgt würde. Vielmehr wirdvon den erzählenden und essayistischen Texten ausgehend gefragt, welchewissenschaftlichen und philosophischen Theoreme, Begriffe oder Denkfi-guren aufgegriffen werden und in welcher Weise sie in die literarischeAnthropologie oder in die ästhetische und kulturkritische Argumentationeingehen.

Die so skizzierte Fragestellung verfolgt die vorliegende Untersuchung ineiner Reihe teils synchron, teils diachron angelegter historischer Fallstudien.Ihren Schwerpunkt bilden Einzelstudien zu fünf Autoren, in denen die Ver-änderungen von Darstellungs- und Argumentationsweisen in einem analyti-schen Durchgang durch deren literarische Produktion zwischen Ende derzwanziger und Anfang der fünfziger Jahre verfolgt und in ihrem jeweiligendiskursgeschichtlichen Kontext analysiert werden. Strukturelle Parallelenzwischen den Werken dieser Autoren treten im Vergleich der einzelnenUntersuchungen hervor und werden punktuell herausgearbeitet. Diese lie-

15 Zur Begriffsverwendung vgl. Ralf Schnell, Dichtung in finsteren Zeiten. Deutsche Literaturund Faschismus, Reinbek 1998 (= rowohlts enzyklopädie, Bd. 55597), bes. S. 120 ff.

16 Vgl. vor allem die für viele nachfolgende Forschungen richtungsweisende Studie von HansDieter Schäfer, Die nichtnationalsozialistische Literatur der jungen Generation im DrittenReich (1976), in: ders., Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirk-lichkeit 1933–1945, München 1981, S. 7–54; und in jüngster Zeit Horst Denkler, Werk-ruinen, Lebenstrümmer. Literarische Spuren der ‚verlorenen Generation‘ des Dritten Rei-ches, Tübingen 2006 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 127).

17 Zum Begriff ‚moderne Klassik‘ vgl. Hans Dieter Schäfer, Zur Periodisierung der deutschenLiteratur seit 1930 (1977), in: ders., Das gespaltene Bewußtsein, S. 55–71, bes. S. 58 f. ZumBegriff ‚magischer Realismus‘ vgl. Michael Scheffel, Magischer Realismus. Die Geschichteeines Begriffs und ein Versuch seiner Bestimmung, Tübingen 1990 (= Stauffenberg Collo-quium, Bd. 16), bes. Kap. II.

4 Einleitung

gen weniger darin, dass jeweils auf dieselben wissenschaftlichen oder phi-losophischen Theorien referiert würde, als im ähnlichen Muster der Selek-tion und Ordnung von Wissen: in der antirationalistischen, antinaturalisti-schen und antivitalistischen Tendenz. Die Konzeption des Menschen als eingeistig, geschichtlich, naturhaft und vital unbestimmtes Wesen erfolgt imRekurs auf unterschiedliche, als ‚indeterministisch‘ geltende Beschreibungs-und Erklärungsmodelle: die antike Kosmogonie, die stoische Naturphiloso-phie, die moderne Physik, die Philosophie der Existenzerhellung oder dieexistenziale Daseinsanalyse, um nur einige Beispiele zu nennen. StrukturelleParallelen lassen sich aber nicht nur in der Aneignung philosophischen undnaturphilosophischen Wissens feststellen, sondern auch an den ähnlich ver-laufenden Transformationsprozessen innerhalb des jeweiligen literarischenWerks. Bei den meisten Autoren lässt sich beobachten, dass sie im Verlaufder Zeit vitalistische durch antivitalistische und geschichtsphilosophischedurch naturphilosophische Konzepte austauschten.

Der Untersuchungszeitraum dieser Studie sind die zwei Jahrzehnte zwi-schen 1930 und 1950. Damit berührt sie die vieldiskutierte Frage nachKontinuität oder Diskontinuität der in Deutschland entstandenen Litera-tur. Nachdem die Epochengrenze 1945 in der Literaturwissenschaft imZusammenhang mit der Problematisierung der ‚Nullpunktthese‘ schonAnfang der siebziger Jahre relativiert wurde,18 haben neuere Arbeiten – ins-besondere solche, die sich an das ‚Dritte Reich‘ im Zusammenhang desModernisierungsprozesses betrachtenden sozialgeschichtlichen Forschun-gen orientieren19 – auch und vor allem die Epochengrenze im Jahr 1933 inFrage gestellt. Inzwischen wird die den politischen Epochengrenzen fol-gende Unterteilung in der Literatur- und Kulturwissenschaft oft durch einneues Epochenkonzept ‚Zwischenkriegszeit‘ ersetzt. Oder es wird ein vonden zwanziger Jahren bis in die fünfziger Jahre reichender kultureller Epo-chenzusammenhang angenommen, häufig assoziiert mit dem Konzept einerklassischen oder sachlichen Moderne.20

Angesichts mancher einseitig die Kontinuitäten hervorhebenden For-schungsarbeiten scheint es heute fast wieder notwendig, darauf hinzuwei-

18 Vgl. beispielsweise Frank Trommler, Realismus in der Prosa, in: Thomas Koebner (Hg.),Tendenzen der deutschen Literatur weit 1945, Stuttgart 1971, S. 179–275, hier S. 221 f.

19 Zur Forschung zum Thema ‚Modernisierung und Drittes Reich‘ vgl. den Überblick von Hel-muth Kiesel, Nationalsozialismus, Modernisierung, Literatur. Ein Problemaufriß, in: ErhardSchütz/Gregor Streim (Hg.), Reflexe und Reflexionen von Modernität 1933–1945, Bernu. a. 2002 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, NF, Bd. 6), S. 13–27.

20 Vgl. in jüngster Zeit Gustav Frank/Rachel Palfreyman/Stefan Scherer, Modern Times? EineEpochenkonstruktion der Kultur im mittleren 20. Jahrhundert – Skizze eines Forschungs-programms, in: dies. (Hg.), Modern Times? German Literature and Arts Beyond PoliticalChronologies. Kontinuitäten der Kultur: 1925–1955, Bielefeld 2005, S. 387–430, bes.S. 404.

Einleitung 5

sen, dass das Jahr 1933 tatsächlich einen tiefen kulturellen Einschnitt mar-kiert.21 Zum einen wegen der bei aller ideologischen Heterogenität undkulturpolitischen Konkurrenz im NS-Staat doch äußerst wirkungsvollenMechanismen kulturpolitischer Regulierung.22 Und zum anderen, weildurch Verbot, Vertreibung, Inhaftierung und Ermordung ein breites intel-lektuelles Spektrum aus dem kulturellen System ausgeschlossen wurde. DieFeststellung offenkundig bestehender Kontinuitäten darf nicht die Sichtdarauf verstellen, dass diese sich unter den Voraussetzungen von Ausschlussund Regulierung vollzogen und daher durch den politischen Umbruch mitbedingt waren. Die methodische Konsequenz aus dieser Erkenntnis liegtdarin, Bruch und Kontinuität zusammen zu denken. Daher richtet sich dasAugenmerk in dieser Studie auf die spezifischen Transformationen von Dar-stellungs- und Erklärungsmustern, die sich in der literarischen und philoso-phischen Rede vom Menschen nach 1933 und nach 1945, aber auch imVerlauf der nationalsozialistischen Herrschaft vollzogen.

Erst auf der Ebene des Diskurses sind auch die im Zentrum der bisheri-gen Forschung stehenden Fragen nach dem Verhältnis einzelner Texte oderAutoren zum Nationalsozialismus einerseits und zur ‚Moderne‘ andererseitssinnvoll zu diskutieren. So lässt sich bei allen hier behandelten Schriftstel-lern eine grundsätzliche Ambivalenz im Verhältnis zum Nationalsozialismusbeobachten, und zwar an den teils ähnlichen, teils differenten Konzeptuali-sierungen des Anthropologischen. Deutliche Übereinstimmungen mit Stel-lungnahmen nationalsozialistischer Ideologen zeigen sich in der Ablehnungder ‚aufklärerisch-rationalistischen‘ Anthropologie und der als säkularisierteEschatologie ‚entlarvten‘ Geschichtsphilosophie, also in der prinzipiellantirationalistischen und antihistoristischen Ausrichtung des anthropologi-schen Diskurses. Spannungen und Gegensätze treten dagegen im Bereichder dabei verwendeten Theoreme und Konzepte hervor, und zwar immerda, wo die Frage nach Determination oder Indetermination berührt ist bzw.die ‚Unbestimmtheit‘ des Menschen zur Debatte steht. So wird insbeson-dere die Rassenbiologie von den um eine philosophische Betrachtung desMenschen bemühten Autoren als eine naturwissenschaftlich-mechanistischeDenkart, also als Erscheinung des ‚modernen Rationalismus‘ wahrgenom-men und kritisiert. Und im Zuge dieser Abgrenzung schließen sie zuneh-mend alle mit dem ‚Leben‘ operierenden Theorien aus ihrer Konzeption

21 Vgl. etwa die im zuvor erwähnten Aufsatz zu lesende Behauptung, dass die politischen Epo-chengrenzen „als Leitgrößen für eine Periodisierung des Literatursystems wie der Kulturunbrauchbar“ seien (Frank/Palfreyman/Scherer, Modern Times?, S. 392).

22 Zur den Maßnahmen und Instrumenten literaturpolitischer ‚Gleichschaltung‘ siehe diegrundlegende Studie von Jan-Pieter Barbian, Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutio-nen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, überarbeitete und aktualisierte Ausgabe, München1995.

6 Einleitung

des Menschen aus, während umgekehrt Denkfiguren und Theoreme ausdem Bereich physikalischer Naturphilosophie an Bedeutung gewinnen.

Für sämtliche hier untersuchten Autoren gilt, dass ihre Haltung zum‚Dritten Reich‘ wesentlich davon abhing, ob sie in diesem einen heroischenVersuch der Überwindung des modernen Rationalismus oder eine primitiveSpielart desselben erblickten. Gottfried Benn etwa, der mit der ‚Machtergrei-fung‘ 1933 die Hoffnung auf eine „neue anthropologische Qualität undeinen neuen menschlichen Stil“ verband23 – und noch 1949 glaubte, dassder Nationalsozialismus ursprünglich „ein echter und tiefangelegter Versuchwar, das wankende Abendland zu retten“,24 – attestierte den Nationalsozia-listen bereits Anfang der vierziger Jahre die Mentalität eines Züchtervereins,der, von einem primitiven Glauben an die „mechanische Kausalität“ beseelt,das Heil in der Erzeugung eineiiger Zwillinge suche.25 Diese Art der Distan-zierung ist bei vielen Autoren zu beobachten, die das ‚Dritte Reich‘ zuneh-mend mit einem biologistischen, technizistischen und militaristischenZweckdenken identifizierten und als Fortführung und Verschärfung desabendländischen ‚Nihilismus‘ deuteten. Eine Hinwendung zum Humanis-mus, wie in der Forschung oft behauptet, bedeutete sie jedoch nicht.

Die philosophische und existentielle Rede vom Menschen impliziert einespezifische Theorie und Kritik des Modernisierungsprozesses. Ausgehendvon einem Verständnis der Moderne als Rationalisierungsprozess und alssäkularisierte Heilsgeschichte, wird auch das ‚Dritte Reich‘ als Modernisie-rungsphänomen beschrieben – und zwar in einer Weise, die im Ansatzdurchaus Parallelen mit späteren Forschungen zur ‚Modernität des DrittenReiches‘ oder zur ‚Rationalität des Nationalsozialismus‘ aufweist. Deshalbunterscheidet sich die hier untersuchte Denkrichtung auch grundsätzlichvon den im ‚Dritten Reich‘ zu beobachtenden Tendenzen einer inszenatori-schen oder ideologischen Anverwandlung und Überformung modernerTechnik oder Massenkultur, die die Forschung mit Begriffen wie ‚reaktionä-rer Modernismus‘26, ‚Paramoderne‘27 oder ‚autochthone Modernität‘28 zu

23 Gottfried Benn, Der neue Staat und die Intellektuellen (1933), in: ders., Essays und Reden,S. 457–464, hier S. 461.

24 Brief an Max Niedermayer vom 6. April 1949, in: Gottfried Benn, Briefe an den Limes-Ver-lag 1948–1956 (= Gottfried Benn, Briefe, Bd. 8), hg. und kommentiert von MargueriteValerie Schlüter und Holger Hof, Stuttgart 2006, S. 27–29, hier S. 28 f.

25 Gottfried Benn, Kunst und Drittes Reich (1941/1949), in: ders., Essays und Reden,S. 333–351, hier S. 349.

26 Vgl. Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar andthe Third Reich, Cambridge (Mass.) 1984.

27 Vgl. Erhard Schütz, Zur Modernität des „Dritten Reiches“, in: Internationales Archiv fürSozialgeschichte der Literatur 20 (1995), S. 116–136, bes. S. 118.

28 Vgl. Sebastian Graeb-Könneker, Autochthone Modernität. Eine Untersuchung der vomNationalsozialismus geförderten Literatur, Opladen 1996.

Einleitung 7

umreißen versucht hat. Sie unterscheidet sich aber auch vom konservativenund reaktionärem Antimodernismus. Denn die Überwindung ‚der Moder-ne‘ wird von ihr nicht als Rückkehr zu einem vormodernen Menschenbildkonzipiert, sondern als Transformation der neuzeitlichen Bewusstseinsformund damit des Menschen selbst. Und dabei beruft man sich auf neuesteEntwicklungen in den Wissenschaften.

Die Spur dieser spezifischen Modernekritik lässt sich vom Ende derWeimarer Republik durch die Zeit des Nationalsozialismus bis in die Nach-kriegszeit verfolgen. Dabei begründet die Kritik am Rationalisierungs-prozess auch eine ambivalente Wertung der literarischen und künstlerischenModerne. Diese Ambivalenz liegt darin, dass zum einen realistische unddokumentarische Darstellungsweisen, wie sie in der Weimarer Republikentwickelt worden waren, als Formen rationalistischer Wirklichkeitskons-truktion zurückgewiesen, zum anderen verschiedene nicht-naturalistischeDarstellungsformen als künstlerische Realisierungen der transhumanenPerspektive aufgewertet werden. Eher als in der Verwendung bestimmterstilistischer oder poetischer Verfahrensweisen kann man in diesem antinatu-ralistischen und antihumanistischen Diskurs über die Moderne eine Verbin-dungslinie zwischen 1930 und 1950 erkennen. Der Zusammenhang zwi-schen diesen kulturellen Krisensituationen stellt sich dabei hier anders darals in früheren Forschungen. Dort hat man die Kontinuität entweder alseine literarische „Restauration“ charakterisiert, die am Ende der zwanzigerJahre einsetzte, durch den Nationalsozialismus verzögert wurde und in denfünfziger Jahren zur „späten Blüte“ gelangte.29 Oder man hat sie als mode-rate Fortsetzung der literarischen Moderne beschrieben, als eine Bewegung,die die „Lebenskraft der Moderne“ durch das ‚Dritte Reich‘ hindurch in dieNachkriegszeit rettete.30 Die Eigentümlichkeit des hier beschriebenen Mo-dernediskurses besteht demgegenüber darin, dass er eine ‚andere‘, nicht-mehr-anthropozentrische Moderne entwirft.

Die vorliegende Untersuchung strebt keine systematische Gesamtdarstel-lung der skizzierten Denkrichtung an. Vielmehr wird sie die angedeutetenkonzeptuellen und diskursiven Zusammenhänge in einer Reihe von histori-schen Quer- und Längsschnitten exemplarisch rekonstruieren. Das ersteKapitel untersucht philosophische Positionen zwischen 1930 und 1950.

29 Frank Trommler, Emigration und Nachkriegsliteratur. Zum Problem der geschichtlichenKontinuität, in: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.), Exil und innere Emigration, Frank-furt a.M. 1972, S. 173–197, hier S. 185.

30 SoHans Dieter Schäfer in einer kritischen Charakterisierung seiner eigenen früheren Arbeitenzur Literatur der ‚jungen Generation‘: Hans Dieter Schäfer, Kultur als Simulation. Das DritteReich und die Postmoderne, in: Günther Rüther (Hg.), Literatur in der Diktatur. Schreibenim Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus, Paderborn u. a. 1997, S. 215–245, hierS. 226.

8 Einleitung

Am Beispiel einiger einflussreicher Reflexionen der Kultur- und Wissens-krise um 1930 wird zunächst die antigeschichtliche und antivitalistischeWendung in der Krisenphilosophie dieser Zeit nachgezeichnet. Im An-schluss werden zuerst die verschiedenen Konzepte einer neuen, philosophi-schen und existentiellen Perspektivierung des Menschen in ihrem krisenhaf-ten Entstehungskontext dargestellt und dann die Transformationenverfolgt, die sie in der Universitätsphilosophie des ‚Dritten Reiches‘ und inder philosophischen Krisenpublizistik nach 1945 erfuhren.

Das zweite Kapitel untersucht den konzeptuellen Zusammenhang vonKrisendeutung, Wissenswandel und literarischer Anthropologie in denWortmeldungen und Programmen einer ‚jungen Generation‘ um 1930.Dem liegt die Annahme zugrunde, dass es sich bei der ‚jungen Generation‘weniger um einen literatursoziologisch feststellbaren Zusammenhang alsum ein der (Selbst-)Verständigung und Orientierung dienendes Konstrukthandelt.

Hieran schließen sich die fallstudienartigen Untersuchungen zu einzel-nen Autoren an. Dazu wurden mit Ernst Jünger und Gottfried Benn zweiVertreter der älteren Generation ausgewählt und mit Gerhard Nebel, HorstLange und Egon Vietta drei Repräsentanten der am Anfang des Jahrhundertsgeborenen Generation, die um 1930 zu schreiben begann. Die fünf Schrift-steller unterscheiden sich sowohl in ihrem biographischen und literarischenProfil als auch in Hinblick auf die philosophischen und wissenschaftlichenBezugnahmen. Am Werk Ernst Jüngers, das im dritten Kapitel behandeltwird, lässt sich beispielhaft die Abkehr vom Vitalismus in den dreißiger Jah-ren verfolgen, die in diesem Fall mit einer Hinwendung zur physikalischenNaturphilosophie einhergeht. Im Fall Gerhard Nebels, dem das vierte Kapi-tel gewidmet ist, ist es die stoische Naturphilosophie, die zur Konzeptioneiner indeterministischen Anthropologie herangezogen wird. Horst Lange,dessen Erzählwerk im fünften Kapitel untersucht wird, entwickelte Anfangder vierziger Jahre in Abkehr von der lebensphilosophischen Anthropologieder frühen Moderne eine antipsychologische Schreibweise, die deutlicheParallelen zur Problematisierung der ‚Stimmung‘ in der damaligen Philoso-phischen Anthropologie aufweist. Die im sechsten Kapitel betrachtetenerzählenden und essayistischen Schriften Egon Viettas bieten ein Beispiel fürKonstanz und Wandel einer seinsphilosophischen Argumentation zwischendem Ende derWeimarer Republik und den fünfziger Jahren. Gottfried Benndagegen, dies zeigt das siebte Kapitel, begründet seine Abkehr von Naturund Geschichte in den dreißiger und vierziger Jahren vor allem naturphi-losophisch und bezieht sich insbesondere auf den vermeintlichen Indetermi-nismus seinerzeit neuester naturwissenschaftlicher Forschungen.

Das abschließende achte Kapitel untersucht in einem – parallel zum ers-ten und letzten Teil des ersten Kapitels verlaufenden – Querschnitt durchdie kulturdiagnostische und literaturprogrammatische Publizistik um 1950,

Einleitung 9

wie die in der Literatur der dreißiger und vierziger Jahre virulenten Theo-reme und Denkfiguren einer Unbestimmtheit des Menschen in die Konzep-tion einer antirationalistischen und antinaturalistischen Nachkriegsmo-derne einfließen.

Zum Schluss noch ein Hinweis zu den zitierten Quellentexten: Der his-torischen Ausrichtung dieser Arbeit entsprechend werden die Quellen inihrer ursprünglichen Fassung zitiert, das heißt entweder – wie im FallBenns – nach einer Werkausgabe, die die Texte in der Fassung der Erstdru-cke präsentiert, oder – in der Regel – direkt nach den Erstausgaben.

10 Einleitung

I. Die „Krise des Menschen“.Existenzialanthropologisches Philosophieren

in den dreißiger und vierziger Jahren

Es gibt also eine Krise in der Kultur; […] aber jede tiefere Reflexionüber den Sinn dieses Phänomens […] wird ergeben, daß diese Kriseder Kultur nur das Symptom einer viel fundamentaleren ist, nämlicheiner Krise des Menschen selbst. Der Mensch ist, nach zehntausend-jähriger Geschichte zum erstenmal, sich selber zum Rätsel geworden,er weiß nicht mehr, was er ist, zugleich weiß er aber auch, daß er esnicht weiß. (Ludwig Steinecke)1

1. Philosophische Krisendiagnosen um 1930

Die vierzehn Jahre der Weimarer Republik erscheinen nicht nur in sozialer,ökonomischer und politischer Hinsicht als die ‚Krisenjahre der klassischenModerne‘.2 Es waren auch die Jahre tief greifender Veränderungen in denBildungs-, Wert- und Wissenschaftsvorstellungen, die von Philosophenund Soziologen wie Georg Simmel, Ernst Troeltsch oder Max Weber schonfrüh in ihrem Zusammenhang analysiert wurden. Spätestens mit der Kata-strophe des Ersten Weltkriegs waren nach weit verbreiteter Überzeugungsowohl der naturwissenschaftliche Fortschrittsglaube als auch das geschicht-lich-kulturelle Entwicklungsdenken so stark erschüttert worden, dass wederder Positivismus noch der Humanismus weiterhin die Funktion eines ver-bindlichen kulturellen Leitbilds erfüllen konnte. In den philosophischenKrisendiagnosen der zwanziger Jahre wurde diese die Bildung, die Wissen-schaften und das Lebensgefühl einer ganzen Epoche erfassende Verunsiche-rung unter den Schlagworten ‚Krisis des Historismus‘ und ‚Wissenschafts-krisis‘ diskutiert.3 So sprach der Neukantianer Arthur Liebert 1923 schon

1 Ludwig Steinecke, Wissenschaft und Weltanschauung, in: Die literarische Welt 7 (1931), H.2, 15. Mai 1931, S. 1 f., hier S. 1.

2 Vgl. Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne,Frankfurt a.M. 1987.

3 Zur Wissenschafts- und Bildungskrise siehe Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergangder deutschen Mandarine 1890–1933, Stuttgart 1983 (engl. Erstveröffentlichung 1969),S. 330–384; und Klaus Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie. Zur Genealogie der Kultur-soziologie in Deutschland, Frankfurt a.M. 1996, S. 392–458, bes. S. 431 f. – Zur His-torismus-Krise siehe Wolfgang Hardtwig, Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit –Objektivität, in: Historische Zeitschrift 252 (1991), S. 1–32, bes. S. 8 ff.; Jörn Rüsen, Kon-

von einer „Krisis unserer Zeit und der ganzen gegenwärtigen Weltanschau-ung und Lebensstimmung schlechthin“.4 Und Edmund Husserl konsta-tierte 1929, dass die „gegenwärtige Lage der europäischen Wissenschaften“zu „radikalen Besinnungen“ nötige, da der „moderne Mensch von heute“anders als „der »moderne« der Aufklärungsepoche“ in der „Wissenschaftund der durch sie geformten neuen Kultur“ nicht mehr „die Selbstobjekti-vierung der menschlichen Vernunft“ erblicke und der für die Modernegrundlegende Glaube, dass Wissenschaft „zu einer wirklich rationalenSelbsterkenntnis, Welt- und Gotterkenntnis, durch sie hindurch zu einemwie immer vollkommener zu gestaltenden, einem wahrhaft lebenswertenLeben in »Glück«, Zufriedenheit, Wohlfahrt usw.“ führe, „in weiten Kreisenseine Kraft verloren“ habe.5

Wissenschaft und Philosophie der zwanziger Jahre reagierten auf diesenBefund mit der Entwicklung ganz unterschiedlicher Theorien, Forschungs-programme und Haltungen. Während ‚modernefreundliche‘ Ansätze ‚dieKrise‘ auf Grundlage einer empirisch begründeten Konzeption eines univer-salen Rationalisierungsprozesses (wie die Soziologie Webers) oder durch diekritische Selbstreflexion der menschlichen Vernunft (wie die Phänomenolo-gie Husserls) zu lösen versuchten, wurden ‚Fortschrittsideologie‘ und neu-zeitlicher Rationalismus von der breiten und in sich sehr vielfältigen Strö-mung lebensphilosophisch begründeter Kulturkritik als eigentliche Ursache‚der Krise‘ ausgemacht. Den auf eine Versachlichung derWeltbezüge und desMenschen selbst zielenden Lösungskonzepten setzte diese Strömung – dieeinerseits einen „Wissenschaftshaß“ (Troeltsch)6 auf die positivistischenWissenschaften kultivierte und andererseits die neoromantische Wende inder Geisteswissenschaft der zwanziger Jahre begründete – das Programm

figurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt a.M.1993; Otto Gerhard Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studienzur Problemgeschichte der Moderne, Göttingen 1996 (= Kritische Studien zur Geschichts-wissenschaft, Bd. 116), bes. S. 41–72; und Wolfgang Bialas/Gérard Raulet (Hg.), Die His-torismusdebatte in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. u. a. 1996 (= Schriften zur politi-schen Kultur der Weimarer Republik, Bd. 2). – Zur Humanismus-Debatte in der WeimarerRepublik vgl. Walter Müller-Seidel, Krisenjahre des Humanismus. Wissenschaften und Lite-ratur in der Weimarer Republik, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttin-gen (1998), S. 73–134.

4 Arthur Liebert, Die geistige Krisis der Gegenwart, Berlin 1923, S. 9.5 Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen

Vernunft, Halle 1929, S. 4 f.6 Troeltsch schrieb bereits 1922 in der Neuen Rundschau, gegenwärtig suchten viele den Aus-

weg aus der Krise in einem am Vorbild Nietzsches orientierten „radikalen Wissenschaftshaß“und „grundsätzlichen Antihistorismus“, wobei „persönliche Inspirationen und souveräneDiktate“ an die Stelle der Wissenschaft träten (Ernst Troeltsch, Die Krisis des Historismus,in: Die Neue Rundschau 33 [1922], 1. Teilbd., S. 572–590, hier S. 586). Er kritisierte dieseForm der Wissenschafts- und Vernunftkritik als ‚Intuitionismus‘: Der wissenschaftlichenBeschäftigung mit der Historie würden „poetische Bilder neuer Ursprünglichkeit undLebensfrische oder mystischen Erkenntnisersatzes“ entgegengestellt (ebd., S. 573).

12 Die „Krise des Menschen“

einer Vitalisierung von Kultur und Wissenschaft entgegen. Während diesachlichen Lösungskonzepte am menschlichen Rationalisierungsanspruchfesthielten, operierte die lebensphilosophische Kulturkritik mit der an-thropologischen Annahme eines vital-metaphysischen Lebensprinzips, dasden Zwängen der Kultur feindlich gegenüberstehe. In der intellektuellen‚Kampfkultur‘ gegen Ende der Weimarer Republik prägte diese Kulturkritikauch verschiedene politische Ideologien, die auf revolutionär-messianistischeWeise eine Überwindung der als Krise begriffenen Gegenwart propagierten.

Kultur- und philosophiegeschichtliche Arbeiten haben den lebensphi-losophischen ‚Irrationalismus‘ und den mit ihm verbundenen politischenMessianismus lange Zeit als charakteristische Züge der intellektuellen Men-talität der späten Weimarer Republik herausgestellt.7 Die geschichtsphiloso-phisch aufgeladene Krisenrhetorik der ‚Katastrophe‘ und des ‚Umschlags‘erschien dort als die intellektuelle Signatur einer von zunehmender wirt-schaftlicher, sozialer und politischer Destabilisierung geprägten Epoche.

7 Vgl. Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger,Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958; ders. Die Deutschen in ihrem Jahrhundert.1890–1990, Reinbek 1990, S. 154–197; Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken inder Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918und 1933, München 1962; Norbert Altenhofer, Die zerstörte Überlieferung. Geschichtsphi-losophie der Diskontinuität und Traditionsbewußtsein zwischen Anarchismus und Konser-vativer Revolution, in: Thomas Koebner (Hg.), Weimars Ende. Prognosen und Diagnosenin der deutschen Literatur und politischen Publizistik 1930–1933, Frankfurt a.M. 1982,S. 330–347; Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismuszwischen den Weltkriegen, München 1989. Neuere Forschungen zur Kulturgeschichte derWeimarer Republik zeichnen dagegen ein differenzierteres Bild und relativieren die Bedeu-tung des kulturpessimistischen Krisendiskurses. Vgl. dazu Moritz Föllmer/Rüdiger Graf(Hg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurta.M./New York 2005, bes. die Einleitung, S. 9–41; Rüdiger Graf, Optimismus und Pessi-mismus in der Krise – der politisch-kulturelle Diskurs in der Weimarer Republik, in: Wolf-gang Hardtwig (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutsch-lands 1900–1933, München 2007 (= Ordnungssystem, Studien zur Ideengeschichte derNeuzeit, Bd. 22), S. 115–140. – Einen Überblick über die verschiedenen geschichtsphiloso-phischen Konzeptionen dieser Zeit gibt Lothar Köhn, Überwindung des Historismus. ZumProblem einer Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1918 und 1933, in: DeutscheVierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974), S. 708–766,und 49 (1975), S. 94–165. – Aus literaturwissenschaftlicher Sich hat Martin Lindner dielebensphilosophische Kulturkritik als dominante Ideologie der Weimarer Republik beschrie-ben; vgl. Martin Lindner, Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und dieintellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse desRomanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth,Stuttgart/Weimar 1994. Eine andere Perspektive entwickelt Bettina Hey’l, Geschichtsdenkenund literarische Moderne. Zum historischen Roman in der Zeit der Weimarer Republik,Tübingen 1994 (= Studien zur deutschen Literatur, Bd. 133), die gerade den Verzicht aufgeschichtsphilosophische Konzepte als charakteristische Denkweise der Weimarer Republikansieht. Ähnlich argumentiert auch Eckart Goebel, der die Abkehr vom geschichtsphiloso-phischen Denken in einer Untersuchung um 1930 virulenter Denkfiguren aufzeigt; vgl. Eck-art Goebel, Konstellation und Existenz. Kritik der Geschichte um 1930. Studien zu Heideg-ger, Benjamin, Jahnn und Musil, Tübingen 1996.

Philosophische Krisendiagnosen um 1930 13

Dabei wurde kaum beachtet, dass in den philosophischen Krisendiagnosen,die um 1930 erschienen und sich an eine breite Öffentlichkeit wandten,8

auch noch eine andere, in mancher Hinsicht neue Denkrichtung Profilgewann, die sich sowohl gegen die rationalistischen Orientierungsmodelleals auch gegen den lebensphilosophischen ‚Irrationalismus‘ richtete. Auf diekämpferische Zuspitzung der Kultur- und Wissenskrise wurde hier mit Ent-würfen einer neuen Anthropologie bzw. einer ‚Philosophie des Menscheins‘reagiert, die den Menschen weder als rationales noch als vitales Wesen auf-fasste – und auch nicht auf ältere idealistische Vorstellungen zurückgriff.Auch diese – im folgenden als ‚existenzialanthropologisch‘ bezeichnete –Denkrichtung, die ansatzweise schon in der Wissenssoziologie, vor allemaber in der Philosophischen Anthropologie und der Existenzphilosophiehervortrat, zielte auf eine kulturelle Erneuerung, die hier allerdings nicht alsRationalisierung oder Vitalisierung, sondern als Abkehr vom neuzeitlichenAnthropozentrismus konzipiert wurde.

Die angedeutete Wendung im philosophischen Krisendiskurs um 1930soll hier zunächst exemplarisch im Vergleich dreier damals viel diskutierterKrisenschriften nachgezeichnet werden, die zwar unterschiedliche, teilsauch gegensätzliche wissenschaftliche und weltanschauliche Positionenrepräsentieren, sich in ihrer antihistoristischen und antiutopistischen Argu-mentationsrichtung jedoch ähneln: Karl Mannheims Ideologie und Utopie(1929), Karl Jaspers’ Die geistige Situation der Zeit (1931) und Ernst RobertCurtius’ Deutscher Geist in Gefahr (1932). Diese aus wissenssoziologischer,existenzphilosophischer und geistesgeschichtlicher Perspektive vorgenom-menen Zeitdiagnosen verbindet zunächst ihre doppelte Stossrichtung. Zumeinen reagieren sie alle auf die als ‚Krise des Historismus‘ bekannt gewor-dene Wissenschafts- und Kulturkrise,9 zum anderen sehen sie sich durchden politischen Extremismus am Ende der zwanziger Jahre herausgefordert.Implizit und explizit verfolgen sie alle das kulturpolitische Ziel, neue orien-tierungsgebende Denkmodelle bereitzustellen, die der Skepsis gegenüberdem liberalen Fortschrittsglauben Rechnung tragen und zugleich der Ver-suchung utopistischer Gegenwartsverneinung entgehen.

Dieses Interesse bestimmt schon ihre Krisenkonzeption. Während dielebensphilosophische Kulturkritik die kulturelle Krise als zivilisatorischeHemmung vitaler Antriebe begreift und daraus eine Kritik der gesellschaft-

8 Zur Popularität philosophischer Zeitdiagnostik in der Weimarer Republik siehe Peter Sloter-dijk, Weltanschauungsessayistik und Zeitdiagnostik, in: Bernhard Weyergraf (Hg.), Literaturder Weimarer Republik 1918–1933 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literaturvom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 8), München/Wien 1995, S. 304–339.

9 Vgl. Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin/Leipzig 1931, S. 119: „Die Krise derWissenschaften besteht also nicht eigentlich in den Grenzen ihres Könnens, sondern imBewußtsein ihres Sinns. Mit dem Zerfall eines Ganzen ist nun die Unermeßlichkeit des Wiß-baren der Frage unterstellt, ob es des Wissens noch wert sei.“

14 Die „Krise des Menschen“

lichen und politischen Institutionen ableitet, beschreiben Mannheim, Jas-pers und Curtius die gegenwärtige Krise als Krise des Denkens. Mannheimspricht von einer „Krisensituation des Denkens“, die daraus resultiere, dassdie „Sinnbezüge, welche die Welt erst zur Welt machen“, problematischgeworden seien und die „leitende Norm- und Sinnschicht“ nicht mehr der„Seinslage“ entspreche.10 Curtius erkennt die Ursache für die „Kulturkrisisder Gegenwart“ darin, dass „alles Seiende“ den Wissenschaften überantwor-tet und Kultur ganz zum Objekt eines akademischen Historismus gewordensei, woraus sich eine akute „Not des Geistes“ herleite.11 Und Jaspers führtdas Gefühl der Krise auf die Erosion des Fortschrittsglaubens als säkulari-sierter Heilsgeschichte zurück und auf die Erfahrung, dass die „alten Gegen-sätze der Weltanschauungen“ nicht mehr „passen“.12 Das „Bewußtsein desZeitalters“ habe sich „von jedem Sein“ gelöst, weshalb sich der Mensch ins„Nichts“ gestellt empfinde.13 Zwar beschreiben insbesondere Mannheimund Jaspers die gegenwärtige Situation ähnlich wie die lebensphilosophischeKulturkritik als einen epochalen Bruch- und Wendepunkt, doch im Unter-schied zu dieser begreifen sie die Wendung als ein Reflexivwerden derGeschichte. Etwa wennMannheim schreibt, der „gegenwärtige Augenblick“ermögliche die „erste wertfreie Ansicht der Geschichte“;14 oder wenn Jas-pers vom „Gefühl eines Bruches mit aller bisherigen Geschichte“ sprichtund fordert, man müsse sich bewusst machen, „in einem Augenblick derWeltwende zu stehen“, um der gegenwärtigen Situation Herr zu werden.15

Obwohl sich die drei damals allesamt an der Universität Heidelberg leh-renden Autoren in der Diagnose einig sind, dass die Krise im Legitimitäts-verlust der historischen Bildung und des liberalen Fortschrittsglaubensgründet, wenden sie sich zugleich auch gegen die vitalistische Geistverach-tung, deren Gefahrenpotential für sie der zu jener Zeit immer bedrohlicherhervortretende politische Extremismus offenbart, und zwar sowohl derrechter wie der linker Provenienz. Nach Mannheim führt die „absoluteDestruktion“ geschichtlicher Bindungen „zur Hypostasierung des vom His-torisch-Spirituellen völlig befreiten, ewig menschlichen Triebsubstrates.“16

In einem der ‚Dialektik der Aufklärung‘ verwandten Gedankengang warnter davor, dass in einem Zustand „statische[r] Sachlichkeit […] der Menschder rationalsten Sachbeherrschung zum Menschen der Triebe“ werden und„den Willen zur Geschichte und damit den Blick in die Geschichte“ ganz

10 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, 2. Aufl., Bonn 1930 (1. Aufl. 1929), S. 5 ff.11 Ernst Robert Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, Berlin/Stuttgart 1932, S. 90, 13 und 10.12 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 14.13 Ebd., S. 131.14 Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 41.15 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 16 und 18.16 Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 242. Mannheim bezieht sich hierbei u. a. auf Pareto

und Freud.

Philosophische Krisendiagnosen um 1930 15

verlieren könne.17 In ähnlicher Weise kritisiert Jaspers alle Wissenschaften,die den Menschen durch vital-triebhafte, körperlich-rassische oder psycho-logische Faktoren determiniert sehen, als rationalistische Verkennungen des„Menschen selbst“.18 Und Curtius wendet sich gegen den modernen, vita-listischen ‚Irrationalismus‘, der „nicht der mystischen Vision, sondern derseelischen Barbarei“ den Weg bahne.19 Diese Oppositionsstellung gegen-über der Lebensphilosophie akzentuiert später auch Helmuth Plessner inseinem 1935 erschienenen Buch Das Schicksal des deutschen Geistes im Aus-gang seiner bürgerlichen Epoche, in dem er die Philosophie der Gegenwartvor die Entscheidung gestellt sieht, entweder „den Menschen durch die voll-kommene Entschränkung seines ihm zugefallenen Lebenshorizontes aufsich selber, d. h. auf sein Freiseinmüssen zurückzuwerfen“ oder aber sichvon dieser Freiheit abzukehren und den Geist „der erleuchtenden Machtdes Blutes“ und des „vorgeschichtlichen Lebens“ zu opfern.20

Ähnlichkeiten zwischen Mannheim, Jaspers und Curtius bestehen aberauch bei den jeweiligen Lösungsansätzen. Orientierung im „endlose[n]Wirbel“21 lässt sich nach Überzeugung der drei Autoren nur dann gewin-nen, wenn es gelingt, das menschliche Bewusstsein an einem Punkt zu ver-ankern, der von der allgemeinen Relativierung des Wissens und derNormen nicht betroffen ist. Für Mannheim gewährleistet dies das wissens-soziologische Verfahren, das von einem privilegierten und wertfreien Beob-achterstandpunkt aus alle Ideologien in Bezug auf ihre Standortgebunden-heit durchschaut und relativiert. Die Wissenssoziologie erscheint hierbeiselbst als eine wissenschaftlich-sachliche „Transformation der Utopie“ undals „einziges Mittel, die Gegenwart zu beherrschen“.22 Für den Soziologenist sie daher wissenschaftliches Programm und auf Krisenbewältigung zie-lende ethische Forderung gleichermaßen.23 Obwohl Jaspers die soziologi-sche Betrachtungsweise als unphilosophisch ablehnt, verfolgt er mit seinerPhilosophie der ‚Existenzerhellung‘ eine ähnliche Strategie der Krisenbewäl-tigung. Denn er konzipiert diese ebenfalls als eine Denktechnik und ethi-

17 Ebd., S. 249 f.18 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 144. Vgl. auch ebd., S. 139–143. Jaspers bezeich-

net Marxismus, Psychoanalyse und Rassentheorie als die „verbreitetsten Verschleierungendes Menschen“ (S. 142). Spenglers Kulturmorphologie bezeichnet er als „naturalistischeGeschichtsphilosophie“ (S. 13).

19 Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 20. Vgl. auch ebd., S. 44 und 101. Curtius wendetsich sowohl gegen die Bildungskritik der extremen Linken als auch gegen die „Ungeistigkeitder Nationalrevolutionäre“ (S. 46) und die „Geistfeindschaft“ der Nationalsozialisten(S. 50).

20 Helmuth Plessner, Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epo-che, Zürich/Leipzig 1935, S. 178 f. (In der zweiten, erweiterten Auflage von 1959 erhielt dasBuch dann den TitelDie verspätete Nation.)

21 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 14.22 Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 243.23 Vgl. hierzu auch Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie, S. 522 f.

16 Die „Krise des Menschen“

sche Haltung, die es dem einzelnen ermöglichen soll, im Bewusstsein derRelativität aller Wissensperspektiven und Normen handlungsfähig zu blei-ben und der Situation „Herr zu werden“.24 Orientierung wird auch für ihnerst durch eine von einem exterritorialen Standpunkt aus erfolgende refle-xive Wendung auf die Bewusstseins- und Denkprozesse möglich. Allerdingsdenkt Jaspers hierbei, anders als Mannheim, nicht an eine Relationierungvon kollektiven Ideologien mit dem ökonomischen und sozialen Sein, son-dern an das jeweils nur vom einzelnen zu erfassende „Dasein des Menschenals Bewußtsein“.25 Der noch der Tradition romantischer Kulturkritik ver-haftete Curtius vertritt dagegen die Auffassung, dass ein „neues tragfähigesGeistes- und Kulturgefüge“ nur durch eine Revitalisierung des Humanis-mus sowie eine Verschmelzung von humanistischer und nationaler Idee zugewinnen sei.26 Kulturelle Erneuerung wird in seinen Augen von keinerwissenschaftlichen, schon gar keiner soziologische Methode herbeigeführt,sondern vollzieht sich als eine durch unmittelbares Erleben der Antike unddes christlichen Mittelalters provozierte „Selbstbegegnung […,] Selbstver-sicherung und Selbstfindung“ des abendländischen Menschen.27 Curtius’Argumentation ähnelt hierin der Jaspers’, der die Bewältigung der Kriseebenfalls allein auf dem Weg einer Bewusstmachung des ‚Daseins‘ und der‚Geschichtlichkeit‘ des Menschen sucht und die sozialen und politischenDaseinsbedingungen radikal ausblendet.28 Dieser unterscheidet sich jedochdarin von Curtius, dass er die „geschichtliche Einsenkung“ nicht mittels

24 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 19. Vgl. a. ebd., S. 22 f.25 Ebd., S. 19.26 Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 29. Vgl. auch ebd., S. 30. – Curtius verwendet in die-

sem Zusammenhang die organologischen Metaphern der Kulturmorphologie und Kultur-zyklentheorie, etwa wenn er dem Konzept des Bruchs das des Gestaltwandels entgegensetztund von einer „Biologie der Kultur“ (S. 27) und „Biologie der Tradition“ (S. 114) spricht, inder Niedergang und Erneuerung miteinander verbunden seien. Siehe hierzu auch HansManfred Bock, Die Politik des „Unpolitischen“. Zu Ernst Robert Curtius’ Ort im politisch-intellektuellen Leben der Weimarer Republik, in: Lendemains 59 (1990), S. 16–62, derCurtius’ Kulturkritik als „lebensphilosophisch überformte Variante der deutschen Geistes-wissenschaft“ charakterisiert (S. 27).

27 Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 113. Eine solche Selbstbegegnung bezeichnet Curtiusals „geradezu […] spiritualistisches Ritual für unsere abendländische Menschheit“ (ebd.).Die Erneuerung des Humanismus komme nicht „aus akademischen Diskussionen“ oder „pä-dagogischen Programmen“, sondern allein „aus stärkster Verdichtung und schöpferischerIntensität des Lebens“ (S. 115; Hervorhebung im Text). – Zur antihistorischen Ausrichtungvon Curtius’ Kulturkritik und seiner geistesgeschichtlichen Methode siehe Hans UlrichGumbrecht, „Zeitlosigkeit, die durchscheint die Zeit“. Über E. R. Curtius’ unhistorischesVerhältnis zur Geschichte, in: Walter Berschin/Arnold Rothe (Hg.), Ernst Robert Curtius.Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven. Heidelberger Symposion zum hundertsten Geburts-tag 1986, Heidelberg 1989, S. 227–241, bes. S. 229.

28 Zur „merkwürdigen Abgehobenheit“ von Jaspers’ Reflexion der Krisensituation um 1930vgl. auch Helmut Fahrenbach, Zeitanalyse, Politik und Philosophie der Vernunft im Werkvon Karl Jaspers, in: Dietrich Harth (Hg.), Karl Jaspers. Denken zwischen Wissenschaft,Politik und Philosophie, Stuttgart 1989, S. 139–185, hier S. 145.

Philosophische Krisendiagnosen um 1930 17

Vergegenwärtigung vergangener Kultur erreichen will, sondern auf demWeg einer spirituellen Versenkung in die gegenwärtige Situation, etwa der„Konzentration in beruflicher Arbeit“ oder der „Ausschließlichkeit in dererotischen Liebe“,29 – in einer existentiellen Haltung, über die Jaspers ehe-maliger Schüler Dolf Sternberger Mitte der dreißiger Jahre kritisch bemerk-te, sie mute so „weltlos, naturlos und geschichtslos“ an, dass man sich fragenmüsse, ob ein solches Wesen „überhaupt der Erfahrungen noch fähig“ sei,„zu welchen es aufgefordert“ werde.30

Hält man die drei im Abstand von vier Jahren entstandenen Krisen-schriften nebeneinander, so lässt sich außer den Parallelen eine signifikanteDivergenz in der Argumentation erkennen. Obwohl Mannheim am Endevon Ideologie und Utopie vor den Gefahren einer ‚statischen Sachlichkeit‘warnt, ist sein 1929 erschienenes Buch, das von der ‚freischwebenden Intel-ligenz‘ die Selbstreflexion und Selbstregulierung der modernen Gesellschafterwartet, noch deutlich spürbar vom neusachlichen Optimismus der Stabi-lisierungsphase geprägt. Für Jaspers und Curtius aber gehört dieser bereitszu den Krisensymptomen einer eben zu Ende gehenden Epoche. Jaspers kri-tisiert in seiner populären Krisenschrift, die 1931 als Band 100 in derSammlung Göschen herauskam, die Verabsolutierung des Sachlichkeits-prinzips in der ‚neuen Sachlichkeit‘ als „Maske“.31 Und Curtius greift dieseFormulierung in seinem 1932, also schon zur Zeit der autoritären Wende,publizierten Buch auf, wenn er Mannheims Sachlichkeitspostulat und allen‚Soziologismus‘ in polemischer Weise als „Maske eines geistigen Nihilis-mus“ charakterisiert.32 Ganz unabhängig davon, ob eine solche Charakteri-sierung Mannheim gerecht wird, indizieren diese Äußerungen ein am Endeder Weimarer Republik verbreitetes Misstrauen gegenüber dem soziologi-schen Denken, das in den Augen seiner Kritiker auf einem rationalistischverkürzten Menschenbild basierte. Weder von der Geschichtsphilosophienoch von der Naturwissenschaft oder der Soziologie wird hier eine Lösung

29 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 170.30 Dolf Sternberger, Erstarrte Unruhe (1935), in: ders., Gang zwischen Meistern (= Dolf Stern-

berger, Schriften, Bd. VIII), Frankfurt a.M. 1987, S. 111–113, hier S. 113. Es handelt sichbei diesem Text um eine Rezension von Jaspers’ 1935 erschienenem Vortragsband Existenzund Vernunft, die zuerst am 29. September 1935 in der Frankfurter Zeitung erschien.

31 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 150.32 Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 44. Vgl. auch ebd., S. 95. Gleich im Vorwort stellt

Curtius apodiktisch fest: „Die geistigen und künstlerischen Moden dieses Jahrzehnts –Expressionismus und Jazz, Schwarmgeisterei und neue Sachlichkeit – sind schon längst ver-welkt und verdorrt“ (S. 9). Zur konträren Stellung von Curtius’ humanistischer und Mann-heims wissenssoziologischer Aufgabenbestimmung der Sozial- und Geisteswissenschaftenund zur weitverzweigten Geschichte der Auseinandersetzung zwischen beiden Wissenschaft-lern siehe Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft,München/Wien 1985, S. 377–401; und Dirk Hoeges, Kontroverse am Abgrund: ErnstRobert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und „freischwebende Intelligenz“ in derWeimarer Republik, Frankfurt a.M. 1994.

18 Die „Krise des Menschen“

der Wissens- und Kulturkrise erwartet, sondern allein von einer Bindung andas aus einzelnen wissenschaftlichen Perspektiven nicht erfassbare ‚Sein‘. Soschreibt Jaspers:

Die Erkenntnisse des Menschseins, welche in partikularen Richtungen festzuhaltensind, wurden als Soziologie, Psychologie, Anthropologie die typisch modernenWissenschaften, die, wenn sie verabsolutierend das Sein des Menschen im ganzenzu erkennen meinen, als hoffnungsloser Ersatz der Philosophie zu verwerfen sind.Erst aus dem Umschlag entspringt die Philosophie, welche als gegenwärtige Exis-tenzphilosophie heißt. […] Die Existenzphilosophie ist die Philosophie desMenschseins, welche wieder über das Menschsein hinauskommt.33

Statt der Soziologie wird um 1930 für viele Intellektuelle die ‚Philosophiedes Menschseins‘ in ihren unterschiedlichen Varianten als Existenzphiloso-phie, Daseinsontologie oder Philosophische Anthropologie maßgeblich.Dies zeigt sich gerade am Beispiel von Curtius, der Jaspers nicht nur für des-sen Kritik an der Soziologie lobt, sondern sich auch darum bemüht, seineneigenen geistesgeschichtlichen Humanismus als ein Parallelunternehmen zudessen Existenzphilosophie vorzustellen, wenn er konstatiert: „wir stehen ineiner großen geistigen Gesamtbewegung, die von den verschiedenstenAnsatzpunkten demselben Ziel zustrebt: der Wesensbestimmung des Men-schen.“34 Gleichzeitig interpretiert er diese neue ‚Gesamtbewegung‘ aufGrundlage seiner geistesgeschichtlichen Methode als Ausdruck des wieder-belebten ‚deutschen Geistes‘:

[I]n Deutschland, und nur in Deutschland, wird heute eine neue Erkenntnis desMenschen erarbeitet. Die Frage aller Fragen, die Frage nach der Stellung des Men-schen im Kosmos, ist der gemeinsame Beziehungspunkt aller tieferen philosophi-schen Besinnung geworden. Eine neue Lehre vomMenschen – eine philosophischeAnthropologie – war das Ziel, dem die Forschungen unseres größten Denkers seitNietzsche galten – das Ziel Max Schelers. Eine neue Lehre vom Sein – eine philoso-phische Ontologie – ist das Ziel Martin Heideggers.35

Aussagen, die in dieser Weise eine wissenschaftliche und kulturelle Epo-chenwende in Deutschland beschwören, lassen sich in der Publizistik vomBeginn der dreißiger Jahre vielfach finden. Dabei mag es aus philosophie-geschichtlicher Sicht irritieren, dass unter dieser ‚Gesamtbewegung‘ sowohldie Philosophische Anthropologie Schelers als auch die antianthropologi-sche Existenzphilosophie von Jaspers und Heidegger subsumiert werden.Wenn man die damaligen Krisenschriften überblickt, wird jedoch deutlich,dass diese verschiedenen Theorien und Schulen am Anfang der dreißigerJahre als strukturell verwandt wahrgenommen wurden. Der Zusammen-hang wurde darin gesehen, dass sie alle den Menschen weder naturalistisch

33 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 134.34 Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 69.35 Ebd., S. 28. Curtius beschreibt diese Ansätze als Ausdruck eines metaphysischen Irrationalis-

mus, den er dem vitalistischen „moderne[n] Irrationalismus“ positiv gegenüberstellt (S. 44).

Philosophische Krisendiagnosen um 1930 19

noch idealistisch bestimmten, sondern gerade seine Undeterminiertheit alsWesensmerkmal ansahen. Und im Sinne eines radikalen Fragens nach diesereigentümlichen Wesenhaftigkeit des Menschen wurden die antihistoristi-schen und antinaturalistischen Denkansätze auch als anthropologische ver-standen. So konstatierte etwa der Religionssoziologe Joachim Wach 1932,dass das „anthropologische Thema“ unter dem Einfluss von Dilthey, Sche-ler, Klages, Jaspers und Heidegger in den „Mittelpunkt“ der philosophi-schen, theologischen, psychologischen und geisteswissenschaftlichen Dis-kussion gerückt sei, und verwies in diesem Zusammenhang auf die neueDisziplin der „philosophische[n] Anthropologie“, welcher „Charakterologieund Psychologie, sowie Psychopathologie sekundieren“.36

Die Krisenpublizistik dieser Zeit deutete solche Beobachtungen kultur-philosophisch und weltanschaulich aus. Viele Autoren interpretierten dasAufkommen philosophisch-anthropologischer und existenzphilosophischerDenkmodelle als Zeichen einer epochalen Veränderung, die in ihren Augennichts weniger bedeutete als eine Abkehr vom epistemischen Anthropozen-trismus der Neuzeit. Dies zeigt etwa ein Wissenschaft und Weltanschauungüberschriebener Artikel, in dem der Publizist Ludwig Steinecke 1931 in derLiterarischen Welt den Stand der philosophischen Reflexionen zur Wissen-schaftskrise zusammenfasst. Angesichts zahlreicher den modernen Fort-schritts- und Erkenntnisglauben in Frage stellender Forschungsarbeitenkommt Steinecke darin zu dem Schluss, die viel beschworene „Krise derKultur“ sei nur das „Symptom einer viel fundamentaleren“ Krise, nämlich„einer Krise des Menschen selbst“:37

Der Mensch ist, nach zehntausendjähriger Geschichte zum erstenmal, sich selberzum Rätsel geworden, er weiß nicht mehr, was er ist, zugleich aber weiß er auch,daß er es nicht weiß. […] Und so versucht er, wieder zu grundlegenden Einsichtenzu gelangen, indem er von allen überlieferten Kategorien sich befreit und »inäußerster methodischer Entfremdung und Verwunderung« auf das Menschgenannte Wesen blicken lernt und, nach Schelers und Heideggers Konzept, eineReduktion der Philosophie auf eine »philosophische Anthropologie« vollzieht, aufeine Lehre vomWesen und der Seinsverfassung des Menschen.38

Ganz ähnlich argumentiert Jaspers, der am Anfang seiner Krisenschrift kon-statiert, dass der „Stolz heutigen universellen Begreifens“ gebrochen sei, unddann daran erinnert, dass die 6000 Jahre währende abendländischeGeschichte nur einen „winzigen Zeitraum“ der Menschheitsgeschichte ein-nehme.39 Man könne sogar fragen, „ob nicht die ganze Menschheits-

36 Joachim Wach, Typen religiöser Anthropologie. Ein Vergleich der Lehre vom Menschen imreligionsphilosophischen Denken von Orient und Okzident, Tübingen 1932 (= Philosophieund Geschichte, Bd. 40), S. 38.

37 Ludwig Steinecke, Wissenschaft und Weltanschauung, in: Die literarische Welt 7 (1931), H.2, 15. Mai 1931, S. 1 f., hier S. 1. Zu Steineckes Artikel siehe auch Kap. II, 2.

38 Ebd.39 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 6 und 17.

20 Die „Krise des Menschen“

geschichte nur eine vorübergehende Episode der Erdgeschichte“ sei.40 DieKonsequenz aus der menschheits- und erdgeschichtlichen Relativierung derabendländischen Rationalität und der Einsicht, dass der menschliche Ver-stand nicht der Quell der Welterkenntnis ist, liegt für Jaspers darin, denMenschen neu zu denken – und zwar als grundsätzlich unbestimmbaresWesen.41 Es gehe darum, sich von den Wissenschaften zu befreien und„den Menschen selbst“, das heißt sein der menschlichen Erfahrung einzigzugängliches Dasein als Bewusstsein, ins Auge zu nehmen.42 Und entspre-chend seiner Überzeugung, dass man gegenwärtig „in einer Bewegung“ ste-he, „die als Veränderung des Wissens eine Veränderung des Daseinserzeugt“,43 verwandelt Jaspers diese Feststellung am Ende seines Buches ineinen pathetischen Appell: Die Aufgabe bestehe darin, „den Menschen ansich selbst zu erinnern“.44

2. Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio.Entwürfe einer neuen „Philosophie des Menschseins“ um 1930

In der schlaglichtartigen Beleuchtung der intellektuellen Debatte um 1930zeigte sich, dass die philosophische Theoriebildung eng mit dem Krisendis-kurs der Zeit verknüpft und offensichtlich am Ziel ausgerichtet war, Lösun-gen für die Kultur- und Wissenskrise zu entwerfen. Daher mag es gerecht-fertigt sein, wenn unterschiedliche philosophische Theorien im folgendennicht in ihrer inneren Systematik dargestellt, sondern in einer symptomati-schen Lektüre auf Ähnlichkeiten und Abweichungen in ihren Krisenkon-zeptionen hin untersucht werden. Bei einer solchen Betrachtungsweise wer-den Parallelen zwischen der Philosophischen Anthropologie Schelers undPlessners, Jaspers’ Philosophie der Existenzerhellung und Heideggers exis-tenzialer Daseinsanalyse erkennbar, die es erlauben, sie trotz ihrer theoreti-schen Differenzen als strukturell ähnliche Ansätze zur Lösung der Kultur-und Wissenskrise zu behandeln.45 Im folgenden werden die Aussagen, die

40 Ebd., S. 182 f.41 Vgl. ebd., S. 146: „Existenzphilosophie würde sogleich verloren sein, wenn sie wieder zu wis-

sen glaubt, was der Mensch ist.“42 Ebd., S. 144.43 Ebd., S. 6.44 Ebd., S. 191.45 Vgl. Joachim Fischer, „Exzentrische Positionalität“. Plessners Grundkategorie der Philoso-

phischen Anthropologie, in: Thomas Keller/Wolfgang Eßbach (Hg.), Leben und Geschichte.Anthropologische und ethnologische Diskurse der Zwischenkriegszeit, München 2006,S. 233–263, der darauf hinweist, dass Philosophische Anthropologie und Existenzphiloso-phie „durch ihre gemeinsame Frontstellung gegen Idealismus und Naturalismus“ und durchdie Verwendung bestimmter Begriffe wie ‚Gesetztheit‘ und ‚Geworfenheit‘ dicht beieinander

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 21

die Krise in der oben skizzierten Weise als eine Krise des Menschenbeschreiben und sie durch eine Loslösung des Menschen von Geschichte,Natur und Ratio, durch eine Wendung zum ‚Sein‘ oder zur ‚Existenz‘ zuüberwinden hoffen, einer existenzialanthropologischen Denkrichtung zuge-ordnet, die sich sowohl in ihren theoretischen Prämissen und wissenschaftli-chen Referenzen als auch in ihren ethischen und handlungspraktischenImplikationen von der vitalistisch-utopistischen Tendenz in anderen Kri-sendiagnosen dieser Zeit unterscheidet.46

All diese Aussagen stimmen in der wissenschafts- und erkenntniskriti-schen Annahme überein, dass es keine positive, wissenschaftlich objektivier-bare Bestimmung des Menschen geben könne. Sie variieren den Topos vonder ‚Unergründlichkeit des Menschen‘.47 Und indem sie die Sphäre desMenschen als ein nicht ableitbares Sein fassen, negieren sie alle Theorien,die diesen als einseitig – sei es metaphysisch, rational, geschichtlich odernaturhaft – determiniertes Wesen erklären. Sie alle wollen – so konstatierteHelmuth Plessner bereits 1935 mit Blick auf die unterschiedlichen Ansätzevon Existenzialontologie, Ontologie und Existenzerhellung – „den Men-schen als endliches Wesen unter anderen endlichen Wesen in einer Weltbegreifen, offen gegen unendliche Möglichkeiten,“ und verzichten dabei aufdie „ursprünglich religiös, dann metaphysisch verstandenen Anweisungenauf etwas, das den Erfahrungsbereich übersteigt oder umgreift“.48 Dabeibemühen sich alle hier behandelten Autoren um eine konzeptionelle ‚Ent-zeitlichung‘ des Menschen und operieren mit Denkfiguren wie ‚Konstella-tion‘, ‚Exzentrizität‘, ‚Existenz‘ oder ‚Situation‘. Ihr Umgang mit der Kul-

liegen, sich in der jeweiligen Ordnung des Verhältnisses von Körper und Leib aber grund-sätzlich unterscheiden: „Jedenfalls bedeutet Existentialität kategorial: erst Leib, dann Körperals sekundäres Distanzphänomen. Umgekehrt ordnet die Kategorie »exzentrische Positionali-tät« als Leitkategorie der Philosophischen Anthropologie: erst Körper, dann Leib“ (S. 260).

46 Die hier vorgeschlagene Differenzierung zwischen einer existenzialanthropologischen undeiner vitalistisch-utopistischen Denkrichtung ermöglicht m. E. eine genauere Beschreibungder intellektuellen Konstellation am Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre alsdas von Martin Lindner entwickelte Modell einer von der Jahrhundertwende bis in die drei-ßiger Jahre dominierenden ‚lebensideologischen‘ Mentalität, in dem Soziologie, Existenzphi-losophie und Philosophische Anthropologie nur als „Verkleidung[en]“ der ‚lebensideologi-schen Geschichtsphilosophie‘ und als „systemimmanente Paradigmenwechsel“ gelten; vgl.Lindner, Leben in der Krise, S. 56 und 145.

47 Zum Topos von der Unabgeschlossenheit und Offenheit des Menschen in der Krisenphiloso-phie dieser Zeit vgl. Helmut Fahrenbach, „Lebensphilosophische“ oder „existenzphilosophi-sche“ Anthropologie? Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, in: Dilthey-Jahrbuch fürPhilosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 7 (1990/91), S. 71–111, hier S. 103:„Der Topos vomMenschen als einer an und für sich und für die Philosophie »offenen Frage«zieht jedenfalls über die unterschiedlichen Konzeptionen und Kontexte hinweg eine sachlichbedeutsame Verbindung zwischen Plessner und Heidegger, Jaspers, Sartre und übrigens auchBloch.“

48 Plessner, Das Schicksal des deutschen Geistes am Ausgang seiner bürgerlichen Epoche,S. 177.

22 Die „Krise des Menschen“

tur- und Wissenskrise unterscheidet sich dadurch sowohl von konservativenals auch von revolutionären wie auch von liberalen Krisenlösungsstrategiendieser Zeit. Denn mit dem Postulat der wesenhaften ‚Unbestimmtheit‘ und‚Offenheit‘ des Menschen wird die „radikale Entsicherung des Menschengegenüber allen vermeintlichen objektiven Sicherungsinstanzen metaphysi-scher, naturalistischer oder normativer Art“,49 wird der ‚Nihilismus‘ derModerne als gegeben anerkannt und gleichzeitig versucht, davon ausgehendeine neue, diesen Zustand überwindende Konzeption der menschlichenExistenz zu entwickeln. Man könnte auch sagen: Es wird ein Modell desMenschen für eine kommende, nicht-mehr-anthropozentrische – oder‚posthistorische‘50 – Phase der Moderne entworfen.

Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird sich zeigen, dass die exis-tenzialanthropologische Denkrichtung, die etwa Jaspers Schrift über Diegeistige Situation der Zeit kennzeichnet, in den dreißiger Jahren für diejeni-gen, vor allem jüngeren Intellektuellen und Schriftsteller attraktiv war, dieweder im positivistischen Szientifizismus noch in der metaphysisch undgeschichtsphilosophisch ausgerichteten Lebensphilosophie eine tragfähigeOrientierung in der Kultur- und Wissenskrise erblickten.51 Dabei kann dieBegrenztheit und innere Paradoxie dieses Orientierungsversuchs nicht über-sehen werden. Denn letztlich mündet die Abkehr von Geschichte, Naturund Ratio in die Konzeption einer Art nicht-rationaler Reflexivität oder„formalisierter Mystik“, die Sternberger schon 1935 rückblickend fragenließ, ob die intendierte „Absage an allen »Irrationalismus«“ auf diese Weiseüberhaupt „gelingen konnte“.52

Die vorgeschlagene Unterscheidung krisenphilosophischer Diskurs-typen bringt es mit sich, dass die Philosophische Anthropologie hier ineinem anderen Licht erscheint als in Helmut Lethens wegweisender Studieüber die Verhaltenslehren der Kälte, die sich hauptsächlich mit den anthro-pologischen Krisenbewältigungsversuchen der zwanziger Jahre beschäftigt.Lethen, dessen Untersuchung durch Plessners frühe Schrift Grenzen derGemeinschaft (1924) inspiriert ist, akzentuiert vor allem die antivitalistischeTendenz der Philosophischen Anthropologie und interpretiert sie in diesemSinne als zivilisationsfreundliche Anthropologie des ‚neusachlichen Jahr-zehnts‘ bzw. als philosophische Begründung des „neusachlichen Menschen-

49 Fahrenbach, „Lebensphilosophische“ oder „existenzphilosophische“Anthropologie?, S. 105.50 Die frühe Formulierung einer Theorie des Posthistoire durch Hendrik de Man steht in

engem Zusammenhang mit der Krise des naturwissenschaftlichen Weltbildes und rekurriertauf die in dieser Zeit virulenten Vorstellungen von Endlichkeit und Indetermination. Vgl.hierzu Kap. I, 7.

51 Zu den verschiedenen Varianten lebensphilosophischen Denkens siehe Herbert Schnädel-bach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a.M. 1983, S. 183–196.

52 Sternberger, Errstarrte Unruhe, S. 112. Sternberger bezog sich dabei auf Jaspers.

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 23

bildes“.53 Wenn man allerdings von den am Ende der zwanziger Jahreveröffentlichten theoretischen Grundtexten der Philosophischen Anthro-pologie ausgeht und sie mit den in dieser Zeit kursierenden Krisendiagnosenkontextualisiert, wird die doppelte Abgrenzung gegenüber den auf Vitalisie-rung und gegenüber den auf Rationalisierung zielenden Krisenphilosophiender zwanziger Jahre als charakteristischer Zug dieser Philosophie erkennbar.Und wenn man den Spuren ihrer Rezeption in den dreißiger und vierzigerJahren innerhalb Deutschlands nachgeht, dann zeigt sich, dass die Philoso-phische Anthropologie in dieser Zeit die Funktion erhält, gerade die Über-windung des ‚neusachlichen Menschenbildes‘ theoretisch zu begründen.

2. a) Ausschaltung von Zeit und Natur. Die Bewusstseinstechnikder Wissenssoziologie

Bevor die Denkmodelle in den Blick genommen werden, die in den Krisen-diagnosen um 1930 unter der neuen ‚Philosophie des Menschseins‘ sub-sumiert wurden, soll kurz auf den zeitlich früheren wissenssoziologischenBeitrag zur Krisenbewältigung eingegangen werden, den in der Mitte derzwanziger Jahre vor allem Max Scheler und Karl Mannheim leisteten. Indiesem Rückblick wird zum einen deutlich, wie stark die Entwicklung vonformalen Beschreibungs- und Erklärungsmodellen des menschlichen Be-wusstseins in der Wissenschaft dieser Zeit von dem Impuls bestimmt war,eine Bewusstseinstechnik zu entwickeln, mit der sowohl der als kulturzer-störerisch angesehene Vitalismus als auch der wissenschaftlich-technischeDynamismus der Moderne kontrolliert und neutralisiert werden kann.Zum anderen lässt sich erkennen, wie der wissenssoziologische Versucheiner konzeptionellen Enthistorisierung und Entnaturalisierung Scheler zurErkenntnis von der Notwendigkeit einer neuen Anthropologie führte.

Der Zusammenhang von Enthistorisierung und Formalisierung tritt inden methodischen Grundlegungen der Wissenssoziologie bei Scheler undMannheim klar zutage. Scheler definiert die Wissenssoziologie als Teildis-ziplin der Kultursoziologie, die sich speziell mit den „Bewegungsformen derWissensarten“ befasse und diese ausschließlich im Hinblick auf ihre Deter-miniertheit durch die zwischen den Menschen bestehenden „Verbindungs-und Beziehungsformen“, in ihrer Regel- und Gesetzmäßigkeit, zu erklärenversuche.54 Unter Berufung auf Lucien Lévy-Bruhl, der nachgewiesen habe,dass es keine Entwicklung des Geistes in der Geschichte gebe, und auf Wer-

53 Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frank-furt a.M. 1994, S. 97.

54 Max Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, in: ders. (Hg.), Versuche zu einer Sozio-logie des Wissens, München/Leipzig 1924 (= Schriften des Forschungsinstituts für Sozialwis-senschaften in Köln, Bd. 2), S. 1–146, hier S. 23 und 5. (Diese Studie aus dem Jahr 1924

24 Die „Krise des Menschen“

ner Sombart, der gezeigt habe, dass die vorkapitalistische Welt nicht durchökonomische Gesetze bestimmt gewesen sei,55 weist Scheler das idealisti-sche, das naturalistische und auch das positivistische Fortschrittsmodell, dieentweder eine einheitliche Substanz des Geistes oder eine Vererbbarkeiterworbener geistiger Eigenschaften oder eine Akkumulation des Geistesannehmen, als Beschreibungsmuster für kulturelle Veränderungen zurück.Die in den neuen antihistoristischen Geschichtswissenschaften gewonnenenErkenntnisse widerlegen in seinen Augen sowohl die Annahme einer Deter-mination der Realgeschichte durch den Geist – sei sie nun als Stabilität derVernunft (Kant), als Entelechie des Geistes (Hegel) oder als Abfolge zeitli-cher Entwicklungsstufen (Comte) konzipiert – als auch die ‚naturalistische‘Annahme einer Determination des Geistes durch ökonomische, sozialeoder biologische Faktoren. Daher ersetzt Scheler die Begriffe der Entwick-lung und der Determination durch die des ‚Stilwandels‘, der „Entfaltung“und der „Differenzierung“.56 Kulturelle Veränderungen entstünden durch„Verflechtung und Aufnahme der vorhandenen Geistesstrukturen in eineneue Struktur.“57

Die Negierung historisch-kausaler Darstellungs- und Erklärungsmustergeht in der Wissenssoziologie mit einem Austausch von zeitlichen durchräumliche Metaphern einher. Besonders deutlich zeigt sich dies an den bei-den für Mannheim zentralen Begriffen ‚Konstellation‘ und ‚Lage‘. Derursprünglich aus dem Bereich der Astronomie und Astrologie stammendeKonstellationsbegriff stellt für Mannheim insofern eine ideale wissenssozio-logische Kategorie dar, als er „das eigentümliche Zusammensein von Fak-toren in einem gegebenen Zeitpunkte“ bezeichnet.58 Möglich wird dieseÜbertragung, da die Wissenssoziologie mit der Astrologie ungeachtet allerDifferenzen die Überzeugung teilt, „daß das gleichzeitige Beisammenseinverschiedener Faktoren die Ausgestaltung des uns besonders interessieren-den Faktors mitbestimmt“.59 So wie die Astrologie das Schicksal eines Neu-geborenen aus der zum Zeitpunkt der Geburt bestehenden Sternenkonstel-lation ableitet, so versucht die Wissenssoziologie, das Wissen einer Kulturaus der Anordnung der Einzelphänomene auf einer „Oberfläche“ zuerschließen.60 Ziel sei es, so Mannheim, „in einem willkürlich gewähltenQuerschnitte der Gegenwartslage die Standorte gleichsam in ihrem Gleich-

wurde von Scheler später in seine Monographie Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leip-zig 1926, übernommen.)

55 Vgl. ebd., S. 16 und 30.56 Ebd., S. 16 f.57 Ebd., S. 24.58 Karl Mannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens (1925), in: ders., Wissenssozio-

logie. Auswahl aus dem Werk, eingeleitet und hg. von Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied 1964(= Soziologische Texte, Bd. 28), S. 308–387, hier S. 308.

59 Ebd.60 Ebd., S. 309.

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 25

zeitigsein zu fixieren, um damit die letzten Systematisierungsprinzipienherauszuheben“.61

Die Wissenssoziologie bleibt aber nicht bei der formalen Beschreibungvon Funktionszusammenhängen stehen, sondern versucht diese zu trans-zendieren. Und sie kann dies als nicht-historische Wissenschaft nur durchdie Annahme einer Tiefenstruktur tun: die einer Verankerung im ‚Sein‘.Scheler begreift dieses als ein anthropologisches Sein, während Mannheimvom „sozialen Sein“ spricht.62 An diesem Punkt spaltet sich die Wissens-soziologie in zwei Richtungen: in eine, die über Scheler zur PhilosophischenAnthropologie, und in eine andere, die über Mannheim zur Ideologiekritikführt. Transzendierung ist Mannheim zufolge nur dann möglich, wenn dasin seiner Totalität erfasste Denken in „ein Umfassenderes“, in die „unmittel-barste Realität“ – in seinen Augen das „Historisch-Soziale“ – eingeordnetund als „Ausdruck“ bzw. „Funktion“ dieses Seins gedeutet wird.63 Dabeibleibt Mannheim, der die einzelnen ‚Standorte‘ des Wissens als Funktioneneines marxistisch verstandenen ökonomisch-sozialen ‚Unterbaus‘ deutet,noch einer historischen Perspektive verpflichtet.64 Scheler dagegen be-stimmt das Sein als anthropologische Struktur.

Scheler geht in seiner Soziologie von einem grundsätzlichen Dualismusvon Realfaktoren und Geistesfaktoren aus. Während jene die ökonomi-schen und politischen Bewegungen bestimmten, wirkten diese in den Bewe-gungen des Wissens. Die ‚realgeschichtlichen‘ Vorgänge lassen sich ihmzufolge nur mit einer „Ursprungslehre der menschlichen Triebe“ – der vita-len Sexual- und Fortpflanzungs-, Macht- und Nahrungstriebe – begrün-den.65 Die in der Struktur des menschlichen Bewusstseins verankertenkulturell-geistigen Vorgänge dagegen könnten nur durch eine Wesens-bestimmung des Geistes erschlossen werden. Obwohl Scheler jede einseitigeDetermination verneint, geht er doch von einem Verhältnis wechselseitigerBeeinflussung aus, in dem einerseits die realgeschichtlichen Abläufe „dieAuswirkungen der geistigen Potenzen“ „beschränken oder hemmen“ – derAutor verwendet in diesem Zusammenhang das Bild des Schleusen-Öffnensund -Schließens – und andererseits die Realgeschichte durch „die oberstenGeistesstrukturen […] geleitet und gelenkt“ werde.66 Dies erklärt für Sche-ler, warum zwischen der Realgeschichte und den geistigen Hervorbringun-gen einer Epoche offenkundige Strukturgleichheiten bestehen; es zeigt ihm

61 Ebd., S. 327.62 Ebd., S. 320.63 Ebd., S. 318 und 317.64 Vgl. ebd., S. 362 f. Von diesem Standpunkt aus kritisiert Mannheim auch Schelers anthro-

pologischen Ansatz: Mit der „Fundierung der Kultursoziologie durch eine Trieblehre undeine Geisteslehre »des Menschen«“ würde der Zugang zu einer „historischen Anschauung“verbaut (ebd., S. 337).

65 Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, S. 36.66 Ebd., S. 27 f.

26 Die „Krise des Menschen“

aber auch, dass die Analyse der Realfaktoren als Erklärungsmodell für diegeistigen Prozesse unzureichend ist. Die genauere Aufschlüsselung des Ein-flusses der Realgeschichte auf die Wissensentwicklung – und das heißt auch,der Bedeutung der Trieblehre für eine Wesensbestimmung des Geistes –erklärt Scheler in diesem Text zur Aufgabe seiner projektierten ‚Philosophi-schen Anthropologie‘.67

Trotz der skizzierten Differenzen zwischen Scheler und Mannheim undtrotz Mannheims expliziter Kritik an Scheler lässt sich die Abgrenzunggegenüber einer historischen-idealistischen und gegenüber einer naturalisti-schen Determination bei beiden als wesentlicher Impuls der Theoriebil-dung ausmachen. Dass sie damit nicht allein auf innerwissenschaftlicheEntwicklungen, sondern auch auf kulturelle Krisenphänomene reagieren,wird an den lebenspraktischen und normativen Implikationen ihrer Aus-sagen ablesbar. Bei aller Emphase, mit der sie sich zur wissenschaftlichenSachlichkeit bekennen, verstehen sowohl Scheler als auch Mannheim diewissenssoziologische Methode nicht allein als analytisches Instrumentari-um, sondern zugleich auch als gesellschaftliches Therapeutikum: als Mittelzur Lösung des Menschen aus den Zwängen der Geschichte und derNatur.68 Dafür bietet die starke Betonung der Eigengesetzlichkeit des Geis-tes die Grundlage, da hierdurch die Perspektive eröffnet wird, mittels einerBewusstseinstechnik psychisch-triebhafte und realgeschichtliche Prozessesteuern zu können.

Mannheim spricht der Wissenssoziologie eine solche ‚therapeutische‘Funktion vor allem in Ideologie und Utopie zu, das in einer Zeit gesellschaftli-cher Destabilisierung und politischer Radikalisierung erschien. Als Aufgabedes Buches bezeichnet er es, in einer „fraglich gewordene[n] Lebenslage“ zur„Neuorientierung“ beizutragen und für das Denken eine der „Seinslage ent-sprechende Lösung“ zu finden.69 Dieser Optimismus gründet in der Über-zeugung, dass die wissenssoziologische Methode – die Weltdeutungen nichteinfach in ihrem intentionalen Sinn hinnimmt, sondern auf ihre ideologi-sche Funktion hin befragt – erlernbar und als „Denktechnik“ anwendbar seiund als solche einen „grundlegenden, historisch-substantielle[n] Wandel“bewirken könne.70 Damit die wissenssoziologische Verknüpfung vonBewusstseinsstruktur und Seinslage – in der er „geradezu ein Gebot derStunde“ erkennt – zum Mittel der Zeitdiagnostik und Veränderung werdenkann, muss Mannheim jedoch von einem wertfreien zu einem wertenden

67 Vgl. ebd., S. 29.68 Siehe hierzu auch Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie, der von einer „philosophisch-politi-

schen Ausrichtung und missionarischen Botschaft“ der Wissenssoziologie Schelers undMannheims spricht (S. 530).

69 Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 1 f. und 55.70 Ebd., S. 65 und 7.

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 27

Ideologiebegriff wechseln.71 Denn nur so kann er zwischen ‚richtigen‘ und‚falschen‘, das heißt ‚seins-adäquaten‘ und ‚seins-inadäquaten‘ Wissensfor-men unterscheiden.72 Entscheidend ist dabei die Zeitstruktur des jeweiligenBewusstseinszustandes: Als seins-inadäquat gilt ihm der Zustand, in demdas Bewusstsein das Sein entweder überholt oder aber hinter ihm zurück-bleibt, sich also einseitig ‚ideologisch‘ an der Vergangenheit oder ‚utopisch‘an der Zukunft ausrichtet,73 während das seins-adäquate Bewusstsein dieTotalität der Standpunkte und Funktionen des Denkens in ihrer gegenwär-tigen Verflechtung erkennt. Deshalb erscheint die wissenssoziologischeMethode selbst als die einzig der Gegenwart adäquate Bewusstseinsform.

Die zentralen Termini, an denen die Transformation der Wissenssozio-logie zur Denktechnik deutlich wird, lauten „Situationsanalyse“, „Situa-tionsorientierung“ und „Situationssehen“.74 Dieser Situationsbegriff hateinen verheißungsvollen Klang. Bezeichnet er doch die durch die Distanzie-rung von den primären Antrieben erreichte Erkenntnis der Zeitlichkeit derBewusstseinsvorgänge. Im ‚Situationssehen‘ hat sich das Individuum bereitsselbst aus seiner über die unmittelbaren Handlungsantriebe vermitteltenEinbindung in die Situation gelöst und das Sein transzendiert. Der in kon-krete Handlungsintentionen eingebundene Mensch „erwacht“ und erkennt„plötzlich“ die „seinsmäßigen Grundlagen seiner sozialen und geistigenExistenz“.75 Er tritt aus der historischen Zeit heraus und betrachtet sichund seine Zeit nun gewissermaßen von außen.

In der Konzeption der Situationsanalyse als Mittel zur Lösung derDenk- und Lebenskrise weist Mannheims Ideologiekritik eine überra-schende Nähe zu einer anderen therapeutisch orientierten Philosophie auf,die zur selben Zeit – Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre – ent-wickelt wird, sonst aber kaum mit ihr in Zusammenhang gebracht wird:mit Jaspers’ Philosophie der Existenzerhellung und Heideggers existenzialerDaseinsanalyse. Die Parallele besteht darin, dass jeder dieser Entwürfe einerphilosophischen Lebenshaltung die Zeitlichkeit der Bewusstseinsvorgängeals konstituierenden Faktor des natürlichen und historischen Seinszugrunde legt und sich von der Bewusstmachung dieser Zeitlichkeit dieSeins-Transzendierung erhofft. Als philosophisches Grundmodell dieserantihistorischen, lebensweltlichen Wendung in Philosophie und Soziologie

71 Ebd., S. 40.72 Vgl. ebd., S. 49.73 Vgl. ebd., S. 52 ff. Mannheim bezieht diese formale Ideologiekritik explizit auch auf die poli-

tische „Methode der extremen Rechten und Linken“ (ebd., S. 61).74 Ebd., S. 64. „Das Situationssehen ist die natürliche Denktechnik jeder gehobenen Lebens-

erfahrung […]. In der Wissenssoziologie geschieht eigentlich nichts anderes, als daß wir unsauch unsere kritisch gewordene Denklage in Gestalt eines Situationsberichts uns begegnenlassen und die Zusammenhänge von einer auf die Totalität ausgerichteten Intention durch-dringen“ (ebd., S. 64 f.).

75 Ebd., S. 63.

28 Die „Krise des Menschen“

kann Husserls ‚phänomenologische Reduktion‘ angesehen werden, dieebenfalls eine Bewusstseinstechnik beschreibt. Deren Zweck sollte es nachHusserl sein, „eine Ausschaltung der Natur“ herbeizuführen und den Men-schen von den spontan wirkenden sozialen Bindungen wie auch von seinem„animalische[n] Wesen“ zu befreien.76

Scheler knüpft sowohl in seinen wissenssoziologischen Schriften alsauch in seiner Philosophischen Anthropologie direkt an die von Husserlentwickelte Technik philosophischer Wesenserkenntnis an.77 Die modernenEuropäer müssten, so seine Forderung, systematisch eine „Seelentechnik“und „innere Vitaltechnik“ entwickeln, mittels derer die Triebnatur ‚aus-geschaltet‘ werden könne. Er stellt die phänomenologische und wissens-soziologische Transzendierung des Seins dabei in eine in der abendländi-schen Metaphysik und in der asiatischen Philosophie gründende Traditionder „technischen Herstellung der Gemüts- und Geistdispositionen für diephilosophische Wesenserkenntnis“, die durch eine breite „soziale Bedürfnis-richtung“ in der Gegenwart neue Bedeutung gewonnen habe.78 DieseAktualität ergibt sich für Scheler vor allem aus der drohenden Herrschaftdes ‚Technizismus‘, einer mit der realen Technikentwicklung, aber auch mitder machtpolitischen Entwicklung des Staates korrelierenden Form wissen-schaftlich-technischen Denkens. Welche Gefahr der Technizismus in Sche-lers Augen darstellt – und welche Bedeutung er der ihn bekämpfenden See-lentechnik zumisst, – erkennt man erst, wenn man weiß, dass Scheler diedynamische Entwicklung der technischen Rationalität als einen parallelenVorgang zur Befreiung der menschlichen Triebnatur betrachtet und beideEntwicklungen auf der Ebene der Bewusstseinsvorgänge ursächlich mit-einander verknüpft sieht. In beiden Fällen handelt es sich um Bewusstseins-akte, die auf das „Realitätsmoment der Gegenstände“ gerichtet sind undmit den Kategorien von Raum und Zeit operieren; und diese sind Schelerzufolge immer „triebhaft dynamischer Natur“.79 Daher vertritt er auch die

76 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen For-schung. 1. Buch: Allgemeine Einführung in die Phänomenologie (1913), 2., unveränderteAufl., Halle 1922, S. 108 f. Mit der ‚phänomenologischen Reduktion‘ durchbricht das Indi-viduum nach Husserl den Zustand der ‚natürlichen Einstellung‘, in dem die Umwelt mitdem Ich in „mannigfachen Spontaneitäten des Bewußtseins“ verknüpft ist, und kann die ein-zelnen Bewusstseinsvorgänge dann „rein, ihrem Wesen nach“ und als „kontinuierliche Kettevon cogitationes“ erfahren (ebd., S. 50 und 64). Mit dem Begriff des Erlebnisstroms greiftHusserl zwar auf das von Bergson entwickelte lebensphilosophische Konzept des Bewusst-seinsstroms, die ‚durée‘, zurück, sieht die kontinuierliche Kette der Wahrnehmungen nunaber durch die reflexive Wendung des Bewusstseins „von einem Medium der Inaktualität“umgeben (ebd., S. 64). Zu den lebensphilosophischen Implikationen der Phänomenologiesiehe Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, S. 182.

77 Vgl. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928, S. 63 f.; undders., Probleme einer Soziologie des Wissens, S. 111.

78 Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, S. 109, 112 und 110.79 Ebd., S. 112.

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 29

Auffassung, dass die kontemplative „Bewußtseinshaltung“ die Willens- undTriebimpulse durch die „Ausschaltung“ der raum-zeitlichen Logik zu neu-tralisieren vermag.80

Wie bei dem von Mannheim geforderten ‚Situationssehen‘ handelt essich auch bei der von Scheler entworfenen Seelentechnik um ein antidyna-misches, auf Beherrschung der menschlichen Natur gerichtetes Denkmo-dell. Beide Konzepte bewegen sich an der Grenze zwischen wissenschaftli-cher Beschreibung und philosophisch-ethischer Forderung. Dem sich mitscheinbar naturgesetzlicher Dynamik vollziehenden Fortschritt und der mitihm einhergehenden Primitivierung des Menschen in der Masse setzen sieein dezidiert antinaturalistisches, formales Verständnis des menschlichenBewusstseins entgegen, das sie mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissenbegründen. Im Hintergrund steht dabei die Vorstellung, an einem wissen-schaftlichen Grundlagenwandel teilzuhaben, der über kurz oder lang auchkulturell wirksam werden muss. So erwartet Scheler eine „neue‚ metaphysi-sche Epoche‘ des Abendlandes“ und beruft sich dabei auf zwei wissenschaft-liche ‚Entdeckungen‘, die beide die ‚natürliche Weltanschauung‘ in ihrenGrundfesten erschüttert hätten: die Relativitätstheorie in der Physik undder Perspektivismus in der Historie.81 Indem Scheler der neuen, wissens-soziologischen Denkweise gesellschaftliche Relevanz verschaffen und sie alsSeelentechnik funktionalisieren will, erkennt er aber die Notwendigkeitihrer Ergänzung. Damit sie kein ethisches Postulat bleibt, bedarf sie derFundierung in einer eigenen Anthropologie, in einer Theorie, die nun auchdie Relativität der menschlichen Natur aufnimmt und gerade die anti-geschichtlichen und antivitalitstischen Akte des Bewusstseins als Wesens-merkmale des Menschen anerkennt. Dies ist der Ausgangspunkt seiner Phi-losophischen Anthropologie.

2. b) Der ‚exzentrische Mensch‘ der Philosophischen Anthropologie

Dass sich aus der ‚Krisis des Historismus‘ die Notwendigkeit einer neuenAnthropologie ergebe, stellt Scheler schon in einem Ende 1926 in derNeuenRundschau veröffentlichten Artikel mit dem Titel Mensch und Geschichtefest. Die Entwicklung einer Philosophischen Anthropologie bezeichnet erdort als die zentrale, sich „mit einzigartiger Dringlichkeit“ stellende Aufgabeder Zeit. Erst eine Lehre vomWesensaufbau des Menschen könne den aktu-ellenWissenschaften vomMenschen –Medizin, Psychologie, Paläontologie,

80 Ebd.81 Ebd., S. 114. – Die moderne Physik wird vor allem in der Nachkriegszeit zu einer wichtigen

wissenschaftlichen Referenzebene philosophischer Krisendiagnosen. Vgl. dazu Kap. I, 7. ZurVerarbeitung neuerer naturwissenschaftlicher Theorien in den frühen Entwürfen der Phi-losophischen Anthropologie vgl. auch Kap. II, 2.

30 Die „Krise des Menschen“

Ethnologie und Soziologie – ein „letztes Fundament philosophischer Natur“geben.82 Dieser Forderung liegt die Einsicht in den Zusammenhang vonanthropologischen und geschichtsphilosophischen Konzeptionen zugrunde.Weil Scheler davon ausgeht, dass „jede Geschichtslehre […] in einerbestimmten Art von Anthropologie“ – der Utopismus in einer vitalistischen,der Fortschrittsgedanke in einer rationalistischen und der Positivismus ineiner naturalistischen Anthropologie – begründet ist, sieht er die Notwen-digkeit, auch die neuen nicht- und antihistorischen Konzeptionen mensch-lichen Handelns und menschlicher Kultur anthropologisch abzusichern.83

Zwei in engem zeitlichen Abstand erscheinende Werke begründen danndie neue Richtung der Philosophischen Anthropologie: Schelers Die Stel-lung des Menschen im Kosmos (1928) und Helmuth Plessners Die Stufen desOrganischen und der Mensch (1928). Allerdings erzielte Schelers populärerformulierte Schrift – die eigentlich nur eine Vorstudie zu seiner mehrfachangekündigten und dann nicht mehr fertig gestellten ‚Anthropologie‘ seinsollte – eine sehr viel größere Wirkung als das Buch Plessners.84 Geht manvon diesen Texten aus, dann lässt sich der Ansatz der Philosophischen An-thropologie – ähnlich wie der der Wissenssoziologie – als doppelte Abgren-zungsbewegung von einem idealistischen Menschenbild einerseits und voneiner naturalistischen Anthropologie andererseits charakterisieren. IhrHauptanliegen ist es, den Menschen außerhalb des ‚Lebens‘ und außerhalbder Geschichte, sei sie nun evolutionistisch als Menschheitsgeschichte oderidealistisch als Geistesgeschichte gedacht, in einer unabhängigen Seins-sphäre zu verorten. Die Distanzierung von den beiden Hauptrichtungendes Geschichtsdenkens bestimmt Fragestellung und Methodik der Philoso-phischen Anthropologie. Wie lässt sich, so fragt sie, ein Konzept des Men-schen gewinnen, das ihn weder naturgeschichtlich noch idealistisch deter-miniert? Und wie lässt sich die Besonderheit des Geistigen behaupten, ohnedass man die Natürlichkeit des Menschen leugnet? Die PhilosophischeAnthropologie löst dieses Problem, indem sie die anthropologische Grund-annahme des naturalistischen und idealistischen Geschichtsverständnissesaufgibt: den Leib-Seele-Dualismus. Wenn es weder eine apriorische geistigenoch eine apriorische natürliche Potenz gibt, wenn sich die menschlicheGeschichte weder als Geistesgeschichte noch als Naturgeschichte befriedi-gend erklären lässt, dann muss die Wesensbestimmung des Menschen indem spezifischen Zusammenhang von körperlichen und psychischen Gege-

82 Max Scheler, Mensch und Geschichte, in: Die Neue Rundschau 37 (1926), 2. Teilbd.,S. 449–476, hier S. 449.

83 Scheler, Mensch und Geschichte, S. 453.84 So Plessners eigene Einschätzung; vgl. Helmuth Plessner, Vorwort zur zweiten Auflage

(1966), in: ders., Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophi-sche Anthropologie, 3. Aufl., Berlin 1975 (= Sammlung Göschen, Bd. 2200), S. VII-XXIII,hier S. VII.

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 31

benheiten und im Verhältnis des Körpers zur Umwelt gesucht werden. Wiedie Phänomenologie für die Geisteswissenschaften, so bedeutet die Philoso-phische Anthropologie für die Wissenschaften vom Menschen demnacheine Wende von der Historie zur ‚Lebenswelt‘.

Ziel seiner Arbeit sei es, schreibt Plessner am Beginn der Stufen desOrganischen, „die Verbundenheit von Natur und Geist“ zu bestimmen, under macht auch gleich deutlich, dass dies durch historische und empirischeVerfahren nicht möglich ist.85 Der Zusammenhang von „geistig-sittlich-e[r]“ und „natürliche[r] Existenz“ ließe sich nur „auf Grund einer Erfah-rungsstellung“ begreifen, also nur als Zusammenspiel gleichzeitiger Vorgän-ge.86 Bezeichnenderweise greift Plessner bei seiner Wesensbestimmungbevorzugt auf räumliche Metaphern wie ‚Stellung‘, ‚Distanz‘, ‚Grenze‘, ‚Po-sitionalität‘ und ‚Exzentrizität‘ zurück, die den formalen Charakter seinerAnalyse hervorheben und anzeigen, dass seine Wesensbestimmung metho-disch an die Phänomenologie anknüpft. Wenn eine einseitige Determina-tion im Verhältnis von physischen und psychischen Prozessen ausgeschlos-sen werden soll, dann kann das eigentliche, den Menschen vor allenanderen Lebewesen auszeichnende ‚Sein‘ nur auf der Ebene der Bewusst-seinsvorgänge lokalisiert werden. Daher können für Plessner weder dieempirischen Wissenschaften noch der Intuitionismus der Lebensphiloso-phie zu einer Wesensbestimmung beitragen, sondern nur eine Lehre vomphänomenalen Sein, das der empirischen Analyse unzugänglich ist:

Nicht als Körper (wenn mit Körper die von den Naturwissenschaften objektivierteSchicht gemeint ist), nicht als Seele und Bewußtseinsstrom (wenn es sich hier umdas Objekt der Psychologie handeln soll), nicht als das abstrakte Subjekt, für wel-ches die Gesetze der Logik, die Normen der Ethik und Ästhetik gelten, sondern alspsychophysisch indifferente oder neutrale Lebenseinheit existiert der Mensch „anund für sich“.87

In deutlicher Anlehnung an Husserls phänomenologische Reduktion lokali-siert Plessner das Spezifisch-Menschliche in der reflexiven Distanzierungvon der Natur, im Bewusstsein der eigenen Existenz. Dies bezeichnet er mitdem zentralen Terminus der ‚Exzentrizität‘ des Menschen. Im Unterschiedzum Tier, das nur im „Hier-Jetzt“ und „aus seiner Mitte heraus“ lebe, besitzeder Mensch „Distanz zum eigenen Leib“ und könne „Außenfeld, Innenfeldund Bewußtsein“ unterscheiden.88

Der Mensch der Philosophischen Anthropologie ist also weder natür-lich noch geschichtlich bestimmt, sondern durch seine Fähigkeit zur Dis-tanzierung vom eigenen Körper und von seiner Umwelt charakterisiert:

85 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philoso-phische Anthropologie, Berlin/Leipzig 1928, S. 5.

86 Ebd., S. 14 (Hervorhebung im Text).87 Ebd., S. 31 f.88 Ebd., S. 288 f. und 291.

32 Die „Krise des Menschen“

durch seine Distanz zum Leben. Plessner und Scheler beschreiben diesenVorgang als Transzendierung von Zeit und Raum. Der Mensch ist Plessnerzufolge in der Lage, eine „Kluft“ zwischen sich und seine Erlebnisse zu set-zen, und befindet sich dann „diesseits und jenseits der Kluft, gebunden imKörper, gebunden in der Seele und zugleich nirgends, ortlos außer allerBindung in Raum und Zeit“.89 Scheler wiederum schreibt, von allen Lebe-wesen vermöge sich allein der Mensch „empor zu schwingen und von einemZentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt aus Alles, und darunterauch sich selbst, zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen“,90 undverweist in diesem Zusammenhang explizit auf Husserl, der den nämlichenVorgang der Transzendierung – der Ent-Wirklichung und Ent-Zeitlichung –der Welt beschrieben habe.91 Phänomenologisch gesehen sei das Leben zeit-liches Sein, das dem Geist antagonistisch gegenüberstehe: „Die Intentionendes Geistes“, schreibt Scheler, „schneiden sozusagen den Zeitablauf desLebens.“92

Wo Plessner den Begriff der ‚Exzentrizität‘ verwendet, spricht Schelervon ‚Umweltfreiheit‘, ‚Weltoffenheit‘ und „existentielle[r] Entbundenheit“des Menschen und von seiner Überwindung der „Abhängigkeit vom Orga-nischen“.93 Auch er lokalisiert das Wesen des Menschen im Bewusstsein sei-ner selbst und sieht es nicht durch den Leib-Seele-Dualismus bestimmt,sondern durch die besondere ‚Stellung‘ des Menschen innerhalb der organi-schen Natur; eine Stellung, die er als ‚umweltfrei‘, ‚weltoffen‘ und ‚welt-exzentrisch‘ charakterisiert. Mit Blick auf aktuelle Erkenntnisse der Medizinsowie der Verhaltens- und Hirnforschung kommt er zu dem Schluss, dassphysiologische und psychologische Vorgänge ursächlich zusammenhängen,eigentlich nur zwei Betrachtungsweisen eines biologischen Prozesses darstel-len und sich aus diesem Bereich folglich keine Erkenntnisse für das Spezi-fische des Menschen gewinnen lassen. Emotionalität, praktische Intelligenzund körperliches Befinden bildeten einen zusammenhängenden Komplex‚psychophysischen Lebens‘, der sich bei allen Lebewesen nachweisen lasse.Die Differenz, die den Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet,ihn zur ‚Person‘ macht, muss Scheler zufolge daher von „höherer und tief-greifenderer Ordnung“ sein als der Dualismus von „Leib und Seele oderKörper und Seele oder Gehirn und Seele“.94 Diese wesensbestimmendeDifferenz erkennt er im Gegensatz von „Leben und Geist“.95

89 Ebd., S. 291.90 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928, S. 57.91 Vgl. ebd., S. 63.92 Ebd., S. 95.93 Ebd., S. 47.94 Ebd., S. 94 f.95 Ebd., S. 95.

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 33

Die Abkehr von der Denkfigur des Leib-Seele-Dualismus und die Ori-entierung an einer Opposition von Geist und Leben kennzeichnet allerdingsnicht nur die Philosophische Anthropologie. Denn auch die lebensphi-losophische Anthropologie basiert auf der Konzeption eines Geist-Leben-Dualismus.96 Schopenhauer, Freud und Klages, um nur drei einflussreicheVertreter zu nennen, gingen gleichermaßen von der Existenz eines psycho-physischen Komplexes aus und stellten diesem eine antagonistische Geist-Sphäre gegenüber. Klages brachte den daran geknüpften Anspruch einerumfassenden Weltdeutung im Titel seines 1929–32 erschienen Hauptwer-kes Der Geist als Widersacher der Seele auf griffige Weise zum Ausdruck. DerBlick auf die Lebensphilosophie zeigt auch, dass die Wendung zur Anthro-pologie nicht zwangsläufig antigeschichtliches Denken impliziert.97 Viel-mehr fundiert die Vorstellung eines ewigen Widerstreits zwischen trieb-bestimmtem Leben und lebensfeindlichem Geist dort eine bestimmteGeschichtsphilosophie. Und zwar wird der geschichtliche Prozess als Resul-tat dieses Widerstreits begriffen: sei es als zunehmende Degeneration derVitalität unter dem hemmenden Einfluss des Geistes (wie bei Klages) oderals kommende eruptive Befreiung des Lebens aus den Fesseln des Geistesbzw. als zyklische Abfolge vital-determinierter und geist-determinierter Pha-sen (wie bei Spengler). Eine Aufhebung dieser Dynamik ist für die Lebens-philosophie unvorstellbar.

Wie kann aber die Philosophische Anthropologie die Überwindung derGeschichte in Aussicht stellen, wenn sie ebenfalls einen Dualismus vonLeben und Geist annimmt? Sie erreicht dies, indem sie diesen Dualismusanders beschreibt und erklärt. Geist und Leben werden von ihr nicht sub-stantiell gedacht und dementsprechend wird ihr Verhältnis nicht als eindeterminierendes aufgefasst, in dem der Geist entweder als Sublimation see-lisch-körperlicher Antriebe oder als Resultat einer Degeneration natürlicherAnlagen fungiert, sondern als ontologische Differenz.98 Nur die Annahme

96 Scheler verweist selbst auf Strukturanalogien zwischen seiner Denkart und der von LudwigKlages, C.G. Jung, Edgar Dacqué, Leo Frobenius, Hans Prinzhorn, Theodor Lessing undOswald Spengler. Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 101.

97 Siehe hierzu auch die Kritik an Odo Marquard bei Herbert Schnädelbach, Philosophie inDeutschland 1831–1933, Frankfurt a.M. 1983, S. 272 f. Marquard hatte in seiner StudieZur Geschichte des philosophischen Begriffs »Anthropologie« seit dem Ende des achtzehnten Jahr-hunderts (1965) die philosophiegeschichtliche These vertreten, dass die „Wende zurGeschichtsphilosophie […] nur als Abkehr von der Anthropologie“ und die „Wende zurAnthropologie […] nur als Abkehr von der Geschichtsphilosophie“ möglich sei (Odo Mar-quard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs »Anthropologie« seit dem Ende desachtzehnten Jahrhunderts [1965], in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie,Frankfurt a.M. 1973, S. 122–144, hier S. 134).

98 Allerdings lassen sich vor allem bei Scheler die Verbindungen zur Lebensphilosophie nichtübersehen, etwa wenn er den Geist – in struktureller Analogie zu Klages’ Bild vom ‚Widersa-cher der Seele‘, wenn auch mit entgegengesetzter Wertung – als Fähigkeit zur ‚Unterdrü-ckung‘ der „Triebimpulse“ beschreibt (Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 65). – Hel-

34 Die „Krise des Menschen“

unterschiedlicher Wesenssphären stellt sicher, dass keiner der beiden Seitendas Primat zukommt. Alles Geschichtsdenken basiert in der Sicht derPhilosophischen Anthropologie auf einem falschen, nämlich entwedernaturalistischen oder idealistischen Verständnis des Menschen. Für die Phi-losophische Anthropologie selbst hat geschichtliche Entwicklung, als zeit-lich-kausaler Prozess, keine Bedeutung. Was sich an Veränderungen tech-nischer, ökonomischer und machtpolitischer Art beobachten lässt undallgemein als Fortschritt bezeichnet wird, fällt für sie ganz in den Bereichder triebbestimmten Natur, da sie auch die ‚technische Intelligenz‘ als Funk-tion der organischen Natur und nicht als Spezifikum des Menschenansieht.99 Wenn sie die vom Menschen geschaffene Umwelt in den Blicknimmt, spricht sie nicht von der Geschichte, sondern von der Kultur desMenschen. Plessner beschreibt Kultur als den in ihrer „Künstlichkeitwesensentsprechende[n] Ausdruck“ des Menschen und als zweckfreie Sphä-re.100 Das Grundproblem dieser Theorie liegt darin, dass sie die Frage,warum Kultur entsteht, und die ihr vorgelagerte Frage, wie es überhaupt zuder besonderen menschlichen Existenzform kommt, nicht beantwortenkann. Plessner, der verschiedene biologisch-pragmatische Ursprungstheo-rien – wie Kompensation, Sublimation oder Selbststeigerung des Lebens –diskutiert und verwirft, beschränkt sich an diesem Punkt auf die Feststel-lung, dass diese Entstehung eine „ontische Notwendigkeit“ darstelle.101

Und Scheler spricht von einer nur metaphysisch erklärbaren sprunghaftenSteigerung im Bewusstsein des Menschen, die zu seiner Ablösung von derNatur geführt habe.102

mut Fahrenbach hat das Festhalten Schelers am metaphysischen Dualismus von Geist undLeben als entscheidende Differenz zur Theorie Plessners herausgestellt. Während Schelerseine Anthropologie metaphysisch konzipiere und im Grunde eine „neue Begründung deralten Metaphysik“ anstrebe, versuche der in der Tradition des „»nachmetaphysischen«Denkens“ seit dem 19. Jahrhundert stehende Plessner den metaphysischen Dualismus vonGeist und Leben aufzuheben, indem er ihn „als den zur Grundstruktur der menschlichenLebensform gehörigen »Doppelaspekt« von Natur und Geist ausweist und anthropologischverständlich macht“ (Fahrenbach, „Lebensphilosophische“ oder „existenzphilosophische“Anthropologie, S. 74). Daher können nach Fahrenbach auch allein Plessners Stufen des Orga-nischen als systematische Grundlegung der Philosophischen Anthropologie gelten.

99 Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 44–47; und Plessner, Die Stufen desOrganischen und der Mensch, S. 272 ff. Mit dieser Sicht auf den technischen Fortschrittbefinden sich Plessner und Scheler in Einklang mit der Technikphilosophie der späten zwan-ziger Jahre, in der Technik und Ökonomie ebenfalls als Gegenstand der Anthropologie undNaturphilosophie und nicht als historisches Phänomen behandelt werden. Spengler bei-spielsweise betrachtet die Technik als eine dem tierischen Instinktverhalten vergleichbare„Taktik des Lebens“. Vgl. Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einerPhilosophie des Lebens, München 1931, S. 7.

100 Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 316.101 Ebd., S. 321.102 Vgl. Scheler, Mensch und Geschichte, S. 451. – Da die Philosophische Anthropologie den

Menschen als Geistwesen und Naturwesen darstellen will, muss sie naturwissenschaftliche

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 35

Da, wo die Philosophische Anthropologie die Entstehung der Kulturund der spezifisch menschlichen Lebenssphäre erklären will, verfällt sie ineine existentielle11 Rhetorik. Plessner etwa spricht emphatisch von Existenzund Entscheidung,103 und Scheler bezeichnet die „gegenseitige Durchdrin-gung des ursprünglich ohnmächtigen Geistes und des ursprünglich dämo-nischen […] Dranges“ einmal sogar als „Ziel und Ende endlichen Seins undGeschehens“.104 An solchen Stellen wird sichtbar, dass die PhilosophischeAnthropologie – ebenso wie die Wissenssoziologie und die Existenzphi-losophie – die von ihr entwickelte Sichtweise nicht allein als wissenschaft-liche Methode, sondern auch als ein weit über die Wissenschaft hinausrei-chendes Modell aktiver Weltorientierung begreift. Sie zeigt nach demWillen ihrer Erfinder eine noch zu realisierende Möglichkeit der mensch-lichen Existenz auf. Ihr epistemischer Modus schwankt zwischen Wissenund Glauben, Faktizität und Normativität.105 Seine letzte abgeschlosseneArbeit, einen Zeitungsaufsatz, der die Grundgedanken seiner Philosophi-schen Anthropologie noch einmal zusammenfasste, überschrieb Schelerbezeichnenderweise mit dem Titel Philosophische Weltanschauung. Darinwarf er der historistischen Wissenschaft vor, Weltanschauungen nur be-schrieben, selbst aber auf den „Aufbau einer Weltanschauung“ verzichtet zuhaben.106 Die normativen Implikationen der Philosophischen Anthropolo-gie liegen hier offen zutage und verweisen auf ihren geschichtlichen Erfah-rungshintergrund. Sie lassen erkennen, dass die Ablehnung der naturwissen-schaftlichen Erklärungsmuster und das spürbare Bemühen, Entwicklungund Dynamik aus dem neuen Konzept des Menschen und seiner Kulturauszuschließen, nicht allein aus innerwissenschaftlichen Prozessen resultier-ten, sondern gleichermaßen von demWunsch gesteuert waren, in einer Kri-

Erklärungsmodelle auch für den Bereich der Natur ablehnen. Als Ergänzung bedarf sie einerPhilosophie der Natur. Die Philosophische Anthropologie partizipiert daher an der natur-philosophischen Theoriebildung der zwanziger Jahre, die ihren Ausgangspunkt in der Kritikan der Darwinschen Ursprungslehre des Menschen hatte. Beide Autoren greifen in ihrenWerken direkt auf naturphilosophische Konzepte der Biologie und Paläontologie zurück.Plessner bezieht sich stark auf Jakob von Uexküll, Frederik J. Buytendijk und kritisch auchauf Hans Driesch, während Scheler vor allem an Edgar Dacqué und Buytendijk anknüpft.Siehe hierzu auch Kap. II, 2.

103 Vgl. Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie dergeschichtlichen Weltsicht, Berlin 1931, S. 90 und 59.

104 Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 83.105 Zum ambivalenten Status der Philosophischen Anthropologie am Beispiel Gehlens vgl. Tho-

mas Rentsch, Die Macht der Negativität. Kritik und Rekonstruktion philosophischerAnthropologie im Blick auf Gehlen, in: Joachim Fischer/Hans Joas (Hg.), Kunst, Macht undInstitution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultur-soziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M./New York2003, S. 41–57, hier S. 43.

106 Max Scheler, Philosophische Weltanschauung, in: ders., Philosophische Weltanschauung,Bonn 1929, S. 1–14, hier S. 1. (Zuerst erschienen in: Münchner Neueste Nachrichten,5. Mai 1928.)

36 Die „Krise des Menschen“

senzeit stabilisierende ‚Verhaltenslehren‘ zu entwickeln.107 Gerade bei Sche-ler, der sich sehr um eine über Fachkreise hinausreichende Popularisierungseiner Forschungsergebnisse bemühte, sind die gesellschaftlichen und politi-schen Implikationen der Philosophischen Anthropologie unübersehbar.Diese wurden von zeitgenössischen Lesern auch reflektiert. So wies bei-spielsweise Ludwig Steinecke in einer Rezension der Philosophischen Welt-anschauung in der Literarischen Welt darauf hin, dass Scheler sich in seinemEntwurf einer universalen Grundwissenschaft des Menschen implizit amModell der Führung durch eine „geistige Elite“ orientiere, die sich allerdings„von rechten und linken Führermodellen und der Konzeption einer Dikta-tur“ unterscheide und eher als eine „Art ‚Sublimierung‘ der Demokratie“ zuverstehen sei.108

2. c) Die Entdeckung der ‚Existenz‘

Fast gleichzeitig mit der Entstehung der Philosophischen Anthropologieentwickelten Heidegger seine Daseinsontologie und Jaspers seine Philoso-phie der Existenzerhellung, die zwar beide antianthropologisch angelegtwaren, aufgrund ihrer antihistorischen und antipsychologischen Tendenzaber als der Philosophischen Anthropologie verwandte Versuche einer kul-turellen Neuorientierung jenseits von Historismus und Naturalismus ver-standen werden können und von den Zeitgenossen auch so aufgefasst wur-den. So sprach etwa Curtius, wie zu Beginn dieses Kapitels bereits erwähnt,1932 von einer „großen geistigen Gesamtbewegung“, deren gemeinsamesZiel eine „Wesensbestimmung des Menschen“ sei, und wertete in diesemZusammenhang Schelers „neue Lehre vom Menschen“ und Heideggers„neue Lehre vom Sein“ als parallele Unternehmungen.109

Sein und Zeit erschien 1927, ein Jahr vor Schelers und Plessners Grund-legungen der Philosophischen Anthropologie, und erzielte schnell eine überphilosophische Fachkreise hinausreichende Resonanz, welche die auf Sche-lers Die Stellung des Menschen im Kosmos weit übertraf. Plessner hat diesenErfolg rückblickend mit mentalitätsgeschichtlichen und innerwissenschaft-lichen Gründen zu erklären versucht. Zum einen meinte er, dass der „me-thodische Atheismus“ Heideggers, der mit aller tradierten philosophischen

107 Siehe hierzu Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, der die verhaltensrelevanten Aspekte derPhilosophischen Anthropologie insbesondere bei Plessner herausgearbeitet hat. Allerdingsversteht Lethen diese ‚Lehren‘ nicht als Orientierungsmodell für den als antriebslos undexzentrisch verstandenen Menschen, sondern als Technik „zur Kontrolle der gefährlichenTriebnatur“ des Menschen (ebd., S. 74).

108 Ludwig Steinecke, Max Scheler: Philosophische Weltanschauung [Rezension], in: Die litera-rische Welt 6 (1930), Nr. 1, 3. Januar 1930, S. 6.

109 Ernst Robert Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, Berlin/Stuttgart 1932, S. 96 und 28.

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 37

Terminologie brach, und sein Pathos von Existenz und Entscheidung „dievom Krieg erschütterte Generation“ unmittelbarer angesprochen hätten alsder „Theismus“ Schelers mit seinem Festhalten an Normen und Werten.110

Zum anderen machte er geltend, dass die „Entdeckung des Existenzbegriffs“einen „Schlüssel“ zu bieten schien, mit dem die methodischen Probleme derneuen Wissenschaften vom Menschen mit einem Schlag gelöst werdenkonnten: indem er den qualvoll empfundenen Zwiespalt zwischen natur-wissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Methodik durch eine kon-sequente Ontologisierung der Fragestellung überwand.111 Plessner zufolgewurde damit zugleich negativ über das Schicksal der PhilosophischenAnthropologie entschieden.

Tatsächlich konnte die Philosophische Anthropologie nie die intellektu-elle Wirkung entfalten, die die Existenzphilosophie von Beginn an hatte.Trotzdem war sie um 1930 und noch in den dreißiger Jahren durchaus ein-flussreich. Und Plessner hatte mit seiner 1931 veröffentlichten SchriftMacht und menschliche Natur, in der er ihren Denkansatz mit expliziterBezugnahme auf Heidegger zu einer politischen Anthropologie ausbaute,selbst Anteil daran. Indem er in seiner retrospektiven Darstellung – die daseigene Buch von 1931 unerwähnt ließ – vor allem den Konkurrenzcharak-ter beider Ansätze hervorhob, verdeckte er die Gemeinsamkeiten und Ver-bindungen, die trotz Heideggers Kritik an der Anthropologie zwischen bei-den Denkrichtungen bestanden.112

Um diese Gemeinsamkeiten soll es hier vor allem gehen. Sie lassen sichzunächst an der Problemstellung und Zielrichtung festmachen. Heideggerwill, so formuliert er programmatisch gleich zu Beginn, die „Seinsart vonLebendem als solchem“ bestimmen, das heißt nicht durch mechanistische,vitalistische oder metaphysische Theorien, sondern „aus der »Welt« her“erklären.113 Den vorangegangenen Ansätzen zu einer nicht-psychologischenDeutung des Menschen, wie sie die Lebensphilosophie und auch die frühe-ren Arbeiten Schelers bieten, wirft er vor, die Seinsart der Person nicht „po-sitiv ontologisch“ bestimmt zu haben.114 Bei der Suche nach einer anthro-pologischen Wesensbestimmung des Menschen habe man vergessen, nach„dem Sein des ganzen Menschen, den man als leiblich-seelisch-geistige Ein-

110 Plessner, Vorwort zur zweiten Auflage, S. X.111 Ebd., S. VI.112 Zur intensiven und lang anhaltenden Auseinandersetzung Plessners mit Heidegger vgl. Fah-

renbach, »Lebensphilosophische« oder »existenzphilosophische« Anthropologie?, der auchauf systematische Weise sowohl die Differenzen als auch die Parallelen zwischen Plessnersund Heideggers Philosophie herausarbeitet. Strukturelle Berührungen sieht er zum einenzwischen „Lebensreformbestimmung und Daseinsanalyse“ (S. 75), zum anderen zwischenPlessners „Bestimmungen der exzentrischen Positionalität“ und Heideggers „Existenzialana-lysen“ (S. 91).

113 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Erste Hälfte, 2. Aufl., Halle a. d. S. 1929, S. 10 und 22.114 Ebd., S. 48.

38 Die „Krise des Menschen“

heit zu fassen gewohnt ist,“ zu fragen.115 Dieser Vorwurf trifft jedoch aufdie Philosophische Anthropologie nicht mehr zu.116 Denn, wie gesehen,schließen auch Scheler und Plessner eine essentielle Bestimmung desmenschlichen Wesens aus und gelangen schließlich dahin, die Sonderstel-lung des Menschen als ontische Notwendigkeit anzusehen. Heidegger, deran diesem Punkt erst einsetzt und das Problem der Wesensbestimmungganz der Daseinsontologie überantwortet, schließt allerdings einen großenTeil der Probleme, mit denen Scheler und Plessner sich befassen, von vorn-herein aus. Wo die Philosophische Anthropologie sich in ausführlicher Dis-kussion neuerer naturwissenschaftlicher und naturphilosophischer Literaturum eine genaue Differenzierung der allgemein naturhaften und der spezi-fisch menschlichen Sphäre bemüht, um so wenigstens zu einer negativenBestimmung der menschlichen Besonderheit zu kommen, beschränkt Hei-degger seine Fragestellung auf die ontologische Bestimmung des ‚Daseins‘.Die Distanz zum ‚Leben‘ ist dabei schon vorausgesetzt.

Auf der Ebene der phänomenologisch geschulten Beschreibung des geis-tigen Daseins zeigen sich dann wieder deutliche Parallelen zur Philosophi-schen Anthropologie. Ähnlich wie Scheler und Plessner mit ihremVokabularvon ‚Entbundenheit‘, ‚Positionalität‘ und ‚Exzentrizität‘ greift Heidegger inder Beschreibung des Daseins als Existenz auf dieMetaphern des Raum- undZeitbewusstseins zurück, spricht von der konstitutiven Erfahrung des ‚In-der-Welt-seins‘ und der „existenziale[n] Räumlichkeit“.117 Wie der ‚Geist‘der Philosophischen Anthropologie, so ist auch die ‚Existenz‘ keiner empiri-schen, sondern nur einer phänomenologischenAnalyse zugänglich und daherfrei von tradierten Antagonismen wie ‚Innen und Außen‘, ‚Leib und Seele‘oder ‚Geist und Welt‘. Damit ergibt sich für Heidegger aber ein ähnlichesProblem wie für Scheler und Plessner, die eine theoretische Begründung derAntriebs- und Geschichtslosigkeit des Menschen entwickeln, zugleich aberdie Notwendigkeit empfinden, die offensichtlich vorhandenen dynamischenKräfte des Daseins erklären zu müssen. An diesem Punkt verwandelt sich dievon ihnen vorgeschlagene Erkenntnismethode in ein ProgrammderBewusst-seinssteuerung. Eine ähnliche Funktion hat die ‚existenziale Analytik desDaseins‘ bei Heidegger, die ein ontologisches Verständnis der Existenzermöglichen, das heißt die Struktur durchsichtig machen soll, die den Be-wusstseinsformen des ‚alltäglichen‘ Daseins zugrunde liegt.

Heidegger unterscheidet also zwischen verschiedenen Existenzformen,zwischen ‚uneigentlicher‘ und ‚eigentlicher‘ Existenz, mit je eigenem Zeit-

115 Ebd..116 Zu Heideggers ambivalentem Verhältnis zur Philosophischen Anthropologie siehe Assen

Ignatow, Heidegger und die philosophische Anthropologie. Eine Untersuchung über dieanthropologische Dimension des Heideggerschen Denkens, Meisenheim (Glan) 1979(= Monographien zur philosophischen Forschung, Bd. 174).

117 Heidegger, Sein und Zeit, S. 132.

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 39

modus. Kennzeichnend für die uneigentliche Existenz, das „innerweltlicheSeiende“, ist der Zeitmodus der „Alltäglichkeit“ bzw. der „Innerzeitigkeit“,auf dem auch die „Zeitrechnung“ basiert.118 Dieses Dasein überlässt sichdem ‚Man‘, ist im Zeitfluss, imWerden und Vergehen der Eindrücke befan-gen; es ist „zunächst und zumeist von seiner Welt benommen“.119 Dieseralltäglichen und in gewissem Sinn ‚natürlichen‘ Existenzform gegenübererscheint das eigentliche Dasein bei Heidegger eher als eine Möglichkeitund Aufgabe. Um zu ihm zu gelangen, bedarf es der Anstrengung – Heideg-ger spricht von der ‚Entschlossenheit‘ –, die Benommenheit abzuwerfenund sich den phänomenologischen Charakter der Zeit bewusst zu machen.Die existenzial-zeitliche Analyse deckt die die „alltägliche Zeiterfahrung“bedingende „ursprüngliche Zeitlichkeit“ auf und führt das „In-der-Welt-sein“ auf die „ekstatisch-horizontale Einheit der Zeitlichkeit“ zurück.120

Dies geschieht aber nur im Bewusstsein der Endlichkeit. Erst wenn die ein-zelnen Bewusstseinsakte auf den stets präsenten Tod bezogen werden, wer-den sie aus der Zeitreihe gelöst und punktuell zusammengefasst.121

Entsprechend der Verwandlung von Zeit in Zeitlichkeit beschreibt Hei-degger die Rückführung der Geschichte, so wie sie Gegenstand der Historieist, auf ihr Wesen: die Geschichtlichkeit. Die Analyse der Geschichtlichkeitdes Daseins legt die Grundlage frei, auf der Geschichte erst gedacht werdenkann. Sie kommt dabei einer Desillusionierung der Historie gleich. Dennsie führt zu der Erkenntnis, dass das Seiende „nicht »zeitlich« ist, weil es »inder Geschichte steht«, sondern daß es umgekehrt geschichtlich nur existiertund existieren kann, weil es im Grunde seines Seins zeitlich ist.“122 Analogzur Trennung zwischen eigentlichem und uneigentlichem Dasein unter-scheidet Heidegger dann in einem weiteren Schritt zwischen eigentlicherund uneigentlicher Geschichtlichkeit. Uneigentliche Geschichtlichkeitgehöre zur Sphäre der Innerweltlichkeit und sei im Entwicklungsdenkenbefangen: „beladen mit der ihr selbst unkenntlich gewordenen Hinterlas-senschaft der »Vergangenheit«“, sucht sie „das Moderne.“123 Der Zeitmo-dus der eigentlichen Geschichtlichkeit dagegen ist der „vorlaufend-wieder-holende Augenblick“ und die „Entgegenwärtigung des Heute“.124

118 Ebd., S. 332 f.119 Ebd., S. 113.120 Ebd., S. 333 und 366.121 „So wie das Dasein […] ständig, solange es ist, schon sein Noch-nicht ist, so ist es auch schon

immer sein Ende. […] Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald esist“ (ebd., S. 245; Hervorhebung im Text).

122 Ebd., S. 376. Auch die Rückführung der Geschichte auf die Geschichtlichkeit vollzieht sichim Bewusstsein des Todes: „Das eigentliche Sein zum Tode, das heißt die Endlichkeit derZeitlichkeit, ist der verborgene Grund der Geschichtlichkeit des Dasein“ (ebd., S. 386).

123 Ebd., S. 391.124 Ebd. (Hervorhebung im Text). Hieran schließt Heidegger dann erste Überlegungen zu einer

existentiellen Haltung gegenüber der Geschichte an, welche die Geschichte als „»Wieder-

40 Die „Krise des Menschen“

Fünf Jahre nach dem Erscheinen von Sein und Zeit entwarf Jaspers imRahmen seiner dreibändigen Philosophie (1932) mit der ‚Existenzerhellung‘ein der Heideggerschen Existenzialanalytik strukturell eng verwandtesModell der Transzendierung der Geschichte, das zwar nicht die metho-dische und sprachliche Stringenz Heideggers aufwies, dafür aber leichterverständlich war und unmittelbarer auf die zeitgeschichtlichen ErfahrungenBezug nahm. Zentrale Elemente auch dieser Philosophie sind der Gegensatzvon Dasein und Existenz, von Geschichte und Geschichtlichkeit und dieIdee eines ‚Durchbruchs‘ durch die alltägliche Zeiterfahrung zu einerEigentlichkeit jenseits von Ratio und Leben. ‚Existieren‘ bedeutet fürJaspers die „Vertiefung des Augenblicks“ zur „ewigen Gegenwart“.125 Damitmeint er nicht das lebensphilosophische Kontinuum, sondern „erfüllteZeit“, die Vergangenheit und Gegenwart in sich trägt.126 Unübersehbar istder appellative Charakter des Existenz-Konzepts von Jaspers, der selbst aufden erfahrungsgeschichtlichen Hintergrund hinweist, auf dem Existenz-philosophie und Philosophische Anthropologie insgesamt betrachtet wer-den müssen. Die Zeitbezogenheit dieser Theorien wird allerdings auchschon an Metaphorik und Stil der philosophischen Sprache spürbar. BeiHeidegger etwa an den Umschreibungen des Daseins als „Verfall“, „Ab-sturz“ und „Wirbel“ oder an der Verwendung des Wortes ‚Entschlossenheit‘,wodurch die existenziale Analytik des Daseins selbst den Charakter einerexistentiellen Notwendigkeit erhält.127 Bei Jaspers ist die ethische Forde-rung noch viel stärker ausgeprägt, nicht zuletzt durch pathetisch aufgela-dene Schlagwörter wie ‚Grenzsituation‘, ‚Durchbruch‘, ‚Existenzerhellung‘,‚Einsamkeit‘ oder ‚Sprung zur Existenz‘. ‚Existieren‘ erscheint bei Heideggerund Jaspers als ein zugleich gefahrvolles und rettendes Unternehmen. DieErfahrung der Grenzsituation, die mit dem Sprung in die Existenz identischist, beschreibt Jaspers als mystische Entgrenzung und Bewusstseinsspaltung,bei der das Bewusstsein sich aus dem raum-zeitlichen Leben, aus der Welt,löst und zum Beobachter des eigenen Daseins wird:

So erobere ich mein eigenes Sein in der absoluten Einsamkeit, wo ich bei der Frag-würdigkeit des in der Welt Vorkommenden, im Versinken von allem und auchmeines eigenen Daseins, außer der Welt doch noch vor mir so stehe, als wäre icheine sichere Insel im Ozean, von der aus ich ohne Ziel in die Welt blicke wie ineine wogende Atmosphäre, die sich ins Grenzenlose verliert.128

kehr« des Möglichen“ begreift, zugleich aber weiß, „daß die Möglichkeit nur wiederkehrt,wenn die Existenz schicksalhaft-augenblicklich für sie in der entschlossenen Wiederholungoffen ist“ (ebd., S. 391 f.). Diesen Ansatz baut er dann in seiner Freiburger Rektoratsredevon 1933 über Die Selbstbehauptung der deutschen Universität zu einer existentiellen Deutungdes Nationalsozialismus aus.

125 Karl Jaspers, Philosophie, 3 Bde., Berlin 1932, Bd. 2, S. 126.126 Ebd., S. 129.127 Heidegger, Sein und Zeit, S. 178.128 Jaspers, Philosophie, Bd. 2, S. 204 f. (Hervorhebung im Text).

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 41

Neben den mystischen Anklängen fällt an diesem Bild die Parallele zurräumlichen Metaphorik der Philosophischen Anthropologie ins Auge. DieMetaphorisierung der Existenz als Insel in einem wogenden Meer – Jaspersspricht auch von der „einsamen Punktualität des Außerhalbgetreten-seins“129 – ähnelt der Rede von der ‚Positionalität‘ bzw. ‚Sonderstellung‘,die ja ebenfalls die Distanzierung vom raum-zeitlichen Leben veranschauli-chen soll.

Der historische Erfahrungshintergrund wird aber vor allem daran deut-lich, wie Jaspers die Existenzphilosophie als philosophische Verarbeitung desScheiterns vorstellt. Das Konzept der Existenz stellt seine Antwort auf dieKrisenerfahrung dar, die er bereits zwei Jahre zuvor in seiner Schrift überDiegeistige Situation der Zeit als Störung der geschichtlichen Orientierung ana-lysiert hatte. Damals sprach er von einem zeittypischen Ohnmachtgefühl,bei dem sich der Mensch „gefesselt“ sehe „an den Gang der Dinge, die er zulenken für möglich hielt“, und vom „endlose[n] Wirbel“, in den der Menschdurch den Zerfall der geschichtlichen Ideologien geraten sei.130 Die ‚Exis-tenz‘ hebt diese Krise nun nicht in dem Sinne auf, dass sie dem Fortschritts-glauben ein alternatives geschichtsphilosophisches Denkmodell entgegen-stellte, sondern sie versucht der Krisenerfahrung selbst Sinn abzugewinnenbzw. diese zu transzendieren: Erst das Versagen der geschichtlichen Orientie-rung schafft die Voraussetzung für den Eintritt in die Existenz. SämtlicheEreignisse, die in der „immanenten Welt“ als Störung des zeitlichen Daseinsempfunden werden – individuelles Leid, Kampf und Krieg – sind in exis-tenzphilosophischer Sicht „mögliche Erscheinung transzendenten Seins fürdie in Gefahr und Scheitern sich offenbarende Existenz“.131 Umgekehrterscheinen alle „immanenten Utopien“, sei es eine Geschichtsphilosophieoder ein privater Lebensentwurf, als „Verrat an der Existenz“.132

Bildet die Krisenerfahrung einerseits die notwendige Voraussetzung derExistenz, so hat die Existenz andererseits auch praktische Konsequenzen fürdas Verhalten in der Krise. Trotz gelegentlicher Anleihen bei der Mystik willJaspers keine eskapistische Einstellung befördern, sondern eine Haltung inder Welt und zur Welt, bei der die Distanz zum Leben das Handlung lei-tende Grundprinzip ist. Am ehesten lässt sie sich als stets zu erneuerndeDesillusionierung der Lebenszwecke umschreiben, wobei ein gewisser ‚neu-rotischer‘ Grundzug nicht zu übersehen ist: Um zu leben, muss der Menschzwar nach einem „eudämonistischen Idealzustand“ trachten und um seinDasein „kämpfen“, als Existierender desillusioniert er aber zugleich alle zeit-lich-kausalen Zwecke.133 Wie in Mannheims Entwurf der utopielosen, ‚for-

129 Ebd., S. 205.130 Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin/Leipzig 1931, S. 6 und 14.131 Jaspers, Philosophie, Bd. 2., S. 374.132 Ebd., S. 369.133 Ebd., S. 369 und 374.

42 Die „Krise des Menschen“

mal konservativen‘ Haltung schlägt sich die zum Prinzip erhobene Desillu-sionierung bei Jaspers in einem betont sachlichen Verhältnis zu Staat undGesellschaft nieder. Will der Mensch nicht ins „Nichts“ fallen, dann musser in die „Objektivität der Gesellschaft“ treten und am „Leben des Staates“in seinen Institutionen mitwirken. Sein Eintreten vollzieht sich als „Dienst“,der in diesem Fall nicht als äußerer Zwang aufgefasst wird, sondern als exis-tentielle Notwendigkeit.134 Wie Plessner und später Gehlen oder auch Hei-degger in seinen Schriften aus den frühen dreißiger Jahren gelangt Jaspersdamit von der Kritik der Geschichte zu einer existentiellen Begründung derstaatlichen Institutionen, die ihm ihres ‚sachlichen‘ Charakters wegen ambesten geeignet erscheinen, „lenkende Führung“ zu übernehmen.135

2. d) ‚Situation‘ und ‚Entscheidung‘.Politisierung am Ende der Weimarer Republik

Jürgen Habermas hat mit Blick auf die Entwicklung des HeideggerschenWerkes in den dreißiger Jahren von einer „Verweltanschaulichung derTheorie“ gesprochen, die 1929 einsetze.136 Diese Diagnose lässt sich auf diehier untersuchten Ansätze einer neuen ‚Philosophie des Menschseins‘ aus-weiten. Sowohl für die Philosophische Anthropologie als auch für die Exis-tenzphilosophie gilt, dass sie sich Anfang der dreißiger Jahre den Fragennach dem Wesen des Politischen und nach der Legitimation von Staat undStaatsführung zuwenden. Beide Denkrichtungen wollen nun nicht mehrallein bei der individuellen Lebensgestaltung, sondern ebenso auch in gesell-schaftlichen Fragen Orientierung geben. Heidegger beansprucht schon1929 für die seinsphilosophische Wissenschaft eine „begrenzte Führerschaftim Ganzen der menschlichen Existenz“137 und fordert nach 1933 von die-ser Position aus, dass das deutsche Volk aus der abendländischen Geschichteheraustreten und sich in den „ursprünglichen Bereich des Seins“ hineinstel-len müsse, um so seinem „geschichtliche[n] Dasein“ eine „Bodenständig-keit“ zurückzugewinnen.138

Den erfahrungsgeschichtlichen Hintergrund dieser Aufgabenbestim-mung bilden die ökonomische und politische Krise um 1930 und die all-gemeine Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden Umbruchs. Die

134 Ebd., S. 375 f.135 Ebd., S. 380.136 Jürgen Habermas, Heidegger – Werk und Weltanschauung, in: Victor Farías, Heidegger und

der Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1989, S. 11–37, hier S. 18.137 Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, Berlin 1929, S. 9.138 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 4. Aufl., Tübingen 1976 (1. Aufl. 1953),

S. 29 f. (Der Text geht zurück auf die gleichnamige Vorlesung aus dem Sommersemester1935 an der Universität Freiburg i. Br.)

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 43

Krise desavouiert die Fortschrittsideologie in den Augen vieler Intellektuel-ler dabei sowohl in ihrer technisch-ökonomischen als auch in ihrer politi-schen Variante. Auch Jaspers, Heidegger und Plessner bewerten ‚Vermas-sung‘, ‚Technizismus‘ und ‚Liberalismus‘ als Symptome eines sich seinemkrisenhaften Endpunkt nähernden Rationalisierungsprozesses. Und wennHeidegger ein „Standhalten inmitten der Ungewissheit des Seienden“139

fordert oder von der „Verdüsterung der Welt“140 spricht, dann beschreibt ernicht mehr nur die ontologische Grundstruktur menschlichen Seins, son-dern beschwört zugleich eine welthistorische Krisen- und Entscheidungs-situation.

Existenzphilosophie und Philosophische Anthropologie gewinnen inder Krisensituation um 1930 für viele Intellektuelle auch deshalb Attraktivi-tät, weil sie eine scheinbar paradoxe Aufgabe lösen. Sie bieten nämlich einModell für die ersehnte epochale Veränderung, ohne dabei auf vitalistisch-utopistische Denkfiguren zurückzugreifen. Veränderung wird hier nicht inder Zeit, sondern als Veränderung der Zeit selbst, als Stillstellung bzw. ‚Ver-tiefung‘ der Zeit gedacht. Dabei kommt es zu einer auf den ersten Blicküberraschenden Annäherung an die Krisendeutungen nationalrevolutionä-rer und jungkonservativer Autoren. Mit seiner 1933 erhobenen Forderungnach einem „Standhalten inmitten der Ungewissheit des Seienden“ greiftHeidegger eine wichtige Gedankenfigur dieses ideologischen Lagers auf, dievor allem Spengler geprägt hatte, in dessen Schriften sich Liberalismus- undTechnikkritik in ähnlicher Weise mit einer grundsätzlichen Geschichtsskep-sis verbinden. Nur dass Spengler die Haltung des Standhaltens aus einer tra-gischen Sicht auf die Geschichte herleitet, und nicht, wie Heidegger, ausihrer ontologischen Desillusionierung. Allerdings erfährt die Geschichte beiSpengler mit der ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten ebenso wie beiHeidegger eine neuerliche Aufwertung. In Mensch und Technik (1931)gelangte er, ausgehend von der Diagnose, dass die Menschheit durch dievollendete „Mechanisierung der Welt“ in ein Stadium „gefährlichster Über-spannung“ getreten sei, noch zu dem Schluss, dass „die Zeit“ sich „nichtaufhalten“ lasse und für den Menschen statt „Umkehr“ oder „Verzicht“allein die Möglichkeit bleibe, auf „verlorene[m] Posten“ auszuharren, „ohneHoffnung, ohne Rettung“.141 In Jahre der Entscheidung (1933) hält er andiesem Ethos des Standhaltens zwar fest, an die Stelle des Geschichtsnihilis-mus tritt nun aber der Glaube, in einem „Zeitalter des Übergangs, derFormlosigkeit »zwischen den Zeiten«“ zu leben, der die Aussicht auf eine

139 Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei derfeierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27.5.1933, Breslau1933, S. 13.

140 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 29.141 Spengler, Der Mensch und die Technik, S. 89. Die Metapher des verlorenen Postens ist vor

allem von Ernst Jünger popularisiert worden.

44 Die „Krise des Menschen“

Neubegründung der Geschichte nach der Selbstzerstörung des technisch-ökonomischen Prozesses in globalen Kriegen in sich berge – die Aussicht,„Geschichte zu machen“.142 Bei Spengler wie bei Heidegger verbindet sichso die Vorstellung eines Neubeginns mit der Figur des utopielosen Stand-haltens – wodurch Spenglers tragische Geschichtssicht ein existentiellesPathos erhält, während Heideggers Forderung nach einer Rückkehr des Vol-kes „in den ursprünglichen Bereich der Mächte des Seins“ den Klang escha-tologischer Prophetie annimmt.143

Was Spenglers Krisendeutung vom Beginn der dreißiger Jahre mit denKrisenanalysen existenzphilosophischer Provenienz verbindet, ist einerseitsdie Distanzierung von der Natur bzw. die Gleichsetzung von technisch-öko-nomischer und vital-triebhafter Dynamik, andererseits der Wunsch nacheiner Verankerung des menschlichen und damit auch des politischen Han-delns in einer diesem zeitlichen Dasein entzogenen Seinssphäre. In Schlag-wörtern wie ‚Entscheidung‘ und ‚Situation‘ werden die Konzepte einersozialen und einer existentiellen Krise miteinander verknüpft. Es wurdebereits gezeigt, dass Jaspers selbst auf diese Verknüpfung hinweist, indem erdie konkreten Bedrohungen des Daseins zu Grenzsituationen deklariert, indenen der Mensch vor die unausweichliche Entscheidung gestellt sei, sich„entweder zum Nichts oder zur absoluten Geschichtlichkeit des eigenenGrundes“ zu wenden.144 Diese Entscheidung ist bei ihm ebenfalls nichtgegen die Gesellschaft gerichtet. In seiner Philosophie bemüht er sich imGegenteil gerade darum, gesellschaftliches Handeln aus der besonderenStruktur der Existenz herzuleiten, und schreibt, fast als Ergänzung zumeben zitierten Satz: „In die Objektivität der Gesellschaft zu treten, ist Bedin-gung für das Selbstsein. Ganz aus ihr herauszutreten, ist wie ein Fallen insNichts.“145 Ebenso wie Heidegger zielt Jaspers auf eine Verwandlung desgesellschaftlichen Daseins zum gemeinschaftlichen Sein und gelangt so zueiner existentiellen Auffassung des Staates. Die staatlichen Institutionenrechtfertigen sich demnach nicht durch konkrete materielle oder geschicht-liche Zwecksetzungen, sondern allein als Instrumente „lenkende[r] Füh-rung“, die das Zusammenleben der antriebslosen Einzelexistenzen organi-sieren und ihrem Leben äußere Form und „spezifische Würde“ geben.146

142 Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschicht-liche Entwicklung, München 1933, S. 41 und 13.

143 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 29. – Auf die eigentümliche Ambivalenz derDenkfigur der ‚Entscheidung‘ im Kontext seinsphilosophischen Denkens und auf die escha-tologische Tonlage in Heideggers Schriften vom Anfang der dreißiger Jahre hat schon vonKrockow in seiner einschlägigen Studie aufmerksam gemacht; vgl. Krockow, Die Entschei-dung, bes. S. 124.

144 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, S. 131.145 Jaspers, Philosophie, Bd. 2, S. 375.146 Ebd., S. 380 und 376. – Jaspers politische Krisenphilosophie ist in der Forschung unter-

schiedlich bewertet worden. Während Manfred Gangl im Anschluss an die frühe Kritik Dolf

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 45

Dieser existentiellen Begründung des Staates entspricht das in jener Zeitvielfach beschworene sachliche Pflichtethos. Begriffe wie ‚Dienst‘, ‚Pflicht‘und ‚Aufgabe‘ umschreiben die mentale Handlungsdisposition der ge-schichtslosen Existenz.147 „Das Hineintreten in den Staat“, schreibt Jaspers,„vollzieht sich als Dienst.“148 Heidegger verbindet diese Bestimmung vonDienst als existentiellem Verhaltensmodus in der Gesellschaft im Jahr 1933dann mit der Vorstellung von der Teilhabe am Schicksal des Volkes underlegt den deutschen Studenten in seiner Freiburger Rektoratsrede einedreifache Verpflichtung zum „Arbeitsdienst“, „Wehrdienst“ und „Wissens-dienst“ auf.149

Die hier am Beispiel Jaspers’ und Heideggers beschriebene politischeWendung der Existenzphilosophie zu Beginn der dreißiger Jahre ist in derForschung gelegentlich mit dem Begriff des ‚politischen Existenzialismus‘belegt worden.150 Dieselbe Tendenz lässt sich jedoch auch an der Philoso-

Sternbergers von einem „hilflose[n] Appell einer rein subjektivistischen religiösen Sinnsuche“und einer „metaphysische[n] Flucht aus der historischen Situation“ spricht, die zu „einersehr profanen Akzeptanz der Diktatur des Nationalsozialismus“ tendiere (Manfred Gangl,Karl Jaspers und Georg Lukács. Rechte und linke Kulturkritik in der Weimarer Republik, in:Dietrich Harth [Hg.], Karl Jaspers. Denken zwischen Wissenschaft und Philosophie, Stutt-gart 1989, S. 87–110, hier S. 107), meint Heiner Bielefeldt, Jaspers verteidige bei aller Nähezum Schmittschen Dezisionismus ein „überpolitisch-politische[s] Ethos“ und die „sittlicheEntscheidung“ (Heiner Bielefeldt, Kampf und Entscheidung. Politischer Existentialismusbei Carl Schmitt, Helmuth Plessner und Karl Jaspers, Würzburg 1994, S. 120).

147 Auch Spenglers Idealisierung des preußischen Charakters, der „sich selbst diszipliniert“ undnur „Pflicht und Aufgabe“ kennt, weist die Züge der geschichtsphilosophischen Abkühlungauf; vgl. Spengler, Jahre der Entscheidung, S. 138 und 144.

148 Jaspers, Philosophie, Bd. 2, S. 357.149 Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, S. 15 f.150 Der Begriff des ‚politischen Existentialismus‘ wurde zuerst von Herbert Marcuse in einer

1934 in der Zeitschrift für Sozialforschung publizierten Studie verwandt, und zwar mit Bezugauf den Dezisionismus Carl Schmitts: Dadurch, dass Schmitt „politische Sachverhalte undBeziehungen […] als existenzielle sanktioniert“ habe, sei der Existentialismus zu einem „Mo-ment der totalitären Staatstheorie“ geworden; vgl. Herbert Marcuse, Der Kampf gegen denLiberalismus in der totalitären Staatsauffassung (1934), in: ders., Kultur und Gesellschaft 1,Frankfurt a.M. 1965, S. 17–55, hier S. 44 f. Daran anschließend hat Herbert Schnädelbachden ‚politischen Existentialismus‘ als eine „Übertragung der in subjektiv-privater »Existenz-erhellung« gewonnenen »Existenzialien« auf den »politischen Körper« als ganzen, das heißtauf den Staat“, analysiert und Schmitts Begriff des ‚Ausnahmezustands‘ als politische Über-setzung des philosophischen Begriffs der ‚Grenzsituation‘ interpretiert; vgl. Herbert Schnä-delbach, Politischer Existentialismus – zur philosophischen Vorgeschichte von 1933 (1983),in: ders., Zur Rehabilitierung des ‚animal rationale‘. Vorträge und Abhandlungen, Bd. 2,Frankfurt a.M. 1992, S. 346–398, hier S. 350 und 352. Während Schnädelbach ebenfallsden engen Zusammenhang zwischen der Theorie von der ‚Totalität des Politischen‘ und derLehre vom ‚totalen Staat‘ sowie der nationalsozialistischen Führerdiktatur herausstellt, hatMichael Großheim diesen notwendigen Zusammenhang in neuerer Zeit mit dem Argumentbestritten, dass die von den ‚politisch-existentialistischen‘ Denkern gesuchte Stabilisierungauch durch ein Modell charismatischer Herrschaft zu erreichen sei; vgl. Michael Großheim,Politischer Existenzialismus. Versuch einer Begriffsbestimmung, in: Günter Meuter/Henri-que Ricardo Otten (Hg.), Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im

46 Die „Krise des Menschen“

phischen Anthropologie beobachten, die sich in dieser Zeit zu einer politi-schen Anthropologie wandelt. Dies gilt insbesondere für Plessners Machtund menschliche Natur (1931). Plessners Buch und mit Einschränkungenauch Carl Schmitts Der Begriff des Politischen (1932) zeigen, wie Existenz-philosophie, Philosophische Anthropologie und Staatstheorie in dieser Zeitmiteinander verknüpft werden, um eine existenzialanthropologische Per-spektive auf politische Fragen zu gewinnen. So knüpft Plessner sowohl anHeidegger als auch an die erste Auflage von Schmitts Schrift aus dem Jahre1927 an, während Schmitt sich 1932 seinerseits positiv auf Plessnerbezieht.151

Die politische Anthropologie stellt die Politik in den Bereich der Lebens-welt. Sie will klären, so formuliert es Plessner, inwieweit Politik „zumWesendes Menschen“ gehört, und die „Genealogie politischen Lebens“ aus der„Grundverfassung des Menschen“ herleiten.152 Von Schmitt übernimmt er

20. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 127–163, bes. S. 144. Großheim weitet das Feld des‚politischen Existentialismus‘ dabei auch auf Autoren wie Karl Jaspers aus und stellt ihngleichzeitig in die Tradition der politischen Romantik. Vgl. auch die ausgedehnte historischePerspektivierung des Phänomens in Michael Großheim, Politischer Existentialismus. Subjek-tivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002 (= Philosophische Unter-suchungen, Bd. 9). Weiter als bei Marcuse und Schnädelbach, aber enger als bei Großheimwird der Begriff des ‚politischen Existentialismus‘ von Heiner Bielefeldt gefasst, der die ‚anti-liberale‘ Variante dieser Denkrichtung bei Schmitt von den Varianten bei Jaspers und Pless-ner unterscheidet, die seiner Auffassung nach noch im Humanismus und Liberalismus ver-wurzelt sind; vgl. Bielefeldt, Kampf und Entscheidung.

151 Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und dreiCollarien, Berlin 1991, S. 60. Zum Verhältnis Plessner-Schmitt siehe Rüdiger Kramme, Hel-muth Plessner und Carl Schmitt. Eine historische Fallstudie von Anthropologie und Politikin der deutschen Philosophie der zwanziger Jahre, Berlin 1989, bes. S. 149–154. NachKramme intendierten Plessner wie Schmitt eine Anthropologisierung und „Enthistorisierungdes Politischen“ (ebd., S. 150). Bielefeldt insistiert demgegenüber auf einer wesentlichen Dif-ferenz: Anders als Schmitt, der den liberalen Individualismus perhorresziere, gehe es Plessnerstets um „die Integrität des Einzelnen“ (Bielefeldt, Kampf und Entscheidung, S. 92). Aller-dings stützt Bielefeldt sich bei dieser Argumentation nicht mehr nur auf Macht und mensch-liche Natur, sondern zusätzlich auf Plessners Groninger Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1936,in der dieser der Philosophischen Anthropologie angesichts des totalitären NS-Staates dieAufgabe zuwies, dem Menschen einen Mittelweg „zwischen den Extremen größtmöglicherVereinzelung und größtmöglicher Verallgemeinerung“ aufzuzeigen, und dies mit dem poli-tisch-moralischen Appell verknüpft, die „Ideale der Humanität“ und „die Idee der mensch-lichen Verantwortlichkeit“ zu verteidigen (Helmuth Plessner, Die Aufgabe der Philosophi-schen Anthropologie [1937], in: ders., Conditio Humana [= Helmuth Plessner, GesammelteSchriften, hg. Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker, Bd. VII], Frankfurt a.M.1983, S. 33–51, hier S. 36 und 45). Auch Lethen vertritt die These, dass Plessner in Machtund menschliche Natur bei aller Nähe zum antiliberalen Dezisionismus Schmitts gleichzeitigversuche, „Schmitts Begriff des Politischen an den Humanitätshorizont des Historismus“rückzubinden; vgl. Helmut Lethen, Auf der Grenze zwischen Politischem Existentialismusund Historismus. Plessners Balanceakt in den zwanziger Jahren, in: Thomas Keller/WolfgangEßbach (Hg.), Leben und Geschichte. Anthropologische und ethnologische Diskurse derZwischenkriegszeit, München 2006, S. 264–288, hier S. 286.

152 Plessner, Macht und menschliche Natur, S. 9 f.

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 47

dabei die Definition der Politik als Kampf um die Macht, der die zwischen-menschlichen Beziehungen ebenso bestimmt wie das Verhältnis zwischengesellschaftlichen Gruppen oder ganzen Staaten. Während Schmitts Politik-und Staatslehre aber in einer naturalistischen und pessimistischen Anthro-pologie wurzelt – der Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus bösesei –, nimmt Plessner eine „ursprüngliche Einheit von Geist, Seele undLeib“ und eine unauflösliche „Weltverflochtenheit“ des Menschen an.153

Mit Heidegger und Georg Misch charakterisiert er den Menschen als ‚uner-gründliches‘ Wesen, aktualisiert damit aber zugleich den Grundgedankenseiner Philosophischen Anthropologie von der wesensmäßigen Exzentrizitätund Antriebslosigkeit des Menschen.154 Politik und gesellschaftliches Han-deln lassen sich in diesem Theoriehorizont nicht mehr als natürlicherKampf erklären, sondern nur als existentielle Notwendigkeit. In diesemSinne stellt Plessner einen Zusammenhang zwischen ‚Macht‘ und ‚Uner-gründlichkeit‘ her. Demnach muss der Mensch Macht entwickeln und„Ordnung stiften“,155 gerade weil er vital und geschichtlich unbestimmt ist.Auch Plessner versieht diesen Vorgang mit dem Pathos der existentiellenEntscheidung. Denn die Voraussetzung machtvollen Handelns ist, dass sichder Mensch seiner wesensbedingten „Zwischenstellung“ bewusst wird –zwischen „geschlossene[r] Umwelt“ und „offene[r] Welt“, zwischen vielfäl-tigen Sinnbezügen und „bodenlose[m] Wirklichen“, schließlich auchzwischen Geschichte und Geschichtlichkeit.156 Durch dieses Bewusstseinwird die anthropologisch bedingte „Lage“ zur subjektiv erkannten „Situa-tion“, die „Entscheidung“ und „Erledigung“ verlangt.157 Der ‚Wille zurMacht‘ setzt somit voraus, dass der Mensch die konservativ-romantischeGeschichtsidee als Illusion durchschaut und sich der anthropologischenund ontologischen Notwendigkeit seines Handeln bewusst wird: In der„Fassung seiner selbst als Macht“ begreift er sich „als geschichtsbedingendund nicht als durch die Geschichte bedingt.“158

153 Ebd., S. 10.154 Plessner weist in seinem Buch explizit auf die Verbindung beider Denkrichtungen hin,

indem er feststellt, dass die Tendenz der zeitgenössischen Philosophie auf eine „anthropologi-sche Fundamentierung ontologischer Erkenntnis“ gehe (ebd., S. 31.) Neuere Forschungsbei-träge zu Plessner betonen dagegen vor allem die Differenzen zu Heideggers Ontologie. Siehehierzu Hans-Peter Krüger, Die Leere zwischen Sein und Sinn: Helmuth Plessners Heidegger-Kritik in ‚Macht und menschliche Natur‘ (1931), in: Wolfgang Bialas/Burckhard Stenzel(Hg.), Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz. Intellektuellendiskurse zurpolitischen Kultur, Weimar/Köln/Wien 1996, S. 177–199.

155 Plessner, Macht und menschliche Natur, S. 61.156 Ebd., S. 60.157 Ebd., S. 59.158 Ebd., S. 53.

48 Die „Krise des Menschen“

Diese anthropologische Begründung eines ungeschichtlichen, sich inder ‚Situation‘ als ‚Entscheidung‘ konstituierenden politischen Handelns iststrukturell weitgehend identisch mit dem politischen DezisionismusSchmitts, den Schmitt selbst auch als „anthropologisch-existentielle Denk-art“159 bezeichnete und der von Herbert Marcuse 1934 in der Zeitschrift fürSozialforschung als „existenzielle Anthropologie“ kritisch analysiert wur-de.160 Zwar geht Schmitt, an die Staatslehre Hobbes‘ anknüpfend, von einertriebhaften Natur des Menschen aus, mit der die Politik zu rechnen habe.Doch stellt er die Unterscheidung von Freund und Feind als eher formalenAkt der Setzung dar, der den für das Handeln notwendigen Orientierungs-rahmen schaffe und selbst frei von vitalen oder psychologischen Impulsensei. Nicht aus Aggressionstrieb werde der Feind bekämpft, sondern weilpolitisch-staatliches Handeln sich nur durch solche Gegnerschaft legitimie-ren lasse. Tötung und Krieg haben für ihn einen „existentiellen Sinn“,sofern sie der „seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform“ die-nen.161 Im Rahmen der ‚anthropologisch-existentiellen Denkart‘ verliertauch die Denkfigur der ‚Entscheidung‘ ihren dynamischen Charakter, dasheißt sie wird weder an naturalistische noch an idealistische Determinantengebunden und ist mit keinen geschichtlichen Zielsetzungen verknüpft.Ebenso wie bei Jaspers, Heidegger, Plessner und später bei Gehlen begrün-det sie bei Schmitt Handeln aus dem Bewusstsein der Unbestimmtheit undexistentiellen Bedrohtheit des Menschen.162

159 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 3. Aufl., Hamburg 1933, S. 45. – Eine ähnlicheFormulierung findet sich schon bei Heidegger, der in Sein und Zeit an einer Stelle von der„Sonderaufgabe einer existenzial-apriorischen Anthropologie“ spricht (Heidegger, Sein undZeit, S. 183).

160 Marcuse problematisiert die „irrationale Tönung“ der existentiellen Anthropologie bei CarlSchmitt: „Die existenzielle Anthropologie glaubt, daß das Wissen um das Wofür der Ent-scheidung, um das Wozu des Einsatzes, durch das alles menschliche Handeln erst einen Sinnund Wert bekommt, sekundär ist“ (Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der tota-litären Staatsauffassung, S. 47).

161 Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932, S. 49 f. – Auf die theoretische Ambiva-lenz der Schmittschen Argumentation mit ihrer teils substantiellen, teils okkasionellenBegründung von Feind- und Freundschaft hat bereits Karl Löwith in seiner ausführlichenKritik von 1935 hingewiesen. Vgl. Karl Löwith, Der okkasionelle Dezisionismus von C.Schmitt (1935), in: ders., Heidegger – Denker in dürftiger Zeit. Zur Stellung der Philoso-phie im 20. Jahrhundert (= Karl Löwith, Sämtliche Schriften, Bd. 8), Stuttgart 1984,S. 32–71.

162 Nach 1933 identifiziert Schmitt diese Existenz dann mit dem „Lebensrecht des Volkes“ undlegitimiert so den Staatsterrorismus des ‚Dritten Reichs‘; vgl. Carl Schmitt, Der Führerschützt das Recht (1934), in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf –Versailles 1923–1939, 3. Aufl., Berlin 1994 (unveränderter Nachdruck der Erstausgabe von1940), S. 227–232, hier S. 229.

Jenseits von Geschichte, Natur und Ratio 49

3. Die „anthropologische Wende“ in der Philosophie nach 1933

Die Konzepte einer neuen ‚Wesens‘- und ‚Seinslehre‘, die am Ende derzwanziger und zu Anfang der dreißiger Jahre entwickelt worden waren, blie-ben auch in der Universitätsphilosophie und in der philosophischen Publi-zistik des ‚Dritten Reiches‘ präsent. Allerdings kam es unter den Bedingun-gen der NS-Diktatur zu deutlichen Veränderungen. Zum einen wurdendurch die ‚Gleichschaltung‘ der Universitäten und die Relegierung sowieVertreibung wichtiger Theoretiker wie Plessner, Löwith oder Jaspersbestimmte Positionen dieses Spektrums ausgeschlossen, während Parteigän-ger des Nationalsozialismus wie Gehlen oder Otto Friedrich Bollnow Kar-riere machten.163 Zum anderen bildete der NS-Staat einen veränderten dis-kurspolitischen Rahmen für die anthropologische Theoriebildung und dieRezeption der Philosophischen Anthropologie.164

Schon für die Zeit am Ende der Weimarer Republik konnte beobachtetwerden, wie die Methoden der Philosophischen Anthropologie und derExistenzialanalyse unter dem Eindruck der ökonomischen und politischenKrisensituation zur Begründung einer politischen Haltung herangezogenwurden, wobei selbst liberal eingestellte Autoren wie Plessner und Jaspersvorübergehend eine Affinität zum politischen Dezisionismus zeigten. Mankann also sagen, dass in diesem intellektuellen Spektrum in dieser Zeit eineDisposition für autoritäre Politik- und Staatsmodelle bestand. Und der tota-litäre Staat der Nationalsozialisten kam der Überzeugung von der Notwen-digkeit politischer ‚Führung‘ insofern entgegen, als er das Ende des bürgerli-chen Individualismus verkündete und das individuelle Handeln durch eineübergeordnete institutionelle und ideologische Struktur zu lenken bean-spruchte. Viele Vertreter der Universitätsphilosophie erkannten dabei fürsich die Chance, an der Entwicklung einer ‚weltanschaulichen Leitstruktur‘

163 Siehe hierzu die Untersuchung von Thomas Laugstien, Philosophieverhältnisse im deutschenFaschismus, Hamburg 1990 (= Argument-Sonderband 169); und Monika Leske, Philoso-phen im ‚Dritten Reich‘. Studie zu Hochschul- und Philosophiebetrieb im faschistischenDeutschland, Berlin 1990.

164 Einen allgemeinen Überblick über die unterschiedlichen, zwischen Instrumentalisierung,Selbstindienstnahme und Distanz verlaufenden ‚kognitiven Entwicklungen‘ der wissen-schaftlichen Disziplinen im ‚Dritten Reich‘ gibt Peter Lundgreen, Hochschulpolitik undWissenschaft im Dritten Reich, in: ders. (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurta.M. 1985, S. 9–30. Wie Gereon Wolters gezeigt hat, bot sich den Universitätsphilosophenim NS-Staat dabei „ein ziemlich weiter, nicht ideologisch besetzter Spielraum“, da es keine„nationalsozialistische Philosophie“ im engeren Sinne gab und das „Interesse der führendenNationalsozialisten an der Philosophie […] gering“ war (Gereon Wolters, Der „Führer“ undseine Denker. Zur Philosophie im „Dritten Reich“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie47 [1999], S. 223–251, hier S. 228 und 224).

50 Die „Krise des Menschen“

mitwirken zu können.165 Ihre Hoffnung auf „aktive Mitgestaltung derneuen Verhältnisse im ‚neuen Deutschland‘“166 wurde dadurch gestärkt,dass der Nationalsozialismus sein Handeln und seine Ziele hauptsächlichanthropologisch und nicht geschichtsphilosophisch begründete, was auch inder Verwendung des anthropologisch geprägten Weltanschauungsbegriffszum Ausdruck kam.167 Die so genannte ‚nationalsozialistische Revolution‘wurde von vielen Intellektuellen daher auch als anthropologischer und nichtals historischer Wendepunkt aufgefasst: als ‚Erneuerung des Menschen‘ und

165 Gerade die Forschungen zu Heideggers Stellung im ‚Dritten Reich‘ und die an die Heideg-ger-Kontroverse anschließenden Untersuchungen zur Universitätsphilosophie im ‚DrittenReich‘ haben gezeigt, dass man die philosophische Theorieentwicklung dieser Zeit keinesfallsnur als passive Anpassung an ideologische Vorgaben ansehen darf – zumal es nicht einelogisch-konsistente und verbindlich formulierte Ideologie des Nationalsozialismus gab. ZuHeideggers NS-Verstrickung siehe Victor Farías, Heidegger und der Nationalsozialismus,Frankfurt a.M. 1989 (franz. Erstveröffentlichung 1987); Hugo Ott, Martin Heidegger.Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt a.M./New York 1988, bes. S. 131–254; BerndMartin, Martin Heidegger und der Nationalsozialismus – der historische Rahmen, in: ders.(Hg.), Martin Heidegger und das ‚Dritte Reich‘. Ein Kompendium, Darmstadt 1989,S. 14–50. Zur Philosophie im Nationalsozialismus allgemein siehe Otto Pöggeler, Philoso-phie und Nationalsozialismus – am Beispiel Heideggers, Opladen 1990 (= Rheinisch-West-fälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 301); Laugstien, Philosophieverhältnisseim deutschen Faschismus; George Leaman, Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zumNS-Engagement der Universitätsphilosophen, Hamburg/Berlin 1993 (Argument-Sonder-band 205); Hans-Joachim Dahms, Philosophie, in: Frank-Rutger Hausmann (Hg.), DieRolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945, München 2002 (= Schriftendes Historischen Kollegs, Bd. 53), S. 215–217. – Die Untersuchung Leamans hat den hohenAnteil an NSDAP-Mitgliedern im Bereich der Universitätsphilosophie nachgewiesen. Vonden in diesem Kapitel behandelten Autoren waren dies nachweislich: Bollnow, Gehlen, Hei-degger, Heinz Heimsoeth, Hans Heyse, Erich Rothacker und Carl Schmitt. Philipp Lerschwar mutmaßlich Parteimitglied. Hans Lipps war Mitglied der SA und der SS.

166 Otto Gerhard Oexle, „Wirklichkeit“ – „Krise der Wirklichkeit“ – „Neue Wirklichkeit“.Deutungsmuster und Paradigmenkämpfe in der deutschen Wissenschaft vor und nach 1933,in: Hausmann (Hg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945,S. 1–20, hier S. 16.

167 Hitler definiert Weltanschauung inMein Kampf als „politischen Glauben“, der im künftigennationalsozialistischen Staat die Funktion der Religion als einer aus anthropologischen Grün-den notwendigen Leitstruktur zu übernehmen habe (Adolf Hitler, Mein Kampf, 22. Aufl.,München 1933 [1. Aufl. 1925/27], S. 414). „Indem der Glaube mithilft, denMenschen überdas Niveau eines tierischen Dahinlebens zu erheben, trägt er in Wahrheit zur Festigung undSicherung seiner Existenz bei. Man nehme der heutigen Menschheit die durch ihre Erziehunggestützten religiös-glaubensmäßigen, in ihrer praktischen Bedeutung aber sittlich-mora-lischen Grundsätze durch Ausscheidung dieser religiösen Erziehung und ohne dieselbe durchGleichwertiges zu ersetzen, und man wird das Ergebnis in einer schweren Erschütterung derFundamente ihres Daseins vor sich haben. Man darf also wohl feststellen, daß nicht nur derMensch lebt, um höheren Idealen zu dienen, sondern daß diese höheren Ideale umgekehrtauch die Voraussetzung zu seinem Dasein als Mensch geben“ (S. 416 f.). Die Parallele zwi-schen politischerWeltanschauung und Religion besteht für Hitler darin, dass in beiden Fällendie konkreten Ideen in einer Grundstruktur verankert sind, in der die „gefühlsmäßigeAhnung oder Erkenntnis die Kraft apodiktischen Glaubens annimmt“ und die Möglichkeitzur „schwankenden Bejahung oder Verneinung“ ausgeschlossen ist (ebd., 417).

Die „anthropologische Wende“ in der Philosophie nach 1933 51

als Rückkehr aus der Geschichte in die ‚Geschichtlichkeit‘. Immer stärkerwerde in der Gegenwart die Gewissheit, schrieb Bollnow 1934, dass die„Wandlung“, die man erlebe, nicht nur „eine Veränderung der äußeren Ord-nung“ bedeute, sondern „zugleich und ursprünglicher als dies eine Verwand-lung des Menschen selbst“, die Entstehung eines neuen „Menschentypus,wie er in der Geschichte noch kein fertig geformtes Vorbild findet“.168 UndHeinz Heimsoeth, der Herausgeber des wichtigen philosophischen Fach-organs Blätter für deutsche Philosophie, konstatierte 1942, nie zuvor habe sicheine Zeit bisher so „ins Geschichtliche verflochten und der Geschichte stän-dig gegenüberstehend vorgefunden“ wie die Gegenwart.169

Anschlussmöglichkeiten zum Nationalsozialismus ergaben sich für dieseAkademiker weniger im Feld der völkischen Ideologie mit ihrem manichäi-schen Geschichtsverständnis als im Bereich des nationalsozialistischen Erzie-hungsprogramms, das eine dezidiert antihumanistische Ausrichtung hatteund allein anthropologisch begründet wurde.170 ‚Weltanschauliche Schu-lung‘ und ‚rassische Züchtung‘ bildeten die zwei Hauptsäulen des national-sozialistischen Erziehungsprogramms – mit ideologischen Differenzen inder Gewichtung beider Ziele, je nachdem, ob ein rein ‚biologischer‘ oder eineher ‚charakterlicher‘ Rassebegriff zugrunde gelegt wurde. Daher intendiertedie nationalsozialistische ‚Pädagogik‘ auch nicht die Vermittlung vonWertenoder Bildung, sondern, von einer Art ‚naturalistischem Idealismus‘ geleitet,vor allem anderen die Ausbildung vor-reflexiver und nicht-individueller‚Charaktereigenschaften‘ wie Willensstärke und Opferbereitschaft.171

Infolge der neuen staatlichen Anforderungen an die institutionelle Phi-losophie und die Wissenschaften wurden existenzphilosophische und phi-losophisch-anthropologische Denkansätze in charakteristischer Weisemodifiziert. Allgemein verschob sich der Fokus vom einzelnen Individuum

168 Otto Friedrich Bollnow, Das neue Bild des Menschen und die pädagogische Aufgabe, Frank-furt a.M. 1934 (= Deutsche Schriften zur Wissenschaft, Bd. 3), S. 3.

169 Heinz Heimsoeth, Geschichtsphilosophie, in: Nicolai Hartmann (Hg.), Systematische Phi-losophie, Stuttgart/Berlin 1942, S. 561–647, hier S. 563.

170 Zum völkischen Geschichtsverständnis siehe George L. Mosse, Tod, Zeit und Geschichte.Die völkische Utopie der Überwindung, in: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.), Deut-sches utopisches Denken im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1971, S. 50–69;und Jost Hermand, Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalso-zialismus, 2. Aufl., Weinheim 1995 (1. Aufl. 1988). Zum messianistischen Geschichtsbild inder völkischen Ideologie siehe auch Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichts-denken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998.

171 InMein Kampf heißt es: „Der völkische Staat hat […] seine gesamte Erziehungsarbeit in ers-ter Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüch-ten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigenFähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders dieFörderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwor-tungsfreudigkeit, und erst als Letztes die wissenschaftliche Schulung“ (Hitler, Mein Kampf,S. 452). Als weitere charakterliche „Tugenden“ gelten: „Treue, Opferwilligkeit, Verschwie-genheit“ (ebd., S. 461).

52 Die „Krise des Menschen“

auf das Kollektiv. Diese Tendenz lässt sich beispielsweise bei Hans Heyseaufzeigen, der das ‚Dritte Reich‘ 1935 als endlich wieder hergestellte Ver-bindung von Sein und Existenz im Zusammenschluss der Nationbeschreibt.172 Deutlich erkennbar ist hier das Bestreben, die Konzepte der‚Existenz‘ und der ‚Entscheidung‘ für das nationalsozialistische Erziehungs-programm fruchtbar zu machen, was unter anderem dazu führt, dass statt‚negativer‘, vereinzelnder, Befindlichkeiten wie Furcht und Einsamkeit nun‚positive‘, gemeinschaftsbezogene, Stimmungen in den Blick rücken.173

Diese „nationalpädagogische“174 Funktionalisierung der Existenzphiloso-phie lässt sich besonders gut am theoretischen Werk Bollnows beobachten,vor allem an seinem Überblicksaufsatz Existenzphilosophie von 1942, indem er rückschauend eine ambivalente Bewertung dieser in seinen Augenbereits weitgehend historischen Denkrichtung vornimmt.175 So verteidigter die Philosophie Heideggers und Jaspers’ unter dem Hinweis auf diebesondere historische Situation, in der sie entstanden sei, gegen den Vor-wurf des Nihilismus. Ihre wichtigste Leistung erkennt er darin, dass sie die„Loslösung von der letztlich bürgerlich-aufklärerischen Philosophie der»Neuzeit«“ vorangetrieben habe.176 Allerdings habe in der „verhängnisvol-len Zeit nach demWeltkrieg“, als „der Sinn aller überindividuellen Bindun-gen verlorengegangen war“, nur in der einsamen ‚Existenz‘ ein „letzter, vonallem äußeren Geschehen unberührbarer Rückhalt gefunden“ werden kön-nen.177 Nachdem inzwischen aber „die Welt der Menschen wieder einesinnvolle Ordnung zu gewinnen“ beginne, stelle sich jetzt die Aufgabe einer„Erweiterung und Verwandlung der Existenzphilosophie“.178 Es handlesich um den „Übergang von der Verzweiflung zu einem neuen Glauben“.179

Die Tendenz der Verwandlung liegt für Bollnow dabei darin, das Konzeptder heroischen Existenz mit einer naturalistisch und vitalistisch geprägtenAnthropologie zu verbinden: Man dürfe „die inhaltlichen Bestimmungender den Menschen umgebenden dinglichen und insbesondere naturhaftenWelt, das natürliche, unmittelbare Leben des Menschen, die tragenden

172 Vgl. Hans Heyse, Idee und Existenz, Hamburg 1935. Die Verbindung von Existenz undSein entsteht Heyse zufolge „in jenen Krisenstunden, in denen ein Mensch, eine Nation, vordas Sein oder Nichtsein gestellt, von dem Blitz der Ganzheit durchzuckt wird und dieseErgriffenheit als letzte, jedes Opfer heischende und rechtfertigende Bindung (religio) an dasUrgesetz des Seins und Lebens erfährt“ (ebd., S. 12). – Zu Heyses NS-Engagement sieheDahms, Philosophie, S. 220–223.

173 Siehe hierzu Kap. I, 6.174 Bollnow, Das neue Bild des Menschen, S. 21.175 Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie, in: Nicolai Hartmann (Hg.), Systemati-

sche Philosophie, Stuttgart/Berlin 1942, S. 313–430. – Zur wissenschaftspolitischen Bedeu-tung dieses Sammelbandes siehe Kap. I, 4.

176 Ebd., S. 424.177 Ebd., S. 423 f.178 Ebd., S. 424.179 Ebd., S. 430.

Die „anthropologische Wende“ in der Philosophie nach 1933 53

Bezüge der Gemeinschaft, insbesondere von Familie, Volk und Staat, undendlich die Geschichte als überindividueller und stetiger Fortgang“ nichtaußer Acht lassen“.180

Dieselbe Tendenz kennzeichnet auch die Transformation der Philoso-phischen Anthropologie in der Universitätsphilosophie nach 1933. Dieszeigt sich etwa daran, dass die metaphysischen Aspekte, die für das Men-schenbild der Philosophischen Anthropologie – vor allem bei Scheler –konstitutiv waren, zugunsten einer naturwissenschaftlich-empirischen Er-klärung menschlicher Verhaltensweisen aufgegeben werden. Exemplarischhierfür ist die Verknüpfung der Philosophischen Anthropologie mit derVerhaltensforschung bei Gehlen, die noch näher zu betrachten sein wird.

Anthropologie wird nach 1933 zu einer Leitwissenschaft im Rahmender methodischen und weltanschaulichen Neuausrichtung von Philosophie,Psychologie und Pädagogik. In dieser Zeit erscheinen zahlreiche Titel jün-gerer Wissenschaftler, die sich in grundsätzlicher Weise mit der ‚Lehre vomMenschen‘ befassen.181 Gleichzeitig greifen auch ältere, durch andereDenkstile geprägte Gelehrte das neue Paradigma auf. Das beste Beispieldafür bietet der Nationalökonom und Soziologe Werner Sombart, der 1938einen systematisch angelegten ‚Versuch einer geisteswissenschaftlichenAnthropologie‘ mit dem gleichermaßen schlichten wie anspruchsvollenTitel Vom Menschen veröffentlicht und sich an der Entwicklung einer„allgemeine[n] Anthropologie“ beteiligen will, die sämtlichen mit demMenschen befassten Disziplinen als „Grundwissenschaft“ dienen soll.182

Sombart orientiert sich dabei an der Philosophischen Anthropologie – erwendet sich gegen die „naturalistische“ wie die „spiritualistische Betrach-tungsweise“ – und verteidigt diesen Ansatz auch gegen die biologistischenVerkürzungen der Rassentheorie.183 Gegen die Versuche eines direkten Ein-griffs in den Gang der menschlichen Entwicklung, wie sie in der „neuerenZeit“ auf dem Gebiet der „Eugenik“ unternommen würden, gibt er zubedenken, dass sich der „eigentliche Aufbau“ der Persönlichkeit als „ge-heimnisvolle Durchdringung des Menschen mit dem Geist“ vollziehe,wogegen das Biologische nur sekundär sei.184

Im Kontext des philosophischen Diskurses der dreißiger Jahre wirktdieses Festhalten an einem von der Natur prinzipiell abgetrennten Geist-begriff allerdings bereits antiquiert. Zwar sehen sich fast alle Theoretiker

180 Ebd., S. 426.181 Vgl. den Forschungsüberblick bei Werner Sombart, Beiträge zur Geschichte der wissen-

schaftlichen Anthropologie, Berlin 1938 (= Sonderausgabe aus den Sitzungsberichten derPreußischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. 1938, Bd. XIII), S. 34 ff.

182 Sombart, Beiträge zur Geschichte der wissenschaftlichen Anthropologie, S. 34.183 Werner Sombart, Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie,

Berlin 1938, S. 429.184 Ebd., S. 431.

54 Die „Krise des Menschen“

jener Zeit in einer kritischen Nachfolge der Ende der zwanziger Jahre ausder ‚Krisis des Historismus‘ hervorgegangenen anthropologischen Ansätze,die aus ihrer Sicht den entscheidenden Bruch mit der Geschichtsphiloso-phie eingeleitet haben, doch werfen sie diesen zugleich vor, noch zu sehrmit überholten geisteswissenschaftlichen Theorien belastet gewesen zu sein.So begrüßt etwa Nicolai Hartmann Gehlens Werk Der Mensch in einerNeue Anthropologie in Deutschland betitelten Rezension als den von „derdeutschen Philosophie so sehnlich“ erwarteten „neuen, grundlegendenAnsatz der philosophischen Anthropologie“, der die „alten […], zum Teilnoch aus der klassischen Idealistenzeit“ stammenden Methoden überwin-de.185 Die Notwendigkeit der theoretischen Erneuerung begründet er hier-bei zum einen mit neuen Erkenntnissen der Biologie, Psychologie, Sozial-,Geschichts- und Sprachwissenschaft, zum anderen mit der Herausforde-rung durch die Rassenkunde. Es sei „aus der Gesamtsituation des neuenDeutschlands“ eine gewaltige „Fülle von brennenden Fragen der Völker-und Rassenkunde aufgestiegen“, die heiß diskutiert werde, für die eine„Grundlage philosophischer Behandlung“ bislang aber noch fehle.186

Will man den in der Universitätsphilosophie im NS-Staat vorherr-schenden Umgang mit der Philosophischen Anthropologie thesenartig cha-rakterisieren, dann kann man sagen: Zum einen verlagert sich das For-schungsinteresse vom einzelnen Menschen auf das Kollektivwesen ‚Volk‘,und zum anderen möchte man eine engere Anbindung an die empirischenWissenschaften herstellen. Prägnant formuliert wird dieses Forschungspro-gramm 1934/35 in einem populärphilosophischen Grundsatzartikel desPsychologen Friedrich Seifert, Zum Verständnis der anthropologischen Wendein der Philosophie. Darin bezieht Seifert sich zunächst scheinbar affirmativauf Scheler und Heidegger, die sich von der „von überempirisch-reinen,apriorischen Gesetzen beherrschten“ Betrachtungsweise der Phänomenolo-gie gelöst und den Blick auf das „Dasein“ gerichtet hätten, um sie dann aber,vom Standpunkt der neuen „geschichtlichen Gesamtkonstellation“ aus, ineiner Weise zu korrigieren, die einer grundsätzlichen Ablehnung ihrerMethode gleichkommt.187 Im Zentrum steht dabei der Vorwurf, die ‚Exis-tenz‘ nicht empirisch verstanden zu haben. So wirft er Jaspers vor, dass Exis-

185 Nicolai Hartmann, Neue Anthropologie in Deutschland. Betrachtungen zu Arnold GehlensWerk „Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt“, in: Blätter für deutsche Phi-losophie 15 (1941), S. 159–177, hier S. 159.

186 Ebd.187 Friedrich Seifert, Zum Verständnis der anthropologischen Wende in der Philosophie, in:

Blätter für deutsche Philosophie 8 (1934/35), S. 393–410, hier S. 395 und 401. Seifert, dereine „anthropologische Epoche der Philosophie“ heraufkommen sieht, beschreibt dieseAbkehr von den ‚apriorischen Gesetzen‘ des Verstandes als Durchsetzung der „anthropozen-trische[n] Gesinnung“ (S. 394) und verwendet den Begriff des Anthropozentrismus dabei im(positiv konnotierten) anthropologischen und nicht im (negativ konnotierten) erkenntnis-theoretischen Sinn.

Die „anthropologische Wende“ in der Philosophie nach 1933 55

tenz für ihn nur ein „inneres Tun“ und damit letztlich ein „Kampf ohneFront“, ein „in sich grund- und zielloses Tapfersein“ bedeute, wie auch Hei-degger sein Menschenbild primär durch die „Bezogenheit zum Nichts“bestimme und die Reflexion auf eine allgemeine „Norm“ und die „Erlebnis-art des Vertrauens“ vermissen lasse.188 Dem Vorwurf der mangelnden Wert-orientierung korrespondiert der der Missachtung des ‚Bios‘, der Triebnatur,die in Seiferts Augen durch die geschichtliche Umwälzung neuen Einflusserlangt hat. Erforderlich sei eine Rückkehr „zu der Natur, zu den Vital-grundlagen“, zum Unbewussten als dem „Analogon […] zu den Gesetz-mäßigkeiten der Natur, zu den Prinzipien des kosmischen Lebens.“189 Sei-fert knüpft damit an die lebensphilosophische Anthropologie an undversucht diese für die neue Pädagogik nutzbar zu machen, markiert zugleichaber auch die Grenzlinien zu dieser im Nationalsozialismus als dekadentgebrandmarkten Philosophie. Denn er geht zwar mit Freud und Klages voneinem Antagonismus von Bios und Logos aus, wirft diesen Denkern aberauch vor, einseitig die Vitalsphäre betont und keine „dialektische Bewälti-gung“ des Problems geleistet zu haben.190 Statt diese neue ‚dialektische‘ Ver-mittlung der naturhaften und geistigen Faktoren selbst theoretisch zubegründen, beschränkt sich Seifert jedoch auf die Forderung, Unbewusstesund Bewusstes, Instinkt und Sittlichkeit müssten so miteinander verknüpftwerden, dass die irrationalen, ‚schöpferischen‘ Lebenskräfte ins Bewusstseingehoben und als Handlungsantrieb wirksam würden.191

4. Kritik an der Geschichtsphilosophie im ‚Dritten Reich‘

Dass die Anthropologie in den dreißiger und vierziger Jahren die Funktioneiner Leitdisziplin für ein breites Spektrum der akademischen Philosophieerfüllte, zeigt sich auch an der Konzeption eines von Nicolai Hartmannherausgegebenen handbuchartigen Sammelbandes mit dem Titel Systemati-sche Philosophie von 1942, an dessen Beginn zwei von Gehlen und Erich

188 Ebd., S. 398 f.189 Ebd., S. 401 und 403. „[D]ie heute (im Abendland) gegebene geschichtliche Gesamtkonstel-

lation bedingt ein stärkeres Hervortreten der Seite des Bios; die Wiederherstellung einer tie-feren, lebendigeren Beziehung zu dem dunklen, leidenschaftlichen, instinktiven Teil unseresWesens erscheint als das Hauptanliegen“ (S. 401). Es gebe ein zunehmendes „Bewußtwerdender Gesetze von Boden, Blut, Stammesart, Rasse, der Volksgeister und nationalen Charakte-re“ (S. 403).

190 Ebd., S. 407.191 „Die richtig verstandene Bejahung des Unbewußten ist nichts anderes als – Pflicht zu höhe-

rer Bewußtheit. Vermehrte Bewußtheit freilich ist alles andere als ein verantwortungsloserBewußtseinskult, sondern im eigentlichen Sinn eine Erweiterung des Bewußtseins […]; istkein Überfliegen und Sichlösen, sondern Versuch einer »Wiedervereinigung mit den unbe-wußten Lebensgesetzen«“ (ebd., S. 409).

56 Die „Krise des Menschen“

Rothacker verfasste Abhandlungen zur ‚Systematik der Anthropologie‘ undzur ‚Kulturanthropologie‘ stehen. In seinem programmatischen Vorwortbegründet der Herausgeber diesen Aufbau, der die anthropologische Fra-gestellung als Leitfaden nimmt, damit, dass er der „heutigen Problemlage“entspreche.192 Systematischen Charakter erlange die Gegenwartsphiloso-phie nicht mehr durch die Konstruktion „spekulative[r] Systeme“, sondernallein durch die Orientierung an „den Zusammenhängen des Lebens, derWelt, des Menschen und der Menschengemeinschaft.“193

In diesem Zusammenhang wird auch die ‚Geschichtsphilosophie‘ einerfundamentalen Kritik unterzogen. Der Kölner Philosophieprofessor HeinzHeimsoeth etwa verteidigt sie zwar als philosophische Disziplin, richtet siegleichzeitig aber methodisch ganz neu aus, indem er Geschichte einerseitsontologisiert – Geschichte in ihrer „wesenhaften Offenheit“ auf die Zukunfthin betrachtet194 – und sie andererseits als Gegenstand empirisch-anthro-pologischer Forschung deklariert. Demnach ist nicht die Erkenntnis desZusammenhangs der Ereignisse in der Zeit Aufgabe der philosophischenGeschichtsreflexion, sondern sie soll Geschichte als Sphäre „planende[n]Wirken[s]“ untersuchen.195 Heimsoeths Geschichtsbegriff gewinnt hiereinen fast kulturanthropologischen Charakter. Allerdings unterscheidet ersich von dieser Denkrichtung dadurch, dass er Geschichte im Unterschiedzur Kultur, die auch primitive Völker haben können, als eine schöpferischeVitalkraft bestimmt, eine besondere Eigenschaft, die nur wenige Völkerbesäßen. Er akzeptiert die von der Historismus-Kritik der zwanziger Jahrefestgestellte perspektivistische Zersplitterung derGeschichte in eine Vielzahlunabhängiger und in keinen gemeinsamen Zusammenhang eingebundenerKulturen, deutet deren erkenntniskritische Prämisse aber zu einer naturwis-senschaftlich-biologischen um.196 So gäbe es rassisch bedingte Unterschiede

192 Nicolai Hartmann, Vorwort, in: ders. (Hg.), Systematische Philosophie, Stuttgart/Berlin1942, o.S. – Dieser hochkarätig bestückte Aufsatzband, in dem sich auch der bereitserwähnte Aufsatz Bollnows zur Existenzphilosophie findet, war Teil des so genannten ‚Ge-meinschaftswerkes der deutschen Geisteswissenschaften‘ im Nationalsozialismus bzw. des‚Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften‘, den der Kieler Staatsrechtler Paul Ritterbusch1941 im Auftrag des Reichsministeriums für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung ini-tiiert hatte und selbst leitete. Vgl. Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945), Dresden/München 1998(= Schriften zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Bd. 1), S. 239.

193 Hartmann, Vorwort, in: ders. (Hg.), Systematische Philosophie, o.S.194 Heinz Heimsoeth, Geschichtsphilosophie, S. 568.195 Ebd., S. 577.196 „»Fortschritt« ist immer nur für eine Zeit da und in ganz bestimmter Sache, im Rahmen

umgrenzter Zielvorstellungen“ (ebd., S. 626). Auch die ‚Menschheit‘ bezeichnet Heimsoethzufolge kein organisches Gesamtwesen, sondern eine „teleologische Konstruktion“ (ebd.,S. 582). Diese Form des Umgangs mit dem Perspektivismus der zwanziger Jahre lässt sich beivielen Autoren der Zeit beobachten, etwa in Bollnows Kritik an Dilthey. Bollnow – der nichtnur der NSDAP, sondern auch Rosenbergs rassistischem ‚Kampfbund für deutsche Kultur‘angehörte – bestreitet ebenfalls die Idee einer einheitlichen Welt- oder Menschheitsgeschich-

Kritik an der Geschichtsphilosophie im ‚Dritten Reich‘ 57

zwischen den Völkern, die den einen geschichtliche Entwicklung ermög-lichten und den anderen nicht. Geschichte ist in dieser Sicht eine ‚höhere‘Existenzform bestimmter Völker und die Manifestation rassisch bedingter„Lebenskraft“.197 Völker sind „Willenswesen“, „Geschichtskörper“ mit„einheitlich-schicksalhafte[r] Lebenstendenz“.198 Wie schon bei Seifert lässtsich auch hier beobachten, dass anthropologische Theorien vom Ende derzwanziger Jahre aufgegriffen, ihrer ‚philosophischen‘ Seite entkleidet undnaturwissenschaftlich-rassenbiologisch umformuliert werden. Diese Trans-formation mündet nicht in eine neue Geschichtstheorie, sondern in denAppell zur permanenten kämpferischen Selbstbehauptung des völkischenKollektivs.

Die Universitätsphilosophie übernimmt damit weitgehend die von denführenden Parteitheoretikern vertretene Position gegenüber der Geschichteund der Geschichtsphilosophie. Als Repräsentant der Parteilinie kann derPädagoge, Rassenideologe und völkische ‚Wissenschaftsreformer‘ ErnstKrieck gelten, der im Juli 1933 den ehemaligen philosophischen LehrstuhlMax Schelers in Frankfurt übernahm und dort kurz darauf als erster Natio-nalsozialist Rektor einer deutschen Universität wurde.199 NachdemKrieck – der mit dem ‚Dritten Reich‘ die Idee einer „Verschmelzung desReiches der Natur und des jenseitigen Gottesreiches“200 verband – schon1933 eine ‚nationalsozialistische Erziehungslehre‘ und 1936–38 eine ‚völ-kisch-politische Anthropologie‘ publiziert hatte, versuchte er 1940 mit DerMensch in der Geschichte auch der ‚nationalsozialistischen Geschichtsdeu-tung‘ eine gültige Form zu geben. Er stellt darin sowohl den Geschichts-philosophien – in seinen Augen „säkularisierte Mythen“ – als auch dereinem abstrakten Erkenntnisideal verpflichteten Geschichtswissenschaft die‚Geschichtsdeutung‘ als einen zweckgerichtet wertenden Umgang mit derGeschichte entgegen. Durch diese werde der Glaube an eine „gestaltendeKraft“ ganz in den Dienst eines politischen Ziels gestellt.201 Er klassifiziert

te, begründet dies aber mit Differenzen im ‚naturhaft-biologischen Sein‘ der Völker undwirft Dilthey vor, den „konstante[n] biologische[n] Untergrund, die Kräfte des Bluts und derRasse“ verkannt zu haben. Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Zum Begriff der Geschichtlichkeit,in: Heinrich Hunke/Erwin Wischemann (Hg.), Gegenwartsfragen der Wirtschaftswissen-schaft, Berlin 1939, S. 314–373, hier S. 346.

197 Heimsoeth, Geschichtsphilosophie, S. 579.198 Ebd., S. 590, 586 und 584.199 Zu Kriecks universitärer Karriere im ‚Dritten Reich‘ und zu seiner wissenschaftspolitischen

Tätigkeit siehe Gerhard Müller, Ernst Krieck und die nationalsozialistische Wissenschafts-reform. Motive und Tendenzen einer Wissenschaftslehre und Hochschulreform im DrittenReich, Weinheim/Basel 1978 (= Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungs-geschichte, Bd. 5). Müller merkt an, dass Krieck wohl auch „der erste deutsche Universitäts-direktor neuerer Zeit“ war, „der selbst keine Hochschulausbildung hatte“ (S. 108).

200 Ernst Krieck, Die deutsche Staatsidee, 2.-3. Aufl., Leipzig 1934 (1. Aufl. 1917), S. 35.201 Ernst Krieck, Der Mensch in der Geschichte. Geschichtsdeutung aus Zeit und Schicksal,

Leipzig 1940 (= Weltanschauung und Wissenschaft, Bd. 9), S. 300 f.

58 Die „Krise des Menschen“

die Geschichtsphilosophie als eine „inzwischen überwundene“ Denkformder Vergangenheit, verkündet aber auch das „Ende der Geschichtswissen-schaft“.202 Die ‚Geschichtsdeutung‘ profiliert er demgegenüber als Instru-ment der weltanschaulichen Führung, wobei Geschichte von vornhereinnicht als Erkenntnisgegenstand, sondern als ideologisches Konstrukt ver-standen wird. In Kriecks ‚Geschichtsdeutung‘ gibt es keine wie auch immerverstandene geschichtliche Entwicklung, sondern allein „konstante Natur-faktoren“, ‚schöpferische‘ und ‚schicksalhafte‘ Kräfte im Leben der Rassenund Staaten, die durch Führung und Lenkung immer wieder neu für denAufbau mobilisiert werden müssen.203 Kriecks ‚Geschichtsdeutung‘ befasstsich daher auch nur insofern mit vergangenem Geschehen, als sich dieses als‚echter‘, das heißt im ‚Glauben‘ wurzelnder Mythos für die gegenwärtigeAufgabe nutzbar machen lässt.

Die Stellungnahmen anderer, schon länger etablierter Universitätsphi-losophen aus dieser Zeit unterscheiden sich hiervon kaum. Mit ähnlicherTendenz kritisiert etwa Erich Rothacker die Geschichtsphilosophie und diePhilosophische Anthropologie. In einem Handbuchartikel von 1934 ver-wirft er sowohl idealistische als auch naturalistische Entwicklungslehren mitdem Argument, sie würden die „philosophische Bedeutung der Historie“negieren, da sie das „gehaltvolle Geschehen in der Zeit“ durch die Kons-truktion von geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten entwerteten.204 Von hie-raus gelangt er dann zu einer Aufwertung der Begriffe Kultur und Lebens-stil, mit denen der Mensch innerhalb seiner „Lebenssphäre“, des „Volks-und Kulturganzen“, und als „Einheit des Leiblichen und Seelischen“ erfasstwürde.205 In seinem Aufsatz zur Kulturanthropologie von 1942 führt erdiese Argumentation dann weiter aus und grenzt sich zugleich von bisheri-gen kulturwissenschaftlichen Ansätzen ab. Zu Recht hätten Kulturanthro-pologie und Philosophische Anthropologie den Menschen als kulturellbestimmtes Wesen beschrieben; die Aufgabe einer „umfassenden Kulturwis-senschaft“ sei es aber, methodische Konzepte zu entwickeln, die den Men-

202 Ebd., S. 309 f. – Diesen Vorgaben entsprechend wurde die Geschichtswissenschaft im ‚Drit-ten Reich‘ wissenschaftspolitisch auf die Funktion reduziert, Anleitungen und Legitima-tionen politischen Handelns in Gegenwart und Zukunft zu liefern. Siehe hierzu KlausSchreiner, Führertum, Rasse, Reich. Wissenschaft von der Geschichte nach der nationalso-zialistischen Machtergreifung, in: Peter Lundgreen (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich,Frankfurt a.M. 1985, S. 163–252.

203 Krieck, Der Mensch in der Geschichte, S. 308. „Die Geschichte hat ihren Ursprung undQuellpunkt im schöpferischen Willen des Menschen, und dieser Wille wiederum entspringtaus jenem Drang nach oben, der den Menschen ein für allemal von allen anderen organi-schen Wesen abscheidet und ihn über die bloße Naturhaftigkeit erhebt“ (ebd., S. 354).

204 Erich Rothacker, Geschichtsphilosophie, in: Alfred Baeumler/Manfred Schröder (Hg.),Handbuch für Philosophie, Abteilung IV, München/Berlin 1934, Beitrag F, S. 21.

205 Ebd., S. 39 und 41. –ZuRothackersNS-Engagement sieheDahms, Philosophie, S. 215–217.

Kritik an der Geschichtsphilosophie im ‚Dritten Reich‘ 59

schen als aktiven „Kulturträger“ vorstellten.206 Zu diesem Zweck führt erdie Begriffe ‚Handlung‘, ‚Lage‘, ‚Entscheidung‘ und ‚Haltung‘ in die Kul-turanthropologie ein, wodurch er diese einerseits ‚existentialisiert‘ und ande-rerseits, mit Verweis auf Gehlen, der Verhaltensforschung annähert. ImMittelpunkt seiner anthropologischen Kulturdeutung steht die existentiellgefärbte These, die „Urtatsache alles Lebens und zumal des Lebens mensch-licher Gemeinschaften“ sei die „Bewährung in jeweils bestimmten La-gen“.207 In einer ‚Lage‘ kann der Mensch jedoch nicht nach vorgegebenenIdeen oder Plänen handeln, sondern nur aus einer inneren ‚Haltung‘ herausdie notwendigen ‚Entscheidungen‘ treffen. Zwar bezeichnet Rothacker dieHaltung als „ontologische Struktur des Handelns“, doch bindet er siezugleich an leibliche Voraussetzungen: Sie sei eine „eingeborene Grundver-anlagung“ des einzelnen Menschen wie der Kulturgemeinschaft.208 Hierzeigt sich eine biologistische Umdeutung existenzphilosophischer Konzepte,in deren Folge Haltung zur biologischen Disposition wird, die Freiheit derEntscheidung sich darauf beschränkt, diese Disposition handelnd zu ver-wirklichen, und Kultur nur noch als „schicksalvoll[e]“ Gestaltung kollekti-ven Willens erscheint.209

In ähnlicher Weise arbeitet auch Bollnow – der ebenso wie Heidegger zuden Unterzeichnern des „Bekenntnisses der Professoren an den deutschenUniversitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialisti-schen Staat“ vom 11. November 1933 gehörte210 – an einer Neubestim-mung des existenzphilosophischen Begriffs der Geschichtlichkeit. Auch inseinen Augen ergibt sich aus der ‚Krisis des Historismus‘ die Notwendigkeit,Geschichte auf die Seinsstruktur des Menschen zurückzuführen. Gleichzei-tig wirft er der Existenzphilosophie jedoch vor, sie habe das einzelne Subjektder „wirklichen Geschichte“, womit er den „reale[n] Geschehensablauf“meint, entfremdet.211 Heidegger und Jaspers hätten den Menschen nur for-mal, als ein sein Dasein im Bewusstsein der Endlichkeit transzendierendes,und nicht als ein geschichtlich handelndes und geschichtlich veränderbaresWesen beschrieben. Wie ein „lähmender Druck“ lege sich das „abendlicheGefühl des Endes“, das von ihrem Werk ausgehe, über jeden Versuch „auf-bauender Arbeit“ und lasse „die Hervorbringung des neuen Menschen“ als„bare Illusion“ erscheinen.212 Bollnow versucht daher, den existenzphiloso-

206 Erich Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, in: Nicolai Hartmann (Hg.), Systema-tische Philosophie, Stuttgart/Berlin 1942, S. 55–198, hier S. 62.

207 Ebd., S. 64.208 Ebd., S. 67.209 Ebd., S. 194.210 Vgl. hierzu Hoeges, Kontroverse am Abgrund, S. 184 f.211 Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie und Geschichte. Versuch einer Auseinanderset-

zung mit Karl Jaspers, in: Blätter für Deutsche Philosophie 11 (1938), S. 337–378, hierS. 338 und 355.

212 Ebd., S. 339 f.

60 Die „Krise des Menschen“

phischen Ansatz für die Begründung kollektiven Handelns anwendbar zumachen und greift zu diesem Zwecke auf die Lebensphilosophie zurück,die von einem schöpferischen und zugleich überindividuell wirksamenLebensantrieb ausgeht. Nach seiner Konzeption muss der Mensch, umgeschichtlich handeln zu können, sich selbst als Teil des verbindenden undschöpferischen ‚Lebens‘ erfahren.213 Gleichzeitig ist der Mensch jedoch aufeine formale Analyse seiner ‚Lage‘ angewiesen und zur ‚Entscheidung‘gezwungen.

Letztendlich kehrt der Misch-Schüler Bollnow also nicht zur dualisti-schen Anthropologie der Lebensphilosophie zurück, die mit ihrer pessimis-tischen Sicht auf die menschliche Kultur kaum geeignet war, das nationalso-zialistische Erziehungsprogramm zu unterstützen. So lehnt er auch diegeschichtsphilosophischen Konstruktionen von Klages und Spengler ab,wie überhaupt jede Idee einer anthropologisch bedingten Geschichtsent-wicklung oder eines „einheitlichen Ablauf[s] der Menschengeschichte“, diein seinen Augen einer „Entwertung der Geschichte“ gleichkommen, da siedie Möglichkeit aktiver Gestaltung und Veränderung negieren.214 Ge-schichte als Handlungszusammenhang entsteht in dieser Sicht erst aus derEinbindung der biologischen Lebenskräfte in eine Ordnungsstruktur desGeistes. Und dies setzt voraus, dass der Mensch nicht primär triebhaft oderspirituell determiniert, sondern ein sich handelnd verwirklichendes und aufäußere Führung angewiesenes Wesen ist. Trotz der Beschwörung der schöp-ferischen Lebenskräfte kennt diese Konzeption von Geschichte daher keineEntwicklung. Veränderung ist für Bollnow nur als Verwandlung denkbar,als „Wachstum des geschichtlichen Lebens selbst“, worunter er sowohl dieSchaffung neuer „äußerer Ordnungen“ versteht als auch Änderungen in der„geistig-seelischen Struktur“ der Menschen.215 In einer für die Geschichts-reflexion des ‚Dritten Reiches‘ insgesamt charakteristischen Weise verbin-den sich bei ihm die Vorstellungen des Dynamischen und des Dauerhaftenim Bild einer sich steigernden Produktivität, die sich an einem Punkt, ohnezeitliche Ausdehnung, vollzieht. Und in dieser Perspektivierung der Ge-schichte als Handeln, das sich konstituiert, indem es geschichtliche Orien-tierungen zurückweist und nur „die Offenheit in eine Zukunft hinein“kennt,216 gewinnen dann auch die existentiellen Konzepte der ‚Entschlos-senheit‘ und der ‚Entscheidung‘ für Bollnow neuen Sinn: als Motiv für dieVerteidigung nationaler und rassischer Schöpferkraft gegen eine nivellie-rende Welt- oder Menschheitsgeschichte.

213 Vgl. ebd., S. 76 f.214 Bollnow, Zum Begriff der Geschichtlichkeit, S. 321.215 Ebd., S. 331.216 Ebd., S. 330.

Kritik an der Geschichtsphilosophie im ‚Dritten Reich‘ 61

5. Transformation der Philosophischen Anthropologie:Arnold Gehlens „Anthropo-Biologie“

Das anschaulichste Beispiel für das Schicksal der Philosophischen Anthro-pologie im ‚Dritten Reich‘ liefert zweifellos das Werk Arnold Gehlens, der,ursprünglich aus der phänomenologischen Schule stammend, den vonPlessner und Scheler entwickelten Ansatz aufgriff und ihn in den dreißigerJahren zu einer Handlungstheorie auf erfahrungswissenschaftlicher Grund-lage transformierte. Gehlen verstand seine eigene Forschung als Teil einerallgemeinen Erneuerung der Anthropologie, die sich seiner Überzeugungnach in der Philosophie und den Geisteswissenschaften unter dem Eindruckder ‚Neuordnung‘ des Verhältnisses zwischen Staat, Volk und Individuumvollzog. Dadurch, dass „der Mensch […] enthusiastisch“ die Gelegenheitergriffen habe, „seine Gesinnung und seine Handlung, seine Vorstellungvom Leben und die Physiognomie dieses Lebens in Übereinstimmung zubringen“, so Gehlen in seiner Leipziger Antrittsvorlesung von 1935, seiauch dem philosophischen Denken die „abstrakt kontemplative Selbstsuchtbestritten“ und ihm stattdessen die Aufgabe gestellt worden, „den Ort zutreffen, wo Bewußtsein und Sein zusammenfallen“.217 Seine Kritik richtetesich hierbei nicht allein gegen eine geistesgeschichtlich ausgerichtete Phi-losophie, sondern betraf auch die Philosophische Anthropologie der zwan-ziger Jahre, die sich in seinen Augen noch nicht vollständig aus den Fesselnidealistischen Denkens befreit und die Trennung von Sein und Bewusstseintheoretisch nicht überwunden hatte. Genau diese Aufgabe einer endgülti-gen Klärung des Leib-Seele-Problems stellte er dann in den Mittelpunkt sei-nes ersten Hauptwerkes mit dem bescheiden-unbescheidenen Titel DerMensch (1940).

Welchen wissenschaftlichen und kulturellen Anspruch Gehlen mit die-sem Werk verband, illustriert vielleicht am besten eine zeitgenössischeRezension, die es als die langersehnte Revision „sogenannter Anthropolo-gie“ feiert.218 Der Rezensent Gerhard Lehmann – ein Mitarbeiter des ‚AmtsRosenberg‘, für das auch Gehlen wissenschaftliche Gutachten verfasste –stellt darin zunächst fest, dass sich die Philosophie schon lange um eineanthropologische Neuausrichtung bemühe und in ihrem Bereich kaum einBuch erscheine, „in dem nicht, mittelbar oder unmittelbar, das Problem desMenschen zum Thema gemacht und einer Lösung zugeführt“ werde; dochhätten sich all diese Ansätze nach dem jüngsten „Weltanschauungswandel“

217 Arnold Gehlen, Der Staat und die Philosophie (Antrittsvorlesung an der Universität Leip-zig), Leipzig 1935 (= Wissenschaft und Zeitgeist, Bd. 3), S. 16.

218 Vgl. Gerhard Lehmann, Ein neues Bild vom Menschen [Rezension], in: Das Reich, 25. Au-gust 1940, S. 21. – Zu Lehmanns wissenschaftlichen Publikationen siehe Leske, Philosophenim ‚Dritten Reich‘, S. 278 (Anm. 63).

62 Die „Krise des Menschen“

als fragwürdig, als „idealistisch, geistesphilosophisch, geisteswissenschaft-lich“ erwiesen.219 Erst Gehlen habe die ‚Krise des anthropologischen Den-kens‘ überwunden, indem er die Verbindung zur „Fachwissenschaft“ bzw.zu den „zahlreichen Einzelwissenschaften vom Menschen“ hergestellthabe.220

Geht man unter dem Eindruck dieser Deutung an die Lektüre vonGehlens Buch, dann überrascht zunächst, wie stark es noch dem metho-dischen Ansatz Schelers und Plessners verpflichtet ist.221 Wie diese negierter konsequent jede entwicklungsgeschichtliche Ableitung des Menschen,insbesondere die biologische Deszendenztheorie und den Evolutionsgedan-ken, und schließt den Begriff der Ursache aus dem wissenschaftlichenInstrumentarium zur Bestimmung des Menschen aus. Einen Zugang zumVerständnis des Menschen biete allein eine Betrachtungsweise, die ihn alsein prinzipiell antriebsloses und von der Natur getrenntes Wesen, als „Son-derentwurf der Natur“, im Rahmen seiner spezifischen „Existenzbedingun-gen“ untersuche.222 Statt mit der Kategorie der Entwicklung müsse manden Menschen mit der des „Systems“ erfassen.223

Damit greift Gehlen den Grundgedanken der Philosophischen Anthro-pologie, das Theorem der Sonderstellung bzw. Exzentrizität, auf. Allerdingskonzipiert er die „Sonderstellung des Menschen“ abweichend.224 WährendScheler und Plessner die Distanz des Geistes zum Leben als wesenskonstitu-tiv für den Menschen erkennen und beide als getrennte Sphären unter-schiedlichen Ursprungs darstellen, erklärt Gehlen den Menschen aus derHandlungsweise, die ihm durch seine exzentrische Stellung – durch seinenInstinktmangel – aufgezwungen ist. Statt als Natur- und Geistwesen be-stimmt er den Menschen primär als handelndes Wesen, was in der Kon-sequenz aber einer Naturalisierung des Geistes gleichkommt. Alles Geistigehat in dieser „anthropo-biologische[n]“ Betrachtungsweise seinen Ursprungin der Handlung, und diese wiederum resultiert aus der „besondere[n] Lei-besbeschaffenheit des Menschen“, seiner ‚morphologischen‘ Sonderstellung,

219 Lehmann, Ein neues Bild vomMenschen, S. 21.220 Ebd.221 Zum großen, von Gehlen selbst konsequent heruntergespielten Einfluss Schelers auf Gehlens

Entwurf einer Philosophischen Anthropologie siehe Lothar Samson, Gehlen und Scheler:Gehlens Anthropologie-Vorlesung von 1936, in: Helmut Klages/Helmut Quaritsch (Hg.),Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens. Vorträge und Diskussionsbeiträgedes Sonderseminars 1989 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin1994 (= Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 113), S. 569–594. Die wichtigste Abwei-chung von Schelers Ansatz erkennt Samson darin, dass Gehlen Schelers Geistbegriff ohne diemetaphysische Implikation, die er in Die Stellung des Menschen im Kosmos hat, übernimmtund das Programm einer „Anthropologie ohne Metaphysik“ vertritt (S. 574).

222 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940,S. 8 f.

223 Ebd., S. 10.224 Ebd., S. 11.

Transformation der Philosophischen Anthropologie 63

seinen ‚Organprimitivismen‘ und seiner Unspezialisiertheit.225 Da sichmenschliches Handeln und die Hervorbringung einer Kulturumwelt nunaber nicht aus dem reinen Mangel erklären lassen, ergänzt Gehlen die Theo-rie des biologischen Mängelwesens durch eine besondere Antriebstheorie –ähnlich wie Plessner, dessen Namen er in der Erstausgabe von Der Menschaber an keiner Stelle erwähnt. Demnach verfügt der Mensch über ein Poten-tial an Antriebsenergie, die in früherer Zeit an Instinkthandlungen gebun-den war, infolge der ‚Instinktreduktion‘ aber zu einer entdifferenzierten„Antriebsstruktur“ diffundiert sei, die alle Handlungen ‚dynamisch über-determiniere‘ und durch bewusste Kontrolle zum planmäßigen Aufbaueiner Kultur nutzbar gemacht werden könne.226 Auch Gehlen greift damitauf die Trieblehre zurück, um den ‚schöpferischen‘ Charakters des ‚DrittenReichs‘ begründen zu können, und distanziert sich gleichzeitig von vitalisti-schen Theorien, indem er diese Triebe nicht mit bestimmten metaphysischoder organisch determinierten Zielen verknüpft, sondern als eine in ver-schiedene Richtungen lenkbare „Energie“ beschreibt.227 Es zeigt sich hierdie schon bei anderen Theoretikern in dieser Zeit beobachtete Ambivalenzim Umgang mit der lebensphilosophischen Anthropologie, deren dyna-misches Potential man sich zunutze machen möchte, ohne daraus eineGeschichtsphilosophie abzuleiten.

Aufgrund ihrer Ungerichtetheit kann die dem Menschen eigene An-triebsenergie Gehlen zufolge planmäßig kanalisiert werden, ja sie bedarfnotwendigerweise einer Ordnung, eines ‚Führungssystems‘, welches sie mitbestimmten Handlungen verknüpft. Die „Formierung des Antriebslebens“bezeichnet er mit existentiellem Pathos als eine „mit dem Dasein des Men-schen chronisch und in jeder Generation neu gesetzte Aufgabe“.228 Der

225 Ebd., S. 8. Gehlen spricht in diesem Zusammenhang von „einer ganz neuen Wissenschaft:einer Gesamtwissenschaft des Menschen“ (S. 10).

226 Ebd., S. 392.227 Ebd., S. 416. – Eine ähnliche Kritik am Vitalismus formulierte Gehlen schon in seiner Leip-

ziger Antrittsvorlesung: „Dabei findet der Vitalismus seinen Gegner in sich selbst, nämlichden heimlichen Zweifel an einer Bestreitbarkeit der Existenz aus dem bloßen Leben, denn esist eine sichere Erfahrung, daß das Leben des Menschen auch im biologischen Sinne nurdann gedeiht, wenn der Geist seine ihm gemäße Welt ergriffen hat. Die Natur im Menschenkommt sich selbst überlassen zu nichts, sie kommt zu ihrer eigenen Kraft und Leistung nurals Organ und geführte Natur, nur als sich anlehnend an einen Willen, der wollen kann, weiler in den konkreten Daseinsordnungen sich jeweils schon vorgeformt und aufgefangen fin-det“ (Gehlen, Der Staat und die Philosophie, S. 22).

228 Gehlen, Der Mensch, S. 417. – Zur existentiellen ‚Grundstimmung‘, die nicht nur GehlensFrühschriften, sondern sein gesamtes Werk und auch Der Mensch prägt, vgl. Karl-SiegbertRehberg, Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens. „Persönlichkeit“ als Schlüsselkate-gorie der Gehlenschen Anthropologie und Sozialtheorie, in: Helmut Klages/Helmut Qua-ritsch (Hg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens. Vorträge und Dis-kussionsbeiträge des Sonderseminars 1989 der Hochschule für VerwaltungswissenschaftenSpeyer, Berlin 1994 (= Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 113), S. 491–530: „Alleseine Schlüsselkategorien – »Mängelwesen«, »Antriebsüberschuß«, »Entlastung«, »Hand-

64 Die „Krise des Menschen“

Geist, den Gehlen, wie erwähnt, nicht als eine von der Handlung unabhän-gige Instanz, sondern nur als planende Intelligenz versteht, nimmt in dieserKonzeption direkten Einfluss auch auf die Physis des Menschen, so dass ‚Er-ziehung‘ und ‚Züchtung‘ zusammenfallen und die Entwicklung einer Kul-turumwelt als Ergebnis einer sich vom Kollektiv selbst verordneten behavio-ristischen Konditionierung erscheint.229 Die Ordnung der Antriebe –zugleich die Ordnung des Seelenlebens – und der ‚ordo des Leibes‘ sind nurverschiedene Facetten eines einheitlichen Programms der Formierung, dasGehlen auch unter den Begriff „Sittlichkeit“ fasst.230 Damit liefert er eineanthropologische Fundierung des nationalsozialistischen Weltanschauungs-begriffs, der in seiner Neufassung als ‚Führungssystem‘ allerdings eine ehersachliche als idealistische Note erhält. ‚Führungssysteme‘ liefern einen „ab-schließenden Deutungszusammenhang der Welt“ und entwickeln „Formen,in denen eine Gemeinschaft sich feststellt und im Dasein hält“.231 Das‚Führungssystem‘ – 1950 ersetzt Gehlen diesen Begriff durch den der‚Institution‘ – meint einen formalen Rahmen, der dann mit konkreten‚Zuchtzielen‘ ausgefüllt werden muss. Zwar betont er ausdrücklich die engeVerwandtschaft dieses Begriffs mit dem von Rosenberg verwendeten Begriffdes ‚Zuchtbildes‘, blendet dabei aber die rassenbiologischen bzw. rassenme-taphysischen Implikationen der Züchtungsideologie, wie sie Rosenberg ver-trat, aus.232 Statt als Glauben beschreibt er die nationalsozialistische Welt-anschauung als „wissenschaftliche[s] Weltbild“ und als „System von

lung«, »Zucht«, »Reizüberflutung« – sind existentielle Problemmetaphern, dramatisierendeMerkzeichen für die Bedrohtheit des Menschen“ (S. 492).

229 Gehlen selbst erkannte in der neueren Verhaltensforschung eine der wichtigsten Hilfswissen-schaften der Philosophie. So setzte er sich nach seiner ministeriellen Versetzung auf den‚Kant-Lehrstuhl‘ in Königsberg für die Berufung von Konrad Lorenz ein und gliederte des-sen ‚Institut für vergleichende Psychologie‘ seinem ‚Philosophischen Institut‘ an. Siehe hierzuGerwin Klinger, Schopenhauer als Ahnherr einer faschistischen Anthropologie. Gehlens Lek-türe von 1938, in: Ilse Korotin (Hg.), „Die besten Geister der Nation“. Philosophie undNationalsozialismus, Wien 1994, S. 87–114, bes. S. 90. Zu Gehlens Programm einer Neu-ordnung der Wissenschaften im Kontext des ‚Dritten Reiches‘ vgl. auch Gerwin Klinger, DieModernisierung des NS-Staates aus dem Geist der Anthropologie. Die Konzepte „Zucht“und „Leistung“ bei Arnold Gehlen, in: Wolfgang Bialas/Manfred Gangl (Hg.), Intellektuelleim Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. u. a. 2000 (= Schriften zur politischen Kultur derWeimarer Republik, Bd. 4), S. 299–324, bes. S. 305.

230 Gehlen, Der Mensch, S. 417. „Von außen nach innen ist da ein untrennbarer Zusammen-hang: die konkrete Welt mit ihren Aufgaben und Werken, in der jeder lebt; die besondereWeise der Arbeit, in der der Mensch diese Aufgaben bewältigt, dann die Gewohnheiten, Ein-stellungen und Haltungen, die ja in erster Linie an die Leistungen der Tätigkeit anwachsen;die Ordnung der Antriebe, die nun eine bestimmte Form gefunden haben, die Konzentra-tion des Willenslebens und endlich die vegetative Ordo des Leibes, der unter diesen Bedin-gungen seine menschliche Gesundheit hat – nirgends ist da ein Schnitt, und wenn an einemGlied der Kette dem Menschen die Aufgaben entzogen werden, wird er am anderen krankund verfällt“ (S. 429).

231 Ebd., S. 448 und 450.232 Vgl. ebd., S. 448 und 462.

Transformation der Philosophischen Anthropologie 65

Welterkenntnissen von durchaus religiöser »Neutralität«“.233 ‚Wissenschaft-lich‘ und ‚sachlich‘ ist der Nationalsozialismus für Gehlen im Sinne einernaturwissenschaftlich und soziologisch fundierten Pädagogik, die den Men-schen als führungs- und formungsbedürftiges Naturwesen behandelt unddabei auf jede „spätchristliche Vollkommenheits- und Fortschrittsmystik“verzichtet.234

Gehlen führte sein Forschungsprogramm nach 1945 bekanntlich mitgroßem Erfolg fort, nur bezog er dieses dann nicht mehr auf staatliche Füh-rungs- und Züchtungsansprüche, sondern präsentierte die PhilosophischeAnthropologie als eine kritische Kulturtheorie der modernen Industrie- undKonsumgesellschaft. Er selbst galt in der Nachkriegszeit, in der die NamenScheler und Plessner weitgehend vergessen waren, als der eigentliche Be-gründer dieser wissenschaftlichen Disziplin und seine empiristische Kon-zeption als ihre methodische Basis.235 Diese Wahrnehmung wurde durchseine eigenen Aufsätze maßgeblich gesteuert. So stellte er die PhilosophischeAnthropologie in seinem 1951 im Merkur publizierten Aufsatz Der gegen-wärtige Stand der anthropologischen Forschung als Projekt einer „Wissenschafteigenen und neuartigen Stils“ vor, die „die biologische Entwicklungslehre,die Morphologie und Anatomie, die Psychologie, Soziologie, Sprachtheorieusw.“ integriere und sich auf diese Weise zu einer verschiedene Einzeldiszip-linen verbindenden „empirische[n] Tatsachenwissenschaft“ entwickeln wer-de.236 Seine schon früher entwickelten Theorien der Weltoffenheit und derInstinktreduktion untermauerte er nun mit neuen Forschungsergebnissenaus der Entwicklungsbiologie und Verhaltensforschung, insbesondere vonAdolf Portmann, Otto Storch, John Dewey, Margaret Mead und KonradLorenz. Gleichzeitig warnte er davor, aus diesen wissenschaftlichen Erkennt-nissen „generelle weltanschauliche Folgerungen“ abzuleiten.237

Auch für jemanden, der Gehlens Stellung im ‚Dritten Reich‘ nichtkannte, war es jedoch kaum zu übersehen, dass sein Entwurf einer anthro-pologischen Tatsachenwissenschaft keineswegs weltanschaulich neutral war.Die weltanschaulichen Implikationen werden besonders an seinem Anfang

233 Ebd., S. 463 und 462.234 Ebd., S. 463. – Karl-Siegbert Rehberg, der Herausgeber der Gehlen-Gesamtausgabe, teilt im

Nachwort der von ihm betreuten textkritischen Edition von Der Mensch mit, dass GehlensKonstantenlehre und sein Geschichtspessimismus von den „Tat-Ideologen“ innerhalb derNSDAP abgelehnt worden seien. Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seineStellung in der Welt, textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der1. Aufl. von 1940, hg. von Karl-Siegbert Rehberg (= Arnold Gehlen Gesamtausgabe, Bd. 3/1und 3/2), Frankfurt a.M. 1993, Bd. 3/2, S. 754.

235 Vgl. hierzu Herbert Schnädelbach, Nachwort, in: Arnold Gehlen, Anthropologische undsozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek 1986 (= rowohlts enzyklopädie, Bd. 424),S. 267–475, bes. S. 271 f.

236 Arnold Gehlen, Der gegenwärtige Stand der anthropologischen Forschung, in: Merkur 5(1951), S. 379–389, hier S. 379 und 388.

237 Ebd., S. 379.

66 Die „Krise des Menschen“

1952 in St. Gallen gehaltenen Vortrag über Das Bild des Menschen im Lichteder modernen Anthropologie deutlich, in dem er eine ausgesprochen kultura-listische Perspektive mit Elementen konservativer Zivilisationskritik verbin-det. Gleich zu Anfang konstatiert er darin, dass das „Menschenbild Freuds“mit seiner Hypertrophie der Triebe „zwei Weltkriegen“ nicht habe standhal-ten können, und präsentiert seine Theorie der Weltoffenheit und Außenlen-kung als Paradigma einer modernen Anthropologie, die auf Geist- undTrieblehre verzichten könne.238 Tatsächlich begründet er die Notwendigkeitkultureller bzw. institutioneller Ordnung jedoch nicht allein mit der natür-lichen Antriebs- und Instinktlosigkeit des Menschen, sondern in entschei-dender Weise mit seiner gefährlichen Triebnatur. Gehlen greift dabei seinein Der Mensch entwickelte Theorie von der entdifferenzierten Antriebs-struktur auf, beschreibt das dynamische Potential des Menschen jetzt abernicht mehr als eine schöpferische Lebenskraft, die sich durch ‚Formierung‘für ‚Züchtungsziele‘ nutzbar machen lasse, sondern erfasst es, in diesemeinen Punkt Freud zustimmend, mit dessen Theorie des Aggressionstriebs.Wenn er fordert, es sei „Zeit für einen Gegen-Rousseau, für eine Philoso-phie des Pessimismus und des Lebensernstes“, dann deutet er Kultur ebensowie Freud als System der Triebkontrolle und Triebsublimation bzw. als„Schleuse […], welche bestimmte Anteile kanalisiert und andere ab-dämmt.“239 Und seine zivilisationskritische Diagnose, die moderne euro-päische und amerikanische Gesellschaft leide „unter einer zu großen Entlas-tung von den negativen Seiten des Lebens“, unter zu großen „reinintellektuellen Anforderungen“ und unter Reizüberflutung, klingt wie eineReformulierung der Neurosenlehre Freuds.240 In Konfrontation mit derliberalen Massengesellschaft greift Gehlen nach 1945 also partiell auf dieTrieblehre zurück. Und diese methodische Wendung ist eng verbunden mitder neuen politischen Orientierung am rechtskonservativen Modell von Eli-tenherrschaft.241

238 Arnold Gehlen, Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie, in: Merkur6 (1952), S. 533–545, hier S. 533 (wiederabgedruckt in: Die neue Weltschau. Zweite inter-nationale Aussprache über den Anbruch eines neuen aperspektivischen Zeitalters veranstaltetvon der Handels-Hochschule St. Gallen, Stuttgart 1953, S. 81–99). Gehlen spricht mitBlick auf Freud von einer „knifflige[n] Scholastik der Perversionen“, die auf den „Rahmeneines bestimmten Großstadtsortiments“ beschränkt sei (ebd., S. 533).

239 Ebd., S. 537 und 540.240 Ebd., S. 541.241 Die politischen Implikationen werden von Gehlen am Ende seines Vortrags klar benannt:

„Die ewige Revolution gegen die Bestimmung desMenschen zur Kreatur, zur harten Notwen-digkeit und zu mühseligen Pflichten, diese ewige Revolution, aus der der Mensch immernatürlicher und immer schreckenerregender hervorgeht, sie wird nicht eher beendet sein, alsbis irgendwelche Eliten und »schöpferische Minderheiten« die ungemeine Herausforderungannehmen, die in der konsequenten und kommandierenden, aber sinnleeren Entwicklungliegt: in demTrend zumWohlleben auf derWeltebene“ (ebd., S. 545;Hervorhebung imText).

Transformation der Philosophischen Anthropologie 67

6. ‚Stimmung‘, ‚Haltung‘, ‚Weltanschauung‘. Transformationender Existenzialanalytik bei Otto F. Bollnow und Hans Lipps

Gehlen betrachtete den Menschen mehr in der Außenperspektive, in seinenVerhaltensweisen und Handlungen, und entwickelte mit dem ‚Führungssys-tem‘ eine Theorie vornehmlich der institutionellen Lenkung. Die innereSphäre der psychischen Vorgänge, an der pädagogische Konzepte anzuset-zen hätten, kam bei ihm nicht in den Blick. Mit dieser Seite, mit dem Pro-blem der ‚Stimmung‘, befassten sich in der gleichen Zeit unter anderenOtto Friedrich Bollnow in Das Wesen der Stimmungen (1941) und HansLipps in Die menschliche Natur (1941). Beide Werke lassen sich zum Genreeiner philosophisch-anthropologischen Traktatliteratur im ‚Dritten Reich‘rechnen, die Fragen etwa der Physiognomik oder der Menschenkenntnisbehandelte und damit an die Tradition anthropologischer Popularpädago-gik aus den zwanziger Jahren anknüpfte.

Der Begriff der Stimmung, der eine wichtige Rolle in der lebensphiloso-phischen Anthropologie etwa bei Simmel oder Dilthey spielt, zielt nichtanders als Gehlens Begriff der Handlung auf das leib-seelische Zentrum,auf den Wesenskern des Menschen, in dem Psyche, Physis und Umweltineinander verflochten sind.242 Stimmungen bilden Bollnow zufolge die„Grundverfassung“ des Menschen;243 in ihnen ist die Welt noch nichtgegenständlich geworden, vielmehr liegen sie „noch ganz in der ungeschie-denen Einheit von Selbst und Welt“.244 Sie unterscheiden sich damitgrundsätzlich von Gefühlen, die intentional und gegenstandsbezogen sind.Und sie unterscheiden sich genauso vom Konzept des irrationalen Vor-bewussten, das den Zusammenhang von Mensch und Umwelt in eine zeit-lich-kausale Relation auflöst. Stimmungen dagegen sind geschichtslos. Indiesem Sinne behandelt Heidegger die Stimmungen im Rahmen seinerExistenzialanalyse: als ontische Strukturen, die das Dasein ‚erschließen‘ –das Dasein ist „je schon immer gestimmt“ – und die die ontologische Deu-

242 Zur wechselnden Semantik des Stimmungsbegriffs in der Ästhetik- und Philosophie-geschichte vgl. David E. Wellbery, Stimmung, in: Ästhetische Grundbegriffe. HistorischesWörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2003,S. 703–733.

243 Otto Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, 2., durchgesehene und erweiterteAufl., Frankfurt a.M. 1943 (1. Aufl. 1941), S. 19.

244 Ebd., S. 24. Als Beleg für die welterschließende Funktion der Stimmungen führt Bollnowdie Landschaftserfahrung und insbesondere die literarische Landschaftsschilderung an. Beider Zuschreibung einer Stimmung zu einer Landschaft finde eben keine „bloß gleichnishaf-te“ Übertragung subjektiver Eindrücke auf eine objektive Welt statt, vielmehr gehe es um„das gemeinsame, Mensch und Welt zusammen umgreifende Durchzogensein von einembestimmten Stimmungsgehalt“ (S. 25). Beispielhaft sieht er dies übrigens in den Land-schaftsschilderungen von Horst Lange realisiert.

68 Die „Krise des Menschen“

tung auf eine fundamentale ‚Befindlichkeit‘ zurückführt, auf die Geworfen-heit bzw. die Angst.245 Die Stimmung ist demnach eine Seinsart, die dasVerhältnis des Menschen zur Welt in ursprünglicherer Weise bestimmt alsdas Wollen oder Erkennen.

Bollnow bezieht sich zwar immer wieder positiv auf Heidegger, gleich-zeitig ist er aber stark daran interessiert – ähnlich wie Gehlen im Umgangmit der Philosophischen Anthropologie –, die mittels der Existenzialanalysegewonnene Einsicht in das Wesen der Stimmungen durch die Ergebnisseempirischer Wissenschaften abzusichern.246 So beruft er sich auf medizi-nisch-psychologische Forschungen, insbesondere auf die phänomenologischausgerichtete Psychopathologie des Schweizers Ludwig Binswanger, die die„stimmungsvolle Einheit von menschlichem Gemüt und umgebenderWelt“ von „medizinischer Seite“ her belegt hätten.247 Der Begriff der Stim-mung erhält dabei eine psychosomatische Dimension, wodurch auch nega-tive und krankhafte Aspekte in den Blick rücken. Die Stimmung ist nunnicht mehr nur ein gegebener Daseinsmodus, sondern Objekt von Wertun-gen, Behandlungen und Regulierungen. Die „Verstimmung“ und die „Un-beständigkeit der Stimmung“ stellen in Bollnows Augen „wirklich ernst-hafte Gefahrenmomente“ dar, weshalb man eine „einfache »Auslieferung«des Menschen an die »bloße Stimmung«“ verhindern und umgekehrt diepositiven, glücklichen Stimmungen unterstützen müsse.248 Ebenso warntLipps vor den Gefahren der Niedergeschlagenheit und Depression, die denMenschen unfrei machten, Entscheidungen zu treffen, und stellt diesen dieschöpferischen Wirkungen der gehobenen Gemütszustände gegenüber.249

Bollnow distanziert sich gleichzeitig auch von der ‚negativen‘ Sicht Heideg-gers, dem er zum einen vorhält, die Stimmungen als Erfahrungen des unei-gentlichen Seins abgewertet und in ihrer bestimmenden Funktion für dasalltägliche Dasein nicht ernst genug genommen zu haben, zum anderenalles Erleben in einseitiger Weise auf die negative Grundbefindlichkeit derAngst zurückgeführt zu haben.

Der therapeutische Blick auf die Stimmungen ist bei Bollnow undLipps maßgeblich durch die Forschungen des schweizerischen PsychiatersLudwig Binswanger geprägt, der zu Beginn der dreißiger Jahre, anknüpfendan Forschungen von Eugen Minkowski und Erwin Strauss, die Methodender Phänomenologie und Ontologie für die psychiatrische Theorie nutzbarzu machen versuchte. Binswangers phänomenologische Psychologie greift

245 Heidegger, Sein und Zeit, S. 134.246 Zu Bolllnows anthropologischer ‚Korrektur‘ des Heideggerschen Stimmungsbegriffs vgl.

auch Wellbery, Stimmung, S. 727.247 Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, S. 26.248 Ebd., S. 34 und 45.249 Vgl. Hans Lipps, Die menschliche Natur, Frankfurt a.M. 1941 (= Frankfurter wissenschaftli-

che Beiträge, Kulturwissenschaftliche Reihe, Bd. 8), S. 98 ff.

‚Stimmung‘, ‚Haltung‘, ‚Weltanschauung‘ 69

ebenfalls auf den Stimmungsbegriff Heideggers zurück und beschreibt die‚krankhaften‘ wie die ‚gesunden‘ Zustände der Psyche als je verschiedeneFormen raum-zeitlichen Erlebens und als Ausprägungen der ‚Gestimmtheitdes Daseins‘. Stimmung ist also hier die Zentralkategorie einer phänome-nologischen und ontologischen Definition der psychophysischen Einheitdes Menschen. Sie bezeichnet den Bereich, in dem Ich und Welt in einem„Beziehungssystem“ zusammenhängen.250 Im Unterschied zur herkömm-lichen Psychologie operiert diese Definition der Psyche als „anthropolo-gisch-phänomenales Wesensverhältnis“251 ohne die Kategorien von Ursacheund Wirkung, das heißt sie führt psychische Phänomene nicht auf biologi-sche oder biographische Gründe zurück, sondern will sie vom Sein desMenschen „in und mit seiner Welt“ her verstehen.252 Anders als die lebens-philosophische Anthropologie, die ja ebenfalls von einem psychophysischenKomplex ausgeht, sieht sie die Stimmungen nicht von einem vitalenUrgrund bestimmt.253

Der Mensch erscheint in dieser Perspektive als ein äußerst labilesWesen. Die Möglichkeit der Krankheit – Depression, Melancholie oderSchizophrenie – ist in seiner Daseinsstruktur immer schon angelegt, und ersteht stets unter Gefahr, durch eine Störung des raum-zeitlichen Erlebensaus der Welt herauszufallen. Als solche Störungen fasst Binswanger bei-spielsweise die zwanghafte Verzeitlichung, wie sie in der ‚Ideenflucht‘ vorlie-ge, oder das ‚Leerheitserlebnis‘, das für Depressionen typisch sei. Grund-sätzlich labil ist der Mensch deshalb, weil alle Verzeitlichung undVerräumlichung, mit der er sich sein Dasein erschließt, auf der ontologi-schen Grundstruktur präsentischen Zeiterlebens – wenn man so will: aufder ‚Geworfenheit‘ des Menschen – basiert. Das präsentische Erleben hatbei ihm einen prinzipiell zwiespältigen Charakter, und nicht nur einen„düsteren“, wie bei Heidegger, dem Binswanger vorwirft, einseitig die Angst

250 Ludwig Binswanger, Das Raumproblem in der Psychopathologie, in: Zeitschrift für diegesamte Neurologie und Psychiatrie 145 (1933), S. 598–647, hier S. 623.

251 Ebd., S. 624.252 Ludwig Binswanger, Über Ideenflucht, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie

Bd. 27 (1931), S. 203–217; Bd. 28 (1932), S. 18–72 und 183–202; sowie Bd. 29 (1933),S. 1–38 und 193–252, hier Teil 2, S. 44. Sowohl Bollnow als auch Lipps beziehen sich aufdiese Studie.

253 Der lebensphilosophische Stimmungsbegriff wurde maßgeblich durch Dilthey geprägt: „Je-der große Eindruck zeigt dem Menschen das Leben von einer eigenen Seite; dann tritt dieWelt in eine neue Beleuchtung: indem solche Erfahrungen sich wiederholen und verbinden,entstehen unsere Stimmungen dem Leben gegenüber. Von einem Lebensbezug aus erhält dasLeben eine Färbung und Auslegung in den affektiven und grüblerischen Seelen – die univer-salen Stimmungen entstehen. Sie wechseln, wie das Leben dem Menschen immer neue Sei-ten zeigt: aber in den verschiedenen Individuen herrschen nach ihrem Eigenwesen gewisseLebensstimmungen vor.“ (Wilhelm Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Aus-bildung in den metaphysischen Systemen, in: Max Frischeisen-Köhler [Hg.], Weltanschau-ung, Berlin 1911, S. 1–51, hier S. 10)

70 Die „Krise des Menschen“

als Zugang zum Seienden zu privilegieren.254 Es umfasst nämlich sowohldas positive Erleben des Getragenseins, des „glückhaft-schwebenden Stei-gens“, welches das Bedürfnis nach Vereinigung mit der Welt weckt, als auchdas negative Erleben des „Fallens“, das in die Melancholie führe und verein-zelnd wirke.255

Auf dem Hintergrund der Binswangerschen Psychologie wird die spezi-fische Kritik Bollnows und Lipps an der Stimmung besser verständlich.Gerade weil sie mit Binswanger die fundamentale Bedeutung der Stim-mung für die Stellung des Menschen in der Welt anerkennen, muss ihnenderen Labilität aus erzieherischer Sicht besonders problematisch erscheinen.Während Binswanger sich darauf konzentriert, psychologische Phänomeneontologisch zu ‚verstehen‘, richtet sich ihr Interesse auf Möglichkeiten derBeeinflussung und Steuerung der Stimmungen. Beide betonen die Notwen-digkeit, ‚Herrschaft‘ über die Stimmungen zu gewinnen und das Verhältnispassiven Bestimmtwerdens in das einer aktiven Bestimmung zu verwandeln,wofür sie auf den ebenfalls anthropologisch geprägten Begriff der Haltungzurückgreifen.

Die ambivalente Bewertung der Stimmung ist vor allem bei Bollnow zubeobachten. Während bei Lipps die kritische Sichtweise überwiegt, betonter die positive Bedeutung der ‚gehobenen‘ Stimmungen für alle ‚schöpferi-schen‘ Leistungen. An Binswanger anknüpfend wertet er die gehobeneStimmung auf zu einer zweiten Form ursprünglicher Zeitlichkeit, nebender Angst, und differenziert zwischen einem als belastend erfahrenen ‚Zeit-stillstand‘ und einer als beglückend erfahrenen ‚Zeitlosigkeit‘ – zwischendem Erleben, dem die Zeit im Angesicht des Nichts zur Angst gerinne, unddem mystischen Erlebnis der Getragenheit, des „stehenden Jetzt“ und „rei-ner Ewigkeit“, in dem sich der Augenblick zur Dauer ausdehne.256 Imzuletzt genannten Zustand erkennt der Pädagoge eine wichtige Motivationdes Handelns und den Untergrund allen gemeinschaftlichen Seins: Aus ihmerwachse „notwendig eine neue Activität“ im „zeitlich-geschichtlichenLeben“.257 Wiederum zeigt sich hier, dass die ‚nationalpädagogische‘ Funk-tionalisierung der Existenzphilosophie den teilweisen Rückgriff auf lebens-philosophische Vorstellungen bedingt. Denn wenn Bollnow die positivenStimmungen als „Lebensuntergrund“ ‚schöpferischen‘ Handelns bestimmt,verknüpft er den anthropologisch-phänomenologischen Stimmungsbegriff

254 Binswanger, Über Ideenflucht, Teil 2, S. 38.255 Ebd., S. 32. Bollnow folgt Binswanger in dieser Kritik an der Existenzialontologie. Negativ

ist die Angst für ihn wegen ihrer vereinzelnden Wirkung. Der Mensch, der sich seinerGeworfenheit bewusst werde, gewinne zwar eine spezifische Freiheit, zerbreche aber zugleichalle Verbindungen zu seiner Umwelt und zur Gemeinschaft. „Eigentliches Dasein“ im SinneHeideggers sei notwendigerweise „Dasein des Einzelnen in seiner Einsamkeit“ (Bollnow,Das Wesen der Stimmungen, S. 63).

256 Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, S. 155 f.257 Ebd., S. 227 f.

‚Stimmung‘, ‚Haltung‘, ‚Weltanschauung‘ 71

mit demModell vom Schichtenaufbau der Seele, das die ‚höheren‘ geistigenFormen wie ‚Willen‘ und ‚Charakter‘ als Ausdruck, Hemmung oder Sub-limation des vitalen Unterbaus erklärt.258

Stärker der Existenzphilosophie verpflichtet zeigt sich Bollnow aller-dings da, wo es zu erklären gilt, wie die Grundstimmung der Getragenheitin die vom neuen Staat geforderte planvolle Aktivität überführt werdenkann und wie „Entartungen der Stimmung“ zu bekämpfen sind.259 Hierkommen erneut die Denkfiguren der Distanz und Entschlossenheit zurAnwendung: Nach Bollnow wird eine Neustrukturierung der Psyche dannmöglich, wenn „äußere Ereignisse“ mit einer „elementaren Gewalt“ und der„Unbedingtheit der sittlichen Forderung“ an den Menschen herantretenund die „grundlegende Stellung der Stimmung für das gesamte seelischeLeben“ erschüttern.260 In diesem Moment muß der Mensch gegenüber sei-nen Stimmungen ‚Stellung nehmen‘ und sie den Erfordernissen der Situa-tion anpassen, und dies setzt wiederum voraus, dass er ein ‚sachliches‘ Ver-hältnis zur Welt gewinnt.261 Der leib-seelische Komplex wird also denHandlungsanforderungen entsprechend neu ausgerichtet. Bollnow wieLipps beschreiben diesen Vorgang als Übergang von der ‚Stimmung‘ zur‚Haltung‘.

Ähnlich wie Gehlens ‚Führungssystem‘ ist die ‚Haltung‘ im Zwischen-bereich von Reflexion und Prägung angesiedelt. Der Husserl-Schüler Lippsbeschreibt sie als eine Art Instinktersatz, der den „Spielraum“ der Gebärdenund Affekte festlegt und dem Menschen den Raum erschließt.262 Die kör-perliche Haltung beeinflusst dabei unmittelbar auch die Gemütslage.263

258 Der theoretische Synkretismus Bollnows wird besonders daran kenntlich, dass er sich gleich-zeitig auf die Forschungen Binswangers und auf Philipp Lerschs Der Aufbau des Charakters(1938) beruft. Lersch – Heerespsychologe, Professor für Pädagogik, Psychologie und Phi-losophie sowie Herausgeber der Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde –entwarf in kritischer Bezugnahme auf Klages ein Stufenmodell des Seelenlebens, in dem dieStimmungen zum vitalen ‚Unterbau‘ gehören, zu dem sich der Willen kontrollierend undgrundsätzlich antagonistisch verhält. Die „innere Willenshaltung“ des Menschen definiertLersch als „den Grad, in dem er seine seelischen Vorgänge und Zustände so zu organisierenvermag, daß sie der Durchführung eines gewählten Zieles nicht hemmend im Wege stehen“(Philipp Lersch, Der Aufbau des Charakters, Leipzig 1938, S. 202). Ein enger Zusammen-hang von Stimmung und Weltanschauung bestand schon bei Dilthey, der die „Lebensstim-mungen“ als „die unterste Schicht für die Ausbildung der Weltanschauungen“ beschrieb (vgl.Dilthey, Die Typen der Weltanschauung, S. 11).

259 Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, S. 135.260 Ebd., S. 118 f.261 Vgl. ebd., S. 125.262 Lipps, Die menschliche Natur, S. 21. Vgl. auch ebd., S. 19: „Der Mensch hat nicht das unge-

brochene Verhältnis zu seiner Natur, wie sie das Tier hat. Gerade von daher fehlt aber demTier die Haltung.“

263 Die These, dass der Mensch immer „in der Einheitlichkeit seiner leiblichen Natur“ agiere(ebd., S. 14), belegt Lipps in mentalitätsgeschichtlich aufschlussreicher Weise mit eigenenKriegserfahrungen. So weist er darauf hin, dass Müdigkeit „durch Marschieren im Takt“

72 Die „Krise des Menschen“

Ebenso geht auch Bollnow von einem untrennbaren Zusammenhang vonkörperlicher und geistig-charakterlicher Haltung aus und bestimmt Hal-tung allgemein „als eine übergreifende Gesamtformung“ einzelner Verhal-tensweisen.264 Die Haltung übernimmt damit wesentliche Funktionen derStimmung, ist aber stärker weltbezogen und frei von den die Stimmungenkennzeichnenden Schwankungen.265 Man kann sie auch als eine zeitbezo-gene Modifikation der ‚Entschlossenheit‘ ansehen, insofern als hier die Dis-tanznahme gegenüber dem eigenen Dasein mit dem Konzept der Welt-anschauung verbunden wird. Bollnow stellt diesen Zusammenhang explizither, indem er den Begriff der „weltanschauliche[n] Haltung“ einführt, dersich seiner Meinung nach nur darin geringfügig von dem der Weltanschau-ung unterscheidet, dass er „das aktive Moment, die Seite der ausdrücklichenWertung und Stellungnahme“ stärker betone.266

Ebenso wie Gehlen knüpfte Bollnow in der Nachkriegszeit unmittelbaran seine anthropologisch-pädagogischen Forschungen aus den dreißigerund frühen vierziger Jahren an. Bereits kurz nach Kriegsende erschienenvon ihm essayistische Traktate mit den Titeln Die Ehrfurcht und EinfacheSittlichkeit, in denen er allerdings statt der disziplinierenden ‚Haltungen‘nun wieder die in Stimmungen gründende ‚Tugenden‘ – wie Mitleid,Zuversicht, Vertrauen, Geduld, Hoffnung – an die Spitze der ethischenWerteskala setzte.267 Auch Bollnow wandte sich nun einer konservativenZivilisationskritik zu, die die „geistige Krisis unsrer Gegenwart“ mit sozialerVereinzelung und technischer Dynamisierung identifizierte und dagegendie Bedeutung der „Gemeinschaft“ und der „Einrichtungen, in denen einesolche Gemeinschaft ihr Leben gestaltet“, betonte.268 Dabei trat der schonfrüher zu beobachtende Gegensatz zur Existenzphilosophie in den fünfzigerJahren noch stärker hervor. So machte er die existentialistische Auffassung

(S. 23) überwunden werden könne und dass „bei dem Beiseitebiegen des Kopfes gelegentlicheiner vorbeipfeifenden Granate […] der Ausdruck vom Sinn garnicht zu trennen“ sei (S. 15).Lipps fiel kurz vor Vollendung seines Buches in Russland.

264 Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, S. 138. Bollnow, der sich in der zweiten Auflage sei-nes Buches positiv auf Lipps bezieht, nennt die Haltung auch „das sittliche Verhalten“ (ebd.,S. 137).

265 „So ergeben sich hier für die Haltung dieselben Leistungen, die an früherer Stelle als Leistun-gen der Stimmung entwickelt waren. […] Es ist dieselbe Leistung einer vorgängigen Rege-lung jedes einzelnen Erlebens“ (ebd., S. 139).

266 Ebd., S. 138.267 Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Die Ehrfurcht, Frankfurt a.M. 1947; und ders., Einfache Sitt-

lichkeit. Kleine philosophische Aufsätze, Göttingen 1947. Noch im Krieg und in der unmit-telbaren Nachkriegszeit entstanden Bollnows phänomenologisch-anthropologische Betrach-tungen zu literarischen Werken von Hofmannsthal, Hesse, Weinheber, F. G. Jünger,Bergengruen und anderen. Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Unruhe und Geborgenheit imWeltbild neuer Dichter. Acht Essais, Stuttgart 1953.

268 Otto Friedrich Bollnow, Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Exis-tentialismus, Stuttgart/Köln 1955, S. 12 und 18.

‚Stimmung‘, ‚Haltung‘, ‚Weltanschauung‘ 73

des Menschen als eines ganz der Geschichtlichkeit ausgelieferten Wesens fürdie gegenwärtige Krise mit verantwortlich und setzte ihr die romantischeIdee vom „natürlichen Menschen“, der in einer „zyklischen Zeit“ behei-matet ist, entgegen.269 Seine Vorschläge zur praktischen Krisenbewältigungkonzentrierten sich denn auch auf die (Re)Rhythmisierung des Alltags, bei-spielsweise durch Einhaltung der Sonntagsruhe oder die Feier regelmäßigwiederkehrender Feste.270

7. Der ‚vierte Mensch‘. Krisendiagnosen um 1950

Etwa zwanzig Jahre nach der zu Beginn dieses Kapitels nachgezeichnetenDebatte in der Endphase der Weimarer Republik hatte das Konzept derKrise in der populären zeitdiagnostischen und wissenschaftlichen Publizis-tik erneut Konjunktur. In zahlreichen Aufsätzen, Monographien und Bro-schüren wurde die Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unddem Zusammenbruch des ‚Dritten Reichs‘ mit großer Gleichförmigkeit alswelt- und menschheitsgeschichtlicher Epochenwandel beschrieben. Esbestehe die allgemeine Überzeugung, heißt es resümierend im Vorworteines Aufsatzbandes von 1952, „daß die heutige Krise einen Umbruchbedeutet, daß sich eine geistige Erneuerung des in seiner Existenz auf dasschwerste bedrohten Abendlandes vollzieht“, weshalb es gerechtfertigt sei,„vom Beginn einer neuen Epoche zu sprechen“.271 In Karl Jaspers ‚Schemader Weltgeschichte‘ markiert die „Krise“ nach dem Zweiten Weltkrieg einenEinschnitt von gleicher Tiefe wie die um 500 v. Ch. einsetzende ‚Achsenzeit‘und wie der Beginn des wissenschaftlich-technischen Zeitalters.272 AlfredWeber beschreibt die gegenwärtige Lage als epochale „Umwälzung“ undRingen „von erdgeschichtlichem Ausmaß“.273 Romano Guardini prägt dieeingängige Formel vom „Ende der Neuzeit“.274 Und Jean Gebser konsta-tiert, man erlebe gegenwärtig „eine Weltkrise und Menschheitskrise“, dieeinen grundlegenden Wandel einleite:275

269 Ebd., S. 197 f.270 Vgl. ebd., S. 222 f.271 Ernst Naegeli, Vorwort, in: Die neue Weltschau. Internationale Aussprache über den

Anbruch eines neuen aperspektivischen Zeitalters veranstaltet von der Handels-HochschuleSt. Gallen, Stuttgart 1952, S. 6–8, hier S. 6 f.

272 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, S. 172.273 Alfred Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie, 2. Aufl., München 1950 (Erstveröffent-

lichung 1935), S. 461 und 475. (Das 8. Kapitel mit der Überschrift „Zur Gegenwartslage.Kommt der vierte Mensch?“, aus dem die zitierten Stellen stammen, wurde der erweitertenFassung von 1950 neu hinzugefügt.)

274 Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, Basel 1950.275 Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart. Erster Band: Die Fundamente der aperspektivischen

Welt. Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung, Stuttgart 1949, S. VII.

74 Die „Krise des Menschen“

Die Krise unserer Zeit und unserer Welt bereitet einen vollständigen Umwand-lungsprozeß vor, der […] einem Ergebnis zuzueilen scheint, das, […] von einemnicht bloß anthropozentrischen Blickpunkt aus gewertet, sich als Neukonstellationplanetarischen Ausmaßes darstellen muß.276

Wenn man diese Stellungnahmen aus der frühen Nachkriegszeit mit derKrisenpublizistik vom Ende der Weimarer Republik vergleicht, gelangtman zu der überraschenden Feststellung, dass die Diagnosen sich trotz dergrundlegend veränderten historischen Umstände in Diktion und Argumen-tation auffällig ähneln. Und dies liegt weniger daran, dass in einigen Fällendieselben Protagonisten als Wortführer auftreten, als an strukturellen Über-einstimmungen. Genau besehen handelt es sich um Ausprägungen eines, diepolitisch-historischen Brüche überbrückenden Krisendiskurses.277 Dienicht-konservativen Krisendiagnosen der Nachkriegszeit, die hier im Blick-punkt stehen, konzipieren die Krise ebenfalls in erster Linie als Krise desDenkens und stellen die Nachkriegssituation damit implizit und teilweiseauch explizit in die Kontinuität der Wissens- und Kulturkrise der zwanzigerJahre. Die gegenwärtige Situation zeigt sich in dieser Perspektive als End-und Umschlagspunkt eines Transformationsprozesses, der je nach Stand-punkt des Autors nach dem Ersten Weltkrieg oder auch schon am Ende desneunzehnten Jahrhunderts einsetzte. Ein Unterschied zu den Stellungnah-men aus der Endphase der Weimarer Republik, die in der Mehrzahl eine fürDeutschland spezifische Bildungs- und Wissenschaftskrise entwarfen, be-steht allerdings darin, dass der Krise nun – unter dem Eindruck des globalenKrieges, der Auflösung nationaler Politik und des planetarischen Zerstö-rungspotentials der Atombombe – eine menschheits- und erdgeschichtlicheDimension zugesprochen wird. Eine durch Neuordnung des Wissens her-beizuführende aktive Weltorientierung erscheint daher jetzt nicht mehr nurals Forderung national-kultureller Erneuerung, sondern als menschheits-geschichtliche Notwendigkeit.

Was in den Krisendiagnosen der Weimarer Republik durch die Fixie-rung auf die aktuelle deutsche Situation ansatzweise verdeckt wird, tritt inden Stellungnahmen um 1950 offen zutage: dass die Rede von der Krisenämlich Teil eines Diskurses über die Moderne, genauer gesagt, über dasrationalistische Bewusstsein des neuzeitlichen Menschen ist. Die für diepopuläre Krisenphilosophie der Nachkriegszeit charakteristische Horizont-erweiterung hin zur Geschichte der Neuzeit oder des Abendlandes, durch

276 Ebd.277 Zur Kontinuität existenzphilosophisch geprägter Krisendeutung zwischen 1930 und den

fünfziger Jahren siehe auch Frank Trommler, Emigration und Nachkriegsliteratur. Zum Pro-blem der geschichtlichen Kontinuität, in: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.), Exil undinnere Emigration, Frankfurt a.M. 1972, S. 173–197, bes. S. 174 und 184; und Volker C.Dörr, Mythomimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen (Erzähl-)Literaturder frühen Nachkriegszeit (1945–1952), Berlin 2004 (= Philologische Studien und Quellen,H. 182), bes. S. 77 f.

Der ‚vierte Mensch‘ 75

die auch der Zweite Weltkrieg und das ‚Dritte Reich‘ rückblickend in denKontext eines globalen Modernisierungsprozesses gestellt werden, lässt sich,um nur ein willkürlich herausgegriffenes, wenig bekanntes Beispiel zu nen-nen, an Robert Heiss’ BuchDer Gang des Geistes. Eine Geschichte des neuzeit-lichen Denkens (1948) aufzeigen. Für Heiss, seit 1943 Professor für Philoso-phie und Psychologie in Freiburg i. Br., ist die politische und materielleKrise der Gegenwart sekundär im Verhältnis zu einer „tieferliegenden […]geistige[n] Krise“, der Krise des modernen „exakten Denkens und Wis-sens“.278 Das Krisenbewusstsein der Gegenwart führt er ganz ähnlich wieschon die Autoren der zwanziger und dreißiger Jahren auf die Pluralisierungund Relativierung des Wissens und der Werte zurück, durch die der dieNeuzeit seit vierhundert Jahren bestimmende Glaube an die rationale Welt-erkenntnis verloren gegangen sei.279 Der sich bereits seit langer Zeitabzeichnende „Bruch der klassischen Leitideen“ der Wissenschaft, vor allemdes Entwicklungsgedankens und des Kausalitätsprinzips, sei, so Heiss, abererst durch die „Erfahrung einer in großen Teilen desorganisierten Welt“ inder Nachkriegszeit ins allgemeine Bewusstsein gerückt und „offenbar“geworden.280 Und im Verlauf dieses Prozesses sei nicht allein „die klassischeWissensidee“ zerbrochen, sondern zugleich auch „alle jene Ideale, die sichauf die Annahme einer letzten objektiven und neutralen Eindeutigkeit“stützten:281

Wo einstmals für den Blick des Denkens eine letzte innere Einheit des Geschehens,die Stetigkeit der Entwicklung und die Kontinuität des Seienden stand, tritt plötz-lich der Zwiespalt der Dinge, das Unstete und Sprunghafte im Gang des Gesche-hens und eine letzte Diskontinuität des Seienden hervor. Seltsam ist dann dieseSicht nicht nur für den Bereich des menschlichen, geschichtlichen und politischenWissens erschienen, sondern wird auch im Gang des naturwissenschaftlichenErkennens notwendig. Konnte etwa die bisherige klassische Physik ihren Welt-aspekt auf die Annahme kontinuierlicher Zusammenhänge und absoluter Gesetz-mäßigkeiten errichten, so hat zum Teil die moderne Physik diese Annahmen fallenlassen.282

Diese Konzeption einer fundamentalen Erkenntnis- und Wertekrise steht inder Tradition der Krisendiagnostik vom Anfang der dreißiger Jahre undfolgt methodisch dem Muster der in den zwanziger Jahren entwickeltenDenkformanalyse oder Weltanschauungstypologie.

Die Kontinuität dieser Art von Krisenbeschreibung lässt sich besondersgut an Alfred Webers spätem Hauptwerk Kulturgeschichte als Kultursoziolo-gie belegen, das zuerst 1935 in Leiden erschien und dann 1950 in einer

278 Robert Heiss, Der Gang des Geistes. Eine Geschichte des neuzeitlichen Denkens, Bern1948, S. 341.

279 Vgl. ebd., S. 347 f.280 Ebd., S. 355 f.281 Ebd., S. 353.282 Ebd.

76 Die „Krise des Menschen“

erweiterten Fassung neu aufgelegt wurde. In dem zwischen 1931 und 1934entstandenen Hauptteil entwirft Weber ein zur Orientierung in der aktuel-len Krise gedachtes ‚geschichtssoziologisches‘ Schema der Weltgeschichte,das drei durch die ‚Form‘ der in ihr jeweils dominanten ‚geistigen Welterfas-sung‘ bestimmte Großepochen unterscheidet und die Gegenwart dabei alskrisenhaftes Ende und als „Umbruch“ der dritten, ‚intellektualistisch-wissenschaftlichen‘ bzw. abendländischen Welterfassung einstuft.283 Die injener Zeit auftretenden Phänomene sozialer, politischer und kulturellerDesintegration bewertet auch er als Zeichen einer primären Erkenntniskri-se, die vor allem durch die Erosion des klassischen physikalischen Weltbil-des ausgelöst worden sei. Durch die physikalische Relativierung von Raumund Zeit sei die „intellektualistische Kausalität“ als Instrument „für dieNatur- und Welterklärung und -erfassung“ insgesamt fragwürdig gewor-den.284 Und da diese „intellektuelle Formenwelt“ ihre Funktion als Natur-erklärung eingebüßt habe, könne sie auch nichts mehr „über das Sollen,über Wesen und Entstehung der Werte, nach denen wir handeln“, aus-sagen.285 Weber verzichtet allerdings darauf, Angebote zu unterbreiten, wiedie Wissens- und Wertekrise zu lösen sei. Eine Reaktivierung früherer Er-kenntnisformen, etwa des Mythos, schließt er aus, da die abendländische„Bewußtseinsaufhellung“ seiner Überzeugung nach nicht rückgängig ge-macht werden kann.286 In vorsichtiger Annäherung an Jaspers’ Philosophieder Existenzerhellung plädiert er für eine Haltung, die die rationale Nicht-erfassbarkeit der Welt akzeptiert und dem Menschen so das Bewusstsein„des Transzendenten“ ermöglicht.287

In dem der zweiten Auflage seines Buches neu hinzugefügten Kapitelstellt Weber die Gegenwartslage nach dem Zweiten Weltkrieg dann in denZusammenhang des vorher beschriebenen Krisenprozesses, akzentuiert den‚Umbruch‘ nun aber deutlich negativer. Das nicht nur, weil der Umbruchinzwischen zu einer alle geschichtlichen Dimensionen sprengenden „Kata-strophe“ geführt hat, sondern vor allem aufgrund seiner Befürchtung, deraus ihr hervorgehende ‚vierte Mensch‘ könnte eine enthumanisierte, „funk-

283 Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie, S. 425. – Im Krieg hat Weber seine universal-geschichtliche Betrachtung dann durch eine Untersuchung der Rolle des ‚Genius‘ in derGeschichte ergänzt. Vgl. Alfred Weber, Das Tragische und die Geschichte, Hamburg 1943.

284 Ebd., S. 438. Die Mathematisierung der modernen Physik zeigt nach Weber zudem, „daßman sich eine eigene Formensprache bilden muß, welche durch besondere Begriffe dasnähere Eingehen auf die Kausalität ausschaltet und die alten Raum- und Zeitvorstellungenbeiseiteschiebt, um z. B. mit einer künstlichen mathematischen, Raum und Zeit rechnerischvereinigenden vierdimensionalen Konstruktion irgendeine exakte Beschreibung der Weltvor-gänge zu erreichen. Das bedeutet in Wahrheit das Ende der totalen Welterfassung mit denintellektualistischen Alltagskategorien, ohne die wir Menschen trotzdem nicht in anschauli-cher Weise denkend leben können.“ (S. 439)

285 Ebd., S. 439 (Hervorhebung im Text).286 Ebd., S. 441.287 Ebd., S. 442. – Weber bezieht sich hierbei auf Jaspers’ Philosophie (1932).

Der ‚vierte Mensch‘ 77

tionalistische Metamorphose“ des abendländischen Rationalisten sein.288

Den Hintergrund dieser pessimistischen Wendung bilden die Erfahrungendes NS-Staates, des Weltkrieges und vor allem der Atombombe – Vorgängeund Ereignisse, die Weber in kultursoziologischer Sicht als Phänomeneeines im Modernisierungsprozess, im Prinzip funktionalistischer Arbeitstei-lung und Spezialisierung, latent vorhandenen „politischen und sozialenTotalitarismus“ bewertet.289 Einer totalitären Entwicklung der Modernekönne nur durch ein starkes „Daseinserlebnis“ im Augenblick der Gefahrund eine neue „Transzendenzerfahrung“ vorgebeugt werden.290 In ganzähnlicher Weise hatte Jaspers bereits ein Jahr zuvor die aktuelle Aufgabe als„Sorge um das Menschsein selber“ bestimmt, welches durch die totalitärePolitik, die zur Errichtung der „nationalsozialistischen Konzentrationslager“führte, ebenso bedroht sei wie durch die von der Atombombe ausgehende„Gefahr absoluter Zerstörung“.291

Ebenso wie Weber schreibt Jaspers – der 1937 von den Nationalsozialis-ten amtsenthoben worden war und sich nach 1945 gemeinsam mit Weberum eine Neugründung der Heidelberger Universität bemüht hatte – seineKrisendeutung nach dem Krieg fort. Mit Vom Ursprung und Ziel derGeschichte legt er 1949 eine gegenwartsbezogene Betrachtung vor, die erselbst als Fortsetzung seiner Schrift über Die geistige Situation der Zeit ausdem Jahr 1931 ansieht.292 Gleichzeitig knüpft er mit ihr nun seinerseits anWebers Kulturgeschichte als Kultursoziologie (in der ersten Auflage von 1935)an und übernimmt dessen Modell der weltgeschichtlichen „Totalanschau-ung“.293 So scheint es, als antworte Jaspers auf die existenzphilosophische

288 Ebd., S. 446 und 461.289 Ebd., S. 448. Das ‚Dritte Reich‘ gilt Weber als warnendes Beispiel dafür, wie der „Funktiona-

rismus“ zum „trojanischen Pferd“ des Totalitarismus werden kann (S. 484).290 Ebd., S. 489 und 491.291 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 187 und 258.292 Vgl. ebd., S. 394. – Jaspers’ Schrift Die geistige Situation der Zeit wurde 1948 neu aufgelegt.

Auch Curtius knüpfte mit seinem kurz nach dem Krieg publizierten Hauptwerk EuropäischeLiteratur und lateinisches Mittelalter (1948) an seine Krisenschrift Deutscher Geist in Gefahraus dem Jahr 1932 an. Schon unmittelbar nach dem Erscheinen letzterer hatte er mit denVorarbeiten zu dem späteren Buch begonnen, mit dem er ebenfalls die gegenwartsbezogeneAufgabe, zum „Verständnis der abendländischen Tradition“ beizutragen, verfolgte. Vgl.Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948,o.S. (Vorwort). Das die gegenwärtige Kulturkrise thematisierende Eingangskapitel von Euro-päische Literatur und lateinisches Mittelalter veröffentlichte er auch als Vorabdruck imMerkur(1 [1947/48], S. 481–497). Curtius verstand seine Arbeiten zur europäischen Geistes-geschichte sowohl in den dreißiger Jahren als auch in der Nachkriegszeit als eine ‚unzeitge-mäße‘ Art der Kulturkritik. Vgl. Ernst Robert Curtius, George, Hofmannsthal und Calde-rón, in: Die Wandlung 2 (1947), S. 401–423, bes. S. 423.

293 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 17. Jaspers bezieht sich außerdem auf dasuniversalhistorische Kulturzyklenmodell aus Arnold J. Toynbees A Study of History (1934 ff.),das auch Weber und Curtius schätzten und dem Spenglers vorzogen, weil es ohneGeschichtsprophetie auskam. Vgl. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 341;

78 Die „Krise des Menschen“

Überformung der Geschichtssoziologie durch seinen ehemaligen Heidel-berger Kollegen mit einer geschichtsphilosophischen Fundierung der Exis-tenzphilosophie. Ganz im Sinne Webers konstatiert er gleich zu Beginn,dass sich die einschneidenden Veränderungen der Gegenwart nur auf derFolie eines Schemas der Weltgeschichte richtig bewerten ließen, und wiejener sieht er die weltgeschichtlichen Phasen durch spezifische Bewusstseins-und Wissensformen ausgezeichnet, deren letzte, das wissenschaftlich-technische Zeitalter, eben in krisenhafter Umwandlung begriffen sei. Dieaugenblickliche Krise erscheint im Lichte dieser universalgeschichtlichenAnschauung als Kulminationspunkt des die Moderne seit der FranzösischenRevolution kennzeichnenden geschichtlichen Krisenbewusstseins und alsWendepunkt hin zur „Überwindung der Geschichte“ im Sinne eines aufkausalen Kategorien basierenden Entwicklungsdenkens.294 Indirekt beziehtsich Jaspers damit auf den in der ‚Krisis des Historismus‘ und in der anti-mechanistischen Wendung der Naturwissenschaft vollzogenen „Wandel desmenschlichen Wissens“, der in Verbindung mit den politischen und sozia-len Umwälzungen nach seiner Vorstellung zu einer „Verwandlung unseresgeschichtlichen Bewußtseins“ und damit des ‚Menschseins‘ führen wirdbzw. führen soll.295

Wie Weber, und anders als Curtius, reagiert Jaspers auf die Gefahr vonTechnokratie und Totalitarismus nicht mit dem humanistischen Appell,sich der geschichtlichen Kontinuität erinnernd zu versichern, sondern mitder Forderung nach eine Bewusstmachung der wesensmäßigen Freiheit desMenschen, die aus der Erkenntnis seiner historischen und biologischenUnbestimmbarkeit folgt. Ebenso weist ja auch Heidegger den Humanismusin seinem Brief über den „Humanismus“ (1947) als eine zur Neuorientierunguntaugliche Geisteshaltung zurück.296 Damit wird zugleich deutlich, dasses sich bei Jaspers’ Schrift, anders als ihr Titel zu versprechen scheint, nichtum eine geschichtsphilosophische Betrachtung im traditionellen Sinne han-delt. Denn letztendlich zielt seine Philosophie auf eine Transzendierung derGeschichte zur Geschichtlichkeit297 bzw. einen Übergang ins ‚Posthistoire‘

Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie, S. 8; und Curtius, Europäische Literatur undlateinisches Mittelalter, S. 12 ff.

294 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 335. – Dieser in der Nachkriegszeit inWestdeutschland dominante modernekritische Diskurs, der Aufklärung als krisenhaftenRationalisierungsprozess beschreibt, lässt sich unter anderem auch in Reinhart KosellecksAnfang der fünfziger Jahre entstandener Dissertation Kritik und Krise nachweisen. Vgl. Rein-hart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frank-furt a.M. 1973 (Erstveröffentlichung 1959).

295 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 307 und 328.296 Vgl. Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den „Huma-

nismus“, Bern 1947, S. 53–119.297 Vgl. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 335.

Der ‚vierte Mensch‘ 79

(Hendrik de Man).298 ‚Ursprung‘ und ‚Ziel‘ des Menschen liegen für ihnaußerhalb der Geschichte, und die weltgeschichtliche Totalanschauungerfüllt in ihrer existenzialphilosophischen Adaption im wesentlichen dieFunktion, die auch die erdgeschichtliche und kosmologische Horizont-erweiterung hat, nämlich die einer Grenzerfahrung, die dem Menschen inseiner jeweiligen Situation das Bewusstsein des Seins vermittelt.299

Jaspers führt damit den schon um 1930 entwickelten Gedanken fort,ein neues Menschenbild müsse auf der Einsicht in die wissenschaftlicheUnbestimmbarkeit und die Endlichkeit des Menschen bzw. der Menschheitgründen. In einer im Sommer 1947 gehaltenen Vorlesung zum Thema„Der Mensch“ stellt er diese zum ethischen Appell gewendete Krisendiag-nose noch einmal gegen die für die Entwicklung der modernen Wissen-schaften grundlegende anthropozentrische Auffassung, nach der sich die all-gemeinen Naturgesetze aus menschlicher Selbsterkenntnis gewinnen lassen.Der Mensch sei nicht, wie Kant gemeint habe, „das Maß aller Dinge“; waseigentlich sei, sei auch ohne ihn und unabhängig von seinem Verstand, undletztendlich sei sich der Mensch selber „das größte Geheimnis“.300 DieUnbestimmtheit, Endlichkeit und Rätselhaftigkeit des Menschen ist also

298 Jaspers Konzeption einer Überwindung der Geschichte ähnelt auffällig der Theorie des Post-histoire, die zur gleichen Zeit von dem belgischen Soziologen Hendrik de Man entwickeltwird. Vgl. Hendrik de Man, Vermassung und Kulturverfall. Eine Diagnose unserer Zeit,München 1951. De Man bezeichnet mit dem Begriff des Posthistoire eine durch die Auf-lösung des kausalen und historisch-genetischen Denkens ausgelöste kulturelle Krisensitua-tion. Es handele sich um „den Eintritt in eine Phase des Weltgeschehens, die überhaupt ausdem Rahmen der Geschichte herausfällt, weil die sonst historisch feststellbaren Zusammen-hänge zwischen Ursachen und Wirkungen fehlen“ (S. 136). Ebenso wie Jaspers grenzt deMan sich mit dieser Konzeption der Krise vom Kulturpessimismus Spenglers ab, derGeschichtslosigkeit nur als Zustand kultureller Lethargie fassen kann, und versucht, eineStrategie zur Rettung des Menschen vor Vermassung und Selbstzerstörung zu entwickeln, diebei ihm allerdings eine antidemokratische und insbesondere antiamerikanische Tendenz hat.Zum Topos vom Ende der Geschichte in der philosophischen Zeitdiagnostik der vierzigerJahre, insbesondere bei Alfred Weber und Gerhard Krüger, siehe Aleida Assmann, Jaspers’Achsenzeit oder Schwierigkeiten mit der Zentralperspektive in der Geschichte, in: DietrichHarth (Hg.), Karl Jaspers. Denken zwischen Wissenschaft, Politik und Philosophie, Stuttgart1989, S. 187–205, hier S. 199 ff.

299 Vgl. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 333: „Geschichtliches Totalbewußt-sein in Verbindung mit liebender Nähe zum Besonderen vergegenwärtigt eine Welt, in derder Mensch als er selbst mit seinem Grunde leben kann. Offenheit in die Weite derGeschichte und Selbstidentität mit dem Gegenwärtigen, Innewerden der Geschichte imGanzen und Leben aus gegenwärtigem Ursprung, in diesen Spannungen wird der Menschmöglich, der, zurückgeworfen in seine absolute Geschichtlichkeit, zu sich selbst gekommenist.“ Vgl. auch ebd. S. 339: „Für das transzendierende Bewußtsein der Existenz verschwindetdie Geschichte in der ewigen Gegenwart.“

300 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, München 1948, S. 41 f. (Der Band geht auf eineVorlesungsreihe zurück, die Jaspers im Juli 1947 an der Universität Basel hielt.) Der „Fort-schritt der Erkenntnis“, schreibt Jaspers, steigere nur „das Nichtwissen in den Grundfragen“und weise damit „auf Grenzen, die aus anderem Ursprung als dem des Erkennens mit Sinnerfüllt werden“ (S. 47). Alfred Weber sieht Kants Auffassung vom allgemeingültigen Charak-

80 Die „Krise des Menschen“

auch ein zentraler Topos in der Krisenphilosophie der Nachkriegszeit undTeil ihrer Strategie, die Krise des Erkennens positiv umzuwerten zu einemGewinn an Freiheit. Sich dessen „inne zu werden“, dass der Mensch aus„weltlichen“ und „biologischen“ Bedingungen „nicht abzuleiten“ sei, „be-deutet die Freiheit des Menschen“, schreibt Jaspers.301 Diese sei „untrenn-bar von dem Bewußtsein der Endlichkeit des Menschen.“302

Gerade die erkenntniskritische Akzentuierung der Willensfreiheit, diesich in vielen Texten dieser Zeit findet, ist jedoch aufs Engste mit der Rezep-tion wissenschaftlicher Forschungsergebnisse und Theorien verbunden.Denn zum einen wird eine Betonung der Endlichkeit stets mit dem Hin-weis auf neuere Forschungen zur Geschichte der Erde und des Kosmos ver-bunden, und zum anderen legitimieren biologische und psychologischeTheorien die These der natürlichen Unbestimmtheit des Menschen.303

Selbst Curtius beruft sich im ersten Kapitel von Europäische Literatur undlateinisches Mittelalter (1948) auf den jüngsten Fortschritt der Naturwissen-schaft und äußert die Erwartung, dass „die neue Naturerkenntnis und dieneue Geschichtserkenntnis des 20. Jahrhunderts“ in ihrer „Konvergenz“ zueinem „neuen »offenen« Weltbild“ führen.304

Aussagen wie diese zeigen eine Veränderung des philosophischen Kri-sendiskurses im Vergleich zur Zeit um 1930 an: Die Texte der Nachkriegs-zeit nehmen in sehr viel stärkerem Maße auf das Wissen der neuen, indeter-ministischen Naturwissenschaft Bezug. Obwohl es sich zumeist umForschungen und Theorien handelt, die schon in den zwanziger Jahren ent-wickelt und diskutiert wurden, werden sie erst jetzt als allgemeiner Bewusst-seins- und Methodenwandel positiv wahrgenommen bzw. dargestellt.Neben der modernen Physik, die zahlreiche Zeitschriftenartikel und Bro-schüren einem breiten Publikum nahe zu bringen versuchen,305 stehen

ter der „Kategorien unseres menschlichen Vorstellungslebens“ einerseits durch anthropologi-sche Forschungen erschüttert, die den „Vorstellungs- und Denkapparat“ als spezifischmenschlich und geschichtlich entstanden erklären, und zum anderen durch die modernePhysik, die mit ihrer Annahme eines „Raum- und Zeitkontinuums“ sowie mit der „Behaup-tung eines begrenzten Raums und einer von ihm abhängigen ebensolchen Zeit“ die her-kömmliche Raum-Zeitvorstellung zerstört habe. Vgl. Alfred Weber, Der dritte oder dervierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins, München 1953, S. 124 f.

301 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 49.302 Ebd., S. 51.303 So bezieht sich Jaspers auf Portmanns Theorie der physiologischen Frühgeburt, mit der die-

ser die Sonderstellung des Menschen ontogenetisch begründete. Vgl. Jaspers, Ursprung undZiel der Geschichte, S. 60 f. Der schweizerische Biologe hatte diese Theorie, die in der Nach-kriegzeit eine starke Wirkung entfaltete und, wie gesehen, auch für Gehlen von großerBedeutung war, bereits in der ersten Hälfte der vierziger Jahre in verschiedenen Publikatio-nen verbreitet. Vgl. Adolf Portmann, Die Biologie und das neue Menschenbild, Bern 1942;ders., Biologische Fragmente zu einer Lehre vomMenschen, Basel 1944.

304 Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 15.305 Siehe hierzu den Überblick bei Elisabeth Emter, Literatur und Quantentheorie. Die Rezep-

tion der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger

Der ‚vierte Mensch‘ 81

dabei die neuere Biologie wie auch die ganzheitliche Psychologie, Medizinund Verhaltensforschung im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Relativi-tätstheorie Einsteins, die Quantentheorie Plancks und Heisenbergs und dieWellenmechanik de Broglies werden ebenso herangezogen wie die Muta-tionstheorie von de Vries, die Entwicklungsbiologie Adolf Portmanns, diepsychosomatische Medizin Alexander Mitscherlichs oder die UmweltlehreJakob von Üexkülls. Zahlreiche Überblicksdarstellungen, Vortragsreihenund Sammelbände, wie Die neue Weltschau, bemühen sich um eine Popula-risierung und integrative Gesamtschau dieser einzelwissenschaftlichen For-schungsergebnisse und entwerfen dabei das Bild eines transdiziplinärenTheorie- und Methodenwandels im Sinne einer allgemeinen „Abkehr vommaterialistischen Determinismus“ und „einseitig mechanistisch-kausalenDenken“.306 Offensichtlich haben die antideterministischen Theorien nunviel von dem Konfliktpotential verloren, das sie in den zwanziger Jahrennoch hatten, als insbesondere die Relativitätstheorie Gegenstand erbitterterweltanschaulicher Auseinandersetzungen war und vielfach als Ausdruckeines avantgardistischen Modernismus angefeindet wurde. Während derBruch mit dem kausal-mechanistischen Erklärungsmodell der klassischenNaturwissenschaft in den Zeitdiagnosen vom Ende der Weimarer Republikin erster Linie als Krisensymptom wahrgenommen wurde, gilt er vielenAutoren um 1950 als Grundlage einer kulturellen Erneuerung.

Damit erhält das Wissen der nicht-deterministischen Naturwissenschaftin der zeitdiagnostischen Publizistik der Nachkriegszeit einen Stellenwert,den es, wie das folgende Kapitel aufzeigen wird, in vielen literarischen Tex-ten schon in den dreißiger Jahre hatte. Dass es nun einer relativ breitenLeserschicht als Orientierungswissen präsentiert werden kann, lässt sich nurmit Blick auf die veränderte intellektuelle Konstellation nach dem Ende des‚Dritten Reiches‘ erklären. Zum einen ist der naturwissenschaftliche Deter-minismus aufgrund seiner ideologischen Vereinnahmung durch den Na-tionalsozialismus – insbesondere im Bereich der Biologie und Rassenfor-schung, aber auch in anderen Bereichen, wie dem der ‚deutschen Physik‘ –in den Augen vieler diskreditiert. Zum anderen wird er nun häufig mit nega-tiv bewerteten Phänomenen des Modernisierungsprozesses wie Vermassung,Spezialisierung und Technisierung identifiziert – und zwar oftmals geradevon solchen Autoren, die vorher ideologisch dem Nationalsozialismus nahe-standen, sich nun aber einer christlich geprägten Rationalismuskritikzuwenden. Wie beispielsweise Philipp Lersch, der im Eröffnungsartikel derZeitschrift Geistige Welt über die „Zukunft des abendländischen Menschen-tums“ reflektiert, mit Bezugnahme auf Jaspers eine „fortschreitende »Ent-

Autoren (1925–1970), Berlin/New York 1995 (= Quellen und Forschungen zur Literatur-und Kulturgeschichte, Bd. 2), S. 180–185.

306 Naegeli, Vorwort, in: Die neue Weltschau, S. 6.

82 Die „Krise des Menschen“

innerlichung« des Menschen“ und eine „Verzweckung der Welt“ beklagtund dann eine neue „Religiosität“ und „totale Sinnerfüllung des Daseins“fordert.307

In dieser durch eine doppelte Abgrenzung gegenüber der Naturgesetz-Ideologie des Nationalsozialismus und gegenüber dem abendländischen‚Rationalismus‘ gekennzeichneten Situation gewinnen die Theorien undForschungsberichte aus dem Bereich der nicht-deterministischen Naturwis-senschaft besondere Attraktivität. So weist etwa Hans Hartmann in derchristlich ausgerichteten Geistigen Welt zwar auf die Gefahren hin, die dermit der „neuen Naturwissenschaft, […] Genetik, Quantenphysik, Relativi-tätslehre und Astrophysik“ verbundene Verlust von Anschaulichkeit für denMenschen habe, wertet diese Entwicklung gleichzeitig aber auch als Chan-ce:308 Die „Vernichtung unserer bisherigen Begriffe von Raum, Zeit undMaterie und die damit verbundene Übersteigerung der Vorstellung“ zeigtendie „Grenze“ der Naturerkenntnis auf und schüfen die Voraussetzung dafür,dass man „wieder offener, bereiter werde, für das, was die Natur sagen kannund will“.309 Man merke, schreibt Martin Loesche in einem Aufsatz mitdem Titel Weltanschauliche Metamorphose, „daß die heutige naturwissen-schaftliche Forschung und die Religion bereit“ seien, „über die Möglichkei-ten einer Verständigung zu diskutieren“, und verweist in diesem Zusam-menhang auf die philosophischen Reflexionen von Planck, Heisenberg undCarl Friedrich von Weizsäcker.310

Loesches Bezugnahme auf die Äußerungen führender Physiker machtdeutlich, dass es keineswegs nur in der Perspektive der kulturkritischen undpopulärphilosophischen Publizistik zu einer Annäherung von Naturwissen-schaft und Philosophie kommt. Vielmehr korrespondieren deren Darstel-lungen einer Wissenssynthese mit dem Bestreben vieler Fachgelehrter, ihreForschungen in den Kontext eines allgemeinen Methoden- und Bewusst-seinswandels zu stellen und den Weltbildcharakter der nicht-deterministi-schen Naturwissenschaft herauszustellen. Dies betrifft in erster Linie dieVertreter der modernen Physik, die in populären Darstellungen die philoso-phischen Implikationen der neuen physikalischen Erkenntnisse etwa imHinblick auf den Begriff der Willensfreiheit diskutieren,311 daneben aber

307 Philipp Lersch, Der Mensch in der Gegenwart, in: Geistige Welt, 1 (1946/47), S. 2–22, hierS. 3, 7 und 12 f.

308 Hans Hartmann, Die neue Naturwissenschaft und unser Verhältnis zur Natur, in: GeistigeWelt 3 (1948/49), S. 51–54, hier S. 51.

309 Ebd., S. 54.310 Martin Loesche, Weltanschauliche Metamorphose, in: Geistige Welt 3 (1948/49),

S. 102–108, hier S. 102.311 Vgl. beispielsweise Werner Heisenberg, Atomphysik und Kausalgesetz, in: Merkur 6 (1952),

S. 701–711; Pascual Jordan, Das Bild der Modernen Physik, Hamburg 1947; ders., DerUrsprung des organischen Lebens, in: Merkur 3 (1949), S. 342–354; Arhur March, DieDenkweise der heutigen Naturwissenschaften, in: Die Neue Rundschau 63 (1952),

Der ‚vierte Mensch‘ 83

auch Mediziner, Psychologen und Biologen, die die ‚Sonderstellung‘ desMenschen jeweils aus der Sicht ihrer wissenschaftlichen Disziplin erklärenund ihre Forschungsergebnisse im Sinne eines allgemeinen Wandels des‚Menschenbildes‘ ausdeuten.312 Sowohl auf naturwissenschaftlicher als auchauf philosophischer Seite wird in dieser Zeit die Forderung nach einerÜberwindung der „Zersplitterung der Einzelwissenschaften“ zugunsteneiner Einheit des „Wirklichkeitsbildes“ laut.313 Die Modelle und Verfahren,mittels derer diese Einheit konzipiert wird, sind jedoch sehr verschieden.Während naturwissenschaftliche Beiträge in der Regel stark forschungsori-entiert sind und die einheitliche Weltsicht in einer einheitlichen Erklärungder Natur auf physikalischer oder physikalisch-biologischer Grundlage zubegründen versuchen, vertreten die philosophischen und populärphiloso-phischen Publikationen zumeist eine existentielle und fundamentalonto-logische Naturphilosophie und suchen die Einheit in der Haltung bzw.Wahrnehmungsweise, mit der der Mensch den Phänomenen der Weltgegenübertritt.314 In dieser phänomenologisch geprägten Betrachtungs-weise erscheint der wissenschaftliche Methodenwandel dann als Ausdruckeines Haltungs- oder Bewusstseinswandels.315

Die Tendenz zur phänomenologischen und naturphilosophischenBetrachtungsweise war, wie sich im folgenden Kapitel zeigen wird, schonam Ende der zwanziger Jahre zu beobachten und bildete im ‚Dritten Reich‘

S. 244–258; Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Geschichte der Natur. Zwölf Vorlesungen,Göttingen 1948; und ders., ZumWeltbild der Physik, Leipzig 1943.

312 Vgl. hierzu W. E. Ankel, „Das Menschenbild in unserer Zeit“ in der Sicht der Biologie, in:Das Menschenbild in unserer Zeit, hg. im Auftrag des Magistrats der Stadt Darmstadt unddes Komitees Darmstädter Gespräch 1950 von Hans Gerhard Evers, Darmstadt o. J. [1951],S, 75–79. Vgl. auch A[lexander] Mitscherlich, Das Leib-Seele-Problem im Wandel dermodernen Medizin, in: Die neue Weltschau, S. 94–118; A[dolf ] Portmann, Die Wandlun-gen im biologischen Denken, ebd., S. 73–93; sowie die bereits erwähnten PublikationenPortmanns.

313 E[rnesto] Grassi/T[hure] v. Uexküll, Vorbemerkung, in: dies. (Hg.), Die Einheit unseresWirklichkeitsbildes und die Grenzen der Einzelwissenschaften, München 1951, S. 7–12,hier S. 7.

314 Zu den unterschiedlichen und widersprüchlichen Konzepten einer Naturphilosophie in die-ser Zeit vgl. die kritische Betrachtung von Max Bense, Zur naturphilosophischen Situation,in: Merkur 3 (1949), S. 711–715.

315 Stellvertretend kann hier nochmals Alfred Weber zitiert werden: „Das Merkwürdige ist nun,daß zum mindesten ein Teil der exakten positiven Wissenschaften, nämlich die Naturwissen-schaften, heute auf dem Wege sind, auch für ihre wissenschaftliche Interpretation das Einge-sperrtsein in die menschlich raumzeitlichen Alltagsvorstellungen zu sprengen, man kannruhig sagen, sie zu transzendieren – und daß sie ebenfalls genötigt scheinen, zu einem anderenals dem mechanistischen Kausalitätsbegriff überzugehen. Womit also gewissermaßen von derSeite derjenigen Wissenschaften her, von denen es am allerwenigsten zu erwarten wäre, eineIndikation dafür gegeben wäre, daß das, was wir für das Gebiet des Seelisch-Geistigen von derunmittelbaren Erfahrung her als solches konstatieren, eine Fortsetzung findet in dem heuteerreichten Stand der wissenschaftlichen Interpretation des biologisch Lebendigen, ja in derbisher so genannten unbelebten Natur.“ (Weber, Der dritte oder der vierte Mensch, S. 126 f.)

84 Die „Krise des Menschen“

eine Gegenströmung zur Ideologie des naturgesetzlichen Determinismus.Und auch die integrative Gesamtschau der Wissenschaften war keine Neue-rung der Nachkriegszeit. Letzteres lässt sich etwa an den Publikationen desSchweizer Kulturphilosophen Jean Gebser belegen. Gebser, der vor seinerÜbersiedlung in die Schweiz im Jahr 1929 in Berlin (noch unter demNamen Hans Gebser) zusammen mit Peter Huchel, Horst Lange und ande-ren zum Kreis um den Verleger V.O. Stomps gehört hatte,316 legte nachdem Krieg mit seinem zweibändigen Hauptwerk Ursprung und Gegenwart(1949 und 1953) eine umfassende vergleichende Darstellung des wissen-schaftlichen Methodenwandels in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahr-hunderts vor und formulierte auf dieser Grundlage die These eines fun-damentalen ‚Weltbildwandels‘. Die Konzeption dieses Werkes reichteallerdings bis in das Jahr 1932 zurück.317 Schon 1943 hatte Gebser einBuch mit dem Titel Abendländische Wandlung veröffentlicht, in dem erzwar auf geringerer Materialbasis, aber nach dem gleichen Verfahren destypologischen Vergleichs einzelner Wissensbereiche eine von der „Auflocke-rung der starren Naturgesetzlichkeit“ in der Physik, Biologie und Psycho-logie ausgehende „Umwandlung innerhalb der abendländischen Kultur“diagnostiziert hatte.318 Die kulturelle und anthropologische Verwandlungwurde von ihm dabei als Bewusstwerdung der neuen wissenschaftlichenErkenntnisse konzipiert, die „ein unbewußtes Vermögen der heutigenMenschheit“ darstellten.319 Nach 1945 beschrieb er diesen „Umwandlungs-prozeß“ dann einerseits als Faktum,320 erhob die „Loslösung aus der menta-len Haltung anthropozentrischen Charakters“ jedoch andererseits zur ethi-schen Forderung.321

Wenn man die vorgestellten Texte überblickt, gewinnt man den Ein-druck, dass nicht nur die Existenzphilosophie, sondern auch die Philosophi-sche Anthropologie in der Nachkriegszeit zu einem weithin akzeptiertenModell intellektueller Neuorientierung wurde.322 Auch wenn nicht auf

316 Vgl. Oda Schaefer, Horst Lange. Ein Lebensbild, in: Horst Lange, Tagebücher aus demZweiten Weltkrieg, hg. und kommentiert von Hans Dieter Schäfer, Mainz 1979 (= DieMainzer Reihe, Bd. 46), S. 261–289, hier S. 272.

317 Vgl. Gebser, Ursprung und Gegenwart, Bd. 1, S. VIII. Zu Gebsers Wissenschafts- und Kul-turdiagnostik siehe auch Kap. VIII.

318 JeanGebser, AbendländischeWandlung. Abriß der Ergebnissemoderner Forschung in Physik,Biologie und Psychologie, Zürich 1945, S. 74 und 31. (Es handelt sich um eine vor allemdurch Einarbeitung neuer Forschungsergebnisse ergänzte Fassung der Erstausgabe von 1943.)Gebser bezieht sich unter anderem auf Forschungen und Theorien von Planck, Bohr, Heisen-berg, de Broglie, de Sitter, Hess,Millikan, deVries, Bose, Friedmann,Haldane und Portmann.

319 Ebd., S. 220.320 Gebser, Ursprung und Gegenwart, Bd. 1, S. VII.321 Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart. Zweiter Band: Die Manifestationen der aperspektivi-

schen Welt. Versuch einer Konkretion des Geistigen, Stuttgart 1953, S. 34.322 Dies geschieht allerdings ohne direkte Referenz auf die Schriften ihrer Begründer Scheler

und Plessner. In der Nachkriegszeit wird die Philosophische Anthropologie, wie bereits

Der ‚vierte Mensch‘ 85

Scheler oder Plessner Bezug genommen wird, sind die beiden zentralenTheoreme der Philosophischen Anthropologie, das der Sonderstellung unddas der Unbestimmtheit desMenschen, doch in fast allen untersuchten Textezu finden.323 Und wie schon bei Scheler und Plessner, so geht es auch hierum eine philosophisch-wissenschaftliche Begründung des nicht-geschicht-lichen und nicht-natürlichen Menschen. Allerdings hatten sich die Grenz-linien inzwischen verschoben. Lag ein entscheidender Impuls für die Theo-riebildung der Philosophischen Anthropologie in der Bekämpfung des alskulturzerstörerisch angesehenen Vitalismus, so war dieser Aspekt für dieAutoren der Nachkriegszeit offenbar von geringerer Bedeutung. In ihrenAugen lag die größte Bedrohung ‚des Menschen‘ in einer ‚funktionalisti-schen‘ Verwandlung.Weber beispielsweise entwickelte eine soziologisch-phi-losophische Technokratiekritik, die sich in erster Linie gegen die verselbstän-digten wissenschaftlichen und staatlichen ‚Apparate‘ richtete, die Gehlen amAnfang der vierziger Jahre von einem antivitalistischen Standpunkt aus auf-wertete. Anders als Gehlen erkannte Weber die wichtigste Aufgabe der Zeitnicht in der Kontrolle destruktiver anthropologischer Triebpotentiale, son-dern in der Eindämmung und Transformation des ‚Funktionarismus‘.

Auf dieses Gefahrenbild bezog sich das in jener Zeit vielgebrauchteSchlagwort von der ‚Enthumanisierung‘ des Menschen, das auch Weber imZusammenhang mit seiner pessimistischen Vision des ‚vierten Menschen‘verwendete.324 Während dieses Schlagwort im Kontext konservativer Kul-turkritik, etwa bei Hans Sedlmayr, negativ besetzt war und die Antithesezum christlich-humanistischen Menschenbild bezeichnete, verbanden diehier behandelten Autoren mit ihm ambivalente Befunde und Wertungen.Das lag zum einen daran, dass sie den als Enthumanisierung umschriebenenkulturellen und anthropologischen Wandel für unumkehrbar hielten.Ebenso wie Weber, der von einer Wandlung des „Menschentums“ sprach,325

sahen auch Autoren wie Jaspers, Gebser oder Guardini die ‚anthropologi-sche Verwandlung‘ als Tatsache an. Jaspers konstatierte, man sei in eine „ra-dikale Verwandlung des Menschseins eingetreten“.326 Und Gebser schrieb,

erwähnt, als wissenschaftliche Disziplin in erster Linie mit der Forschung Arnold Gehlensidentifiziert.

323 Siehe beispielsweise Guardini, Das Ende der Neuzeit, S. 92 f.: „Der Mensch ist nicht jener,den Positivismus und Materialismus zeichnen. Für diese »entwickelte« er sich aus dem tieri-schen Leben […]. Trotz noch so vieler Gemeinsamkeiten ist aber der Mensch etwas wesent-lich Eigenes, denn er wird vom Geist bestimmt, der seinerseits von nichts Materiellem gelei-tet werden kann. […] Und die Geschichte geht nicht so, wie die Logik eines Weltwesens sieverschreibt, sondern wie der Mensch sie in Freiheit bestimmt.“

324 Vgl. Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie, S. 460; und ders., Der dritte oder dervierte Mensch.

325 Alfred Weber, „Das Menschenbild in unserer Zeit“ in der Sicht der Soziologie, in: Das Men-schenbild in unserer Zeit, S. 64–70, hier S. 65.

326 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 178.

86 Die „Krise des Menschen“

dieMenschheit befinde sich in einer „Bewußtseins-Mutation“.327 Unter die-ser Voraussetzung erschien das konservative Programm einer ‚Rehumanisie-rung‘ von vornherein verfehlt. Dass die Enthumanisierung hier nicht alleinnegativ bewertet wurde, ergab sich zum anderen aber auch aus der Konzep-tion des Bewusstseinswandels selbst, genauer gesagt aus der ambivalentenBeschreibung des Formalisierungs- und Abstraktionsprozesses. Zwar lief dernicht-mehr-geschichtliche und nicht-mehr-natürliche Mensch auch in derSicht der hier behandelten Autoren Gefahr, zu einem reinen Funktionsele-ment technischer und bürokratischer Apparate zu werden. Gleichzeitigerkannten sie in der Formalisierung und Mathematisierung von Bewusst-seinsprozessen, in der Abkehr von der auf raum-zeitlicher Kausalität basie-renden Anschaulichkeit aber auch die kognitiv-mentale Voraussetzung einerneuen, entdynamisierten Kultur.

Dementsprechend konzentrierten sich diese Krisendiagnosen auf einephilosophische Ausdeutung der Formalisierung, deren wichtigste Stich-worte Freiheit, Verinnerlichung und Transzendenz waren. Vorrangig ging esum eine Transzendierung der Abstraktion, die entweder naturphilosophischoder existenzphilosophisch oder christlich-existenzphilosophisch konzipiertwurde.328 Die zuletzt genannte Variante repräsentiert etwa Romano Guar-dinis Schrift Das Ende der Neuzeit, die den durch die Erfahrung der „End-lichkeit der Welt“ und den Verlust von Anschaulichkeit gekennzeichneten„Wandel im Verhältnis zur Natur“ als Tatsache hinstellt und ganz wertfreivom ‚nicht-humanen‘ Menschen spricht:329 „Die beiden Phänomene, desnicht-humanen Menschen und der nicht-natürlichen Natur, bilden einenGrundbezug, auf dem das kommende Dasein aufbauen wird.“330 Es werdesich dabei nicht mehr um eine Kultur im herkömmlichen, organischen Ver-ständnis handeln, sondern um einen „existentielle[n] Raum“, in dem sichder nicht-humane Mensch realisiere.331 Guardini suchte die Krisenlösungdamit in der Richtung einer Übersteigerung und Vergeistigung modernerAbstraktions- und Rationalisierungsprozesse – eine Denkbewegung, die anprogrammatische Vorstellungen der frühen Avantgarde erinnert. Im folgen-den Teil wird sich zeigen, dass auch literarische Autoren wie Jünger undBenn in dieser Zeit ganz ähnliche Konzepte einer nicht-geschichtlichen undnicht-natürlichen Existenz entwickelten und sich dabei auf den gleichenwissensgeschichtlichen Kontext bezogen.

327 Gebser, Ursprung und Gegenwart, Bd. 1, S. 173.328 Vgl. beispielsweise Max Bense, Heideggers Brief über den Humanismus, in: Merkur 3

(1949), S. 1021–1026, der eine Verbindung „zwischen rationaler und existentieller Geistes-haltung“ (S. 1025) forderte, um den „Aporien […] des Humanismus“ (S. 1021) einerseitsund der „Ideologie des theoretischen Menschen“ (S. 1023) andererseits zu entgehen.

329 Guardini, Das Ende der Neuzeit, S. 67 f.330 Ebd., S. 86.331 Ebd., S. 104.

Der ‚vierte Mensch‘ 87

II. ‚Verzauberung‘. Zur Reflexion der Kultur-und Wissenskrise in programmatischen Texten

der ‚jungen Generation‘ um 1930

1. Konzeptualisierungen einer ‚jungen Generation‘

1930 entspann sich in der linksliberalen ZeitschriftDas Tage-Buch ein kurzerDialog zwischen einem jungen Studenten und einem der wichtigsten intel-lektuellen Repräsentanten der Weimarer Republik, der eine fundamentaleDifferenz im Fühlen und Denken zweier Generationen zu Tage brachte. Ineinem offenen Brief wandte sich der damals zweiundzwanzigjährige GustavRenéHockemit der Bitte an AlfredDöblin, ihm und seinerGeneration „eineEinsicht in die Notwendigkeiten unserer Zeit und die Aufgaben unserer […]geistigen Existenz“ zu geben.1 Döblin kam diesemWunsch bereitwillig nachund antwortete mit einem mehrteiligen, Offene Antwort an einen jungenMenschen und Führer für junge Wanderer durchs Labyrinth betitelten Aufsatz,der seine Sicht der Dinge in programmatischer Weise zusammenfasste.

Vordergründig ging es in dem ‚Briefwechsel‘ um die Frage, ob einehumanistische Bildung in der aktuellen Krisensituation noch geistige Orien-tierung zu geben vermochte und Humanismus und Sozialismus miteinan-der vereinbar seien. Hocke, ein Schüler von Curtius, beschrieb in Anleh-nung an die Historismuskritik Nietzsches die Hilflosigkeit, mit der einhumanistisch gebildeter junger Mensch die Gegenwart erlebe: „Zurück-gehalten in Vergangenheit“ und „in Anspruch genommen durch das Wie-derkäuen des Gewesenen“, gelinge es ihm nicht, „die Gegenwart und dieMitmenschen zu verstehen“ und sich im „Wirrwarr der sich bietendenWidersprüche“ zurechtzufinden: „Man liest die unzähligen Bücher moder-ner Autoren, die zahllosen Aufsätze aus den verschiedensten Zeitschriftenund sucht mit Mühe das Allgemeine festzuhalten, um morgen festzustellen,daß auch dies »Allgemeine« wieder fragwürdig geworden ist.“2 Einmal heiße

1 Hockes Brief wurde zusammen mit Döblins erstem Antwortbrief publiziert in: AlfredDöblin, Offene Antwort an einen jungen Menschen, in: Das Tage-Buch 11 (1930), H. 27,5. Juli 1930, S. 1060–1070, hier S. 1061. – Die weiteren Folgen von Döblins Antworterschienen in H. 34, 36 und 41 der Zeitschrift. Die gesamte Antwort wurde kurz daraufauch als eigenes Buch bei S. Fischer veröffentlicht: Alfred Döblin, Wissen und Verändern!Offene Briefe an einen jungen Menschen, Berlin 1931.

2 Ebd., S. 1061.

es „Rationalismus, dann Irrationalismus“; einmal heiße es, man müsse „aufdem soliden Fundament der Tradition“ weiterbauen, dann wieder werdeman aufgefordert, dieses „morsche Gerüst“ zu verlassen; einmal werde das„sozialistische Banner geschwungen“ und „prophetisch das neue Menschen-und Lebensideal verkündet“, dann werde „die ganze Prophetie wiederzurückgenommen“.3 Döblin reagierte auf diese Zweifel mit dem entschie-denen Bekenntnis zu einem revolutionären Sozialismus der Tat. Es gelte, injedem Moment die „urkommunistische“ Idee „der menschlichen individu-ellen Freiheit, der spontanen Verbindung der Menschen, des Widerwillensgegen Neid, Haß, Barbarei und Krieg“ zu verfolgen und so den Sozialismusals „reine Kraft“ und „»Utopie«“ wiederherzustellen.4 Bildung, so teilteDöblin seinem jungen Gesprächspartner mit, könne die Verfolgung diesesZiels nur behindern: „Sie berufen sich auf Ihre Bildung, Herr Hocke, ichschenke sie Ihnen! Zeigen Sie, daß Sie lebendig sind, helfen Sie mit einenOrt zu schaffen für die alten revolutionären Ideen, die ich nannte.“5

Hocke empfand die Antwort Döblins als unbefriedigend.6 Sie mussteihn schon deshalb enttäuschen, weil der Schriftsteller seinem grundsätzli-chen Zweifel an der Orientierungskraft von ‚Weltanschauungen‘ mit dereindeutigen Parteinahme für eine von ihnen, den utopischen Sozialismus,begegnete. Während Hocke allen politischen Ideologien misstraute, for-derte Döblin die Überwindung des erkenntniskritischen Relativismus durchdas Engagement für eine bestimmte Position. Dabei setzten beide Ge-sprächspartner die als ‚Krisis des Historismus‘ bekannte Pluralisierung derWissens- und Wertorientierungen in ihren Argumentationen voraus.Sowohl für Döblin als auch für Hocke hatten die Historie und die humanis-tische Bildung ihre kulturelle Leitfunktion längst verloren.

Letztendlich ging es in diesem Gespräch um mehr als um Nutzen undNachteil von Bildung für das Leben: nämlich um die Frage nach den an-thropologischen und philosophischen Prämissen einer kulturellen Erneue-rung. Hocke deutet eine eigene Position in seinem Brief nur an, wenn ervon der Aufgabe der ‚geistigen Existenz‘ spricht. Döblins Argumentation istdagegen deutlich vitalistisch geprägt. Sein revolutionärer Messianismusbasiert auf der anthropologischen Prämisse, dass dem Menschen die Ten-denz zur Realisierung seiner individuellen Freiheit und zur spontanen Ver-bindung mit anderen als elementarer Trieb von Natur aus gegeben sei. ImAnschluss an die lebensphilosophische Kulturkritik Nietzsches, Freuds und

3 Ebd., S. 1062.4 Ebd., S. 1969 f.5 Ebd., S. 1070. – Hockes Lehrer Curtius verurteilte diese Position Döblins wenig später als

„entschlossenen Willen zum Kulturabbau“ (Ernst Robert Curtius, Deutscher Geist inGefahr, Stuttgart/Berlin 1932, S. 19).

6 Vgl. Hans Mayer, Erinnerung an Gustav René Hocke, in: ders., Zeitgenossen. Erinnerungund Deutung, Frankfurt a.M. 1998, S. 260–268, hier S. 263.

Konzeptualisierungen einer ‚jungen Generation‘ 89

Jungs versteht er Kultur als zivilisatorische Hemmung der – von ihm aller-dings optimistisch, nämlich ‚sozial‘ verstandenen – Triebnatur. In Ab-grenzung von der deterministischen Geschichtstheorie des orthodoxenMarxismus betont er den spontanen und dynamischen Charakter der„Menschennatur“, die als „Explosionsstoff“ den Verfestigungen der stets zurStabilisierung tendierenden „Gesellschaft“ entgegenarbeite und so das trei-bende „Ferment“ der Geschichte bilde.7 Das utopische Ziel der Geschichteist in dieser Sicht die Befreiung der Menschennatur.

Damit formuliert Döblin im Jahr 1930 mit missionarischem Impetusnoch einmal das Programm eines revolutionären Utopismus, den vieledamalige Krisendiagnosen zu den überholten Ideologien einer eben zuEnde gehenden Epoche zählen. Auch Hocke gehört zu den jungen deut-schen Intellektuellen, die um 1930 Orientierung jenseits von Rationalismusund Irrationalismus suchen. Eine Orientierung, wie sie beispielsweise JoséOrtega y Gasset in seiner unter der Jugend einflussreichen und von Curtiuseingeleiteten Schrift über Die Aufgabe unserer Zeit (1928) mit dem Konzeptder ‚vitalen Vernunft‘ aufgezeigt hatte.8 Die „schwere Krisis der gegenwärti-gen abendländischen Geschichte“ – die Auflösung eines verbindlichen„Wertesystems“ und die Zersplitterung der „Wirklichkeit“ in unendlich vie-le, alle gleich wahre und gleichberechtigte „Perspektiven“ – lasse sich, heißtes dort, nicht durch eine einseitige Entscheidung für die Ratio oder für dieVitalität überwinden, sondern nur durch einen ‚vitalen Perspektivismus‘,der die Gesamtheit der Perspektiven als Ausdruck der Lebenswirklichkeitbegreife.9 Ortega präsentiert seine ‚Lehre vom Standpunkt‘ als eine Geistes-

7 Alfred Döblin, Führer für junge Wanderer durchs Labyrinth II, in: Das Tage-Buch 11(1930), H. 34, 23. August 1930, S. 1338–1344, hier S. 1341 f. Vgl. auch den Zirkularbrief,den Döblin im Oktober 1931 an einen Kreis Gleichgesinnter schrieb, der sich unter demEindruck von Wissen und Verändern um ihn versammelte hatte, in dem er die programmati-schen Grundlinien einer möglichen Aktionsgemeinschaft skizzierte: „Die Freisetzung desIndividuums zum Zweck der Auflösung alter Zwangsformen, die die wirkliche Besinnungund Aktivierung verhindern. […] Der Einzelne ist wie ganze Schichten durch Gewalt ver-kümmert, atomisiert, er ist zerbrochen zum Arbeiter, Bürger, Kapitalist. Die Instinkte sindgefälscht oder entartet. Das Solidaritätsgefühl ist geschwächt“ (Dokumente aus einem Berli-ner „Döblin-Kreis“ 1931/32, in: Leo Kreutzer, Alfred Döblin. Sein Werk bis 1933, Stutt-gart/Berlin/Köln/Mainz 1970, S. 150).

8 Vgl. José Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, mit einer Einleitung von E. R. Curtius,berechtigte Übertragung aus dem Spanischen von Helene Weyl, Zürich 1928 (spanischeErstveröffentlichung 1923), S. 106.

9 Ebd., S. 92 f. und 106. Ortegas ‚Perspektivismus‘ weist strukturelle Parallelen zur Wissens-soziologie Schelers oder Mannheims auf, ist aber im Vergleich etwa zu Mannheims Analyseder ‚Standortsgebundenheit‘ noch stärker an einer lebensphilosophischen Vorstellung vongeistiger Totalität ausgerichtet. Dies mag auch ein Grund dafür sein, dass sich Curtius beigleichzeitiger scharfer Kritik am ‚Soziologismus‘ Mannheims sehr positiv über Ortega äußer-te. Siehe hierzu Dirk Hoeges, Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und KarlMannheim. Intellektuelle und „freischwebende Intelligenz“ in der Weimarer Republik,Frankfurt a.M. 1994, S. 53 f.

90 ‚Verzauberung‘

haltung, mittels derer sich Geist und Leben in einem Verhältnis gegenseiti-ger ‚Überwachung‘ und ‚Eingrenzung‘ verbinden und in ein labiles Gleich-gewicht bringen lassen. Jede „Gleichgewichtsstörung“ zugunsten der einenoder anderen Macht zieht seiner Meinung nach notwendig „Entartung“nach sich: „Leben ohne Geist ist Barbarei, Geist ohne Leben Byzanti-nismus“.10

In diesem Kontext gewinnt der kurze und recht einseitige ‚Dialog‘ zwi-schen Hocke und Döblin symptomatische Bedeutung. Schlaglichtartigerhellt er die intellektuelle Konstellation am Ende der Weimarer Republik,in der sich eine Reihe junger bürgerlicher Intellektueller öffentlich zu Wortmelden, die einerseits die mit ‚Liberalismus‘ und ‚Relativismus‘ identifi-zierte Moderne der Weimarer Republik ablehnen, andererseits aber auch inden diese bekämpfenden politischen Ideologien, seien sie nun marxisti-schen, utopisch-sozialistischen oder völkisch-nationalistischen Zuschnitts,keine tragfähigen Orientierungsangebote erkennen.11 Der Briefwechsel istauch deshalb aufschlussreich, weil er zeigt, wie diese Opposition von Wis-sens- und Wertorientierungen um 1930 in die diskursive Konstruktioneines Generationengegensatzes einfließt. Denn Hocke spricht den älterenSchriftsteller explizit im Namen seiner Generation an und wird in derRezeption des Briefwechsels auch als deren Repräsentant wahrgenommen.12

Sein Brief reiht sich damit unter die vielen Beiträge ein, die in dieser Zeitaus konkurrierenden politischen und philosophischen Deutungsperspekti-ven das Profil einer ‚jungen Generation‘ entwerfen und dabei zugleich nacheinemWeg zur Überwindung der Kultur- und Wissenskrise suchen.

Signifikant ist in diesem Zusammenhang bereits die Verwendung desBegriffs ‚Generation‘, der ja keineswegs voraussetzungslos ist, sondern auf

10 Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, S. 59. Curtius, der Ortegas Philosophie undKunstkritik schon früh rezipierte, machte sich diese Sichtweise in seiner Einleitung zu Orte-gas Buch zu eigen und übernahm sie später auch in seine Krisenschrift Deutscher Geist inGefahr (1932).

11 Zu den Konzeptionen der ‚jungen Generation‘ um 1930 siehe auch Martin Lindner, Lebenin der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassi-schen Moderne, Stuttgart/Weimar 1994, S. 151 f. Zum Generationskonzept in der (Kul-tur)Soziologie der späten zwanziger Jahre und seiner Verwendung als Modell zur Verarbei-tung geschichtlicher Erfahrung in historischen Romanen der Weimarer Republik sieheBettina Hey’l, Geschichtsdenken und literarische Moderne. Zum historischen Roman in derZeit der Weimarer Republik, Tübingen 1994 (= Studien zur deutschen Literatur, Bd. 133),S. 63–121, bes. S. 66 f. Einen Überblick über die verschiedenen Ausformungen des ‚Genera-tionsmythos‘ von der Jahrhundertwende bis zum ‚Dritten Reich‘ gibt Frank Trommler, Mis-sion ohne Ziel. Über den Kult der Jugend im modernen Deutschland, in: Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend,Frankfurt a.M. 1985, S. 14–49.

12 Vgl. beispielsweise die Diskussion von Wissen und Verändern in der Neuen Rundschau, inderen redaktioneller Einleitung darauf hingewiesen wird, dass der „junge Mensch“ in demGespräch „im Grunde kein einzelner, sondern eine Vielfalt junger Menschen“ sei (Die NeueRundschau 42 [1931], 2. Teilbd., S. 71).

Konzeptualisierungen einer ‚jungen Generation‘ 91

eine soziologisch-sachliche und antigeschichtliche Betrachtungsweise ver-weist. Zuerst im französischen Positivismus als Kategorie zur Erklärung desFortschrittsprozesses verwendet und später von Dilthey im lebensphiloso-phischen Theoriehorizont als Bezeichnung für ein gleichzeitiges inneresErleben umgedeutet, wird der Begriff der Generation gegen Ende der zwan-ziger Jahre in der Soziologie und Kunstwissenschaft zur Beschreibung einerdurch gleichartige Prägung bzw. durch die gleichförmige Verarbeitung vonErfahrungen bestimmten historisch-sozialen Einheit verwendet.13 Die Redevon der Generation akzentuiert so die Ebene der kollektiven Dispositionen,mentalen und habituellen Erscheinungen oder auch der Lebenswelt. Mann-heim spricht in diesem Sinne von ‚Generationseinheit‘, Plessner von ‚Gene-rationsbewusstsein‘. Und Ortega, der mit Die Aufgabe unserer Zeit aucheinen wichtigen Beitrag zur Theorie der Generationen lieferte – und nachAussage des altersmäßig kaum zur ‚jungen Generation‘ zählenden Curtius„den historischen Imperativ unserer Generation zu formulieren“ ver-suchte14 – definiert Generation als eine unterhalb der Ebene bestimmterMeinungen liegende „Gemeinsamkeit der Einstellung“, als eine „gewissevitale Höhe, von der aus das Dasein auf bestimmte Art gefühlt wird“.15

In dieser Bedeutungsvariante wird der Generationsbegriff auch in denStellungnahmen der ‚jungen Generation‘ verwandt. So spricht Frank Matz-ke, einer ihrer Wortführer, in seiner Schrift Jugend bekennt: So sind wir!(1930) vom einheitlichen „Lebensgefühl“ und der gemeinsamen „seelischen

13 Vor allem bei Karl Mannheim, Das Problem der Generationen (1928), in: ders., Wissens-soziologie. Auswahl aus dem Werk, eingeleitet und hg. v. Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied1964 (= Soziologische Texte, Bd. 28), S. 509–565, der terminologisch zwischen „Genera-tionszusammenhang“ (S. 542) und „Generationseinheit“ (S. 544) unterscheidet. Mann-heims Generationsbegriff ist dem von Dilthey und dem von Wilhelm Pinder noch stark ver-pflichtet, etwa wenn er das Entstehen der Generationseinheit als „Aktivwerden der in derLagerung schlummernden Potentialität“ und als „»Entelechie«“ beschreibt (ebd., S. 550 f.).Dagegen akzentuiert Helmuth Plessner mit dem Begriff des ‚Generationsbewusstseins‘ stär-ker den konstruktiven Charakter der Generationsformierung. Vgl. Helmuth Plessner, Nach-wort zum Generationsproblem (1949), in: ders., Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträgezur Kultursoziologie, Frankfurt a.M. 1974, S. 74–86. Eingeleitet wurde die Konjunktur desGenerationsbegriffs in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre vom Kunsthistoriker WilhelmPinder, der den Begriff des ‚Generationsstils‘ prägte. Vgl. Wilhelm Pinder, Kunstgeschichtenach Generationen. Zwischen Philosophie und Kunst, Leipzig 1926; ders., Das Problem derGeneration in der Kunstgeschichte Europas, Berlin 1926. Zur literaturwissenschaftlichenVerwendung des Generationsbegriffs vgl. Julius Petersen, Die Wesensbestimmung der deut-schen Romantik, Leipzig 1926; ders., Die literarischen Generationen, Berlin 1930; Hansvon Müller, Zehn Generationen deutscher Dichter und Denker. Die Geburtsjahrgänge1561–1892 in 45 Altersgruppen zusammengefaßt, Berlin 1928; und Eduard Wechssler, DieGeneration als Jugendreihe und ihr Kampf um die Denkform, Leipzig 1930. Bei Wechsslergewinnt der Begriff dann eine biologistische und kämpferisch-nationalistische Semantik.Vgl. auch ders., Jugendreihen des deutschen Menschen 1733–1933, Leipzig 1934.

14 Curtius, Einführung, in: Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, S. 9–20, hier S. 12.15 Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, S. 28.

92 ‚Verzauberung‘

Haltung“ der ‚jungen Generation‘.16 Der Generationsbegriff erhält hierzugleich programmatische Bedeutung. Zum einen, weil er ‚ideologische‘Inhalte als sekundäre Phänomene von vornherein aus der Gruppenbestim-mung ausschließt. Man werde sich daran gewöhnen müssen, schreibtMartin Raschke in der Literarischen Welt, dass aus den Reihen der ‚jungenLiteratur‘ keine „plakatmäßige Kollektiväußerung“ kommen werde, „wiesie die Anthologie »Menschheitsdämmerung« darstellte.“17 Zum anderenhat dieser Generationsbegriff einen deutlich antidynamischen Charakter.Die ‚junge Generation‘ wird zwar als ein vitaler Zusammenhang bestimmt,durch die Spezifikation als ‚Haltung‘ scheint diese Vitalität jedoch von demutopisch-revolutionären Antriebspotential gereinigt, das die Selbstdeutun-gen der expressionistischen Jugend beschworen.

Wie in der wissenssoziologischen und existenzphilosophischen Zeit-diagnostik verbindet sich in den Entwürfen einer ‚jungen Generation‘ dieanalytische Beschreibung der Krise als einer Wissenskrise mit der ethischenForderung, durch die Entwicklung einer ‚seinsadäquaten‘ Denkform zueiner Beruhigung der äußeren Krisensituation beizutragen. Der ‚heutigeMensch‘ lebe „auf einem Trümmerfeld der Formen und Inhalte mensch-lichen Denkens“, das eine Entsprechung in seiner zertrümmerten seelischenund sozialen Situation habe, schreibt Raschke.18 „Ohne Bindung von Seinund Bewußtsein, schillernd in tausend Farben zielloser Reflektionen,“ seheer sich „in eine Welt gestellt, die wie er ohne inneren Anfang und ohneinneres Ende“ sei.19 Die „Sicherheit in den für undiskutabel gehaltenenDingen“ schwinde „zusehends dahin“, konstatiert Hans Hartmann.20 UndW. E. Süskind spricht von einer „Krise des Bürgertums“ im Sinne vom „Er-löschen einer Geistesrichtung und Lebensmethodik“, die eine „Proletarisie-rung des Lebensgefühls“ nach sich gezogen und den einzelnen „Wertersatz-mitteln des Tages“ wie „Rhythmus“ und „Tempo“ ausgeliefert habe.21 Dieneusachlich geprägte Massenkultur der zwanziger Jahre erscheint in dieserSicht als Kompensation und Kaschierung einer umfassenden Relativierungder Werte und des Wissens. Die ‚junge Generation‘ tritt dagegen mit der

16 Frank Matzke, Jugend bekennt: So sind wir!, Leipzig 1930, S. 6. Matzke bezieht sich unteranderem auf Wilhelm Pinder.

17 Martin Raschke, Zur jungen Literatur, in: Die literarische Welt 8 (1932), H. 8/9, 19. Fe-bruar 1932, S. 7–8, hier S. 7. Raschke distanziert sich damit indirekt auch von seiner eige-nen früheren Programmschrift Wir werden sein, die noch im Geist der Utopie verfasst ist.Dort heißt es unter anderem: „Wir sind ein Orden der Jungen, die Vorhut einer Zukunft[…]. Den Menschen des Morgen in Gesängen vorzubilden, den Menschen des Morgenselbst zu leben, ist unser Wille“ (Martin Raschke, Wir werden sein. Ein Zielbekenntnis, Ber-lin 1926, S. 11).

18 Raschke, Zur jungen Literatur, S. 6.19 Ebd.20 Hans Hartmann, Die junge Generation in Europa, Berlin 1930, S. 84.21 W[ilhelm] E[manuel] Süskind, Jugend als Lebensform, in: Die Neue Rundschau 40 (1929),

1. Teilbd., S. 816–828, hier S. 818 f. und 821.

Konzeptualisierungen einer ‚jungen Generation‘ 93

Forderung auf, diese Relativität als Gegebenheit anzuerkennen und sie zutranszendieren, um so zu einer neuen Orientierungen zu gelangen.

Matzke deutet das für die ‚junge Generation‘ charakteristische Lebens-gefühl der Einsamkeit und Distanz als Ausdruck eines der geistigen Kriseentsprechenden „Relativitätsbewußtsein[s]“.22 Zwar wisse man um dieStandortgebundenheit aller Weltanschauungen und Wertsysteme, doch lebeund handle man so, „als ob vieles noch bestünde“.23 Er meint dies keines-wegs negativ oder pessimistisch. Vielmehr diagnostiziert er bei sich und sei-ner Generation einen ausgeprägten ‚Einheitstrieb‘, der den Gegensatz zwi-schen einer ‚Ideenwelt‘ und einer ‚bloßen Wirklichkeit‘ überwinden will:„Wir können, wenn es uns einfällt, von jedem Standpunkt aus das Ganzeüberschauen; deshalb wissen wir immer: jenes ist auch da und das Fernsteebenfalls. Unser Dasein ist nicht in Fächer geteilt, sondern als einzige großeFläche gebildet.“24 Mit dieser Bestimmung des ‚Daseins‘ als einer unterhalbder einzelnen Wissensperspektiven liegenden Ebene scheint Matzke sichOrtegas ‚Lehre vom Standpunkt‘ zu eigen zu machen. Er verbindet diesephilosophische Haltung noch mit dem Pathos der gefahrvollen ‚Existenz‘:„auf dieser Fläche gibt es keine Mauern, die abgrenzen und hinter sichSchutz gewähren gegen allerhand Stürme“.25 Eine ähnliche Sicht entwickeltHartmann, der bei der ‚jungen Generation‘ das Bestreben beobachtet, imeigenen Denken den Standpunkt des „wahrhaft Natürlichen“ zu gewinnenund so zu „den ewigen Anfängen“, den „Quellarten des Lebens“, zurück-zukehren.26 Allgemein wachse die Bereitschaft, aus der „verkrampften frü-heren Betrachtungsart“ heraus und den verschiedenen Weltanschauungenselbständig gegenüberzutreten, indem man nach der Funktion des Denkensim Lebensganzen frage.27 Hartmann verwendet den Begriff des Natürlichendabei nicht im Sinne eines unmittelbaren Erlebens, sondern in der phäno-menologischen Bedeutung der „Vereinfachung der erkenntnistheoretischenFragen“.28 Wie Matzke bezieht er sich explizit auf Heidegger, dessen Phi-losophie, wie er schreibt, „in der Jugend viel verhandelt“ werde und den erals Philosophen der ‚Sachlichkeit‘ darstellt.29

Wenn Orientierung in der Transzendierung des Relativismus gesuchtwird, muss jede Forderung nach Parteinahme für eine bestimmte Wissens-und Wertorientierung als ‚unsachlich‘, also entweder utopisch oder reaktio-när erscheinen. Dies erklärt die in den Manifesten der ‚jungen Generation‘

22 Matzke, Jugend bekennt: So sind wir!, S. 69.23 Ebd.24 Ebd.25 Ebd.26 Hartmann, Die junge Generation, S. 84.27 Ebd., S. 71.28 Ebd., S. 77.29 Ebd. – Vgl. auch Matzke, Jugend bekennt: So sind wir!, S. 85.

94 ‚Verzauberung‘

vielfach formulierte Kritik an den politischen Utopien ihrer Zeit. Falsch seiallein die Perspektive, „die behauptet die einzige zu sein […], die Utopie“,hatte schon Ortega geschrieben.30 Curtius spricht im Anschluss daran vom„chimärischen Charakter“ der politischen Utopien, der von der Jugenderkannt werde: „Man stirbt nicht mehr für politische Ideen.“31 Und auchSüskind distanziert sich von allen „Prophetien“, die „eine Art irdischerEschatologie“ heraufbeschwören.32 Die ‚junge Generation‘ setzt dem dasProgramm einer sachlichen Aufgabenerfüllung entgegen, dessen Tonlage imVergleich zum technologischen und soziologischen Fortschrittsoptimismusder Neuen Sachlichkeit merklich gedämpft ist. Weder „Fortschrittsgläubi-ge“ noch „Zukunftsanbeter“, vielmehr in sich „selber ruhend und in derGegenwart“, so sieht Matzke die ‚junge Generation‘ illusionslos und emo-tionslos vorwärts schreiten.33

An der vielfach variierten Forderung nach einer Besinnung auf das ‚Da-sein‘, die ‚Anfänge‘ oder die ‚Gegenwart‘ wird erkennbar, dass die hieruntersuchten Selbstbeschreibungen der ‚jungen Generation‘ nicht alleindurch die Opposition gegenüber der älteren Generation expressionistischgeprägter Autoren bestimmt sind, sondern sich gleichzeitig auch vonBeschreibungen der neusachlichen Generation aus den zwanziger Jahrenabgrenzen. Man könnte die hier vorgestellten Texte auch als eine existenz-philosophische und antiliberale Variante des neusachlichen Generations-diskurses charakterisieren. Denn mit ihrer Kritik am expressionistischenPathos und an politischen Ideologien entsprechen sie einerseits ganz demMuster neusachlicher Nüchternheitspostulate. Andererseits wird dieseNüchternheit bzw. Sachlichkeit von ihnen nicht mit der Vorstellung tech-nischer oder sozialtechnologischer Rationalität konnotiert, sondern alsSeinserfahrung beschrieben. Diese Differenz wird in einem 1931 in derNeuen Rundschau veröffentlichten Aufsatz Egon Viettas über Martin Hei-degger und die Situation der Jugend besonders deutlich, der mit einer schar-fen Kritik am neusachlichen Jugendkonzept einsetzt. In den Masenmedienwerde ein rationaler, tat- und zukunftsfixierter ‚Typus‘ entworfen, heißt esdort, der „alle Aktionsfreiheit auf die empirische Tatsachenwelt“ konzen-triere, ein intensives Interesse an „naturwissenschaftlichen, gesellschafts-kritischen, fachpolitischen Tatbeständen“ habe, dabei aber eine „gänzlich

30 Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, S. 106.31 Curtius, Einführung, in: Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, S. 17.32 Süskind, Jugend als Lebensform, S. 821.33 Matzke, Jugend bekennt: So sind wir!, S. 72. – Aufgrund der Ablehnung des politischen

Handelns wie auch der Erkenntnis klassifizierte Siegfried Kracauer die in Matzkes Schriftbeschriebene junge Generation in einer Kritik als „eine Spielart der bürgerlichen Jugend“ (S[-iegfried] Kracauer, Neue Jugend? [Rezension], in: Die Neue Rundschau 42 [1931], 1.Halbbd., S. 138–140, hier S. 139 [Hervorhebung im Text]).

Konzeptualisierungen einer ‚jungen Generation‘ 95

unphilosophische Haltung“ einnehme.34 Vietta erkennt darin eine rationa-listische Verengung des Denkens und des Bewusstseins, eine Haltung „for-malpolitische[r] Aufgeschlossenheit“, die die Empirie nicht hinterfrage.35

Seiner Meinung nach spiegelt der neusachliche Typus – der „Westler, Libe-ralist oder Positivist“ – nur die „Arroganz des Gestrigen“ und nimmt daher„zu Unrecht den Titel der Jugend“ in Anspruch.36 Die echte Jugend, so legter nahe, zeichnet sich dagegen durch eine philosophische Haltung aus, dieeine andere als nur rationale, nämlich eine existentielle Wirklichkeitserfah-rung sucht. Sie konstituiere sich eben jetzt, unter dem Einfluss der durchScheler und Heidegger „neu erweckten philosophischen Ergriffenheit“.37

Auch wenn die Selbstbeschreibungen der ‚jungen Generation‘ welt-anschauliche Festlegungen vermeiden, sind sie doch nicht politisch neutral.Ohne eine bestimmte parteipolitische Position einzunehmen, weisen sie inihrer prinzipiellen Ablehnung des ‚Liberalismus‘ eine Affinität zu autoritä-ren, antidemokratischen Tendenzen auf. Dies zeigt sich auch an der zuneh-menden Politisierung des Generationsbegriffs nach 1930. In dieser Zeiterfährt der Begriff der ‚jungen Generation‘ im Spektrum nationalistischerPublizistik eine charakteristische Bedeutungsveränderung. Einerseits wer-den die Schlagworte ‚junge Generation‘ und ‚Jahrgang 1902‘ von der rech-ten Kulturkritik zur Diffamierung der Weimarer Republik verwandt, wobeisich der Hass im wesentlichen auf die linksorientierten RomanautorenErnst Glaeser und Klaus Mann – bzw. deren ‚Generationserzählungen‘ Jahr-gang 1902 (1928) und Kind dieser Zeit (1932) – richtet. Andererseits ver-sucht man, die ‚junge Generation‘ im nationalrevolutionären oder national-sozialistischen Sinne umzudeuten.38 Dabei wird zunehmend unterschiedenzwischen der Generation der etwa Dreißigjährigen und einer neuen ‚Ju-gend‘, die auf die Erfahrung der Krise und der Vaterlosigkeit mit der Ausbil-dung anderer kognitiver und habitueller Muster reagiert. Während die ers-te, ‚neusachliche‘ Nachkriegsgeneration vor allem mit sozialer und geistigerIsolation identifiziert wird, wird der zweiten, ‚jugendlichen‘ Generation einStreben zur Gemeinschaftsbindung „nach dem natürliche[n] Verhältnis vonFührer und Gefolgschaft“ zugeschrieben.39

34 Egon Vietta [i.e. Egon Fritz], Martin Heidegger und die Situation der Jugend, in: Die NeueRundschau 42 (1931), 2. Teilbd., S. 501–511, hier S. 501 f.

35 Ebd., S. 505.36 Ebd., S. 503 und 510 f.37 Ebd., S. 511.38 Zur nationalistischen und nationalsozialistischen Generationssemantik siehe auch Tromm-

ler, Mission ohne Ziel, S. 42 ff.39 Peter Suhrkamp, Söhne ohne Väter und Lehrer. Die Situation der bürgerlichen Jugend, in:

Die Neue Rundschau 43 (1932), 1. Teilbd., S. 681–696, hier S. 695. Suhrkamps Beschrei-bung basiert auf der sozialpsychologischen These, die Erfahrung der Vaterlosigkeit erzeugeeine mentale Disposition für antiliberale und reaktionäre Politikentwürfe. So diagnostizierter bei der Generation der Dreißigjährigen eine entschiedene Ablehnung des Liberalismus –

96 ‚Verzauberung‘

Diese Neubestimmung der ‚jungen Generation‘ deutet sich bereits inMatzkes Schrift Jugend bekennt: So sind wir! an, die der ‚jungen Generation‘eine Disposition zu soldatischer Unterordnung und Pflichterfüllung undauch eine unterdrückte Sehnsucht „nach Gemeinschaft“ attestiert.40 Nochdeutlicher zeigt sich die Verschiebung in der Debatte über die ‚junge Gene-ration‘, die um 1930 im nationalrevolutionären Tat-Kreis geführt wird. DerHerausgeber der Zeitschrift Hans Zehrer schreibt in einem Artikel, die‚junge Generation‘, die an ‚Schaltern‘, ‚Operationstischen‘, ‚Mikroskopen‘und ‚Reißbrettern‘ bereitstehe, sei „härter“ und „weiser“ als jede andereGeneration und verfüge trotz ihrer skeptischen Grundhaltung über einBewusstsein von „Berufung“, „Aufgabe“ und „Gestaltung“.41 Im übernächs-ten Heft hält er dann dem ‚Jahrgang 1902‘ vor, dieser hätte seinen Friedenmit dem liberalen System gemacht und sei für die revolutionäre Bewegungverloren.42 In dieselbe Richtung gehen Beiträge von Alfred Kantorowicz,der an den ‚Jüngsten‘ – wohl eine Anspielung auf den unter dem Namen‚jüngste Generation‘ firmierenden Kreis um Klaus Mann – eine weltbürger-liche Gesinnung und eine Mentalität des „Weiterwurstelns und Karrierema-chens“ kritisiert,43 sowie von Joachim Maaß, der den „große[n], ideelle[n]“Zusammenhalt einer „Bewegung“ vermisst.44

„Sie sind der schärfste Gegner des Liberalismus“ (S. 688) – und das Bedürfnis nach einer fes-ten sozialen Ordnung. Die Hierarchien in den neuen Jugendgruppierungen deutet er indi-rekt als kompensatorische Restitution familiar-patriarchaler Strukuren. Dieselbe These ver-tritt später Plessner, der mit Blick auf reaktionäre Denk- und Verhaltensmuster modernerJugendbewegungen zu dem Schluss kommt, der „Verlust der Vaterimago“ beinhalte „geradefür hochindustrialisierte Gesellschaften […] eine ständige Verführung zum totalitären Staat“(Plessner, Nachwort zum Generationsproblem, S. 84). Siehe auch die Beiträge in der Dop-pelnummer der Literarischen Welt vom Februar 1932 zum Thema ‚Situation der Jugend‘.Dort beobachtet Peter Diederichs bei der jungen Generation eine neue Tendenz zum Zusam-menschluss und Aufbruch: „Man lernt im Leben der Gruppe die Notwendigkeit von Führerund Gefolgschaft erkennen und erzieht sich zur Anerkennung funktionaler Gliederungen“(Peter Diederichs, Das Gesicht der jungen Generation, in: Die literarische Welt 8 [1932], H.8/9, 19. Februar 1932, S. 3 f., hier S. 3). Und Gerhard Adler erkennt in den zahlreichenpublizistischen Beiträgen zur Generationsdebatte eine neue Affinität zu den BegriffenNation, Volk und Staat und eine Übertragung religiöser Energien auf das Politische (vgl.Gerhard Adler, Junge Generation über sich selbst, ebd., S. 9).

40 Matzke, Jugend bekennt: So sind wir!, S. 83. „Wir ordnen uns schweigend unter, auch wowir besser wissen oder empfinden. Aber es ist eine Unterordnung in den äußeren Bezirken,nie im Kern der Seele; denn der ist immer individualistisch und gemeinschaftsfremd, wenn-gleich nach Gemeinschaft sich sehnend“ (S. 82 f.). „Modern in Wirklichkeit aber ist jene[…] Haltung, in der viel Soldatisches steckt: Dienst in einem Ganzen, Unterordnung imÄußerlichen, Rechtschaffenheit und Pflichterfüllung […]“ (S. 96 f.).

41 Hans Thomas [i.e. Hans Zehrer], Die zweite Welle, in: Die Tat 21 (1929/30), H. 8, Novem-ber 1929, S. 577–582, hier S. 581.

42 Vgl. Hans Thomas [i.e. Hans Zehrer], Absage an den Jahrgang 1902, in: Die Tat 21(1929/30), H. 10, Januar 1930, S. 740–748.

43 Alfred Kantorowicz, Was haben die »Jüngsten« zu sagen?, in: Die Tat 22 (1930/31), H. 1,April 1930, S. 54–60, hier S. 55.

Konzeptualisierungen einer ‚jungen Generation‘ 97

Junge nationalsozialistische oder dem Nationalsozialismus nahe ste-hende Autoren wie Ernst Wilhelm Eschmann, E. Günther Gründel oderKarl Rauch versuchen dagegen, das Konzept der ‚jungen Generation‘ mitihrem politischen Programm zu verbinden.45 Dabei erfährt das Genera-tionskonzept ähnliche Transformationen, wie sie für die Existenzphiloso-phie und die Philosophische Anthropologie im ‚Dritten Reich‘ beschriebenwerden konnten. Charakteristisch für den nationalsozialistischen Umgangmit dem Generationsbegriff ist, dass die soziologische Konzeption durchkulturbiologische Theoreme ‚ergänzt‘ wird. Eschmann beispielsweise be-stimmt Generation einerseits – analog der Mannheimschen Terminologievon ‚Generationslagerung‘ und ‚Generationseinheit‘ – als eine strukturellgleichartige Verarbeitung von Erfahrungen. Andererseits behauptet er, die‚junge Generation‘ sei keine „echte“ Generation, da ihr der Bezug auf dasgemeinsame vitale „Erlebnis“ fehle.46 Die Ambivalenz im Methodischenzeigt sich genauso in der Bewertung der ‚jungen Generation‘: Er schätzt dieaus der Negation weltanschaulicher Inhalte und der „Vereinfachung derWillensrichtung“ entstandene Sachlichkeit, die er als quasi-religiöse Grund-haltung beschreibt; gleichzeitig beklagt er aber das Fehlen einer „geschichts-bildenden Kraft“.47 Ähnlich argumentiert Gründel, der sich zwar zursachlichen – von Gefühlskontrolle, Schlichtheit, Wahrheitsliebe und Ver-schlossenheit gekennzeichneten – Mentalität der ‚klassischen Jahrgänge‘bekennt, zugleich aber eine dynamische Umformung dieses Typus im Rah-men eines „kulturbiologischen Periodenwechsel[s]“ vorhersagt.48 Ganz ähn-

44 Joachim Maaß, Junge deutsche Literatur, in: Die Tat 24 (1932/33), H. 9, Dezember 1932,S. 794–802, hier S. 800.

45 Vgl. auch Werner Schickert, Der „Jahrgang 1902“ und seine Aufgaben. Bemerkungen zueiner zeitpolitischen Schrift, in: Die Literatur 36 (1933/34), S. 137–139, der zwischen derneusachlichen Jugend und dem „echte[n] »Jahrgang 1902«“ unterscheidet, welcher sich der„Gemeinschaftsforderung des Zusammenstehens“ anschließe und es sich zur Aufgabe mache,das „Ich so weit einzuordnen, daß es mitmarschiert im neuen Zug der Herzen und Hirne ineine gemeinsam zu gestaltende Zukunft“ (S. 139).

46 Leopold Dingräve [i.e. Ernst Wilhelm Eschmann], Wo steht die junge Generation?, Jena1931, S. 6 f. – Eschmann war zusammen mit Karl Mannheim Assistent bei Alfred Weber inHeidelberg gewesen und hatte dort 1930 mit einer Arbeit über den faschistischen Staat inItalien promoviert. Vgl. hierzu Hoeges, Kontroverse am Abgrund, S. 147. Hoeges weistdarauf hin, dass Mannheim und andere Soziologen im Tat-Kreis vor 1933 intensiv rezipiertwurden.

47 Dingräve, Wo steht die junge Generation?, S. 30 und 8.48 E. Günther Gründel, Die Sendung der jungen Generation. Versuch einer umfassenden revo-

lutionären Sinndeutung der Krise, München 1932, S. 14 f. Der Gedanke einer zukünftigenSynthese von statisch-sachlicher und dynamisch-vitaler Mentalität bzw. von expressionisti-schem und sachlichem Stil findet sich bereits in Broder Christiansens Typologie der ‚Genera-tionsstile‘, auf die Gründel sich direkt bezieht (vgl. ebd., S. 81 f.). Vgl. Broder Christiansen,Das Gesicht unserer Zeit, Buchenbach i. Baden 1929. Christiansen entwirft eine vierglied-rige Phänomenologie der modernen ‚Generationsstile‘ und bestimmt dabei den zukünftigen‚M-Stil‘ als Kombination aus dem vergangenen ‚G-Stil‘ der expressionistischen Generationund dem aktuellen ‚H-Stil‘ der Neuen Sachlichkeit. Der H-Stil ist für ihn durch Raumweite

98 ‚Verzauberung‘

lich wie die Transformation der Philosophischen Anthropologie in den drei-ßiger Jahren vollzieht sich die nationalsozialistische Aneignung des Genera-tionskonzeptes in Form einer Synthese von soziologischer Beschreibungund vitalistischer Kulturphilosophie. Dies zeigt sich unter anderem daran,wie die Rede von der Generation mit Metaphern und Begriffen des Ahnen-gedenkens und der familiären oder völkischen Blutsverwandtschaft ange-reichert wird. In Eschmanns Darstellung stellt die Erkenntnis der bio-logisch-geistigen Verbundenheit mit den vergangenen Geschlechtern, die„Berührung mit der Erde“, das der ‚jungen Generation‘ bislang fehlende‚Erlebnis‘ dar, welches ‚Geschichtsbildung‘ und „völkisches Leben“ erstermögliche.49 Im Hinblick auf die vielbeschworene Vaterlosigkeit bedeutetdiese Erkenntnis zugleich das Erwachsenwerden der ‚jungen Generation‘und die Überwindung ihrer Pubertät.50 Indem die Jungen sich als Söhneder gefallenen Kriegsgeneration, der „Toten von Langemarck“, erkennen,werden sie, so die blutsmetaphysische Argumentationslogik, selbst fähig,Vaterschaft zu übernehmen und den als Erbe überkommenen Traum vom„kommenden Reich“ zu realisieren.51 Die Vorstellung von Erwachsenwer-den und Vaterschaft ist hier mit der Hoffnung auf eine Beruhigung undKanalisierung der vitalen Antriebskräfte verknüpft. Denn mit dem Anbruchdes neuen, ‚dritten‘ Reiches wird die Utopie der Väter ‚Wirklichkeit‘ und

und Zeitenge gekennzeichnet und daher primär „unhistorisch“ (S. 53). „Der statische Zugdes H-Stils hängt wohl zusammen mit der Zeitenge: die zukunftlose Gegenwart muß Bewe-gung auf der Stelle sein“ (S. 57). Dem M-Stil prognostiziert er dagegen eine neue Dynamik.In ihm werde die „Bewegung“, die den Expressionismus bestimmte, wieder aufgenommen:„aber geläutert zu einer wirklichkeitsfesten, könnenden, zielklaren Dynamik“ (S. 60). DieVerabsolutierung der Logik werde durch einen „sachlich klaren, kühlen neuen Glauben“abgelöst, der Drang aufs Archaische durch eine Renaissance des Dorischen und Gotischen(S. 62).

49 Dingräve, Wo steht die junge Generation?, S. 24.50 Vgl. Karl A. Kutzbach, Vom Schrifttum der jungen Generation, in: Die Neue Literatur 34

(1933), H. 7, Juli 1933, S. 392–398, der die Literatur der ‚jungen Generation‘ im Juli 1933rückblickend als unreife „Pubertätsdokumente“ abwertet (S. 394). „Der junge, sachlichgewordene Großstadtmensch der Nachkriegszeit glaubte sein gehärtetes Lebensgefühl imzynischen und nihilistischen »Song« ausgedrückt. Heute ist zu erwarten, daß wieder […] einlebendig gefühltes Vorbild des Menschen entsteht, das etwa durch Weltoffenheit, nüchterneGläubigkeit, männliche Zucht […] bestimmt ist“ (S. 398).

51 Karl Rauch, Schluß mit „junger Generation“!, Leipzig 1933, S. 120. Mit der Restitution der„Blutkette“ (S. 18) tritt der Mensch nach Rauch wieder in den geschichtlicher Lebenszyklusein: „Allabendlich sinkt am Horizont die Sonne hinab Tag um Tag und steigt am frühenMorgen jenseits wieder herauf. In ewiger Folge wachsen Sommer und Herbst aus dem Früh-ling heran, um vor des Winters Mächten zu weichen, die wiederum des Lenzens Durchbruchvertreibt. Menschengeschlechter steigen herauf, wachsen, wirken, altern und sterben ab,Welt und Zeit den Folgenden überlassend, die sie gezeugt: Glied an Glied reiht sich zur Ket-te, die ohne Anfang und ohne Ende vom Ewigen kommt, ins Ewige greift“ (S. 100). Vgl.auch die Rezension von Gründels Buch in der Tat, an deren Ende der Rezensent als Bestäti-gung von Gründels Thesen darauf hinweist, dass „die junge Generation wieder Kinder habenwill“ und sich so als „zukunftsträchtig“ erweise; vgl. E[ugen] Schmahl, Die junge Generation,in: Die Tat 24 (1932/33), H. 5, August 1932, S. 429–432, hier S. 432.

Konzeptualisierungen einer ‚jungen Generation‘ 99

‚Aufgabe‘ und das Programm der vitalen Revolution durch das von ‚Herr-schaft und Dienst‘ ersetzt.52

Wie Horst Denkler gezeigt hat, wurde dieses Konzept sachlich-soldati-schen Dienstes im ‚Dritten Reich‘ auch zur Richtlinie nationalsozialistischerLiteraturpolitik, die gerade die ‚junge Generation‘ in die Pflicht nahm, demnach dem Untergang des ‚liberalistischen Zeitalters‘ angeblich entstandenenneuen Gemeinschaftsgefühl durch eine weder triviale noch modernistischeBehandlung von Gegenwartsstoffen literarischen Ausdruck zu verleihen.53

Die mit vagen und widersprüchlichen inhaltlichen und formalen Vorgabenverbundene Forderung nach einer Eingliederung in die ‚Literaturfront‘steckte dabei einen literaturpolitischen Rahmen ab, in dem sich sowohlnationalsozialistische als auch nicht-nationalsozialistische, sowohl völkischals auch ‚sachlich‘ eingestellte Autoren der ‚jungen Generation‘ mit relativerFreiheit bewegen konnten, der indirekt aber auch eine Angleichung unter-schiedlicher Schreibweisen auf „mittlere[r] Stillage“ erzwang.54

2. Die Krise des ‚naturwissenschaftlichen Weltbildes‘und die ‚neue Lehre vomMenschen‘

Die Untersuchung der Entwürfe einer ‚jungen Generation‘ zwischen demEnde der zwanziger Jahre und der Anfangsphase des ‚Dritten Reichs‘ hatgezeigt, dass die beteiligten Autoren selektiv auf die antihistorischen Denk-modelle zurückgriffen, die in der Philosophie und den Kulturwissenschaf-ten im Zusammenhang der Historismuskrise entwickelt worden waren. DieVermittlung dieses philosophischen und soziologischen Wissens erfolgtehauptsächlich auf drei Ebenen: durch die Universität und die akademischenLehrer, etwa die für die ‚junge Generation‘ besonders wichtigen Curtiusund Heidegger; durch die Rezeption der das disziplinäre Wissen schnellpopularisierenden, auflagenstarken ‚Krisendiagnosen‘ der Zeit, wie der vonMannheim, Jaspers oder Ortega y Gasset; und durch die literarisch-kultu-

52 Vgl. Rauch, Schluß mit „junger Generation“!, S. 119. – Die implizite und explizite national-sozialistische Kritik an der ‚jungen Generation‘ erklärt auch, warum das Schlagwort der ‚jun-gen Generation‘ im ‚Dritten Reich‘, etwa bei Wolfgang Weyrauch, auch als „nicht-national-sozialistisches Signal“ verwendet bzw. aufgefasst werden konnte, worauf Gerhard Kurzaufmerksam gemacht hat; vgl. Gerhard Kurz, Nullpunkt, Kahlschlag, tabula rasa. ZumZusammenhang von Existentialismus und Literatur in der Nachkriegszeit, in: AnnemarieGethmann-Siefert (Hg.), Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag, Bd. 2,Stuttgart 1988, S. 309–332, hier S. 312.

53 Vgl. Horst Denkler, Werkruinen, Lebenstrümmer. Literarische Spuren der ‚verlorenen Gene-ration‘ des Dritten Reiches, Tübingen 2006 (= Untersuchungen zur deutschen Literatur-geschichte, Bd. 127), S. 13–17.

54 Ebd., S. 16.

100 ‚Verzauberung‘

rellen Periodika, die häufig wissenschaftliche Themen diskutieren oderFachvertreter selbst zu Wort kommen lassen und deshalb ein wichtiger Indi-kator für das Verhältnis von Wissenschaft und kulturellemWissen sind.55

Die existenzialanthropologische Sichtweise, die sowohl die Krisendiag-nosen um 1930 als auch die Beschreibungen der ‚jungen Generation‘ unddie literarische Programmatik ‚junger‘ Autoren kennzeichnet, ist jedochnicht allein mit der philosophischen Theoriebildung in dieser Zeit eng ver-knüpft. Vielmehr referiert sie auch neuere naturwissenschaftliche Erkennt-nisse und Theorien. Im ersten Kapitel wurde bereits gezeigt, dass sich dieWendung zu einer neuen ‚Philosophie des Menschseins‘ um 1930 als dop-pelte Abgrenzung von der Geschichte einerseits und von den ‚mechanisti-schen‘ Naturwissenschaften andererseits vollzieht. Diese Wendung wird inden Texten der Zeit oft als eine Renaissance der Naturphilosophie beschrie-ben. Dabei bezieht man sich auf soziologischer und kulturwissenschaftlicherSeite allerdings weniger auf die Denkmodelle der Goethezeit als in selekti-ver Weise auf Neuerungen in der zeitgenössischen Naturwissenschaft, dieauf eine Annäherung an die Philosophie und eine Abkehr vom mechanisti-schen Denken hinzudeuten scheinen. Als Kronzeugen fungieren die Quan-tentheorie und die Allgemeine Relativitätstheorie, die ihren Gegenstand

55 Ein Beispiel für die zuletzt genannte Form der Wissensverbreitung bietet eine Artikelseriezum Thema Anthropologie in der Neuen Rundschau – einem der wichtigsten kulturellenForen nicht-nationalsozialstischer Intelligenz im ‚Dritten Reich‘ – aus dem Jahr 1938, in derfünf prominente Fachvertreter unterschiedlicher Disziplinen jeweils ihre Sicht des aktuellenDiskussionsstandes entwickeln: Werner Sombart aus soziologischer, Martin Dibelius undKarl Buchheim aus theologischer (protestantischer und katholischer), Alfred Weber aus kul-tursoziologischer und Frederik J. J. Buytendijk aus biologischer Perspektive. Dabei fällt auf,dass, von Dibelius abgesehen, alle Beiträger in ihrer Argumentation dem Beschreibungs-modell der Philosophischen Anthropologie verpflichtet sind. Wohl nicht zuletzt deshalb,weil sich mit ihm die Differenz zur rassenbiologisch-metaphysischen Anthropologie formu-lieren ließ. So stellt Sombart die ‚Naturfreiheit‘ bzw. ‚Instinktfreiheit‘ als Wesensmerkmal desMenschen heraus, aus der seine Sonderstellung in der Natur resultiere, und betont, dass manihn nicht historisch, psychologisch oder rassisch, sondern nur über sein umweltbezogenesVerhalten und die besondere Struktur seines ‚Geistes‘ bestimmen könne (vgl. Werner Som-bart, Das Wesen des Menschlichen, in: Die Neue Rundschau 49 [1938], 2. Teilbd.,S. 521–540). Wie Sombart verwirft Buchheim die naturwissenschaftliche Anthropologieund beruft sich stattdessen auf eine ‚Philosophische Anthropologie‘, die den Menschendurch seine Fähigkeit zur Reflexion seines Seins definiert (vgl. Karl Buchheim, Das Maß derDinge, in: Die Neue Rundschau 49 [1938], 1. Teilbd., S. 122–140). In expliziter Abgren-zung zur Biologie, Psychologie und Soziologie bestimmt Weber den „existentielle[n] Kerndes Menschen“ auf phänomenologische Weise über die Kulturgegenstände, die sich derMensch als notwendige Mittel der „Weltinterpretation“ schafft (Alfred Weber, Was ist derMensch? Ein Streifzug in ein ungewisses Gebiet, in: Die Neue Rundschau 49 [1938],1. Teilbd., S. 234–241, hier S. 237). Genauso stellt Buytendijk das Verständnis des Men-schen als eines ‚geistigen Wesens‘ dem „Naturalismus des Zeitgeistes“ entgegen und erklärtdie Differenz zum Tier in Anlehnung an Plessner mit der Umweltbezogenheit und demTriebüberschuss des Menschen, die die grundsätzliche ‚Weltoffenheit‘ seines Geistes begrün-deten (F[rederik] J. J. Buytendijk, Tier und Mensch. In: Die Neue Rundschau 49 [1938],1. Teilbd., S. 313–337, hier S. 314).

Die Krise des ‚naturwissenschaftlichen Weltbildes‘ und die ‚neue Lehre vomMenschen‘ 101

nur noch mathematisch-logisch bestimmen und eine Abhängigkeit desObjekts vom Betrachterstandpunkt einberechnen.56 So parallelisiert Schelerdie Konzeption der Wissenssoziologie mit der zeitgleich entstandenen Rela-tivitätstheorie.57 Und Heidegger stellt seine Fundamentalontologie in denKontext einer alle Disziplinen betreffenden Wissenschaftskrise und beziehtsich dabei auf die erkenntnistheoretischen Problemstellungen der neuenMathematik und Physik.58 Die Begründer der Philosophischen Anthro-pologie dagegen verarbeiten in ihrer Theoriebildung neben neuen Erkennt-nissen aus der Medizin, Verhaltens- und Hirnforschung vor allem innova-tive Ansätze zur nicht-mechanistischen Erklärung biologischer Systeme –insbesondere von Hans Driesch, Jakob von Uexküll und Frederik J. J.Buytendijk – sowie die neue paläontologische Theorie Edgar Dacqués.59 Inder Einleitung zu Die Stellung des Menschen im Kosmos stellt Scheler 1928fest, dass „weit hinaus über die philosophischen Fachkreise Biologen, Medi-ziner, Psychologen und Soziologen an einem neuen Bilde vom Wesensauf-bau des Menschen arbeiten“.60 Und Plessner konstatiert im selben Jahr inder seinem Hauptwerk vorangestellten Aufgabenskizze, die „Theorie derGeisteswissenschaften“ brauche „Naturphilosophie, das heißt eine nichtempirisch restringierte Betrachtung der körperlichen Welt, aus der sich die

56 Zur Aufnahme der neuen Physik in den Sozial- und Kulturwissenschaften der zwanzigerJahre siehe die Untersuchung von Elisabeth Emter, Literatur und Quantentheorie. DieRezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachi-ger Autoren (1925–1970), Berlin/New York 1995 (= Quellen und Studien zur Literatur-und Kulturgeschichte, Bd. 2). Siehe weiterhin den Überblick von Michael Titzmann,1890–1930. Revolutionärer Wandel in Literatur- und Wissenschaft, in: Karl Richter/JörgSchönert/Michael Titzmann (Hg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930,Stuttgart 1997, S. 297–322, bes. S. 300 ff.

57 „In der Lehre von der wesensnotwendigen Relativität alles historischen »Seins« selbst, nichtnur seiner Erkenntnis, ist der Historismus als Weltanschauung ebenso überwunden (durchsich selbst überwunden), wie in der relativitätstheoretischen Lehre von der Relativität desphysikalischen ausgedehnten Seins selbst zugunsten bloß gesetzlicher absoluter Wertkonstan-ten und Kraftzentren – nicht also bloß unserer menschlichen Erkenntnis von ihr – der »abso-lute« Mechanismus der absoluten Körperwelt für immer überwunden ist“ (Max Scheler, Pro-bleme einer Soziologie des Wissens, in: ders. [Hg], Versuche zu einer Soziologie des Wissens,München/Leipzig 1924 [= Schriften des Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften,Bd. 2], S. 1–146, hier S.115; Hervorhebung im Text). Vgl. auch Ernst Cassirer, Zur Ein-stein’schen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1921.

58 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit. Erste Hälfte, 2. Aufl., Halle a. d. S. 1929, S. 9.59 Zur Bedeutung der Umwelttheorie Jakob von Uexkülls für die antibiologistische Anthro-

pologie Schelers, Plessners, Gehlens und auch Heideggers vgl. Helmut Lethen, Anleitungzur Schlaflosigkeit. Über den Formzwang in der Politischen Anthropologie von HelmuthPlessner und Arnold Gehlen, in: Joachim Fischer/Hans Joas (Hg.), Kunst, Macht und Insti-tution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kulturso-ziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt/New York 2003,S. 89–103, hier S. 95 f.

60 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928, S. 11.

102 ‚Verzauberung‘

geistig-menschliche Welt nun einmal aufbaut, von der sie abhängt, mit dersie arbeitet, auf die sie zurückwirkt.“61

Die zitierten Äußerungen verweisen auf den fundamentalen Umbruch,der sich in den zwanziger Jahren in der Naturwissenschaft vollzog und dernicht nur in der Wissenschaft selbst als Weltanschauungskrise erfahren wur-de. Im Zentrum dieses Prozesses standen die Theorien der modernen Phy-sik mit ihren weit reichenden erkenntnistheoretischen Implikationen.62

Indem diese die für die Entwicklung der Naturwissenschaft im neunzehntenJahrhundert maßgeblichen, aus der klassischen Newtonschen Mechanikstammenden Gesetze zur Erklärung der Vorgänge in Raum und Zeit inFrage stellte, erschütterte sie zugleich die Theorie einer apriorischen Struk-tur von Raum und Zeit, wie sie Kant mit Blick auf Newton formuliert hat-te. Dadurch, dass Zeit in Relation zur Geschwindigkeit einer Masse gesetztwurde, wurde die universelle Gültigkeit der Kausalität, die jede Erscheinungals Folge einer zeitlich vorangehenden Wirkung erklärt, fragwürdig. DieErkenntnis setzte sich durch, dass es Bereiche gab, auf die deren Begriffenicht anwendbar waren, und dass Naturgesetze keine feststehenden, son-dern allenfalls statistische Größen waren. So konstatierte Hans Reichenbach1933 in einer popularisierenden Darstellung des neuen physikalischenWeltbildes, dass zwischen statistischen und strengen Naturgesetzen nichtlogisch unterschieden werden könne, da die „Anwendung des Kausalitäts-prinzips“ immer schon „die Einführung einer Wahrscheinlichkeitsaussageund damit die Benutzung des statistischen Prinzips“ bedeute.63

Große, über die Fachöffentlichkeit hinausreichende Resonanz erfuhrenin den zwanziger Jahren insbesondere die Quantenmechanik und die mitihr verknüpfte Akausalitätsthese, also die Annahme, dass die Kausalität imMikrokosmos, in der atomaren Sphäre, keine Geltung habe; dies gipfelteim vieldiskutierten Unbestimmtheitsprinzip Heisenbergs.64 Während die

61 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philoso-phische Anthropologie, Berlin/Leipzig 1928, S. 26.

62 Zur Wirkung der physikalischen Revolution und der durch sie ausgelösten ‚Krise des Wirk-lichkeitsbegriffs‘ auf die Intellektuellen der zwanziger Jahre und allgemein zur Bedeutung dertheoretischen Physik für die literarische Moderne siehe Carsten Könneker, »Auflösung derNatur – Auflösung der Geschichte«. Moderner Roman und NS-»Weltanschauung« im Zei-chen der theoretischen Physik, Stuttgart/Weimar 2001, bes. S. 107–113.

63 Hans Reichenbach, Vom Bau der Welt. Grundgedanken der Physik, in: Die Neue Rund-schau 44 (1933) 2. Teilbd., S. 39–60, hier S. 58.

64 Die Akausalitätsthese formuliert beispielsweise Erwin Schrödinger in seiner ZürcherAntrittsvorlesung von 1922, in der er, die physikalische Forschung der letzten Jahrzehnteresümierend, feststellt, diese habe „klipp und klar bewiesen, daß zum mindesten für dieerdrückende Mehrzahl der Erscheinungsabläufe, deren Regelmäßigkeit und Beständigkeitzur Aufstellung des Postulats der allgemeinen Kausalität geführt haben, die gemeinsameWurzel der beobachteten strengen Gesetzmäßgikeit – der Zufall ist“ (Erwin Schrödinger,Was ist ein Naturgesetz? [Zürcher Antrittsvorlesung von 1922, zuerst publiziert in: DieNaturwissenschaften 17, 1929], in: ders.: Was ist ein Naturgesetz? Beiträge zum naturwissen-

Die Krise des ‚naturwissenschaftlichen Weltbildes‘ und die ‚neue Lehre vomMenschen‘ 103

Quantenphysik naturgesetzliche Beschränkungen von Beobachtung undVorherberechnung bei Atomen und Molekülen – keineswegs aber einen all-gemeinen Indeterminismus – feststellte, kam die moderne Genetik zu demSchluss, dass sich die biologischen Anlagen des Menschen nicht voraus-berechnen ließen; und die moderne Mathematik erkannte die intuitivenVoraussetzungen und die begrenzte Reichweite ihres formalen Systems.65

Eine Gemeinsamkeit dieser Entwicklungen bestand in der selbstreflexiven

schaftlichen Weltbild, 2., unveränderte Aufl. München/Wien 1967, S. 9–17, hier S. 10[Hervorhebung im Text]). Hierauf gründet er dann seine Überzeugung vom „statistischenCharakter der physikalischen Gesetzlichkeit“ (S. 13). Gleichzeitig relativiert und historisierter den verbreiteten ‚Glauben‘ an die kausale Determiniertheit: Es handle sich dabei um eineererbte „Denkgewohnheit“, wie sie der „Animismus“ anderer Kulturen darstelle (S. 15).Schrödingers Position ist allerdings keineswegs repräsentativ für die gesamte moderne Phy-sik. Max Planck beispielsweise konstatiert 1923 in einem Vortrag die unveränderte Gültig-keit des Kausalgesetzes für alle Gebiete der physikalischen Forschung und äußert die Erwar-tung, dass die Quantenhypothese zwar „einige wesentliche Modifikationen“ in derFormulierung der physikalischen Grundgesetze erzwingen, schließlich aber „ihren exaktenAusdruck in gewissen Gleichungen finden wird, welche dann als eine genauere Formulierungdes Kausalgesetzes gelten können“ (Max Planck, Kausalgesetz und Willenfreiheit [1923], in:ders., Wege zur physikalischen Erkenntnis. Reden und Vorträge, 2. Aufl., Leipzig 1934[1. Aufl. 1933], S. 87–127, hier S. 109). – Auf der Beobachtung, dass die Annahme derAkausalität am Beginn der Entwicklung der Quantenmechanik stand und sie erst im Nach-hinein eine, wenn auch sehr eingeschränkte experimentelle Bestätigung erhielt, hat Paul For-man seine als ‚Forman-Thesen‘ bekannt gewordene Theorie von der Milieubedingtheit derQuantenmechanik aufgebaut. Forman stellt die Quantenmechanik in den Kontext der diedeutsche Kultur nach dem Ersten Weltkrieg allgemein prägenden Rationalismus- undNaturwissenschaftskritik. Vgl. Paul Forman, Weimarer Kultur, Kausalität und Quantentheo-rie 1918–1927. Die Anpassung deutscher Physiker und Mathematiker an eine feindseligegeistige Umgebung (1971), in: Karl von Meyenn (Hg.), Quantenmechanik und WeimarerRepublik. Braunschweig/Wiesbaden 1994, S. 61–179. Im Anschluss an Forman hat GregorSchiemann den Einfluss lebensphilosophischen Denkens auf die physikalische Kausalitäts-kritik herausgearbeitet. Vgl. Gregor Schiemann, Wer beeinflußte wen? Die Kausalitätskritikder Physik im Kontext der Weimarer Kultur, in: Wolfgang Bialas/Georg G. Iggers (Hg.),Intellektuelle in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. u. a. 1996 (= Schriften zur politi-schen Kultur der Weimarer Republik, Bd. 1), S. 351–365. Schon lange vor Forman, imJahre 1932, hatte Erwin Schrödinger die seinerzeit Aufsehen erregende These vertreten, dassdie Naturwissenschaften und auch die moderne Physik von „Zeitgeist“ und „Kulturmilieu“bestimmt seien und sich auf „allen Gebieten einer Kultur“, also auch in der Naturwissen-schaft, „gemeinsame weltanschauliche Züge und, noch sehr viel zahlreicher, gemeinsame sti-listische Züge“ fänden; vgl. Erwin Schrödinger, Ist die Naturwissenschaft milieubedingt?, in:ders., Über Indeterminismus in der Physik. Ist die Naturwissenschaft milieubedingt. ZweiVorträge zur Kritik der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, Leipzig 1932, S. 25–62, hierS. 38. Im Falle der modernen Physik macht er diese Stilelemente in der ‚Sachlichkeit‘, im‚Umstürzbedürfnis‘, im ‚Relativitätsgedanken‘, in der ‚Methodik der Massenbeherrschung‘und in der Anwendung von ‚Statistik‘ aus (vgl. ebd., S. 43).

65 Siehe hierzu Alfred Gierer, Die gedachte Natur. Ursprünge der modernen Wissenschaft,Reinbek 1998, S. 32–34; ders., Naturwissenschaft und Menschenbild, in: Otto GerhardOexle (Hg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit –Gegensatz – Komplementarität?, 2. Aufl., Göttingen 2000 (= Göttinger Gespräche zurGeschichtswissenschaft, Bd. 6) (1. Aufl. 1998), S. 41–60, bes. S. 45 f.; Carl Friedrich vonWeizsäcker, Die Geschichte der Natur. Zwölf Vorlesungen, Stuttgart 1948, S. 52.

104 ‚Verzauberung‘

Wendung auf die theoretischen Grundlagen der Wissensgewinnung unddie Relativität der gewonnenen Ergebnisse. Durch diese Reflexion derBedingungen von Erkenntnis, auf der „metatheoretischen Ebene der Bezie-hung von Erkenntnis und Realität“, wurde naturwissenschaftliches Wissenmit philosophischen, kulturellen oder religiösen Deutungen des Menschenund der Welt vermittelbar.66 So meinte beispielsweise der Physiker HansReichenbach 1928, dass die Trennung von (historisch-philologischer) Phi-losophie und (mathematischer) Naturwissenschaft mit der neuen Raum-Zeit-Lehre aufgehoben werde und sich auf Grundlage der physikalisch-mathematischen Erkenntnisse eine moderne, „exakte Naturphilosophie“begründen lasse.67

Den Weltbildcharakter der modernen Physik stellt insbesondere Wer-ner Heisenberg in seinen Vorträgen und Aufsätzen aus den dreißiger undvierziger Jahren heraus, in denen er sich um die Vermittlung der neuen phy-sikalischen Erkenntnisse an ein breiteres Publikum bemüht und die durchsie aufgeworfenen philosophischen Fragen diskutiert. Darin vergleicht erdie Bedeutung der von der modernen Physik eröffneten neuen ‚Denkmög-lichkeit‘ mit der der Kopernikanischen Lehre.68 Da ihre Erkenntnisse dieBestimmung des allgemeinen Zusammenhangs der Natur beträfen, würdensie „das ganze geistige und kulturelle Leben“ in einem Maße beeinflussen,wie es die modernen Naturwissenschaften in der Renaissance taten – nurdass jetzt nicht der Glaube an die wissenschaftliche Erkennbarkeit der Welt,sondern, im Gegenteil, die Einsicht in die grundsätzliche Begrenztheit dermenschlichen Erkenntnismöglichkeit im Zentrum dieses Prozesses stehe.69

Die wesentliche Neuerung der durch die Atomphysik begründeten „Denk-form“ gegenüber dem alten naturwissenschaftlichen Weltbild erkenntHeisenberg zum einen in der Vereinheitlichung der unterschiedlichen –physikalischen, chemischen und auch biologischen – Erklärungsweisen dermateriellen Welt und der möglichen zukünftigen Ausweitung auch auf dasGebiet des „Bewußtseins“ und der „geistigen Vorgänge“, zum anderen inder Revision von dessen erkenntnistheoretischer Grundlage.70 Die Vorstel-lung einer „objektiv in Raum und Zeit ablaufenden Welt“ erweise sich beiAnwendung der neuen, verfeinerten Beobachtungstechnik als „Idealisie-rung“ und würde ersetzt durch mathematisch-logische Bestimmungen und

66 Gierer, Naturwissenschaft und Menschenbild, S. 47.67 Hans Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin/Leipzig 1928, S. 7. Reichen-

bach versteht unter Naturphilosophie eine Erkenntnistheorie auf mathematisch-logischerBasis.

68 Vgl. Werner Heisenberg, Wandlungen der Grundlagen der exakten Naturwissenschaft injüngster Zeit (1934), in: ders., Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft. SechsVorträge, 3., erweiterte Aufl., Leipzig 1942 (1. Aufl. 1935), S. 7–23, hier S. 9.

69 Ebd., S. 18.70 Werner Heisenberg, Die Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes (1941), in: Heisen-

berg, Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, S. 77–95, hier S. 93 und 95.

Die Krise des ‚naturwissenschaftlichen Weltbildes‘ und die ‚neue Lehre vomMenschen‘ 105

die Vorstellung eines komplementären Verhältnisses unterschiedlicherWirklichkeitsbereiche.71

Eine naturphilosophische Perspektive eröffnet die moderne Physikdann, wenn auf ihrer Grundlage eine Neubestimmung der menschlichenExistenz und des Verhältnisses von Mensch und Natur gesucht wird. ImUnterschied zur anthropozentrischen Sichtweise Kants, für den der mensch-liche Verstand die Grundlage der Naturgesetze und der formalen Einheitder Natur war, wird jetzt nach einer Mensch und Natur gemeinsamen Ord-nung gefragt. Dies kann, wie Heisenberg andeutet, dadurch geschehen, dassdie neue Theorie auch auf die Phänomene des Organischen und des Geisti-gen angewandt wird. In diese Richtung gehen die Überlegungen von Physi-kern wie Niels Bohr oder Heisenberg, die die Erkenntnisse der Quanten-mechanik mit Spekulationen über Interdependenzen zwischen Geist undMaterie und über die menschliche Willensfreiheit in Verbindung bringen,Gedanken, die auch literarische Autoren, unter anderen Ernst Jünger, auf-greifen.72 Dieselbe Richtung verfolgt Max Bense mit seiner krisendiagnos-tischen Schrift Der Aufstand des Geistes. Eine Verteidigung der Erkenntnis(1935), in der er die Erschütterung des naturwissenschaftlichen Denkensdurch die moderne Mathematik und Physik mit der philosophischen Wen-dung zum ‚Sein‘ bzw. zur ‚Existenz‘ parallelisiert und darauf eine „neue‚Synthetische Naturphilosophie‘“ begründen will.73 Es bestehe ein „tieferZusammenhang zwischen der Unsicherheit des Denkens über die Materieund der inneren Unruhe menschlicher Existenz“, konstatiert er dort.74 Sowie die Quantenphysik, insbesondere durch Heisenberg und Schrödinger,zu der Erkenntnis gelangt sei, dass „die scharfe Trennung zwischen Subjektund Objekt, zwischen Innerlichkeit und Weltlichkeit“ nicht aufrecht zuerhalten ist,75 so sei auch in der Existenzphilosophie die äußere Wirklich-keit im Akt einer ‚anthropologischen Reduktion‘ auf das Subjekt zurück-geführt worden – allerdings nicht im Sinne einer ‚Vermenschlichung‘, son-dern im Sinne einer Ontologisierung.76 Der Einbruch der Subjektivität indie Gesetze der Materie und in die Symbole der Mathematik korrespondiertnach Bense mit der Erkenntnis von der außermenschlichen Bedingtheit derSubjektivität. Daher plädiert er für eine Neukonzeption des Humanismus

71 Ebd., S. 94.72 Zu Jüngers Rezeption der Quantenphysik siehe Kap. III, 3. Zur physikalischen Diskussion

siehe auch Forman, Kausalität, Anschaulichkeit und Individualität, S. 186.73 Max Bense, Aufstand des Geistes. Eine Verteidigung der Erkenntnis, Stuttgart/Berlin 1935,

S. 14.74 Ebd., S. 19.75 Ebd., S. 18.76 „Daß sich die Philosophie dieser Zeit wieder ganz auf das Sein des Menschen besinnt, also

Existentialphilosophie wird, das ist derselbe Akt der »anthropologischen Reduktion«, wie dasVerständnis der Wirklichkeit als Erfahrung der Wahrscheinlichkeit, wie es in der Physikgeschieht“ (ebd., S. 23 f.).

106 ‚Verzauberung‘

im Sinne einer „Vollendung der Existenz durch das Gleichgewicht desAußermenschlichen und Innermenschlichen“.77

Eine andere Richtung naturphilosophischen Denkens in dieser Zeitzielt auf eine naturgeschichtliche Relativierung des Menschen. Solche einePerspektive entwirft beispielsweise Carl Friedrich von Weizsäcker, der zwi-schen 1938 und 1942 mehrere Vorträge zum ‚Weltbild der Physik‘ hält undsich in seinen späteren Göttinger Vorlesungen aus dem Jahr 1946 mit der‚Geschichte der Natur‘ befasst.78 Die Hinwendung zur „Natur im Ganzen“und zur Naturgeschichte versteht von Weizsäcker als Reaktion auf die Zer-splitterung der wissenschaftlichen Disziplinen sowie des einheitlichen phy-sikalischen ‚Weltbildes‘ und als Versuch, Natur- und Geisteswissenschafteneinander wieder anzunähern.79 Er stellt die grundsätzliche Frage, was demMenschen angesichts der durch die moderne Physik deutlich gewordenenBegrenztheit der menschlichen Erkenntnis, der Zerstörung des „Mythos desnaturwissenschaftlichen Objekts“ und der Einsicht in die Endlichkeit derWelt noch Halt zu geben vermag.80 Und er antwortet darauf mit der Sich-tung unterschiedlicher kosmologischer, erdgeschichtlicher und mensch-heitsgeschichtlicher Theorien, die allesamt die Unvorhersehbarkeit undUnberechenbarkeit der Naturgeschichte belegen und den Menschen damitletztlich auf den Bereich des Mythos oder der Religion verweisen. VonWeizsäcker geht zwar davon aus, dass die Natur Geschichte habe, also Ver-änderungen in der Zeit unterworfen sei, doch lässt die neue Auffassung derZeit seiner Meinung nach keine Ableitungen und Vorhersagen mehr zu.Die Tendenz gehe zur „Verräumlichung der Zeit“, gleichzeitig werde aberauch wieder ein Ende der Zeit denkbar.81 Es sind hier also vor allem zweiElemente, die den Bruch mit dem ‚anthropozentrischen Weltbild‘ markie-ren: zum einen die Wendung von der Geschichte zur Naturgeschichte undzum anderen die Abkehr von zeitlich-linearen und mechanistischen Erklä-rungsmodellen der Natur.

Die Vorlesungen von Weizsäckers geben einen Hinweis darauf, unterwelchem Gesichtspunkt naturwissenschaftliches Wissen in den dreißigerund vierziger Jahren für literarische Autoren relevant wird. Offensichtlichist es der Aspekt der ‚Entzeitlichung‘, der die Schriftsteller an neuen natur-wissenschaftlichen Theorien fasziniert. Denn es werden gerade die natur-

77 Ebd., S. 25.78 Vgl. Carl Friedrich von Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, 2., erweiterte Aufl., Leipzig

1944 (1. Aufl. 1943); und ders., Die Geschichte der Natur.79 Weizsäcker, Die Geschichte der Natur, S. 5. Vgl. auch ders., ZumWeltbild der Physik, S. 9 f.80 Weizsäcker, Die Geschichte der Natur, S. 53. Die neue Aktualität der Endlichkeitsvorstel-

lung für die Gegenwart führt Weizsäcker vor allem auf den zweiten Grundsatz der Thermo-dynamik zurück.

81 Ebd., S. 11.

Die Krise des ‚naturwissenschaftlichen Weltbildes‘ und die ‚neue Lehre vomMenschen‘ 107

wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgenommen, die kausal-deterministischeErklärungen für Phänomene der Natur und für das Verhältnis von Menschund Natur negieren und stattdessen mit Modellen der Konstellation, derInterdependenz oder des Systemzusammenhangs operieren. In den neuenEntwicklungen in der Physik oder Biologie erkennt man eine Parallele zurEnthistorisierung der Geisteswissenschaften, da jene ebenfalls vom Kausali-tätsprinzip abzurücken scheinen. Dabei bezieht man sich insbesondere aufdie Kritik des ‚mechanistischen‘ Neodarwinismus durch die neovitalistischeund holistische Biologie (Driesch, Meyer-Abich) und die Paläontologie(Dacqué), aber auch auf die Anlage-Umwelt-Theorien der Verhaltensfor-schung (Uexküll, Buytendijk). So wie die Kulturwissenschaften die his-torische Determination des Menschen, negieren diese Ansätze in der Sichtvieler Intellektueller die Vorstellung einer mechanistisch-biologischenDetermination des Menschen und lassen sich deshalb zur Begründung einerganzheitlichen, auf die Interdependenz zwischen Bewusstsein, Umwelt undKörper gerichteten Betrachtungsweise des Menschen heranziehen.

Mit welchem Interesse Autoren am Beginn der dreißiger Jahre dieneuen naturwissenschaftlichen und -philosophischen Theorien betrachte-ten, welche Fragen sie an sie stellten, welche Deutungen sie ihr entnahmenund wie sie diese zu den Krisendiagnosen der Zeit in Beziehung setzten,lässt sich am besten an literarischen Zeitschriften beobachten. Besondersaufschlussreich hierfür ist eine Sondernummer der Literarischen Welt vomMai 1931 zum Thema ‚Das Weltbild der Wissenschaft‘, die den Abschlusseiner längeren Artikelserie über den ‚gegenwärtigen Stand der Wissenschaft‘bildet. Das naturphilosophische Interesse wird hier schon in der Auswahlder Fachautoren kenntlich, die verschiedene Tendenzen popularisierenddarstellen: Driesch, Klages, Dacqué, Leo Frobenius sowie Reichenbach. Siealle diskutieren die philosophische Relevanz der neuen naturwissenschaftli-chen Erkenntnisse. Dem Titel des Heftes entsprechend fragen sie nachderen ‚weltanschaulichen‘ oder ‚weltbildlichen‘ Implikationen. Reichenbachbeispielsweise vertritt die These, dass der von der neuen Physik erarbeitete„Begriffsbestand“ nicht allein die physikalische Forschung revolutioniere,sondern darüber hinaus für den Menschen „eine neue und allgemeinereForm gedanklicher Bestimmung, begrifflicher Auseinandersetzung mit derUmwelt“ bedeute, vor welcher die „älteren Denkformen nur noch als Spezi-alfall“ bestehen blieben.82 Zustimmung von journalistischer Seite erfährtdiese These durch einen Beitrag Arthur Koestlers, der in den spekulativen

82 Hans Reichenbach, Das Weltbild der heutigen Physik, in: Die literarische Welt 7 (1931), H.2, 15. Mai 1931, S. 5–6, hier S. 6. Der Artikel fasst eine monographische Überblicksdarstel-lung des Autors zusammen: Hans Reichenbach, Atom und Kosmos. Das physikalische Welt-bild der Gegenwart, Berlin 1930.

108 ‚Verzauberung‘

Theorien Einsteins und de Sitters die Grundlage zu einem neuen, Naturwis-senschaft und Metaphysik vereinenden kosmologischen Weltbild erblickt.83

Eine etwas andere Position vertritt der Zeitschriftenmitarbeiter LudwigSteinecke in seinem am Anfang dieser Untersuchung schon einmal zitiertenGrundsatzartikel Wissenschaft und Weltanschauung. Er bezweifelt, dass sichauf Grundlage der modernen Physik eine neue ‚Weltanschauung‘ begrün-den lasse und die geistige Krise der Gegenwart durch die Adaption einzelnerphysikalischer Theoreme gelöst werden könne. Die schon von Max Weberdiagnostizierte Grundlagenkrise der Wissenschaft sei durch die modernePhysik nicht überwunden, vielmehr kennzeichneten fortbestehende undsich verschärfende Trennungen die wissenstheoretische und -soziologischeStruktur der Epoche: die methodische Aufspaltung der Natur- und Geistes-wissenschaften sowie der Gegensatz von ideenlosem Fachpositivismus undmystischen Tendenzen, der sich in der Renaissance romantischer, scholasti-scher und ähnlicher Theoriemodelle manifestiere.84 Infolge dieser Spaltun-gen seien die Wissenschaften unfähig geworden, eine „Totalkonzeption derWelt und des Menschen“ zu entwerfen, wie sie beispielsweise die hellenisti-sche Wissenschaft, die „mitten im flutenden Leben“ gestanden habe, her-vorgebracht hätte.85 Heute bilde jede Wissenschaft „ihren eigenen Wirk-lichkeitsbegriff nach Kategorien und Strukturprinzipien eigener Prägung“,weshalb es statt „eine[r] Wirklichkeit“ bzw. „eine[r] allgemeine[n] Seinsvor-stellung“ nur mehr „lauter Sonderentwürfe“ gebe. Diese am methodischenLeitfaden der Wissenssoziologie ausgerichtete analytische Beschreibung, diedie ‚Wissenschaftskrise‘ und die ‚Kulturkrise‘ mit einer fundamentalen„Krise des Menschen“, das heißt dem Zerfall eines verbindlichen Konzeptsdes Menschen, identifiziert, enthält bereits einen deutlichen Hinweis aufdie Richtung, in der die Lösung der Krise zu suchen ist: Eine neue ‚all-gemeine Seinsvorstellung‘ und eine neue ‚Wirklichkeit‘ kann in SteineckesAugen nur aus der reflexiven Wendung auf die vor allem Erkennen liegen-den Konstituenten des menschlichen ‚Seins‘ gewonnen werden. Die radikale„Entwirklichung des Wirklichen“, wie sie namentlich die moderne Mathe-matik und Physik durch die Formalisierung der Erkenntnis vorangetrieben

83 Vgl. Arthur Koestler, Das kosmologische Weltbild der Wissenschaft, in: Die literarischeWelt 7 (1931), H. 2, 15. Mai 1931, S. 7 f. Koestler publizierte nach dem Krieg mehrerepopulärwissenschaftliche Bücher, in denen er sich unter Heranziehung von Forschungsergeb-nissen aus der Medizin, Neurophysiologie, Anthropologie und Psychologie mit Fragen derEvolution, der Kreativität oder der Pathologie des menschlichen Geistes befasste.

84 Steinecke bezieht sich auf Max Webers berühmten Vortrag Wissenschaft als Beruf aus demNovember 1917. ZuWebers Diagnose der Wissenschaftskrise und ihrem wissenschaftspubli-zistischen Echo in der Nachkriegszeit siehe Klaus Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie umdie Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt a.M.1996, bes. S. 430 ff.

85 Ludwig Steinecke, Wissenschaft und Weltanschauung, in: Die literarische Welt 7 (1931), H.2, 15. Mai 1931, S. 1 f. (Die folgenden Zitate hieraus.)

Die Krise des ‚naturwissenschaftlichen Weltbildes‘ und die ‚neue Lehre vomMenschen‘ 109

haben, schafft in dieser Sicht erst die Voraussetzung einer neuen Anthro-pologie. Der sich selbst zum „Rätsel“ gewordene Mensch vermag nun näm-lich zu grundlegenden Einsichten zu gelangen, „indem er von allen überlie-ferten Kategorien sich befreit und »in äußerster methodischer Entfremdungund Verwunderung« auf das Mensch genannte Wesen blicken lernt“. AlsParadigma der neuen „Lehre vom Wesen und der Seinsverfassung des Men-schen“ gilt dem Autor dabei die Philosophische Anthropologie Schelers undHeideggers.

3. Anthropologie, Naturphilosophie und literarischeProgrammatik in den Beiträgen der Zeitschrift Die Kolonne

Die oben erwähnte Sondernummer der Literarischen Welt vom Mai 1931dokumentiert vor allem die Bandbreite der von jungen Autoren rezipiertennaturwissenschaftlichen bzw. naturphilosophischen Ansätze. Sie lässt abernoch nicht erkennen, welche literaturprogrammatischen Konsequenzendiese aus der ‚Entwirklichung des Wirklichen‘ zogen. Letzteres kann an dervon Artur Kuhnert und Martin Raschke herausgegebenen Zeitschrift DieKolonne beobachtet werden, die sich als Organ der literarischen ‚jungenGeneration‘ verstand. Die von Ende 1929 bis Anfang 1932 erschieneneZeitschrift wird in literaturgeschichtlichen Darstellungen gewöhnlich alsBeispiel für den Übergang von der Neuen Sachlichkeit zur ‚Inneren Emigra-tion‘ bzw. zu einer unpolitischen Naturdichtung angeführt,86 ohne dass dasin der Zeitschrift vertretene Konzept der Natur dabei genauer bestimmtwürde. Dabei lässt sich hier besonders gut verfolgen, wie die in den Krisen-diagnosen vom Ende der zwanziger Jahre vielfach proklamierte Abkehr vonder Geschichte mit einer naturphilosophischen Neuorientierung und einerselektiven Adaption neuer wissenschaftlicher Theorien zusammenhängt.

Die Autoren der Kolonne grenzen sich politisch-ideologisch sowohl vomliberalen Fortschrittsoptimismus als auch vom revolutionären Utopismusrechter wie linker Provenienz ab; literaturprogrammatisch distanzieren siesich von neusachlicher Reportageliteratur, liberalem Zeitroman und völki-schem Bauernroman. Dabei operieren die politische und die literarischeGrenzziehung mit demselben Argument, nämlich dem Vorwurf, ein falschesVerständnis des Menschen zugrunde zu legen, das die wesensmäßige „Ein-samkeit“ des Menschen verkenne.87 So hält Martin Raschke, der program-

86 Vgl. beispielsweise Anton Kaes (Hg.), Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zurdeutschen Literatur 1918–1933, Stuttgart 1983, S. 674.

87 Otto Merz [i.e. Martin Raschke], Die verratene Dichtung, in: Die Kolonne 2 (1931), H. 6,Umschlaginnenseite. Vgl. auch Heinz Horn, Zur geistigen Situation der Jugend, in: DieKolonne 1 (1930), H. 7/8, S. 57 f., der seine Generation jenseits jeder „Gesinnung“, getrennt

110 ‚Verzauberung‘

matische Kopf der Zeitschrift, der neusachlichen Reportageliteratur vor, nureine rationalistische, auf Futurisierung gerichtete Wirklichkeitskonzeptionzu reproduzieren,88 während die völkische Literatur in restaurativer Absichtdas nicht minder ‚rationale‘ Konzept des Volksorganismus illustriere.89 Den‚rationalistischen‘ Beschreibungsmodellen stellen die Kolonne-Autoren denAnspruch auf Darstellung einer Seinstotalität entgegen, die Natur undBewusstsein nicht gegeneinander ausspielt. Naturwissenschaftliche Erkennt-nisse sind für diese programmatische Neuausrichtung der literarischenAnthropologie dabei in dreifacher Hinsicht bestimmend: insofern als sie das‚anthropozentrische‘ Weltbild negieren, insofern als sie die menschlicheErkenntnis selbst relativieren und insofern als sie die Grenzen zwischenorganischer und anorganischer Welt in Frage stellen.

In seinem Artikel Der kosmische Snob verweist Raschke auf die gemein-same Tendenz in der gegenwärtigen Geologie, Paläontologie und der Astro-nomie, die mit ihrer enormen Zeit- und Raumerweiterung den Menschenjeweils an die Peripherie gerückt, ihn „sterblicher, unwesentlicher“ gemachthätten, und fragt: „Was gilt ein Mensch vor Billionen Sonnen?“90 Auchsonst wird in der Zeitschrift immer wieder auf astronomische ErkenntnisseBezug genommen, beispielsweise durch Abdruck von zwei Fotos der neuentdeckten Spiralnebel außerhalb des Alls,91 die Edwin P. Hubble 1929 zur

vom Kulturpessimismus Spenglerscher oder Klagescher Schule, von „fade[m] Optimismus“und von der „Hurraphilosophie von Rechts und Links“, als „Ausgestoßene, Einsame“ posi-tioniert.

88 „Allein der Angst, den Anschluß an eine Wirklichkeit zu verlieren, die aus sich einer gelebtenZukunft zuzustreben scheint, ist das Entstehen einer Sachlichkeit zuzuschreiben, die denDichter zum Reporter erniedrigte und die Umgebung des proletarischen Menschen alsGefühlsstandard modernen Dichtens propagierte“ (Die Kolonne, 1 [1929], H. 1, S. 1). Die-ser der Zeitschrift als programmatisches Vorwort vorangestellte Aufsatz ist zwar nicht unter-zeichnet, nach Stil und Inhalt aber mit großer Sicherheit Raschke zuzuschreiben. Er wurdedaher zu Recht aufgenommen in: Martin Raschke, Eine Auswahl der Schriften, hg. und miteinem Nachwort versehen von Dieter Hoffmann, Heidelberg/Darmstadt 1963 (= Veröffent-lichungen der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Bd. 33). Zu Raschkes Ver-hältnis zur Kolonne und zum Generationsverständnis dieser Gruppe siehe Wilhelm Haefs/Walter Schmitz (Hg.), Martin Raschke (1905–1943). Leben und Werk, mit einerLebenschronik und einer Bibliographie von Wilhelm Haefs sowie einer Radiographie vonHans-Ulrich Wagner, Dresden 2002 (= Arbeiten zur Neueren Deutschen Literatur, Bd. 11);darin insbesondere: Hans Dieter Schäfer, Der Mythos der jungen Kolonne, S. 25–36; PetraKiedaisch/Volker Schober, Krisenzeit der Moderne. Martin Raschke und die ‚Kolonne‘ um1930, S. 37–58; und Michael Scheffel, ‚Wunder und Sachlichkeit‘. Martin Raschke und der‚magische Realismus‘ einer um 1930 jungen Generation, S. 59–78.

89 Merz [i.e. Martin Raschke], Die verratene Dichtung.90 Martin Raschke, Der kosmische Snob, in: Die Kolonne 1 (1930), H. 9, S. 59–60, hier S. 59.

Kurz nach diesem Artikel und flankiert von einer Prosaskizze Raschkes mit dem Titel VomEnde der Erde folgt im selben Heft der Abdruck von Gottfried Benns Gedicht Immer schwei-gender.

91 Vgl. Die Kolonne 2 (1931), H. 2. (Die Fotos stammen aus: Robert Henseling, Der neuent-deckte Himmel. Das astronomische Weltbild gemäß jüngster Forschung, Berlin/Zürich1930.)

Anthropologie, Naturphilosophie und literarische Programmatik 111

Entwicklung der Theorie eines expandierenden Universums veranlasst hat-ten. Daneben finden sich Texte und Rezensionen zur Erdgeschichte undPflanzenphysiologie, so Goethes Aufsatz Über den Granit,92 eine DieGeschichte der Erde überschriebene Rezension Raschkes zu Eugen Georg93

oder eine mit Fotos illustrierte Besprechung eines Bildbandes über DiePflanze als Lebensform.94 All diese Beiträge relativieren den Menschen inkosmologischer oder erdgeschichtlicher Perspektive und plädieren für eineganzheitliche Betrachtung von Mensch und Natur. Raschke verlangt voneiner noch zu schreibenden Geschichte der Erde, dass sie die geologischeFormung des Planeten in Korrespondenz zu den Kräften und Bewegungendes Alls setzen solle. Eine solche Geschichte, die zeige, „wie die Erde sich all-mählich formt und dahindreht, im Gleichgewicht gehalten von einemgewaltigen Sternenfeld, und wie sich Länder aus den Meeren heben, wie siesteigen und wie sie sinken ohne Ende“, könnte nicht mit Kausalbestim-mungen, sondern nur mit „Vergleichen“ und „Parallelen“ operieren.95 PeterAnders erkennt in dieser analogisierenden Denkweise das Mittel, um die„Grenzen zwischen der organischen und anorganischen Welt“ durchlässigzu machen, und beruft sich dabei auf die Forschungen des indischen Pflan-zenphysiologen Jagadis Chandra Bose, der mittels komplizierter Apparatu-ren die Wahrnehmungsweise von Pflanzen und Steinen zu messen versuch-te.96 Nach Anders ließe sich dieser Ansatz auch auf das Verhältnis der Erdezu den anderen Himmelskörpern erweitern, wenn man „mit einem kos-mischen Sinn in den Millionen Welten, die ihre Bahnen durch den Raumziehen, etwas den Organismen Verwandtes“ sehe.97 Die Perspektive auf einaller Materie eigenes sensitives Leben ist für Anders unmittelbar mit demWechsel von der kausal-zeitlichen Erklärung zum räumlichen Korrespon-denzdenken verbunden. Wenn das Denken nicht mehr darauf ausgerichtetwäre, „die Herkunft des Lebens aus dem Anorganischen zu beweisen“,würde es sich der Einsicht nicht verschließen, dass „Steine, Pflanzen undTiere […] unter den gleichen Gesetzen des Lebens“ stehen, „dessen Gleich-nisse wir alle sind“.98

Die Relevanz naturwissenschaftlichen bzw. -philosophischen Wissensfür die Literatur wird in der Kolonne schon durch die formale Parallelisie-rung von (populär)wissenschaftlichen Artikeln und literarischen Beiträgenkenntlich gemacht. In den literarischen Texten selbst wird die naturphiloso-

92 Vgl. Die Kolonne 2 (1931), H. 3, S. 29 f.93 Otto Merz [i.e. Martin Raschke], Die Geschichte der Erde [Rezension], in: Die Kolonne 2

(1931), H. 2, S. 22 f.94 Peter Anders, Die Pflanze als Lebensform [Rezension], in: Die Kolonne 2 (1931), S. 42. (Es

handelt sich um eine Besprechung des gleichnamigen Bildbandes von Ernst Fuhrmann.)95 Merz [i.e. Martin Raschke], Die Geschichte der Erde, S. 22.96 Anders, Die Pflanze als Lebensform.97 Ebd.98 Ebd.

112 ‚Verzauberung‘

phische Orientierung vor allem an zwei Phänomenen sichtbar: zum einenan der Präferenz für naturgeschichtliche Motive und Stoffe und zum ande-ren an der Verwendung räumlich-analogisierender Verfahren zur Darstel-lung des Naturzusammenhangs des menschlichen Lebens. Beide Tendenzenbestimmen die den literarischen Teil der Zeitschrift dominierende Naturly-rik, die Gedichte von Günter Eich, Peter Huchel, Gertrud Kolmar, HorstLange und Elisabeth Langgässer, aber auch von Gottfried Benn, der von derKolonne als Vertreter naturphilosophischen Denkens in gewisser Hinsichtneu entdeckt wird.99 Diese Affinität zu Benn erhellt beispielsweise der erst-malige Abdruck von dessen Gedicht Immer schweigender, das in natur-geschichtlichen Bildern – „Trümmer tropischer Bäume,/Wälder vomGrunde des Meers“ – die Vision vom Ende des neuzeitlichen Menschen undvon der allmählichen Rückführung des Geistes in die Natur entwickelt.100

Die Abkehr vom ‚anthropozentrischen Weltbild‘ ist hier wie auch in vielenGedichten des Kolonne-Kreises eng mit einer Verräumlichung von Zeit ver-knüpft. Anders als in traditioneller Naturlyrik fungiert die Natur in diesenGedichten nicht mehr als Bildmedium psychischer Inhalte, vielmehr wirdder Mensch selbst als Teil der Naturgeschichte dargestellt.

Das naturphilosophische Wirklichkeitsmodell ist jedoch nicht an einenbestimmten Gegenstandsbereich oder an bestimmte Gattungen gebunden.Grundsätzlich kann jedes Thema unter diesem Blickwinkel behandelt wer-den, also auch die Welt der Technik. So polemisiert Raschke gegen diemodischen Bauernromane der Zeit, die letztlich nur die Bebilderung eineszivilisationskritischen Naturkonzepts betrieben, und erkennt die eigentlicheliterarische Herausforderung demgegenüber darin, „zu schildern, ohne daßes peinlich wirkt, wie ein Maschinist in einer Umschalthalle zum Fenstergeht, um es zu öffnen, und wie dann mit dem Eindringen der mürben Luftihm zum Bewußtsein kommt, daß es Frühling wird“.101 Raschke argumen-tiert hier ganz im Sinne des Natürlichkeitskonzepts der ‚jungen Genera-tion‘, das in erster Linie eine Natürlichkeit der Wahrnehmung meint.

Die Wirkung des proklamierten, durch eine bestimmte literarische Sti-lisierung zu evozierenden Wahrnehmungswechsels wird in den literaturpro-grammatischen Stellungnahmen in der Kolonne und in ihrem Umkreis mitden Begriffen der ‚Verzauberung‘ und des ‚Geheimnisses‘ bezeichnet. DieseBegriffe werden dabei nicht im Sinne einer Romantisierung prosaischerWirklichkeit verwandt, sondern referieren auf eine in der modernen Wis-senschaft und Technik selbst angelegte Überwindung der rationalistischenWirklichkeitsauffassung. „Wer nur einmal in der Zeitlupe sich entfaltende

99 Vgl. Martin Raschke, Gottfried Benn, in: Die Kolonne 1 (1930), H. 4/5, S. 35 f.100 Gottfried Benn, Immer schweigender, in: Die Kolonne 1 (1930), H. 9, S. 62.101 Martin Raschke, „Man trägt wieder Erde“, in: Die Kolonne 2 (1931), H. 4, S. 47 f., hier

S. 47. Vgl. auch ders., Zur jungen Literatur. In: Die literarische Welt 8 (1932), H. 8/9 (Dop-pelnummer: Die Situation der Jugend), 19. Februar 1932, S. 7–8.

Anthropologie, Naturphilosophie und literarische Programmatik 113

Blumen sehen durfte“, schreibt Raschke im Vorwort der Zeitschrift, werde„hinfort unterlassen, Wunder und Sachlichkeit deutlich gegeneinanderabzugrenzen.“102 Ganz ähnlich beschreibt zur selben Zeit Ernst Jünger imSizilischen Brief an den Mann im Mond (1930) die Wirkung des ‚stereosko-pischen Blicks‘, den er ebenfalls im Rekurs auf die Erkenntniskrise dermodernen Naturwissenschaften konzipiert: „Nein, das Wirkliche ist ebensozauberhaft, wie das Zauberhafte wirklich ist.“103 Und Horst Lange konsta-tiert wenig später in einem programmatischen Artikel über LandschaftlicheDichtung, ebenfalls mit Blick auf die Wissenschaftskrise und die Konjunk-tur naturphilosophischen Denkens, man sei heute Zeuge, wie sich nachzwei Jahrhunderten „flacher, konstruktiver Weltauffassung“ ein „neues BildvomMenschen“ forme, das auch dem „Geheimnis“ wieder Raum gebe.104

Die zitierten Aussagen lassen sich nicht als Literaturprogrammatik imSinne eines bestimmten formalen oder ideologischen Programms beschrei-ben, das mit einer schlagwortartigen Richtungsbezeichnung zu fassen wäre.Vielmehr ergibt sich ihr Zusammenhang aus den gemeinsamen natur-wissenschaftlichen, naturphilosophischen und anthropologischen Referen-zen und Propositionen sowie aus der gemeinsamen Abgrenzung gegenüberälteren literarischen Paradigmen. Letzteres betrifft insbesondere die Distan-zierung von der avantgardistischen Formzerstörung des Expressionismuseinerseits und vom reportagehaften Realismus der Neuen Sachlichkeit ande-rerseits. So folgt die Rede von ‚Wunder‘, ‚Verzauberung‘ und ‚Geheimnis‘einem schon Mitte der zwanziger Jahre nachzuweisenden ästhetischen Dis-kurs, der den Abstraktions- und Dynamisierungstendenzen der vorangegan-genen Avantgarde das Programm einer spiritualisierten Gegenständlichkeit

102 Die Kolonne 1 (1929), H. 1, S. 1. In gleichem Sinne konstatiert Martin Beheim-Schwarz-bach: „Verzauberung ist not“ und fordert eine Lyrik, die sich an die „geistige Welt“ herantas-te, „von den Naturwissenschaften, vom reinen Denken, von der Astrologie und Astrosophie,von der Geschichtsforschung, vom Okkulten und von der Kunst her“ (Martin Beheim-Schwarzbach, Versuch eines Bekenntnisses, in: Die Kolonne 1 [1930], H. 4/5, S. 24 f.).

103 Ernst Jünger, Blätter und Steine, Hamburg 1934, S. 121. Der Text erschien zuerst unter demTitel Sizilanischer Brief an den Mann im Mond in: Mondstein. Magische Geschichten, miteinem Vorwort von Franz Schauwecker, Berlin 1930. Im Vorwort zu dieser Sammlung vonzwanzig ‚Novellen‘ formuliert Franz Schauwecker das Programm einer sachlichen Mystik,die das Irrationale aus einer veränderten Wahrnehmung von Alltagsgegenständen gewinnt:„Mitten in einem Straßenschacht, gefüllt mit brausendem Alltag, tief im Wochentag dergewohnten Arbeit erhält ein farblos schon seit jeher gekanntes Geschehnis, ein blind benutz-tes Ding – Aschenbecher oder Telefonhörer – leis und blitzschnell ein seltsam rätselhaftesGesicht. Die Wunder der großen Bezauberungen sind nicht allein an das Werkzeug desAußergewöhnlichen gebunden. […] Die große und im Klang der Worte wirksam fühlbar zumachende Kraft der durchdringend herrschenden Macht des Irrationalen bricht heute weni-ger aus einer am Kreuzweg beschworenen Erscheinung von unerhörter Überwältigung – sieströmt für wenige um so stärker aus den im Unbeachteten versunkenen Tiefen des Tägli-chen, sei es nun Traum oder Wirklichkeit, Einfall oder Überlegung” (ebd., S. 5).

104 Horst Lange, Landschaftliche Dichtung, in: Der weiße Rabe. Zeitschrift für Vers und Prosa,2 (1933), H. 5/6, Juni/Juli 1933, S. 21–26, hier S. 21.

114 ‚Verzauberung‘

entgegensetzt.105 In diesem Sinne charakterisiert etwa der KunstkritikerFranz Roh in seinem 1925 erschienenen Buch Nach-Expressionismus dieneue gegenständliche Malerei als Entdeckung der „Magie des Seins“:106

Wie hier [im Expressionismus, G. S.] innerhalb beträchtlicher Abstraktheit dasWunder der Realisation jäh aufsteigen sollte, um gleich wieder in jenem anonymenGewimmel zu ertrinken, so wird im Nachexpressionismus das Wunder der Existenzin ihrer ungetrübten Dauer zu spüren gegeben: Das unausschöpfliche Wunder, daßdie Schwingungen der Moleküle, diese ewige Bewegtheit, daß das Entstehen undVergehen alles Existenten doch Objekte ausscheidet, also auch gewisse Konstanzinnerhalb der wechselnden Verhältnisse herauskrystallisiert. Dieses Wunder schein-barer Dauer innerhalb alles dämonischen Flusses, dies Rätsel alles Ruhenden inner-halb alles Werdens und Wiederzufließens will der Nachexpressionismus anstaunenund herausheben. […] Aus gleichem Gefühl kommt der Ruf nach Normen, Festig-keiten im Ethischen, ja im Politischen, von rechts wie links. Nicht aus geheimerTrägheit stammt das alles, sondern aus der Ahnung, daß uns der élan vital (etwader Lebensphilosophie der vorigen Generation) nicht retten kann.107

Mit der Kritik am Vitalismus und Utopismus der Avantgarde liegt Roh aufeiner Linie mit den neusachlichen Programmschriften dieser Zeit. Ganz inderen Geist ist auch sein Plädoyer für eine ästhetische, mentale und politi-sche Position zwischen den „Extreme[n]“, für eine Lage in der „Mitte“.108

Gleichzeitig markiert die Rede vom ‚Wunder der Existenz‘ jedoch eine Dif-ferenz zur neusachlichen Konzeption des Gegenständlichen, die sich ganzähnlich auch in den literaturprogrammatischen Äußerungen der ‚jungenGeneration‘ um 1930 wieder findet. Denn statt eines empirisch-beschrei-benden Zugangs zur Wirklichkeit beobachtet Roh bei den von ihm bespro-chenen Künstlern eine Transzendierung des Wirklichen, die auf der Vorstel-lung einer Einheit der Natur beruht. Anders als im vitalistischen Denkenwird diese Einheit bei ihm nicht mit einer Lebenskrafttheorie begründet,sondern als ‚kosmischer‘ Zusammenhang verstanden: „Jetzt erst“ werde„eine kosmische Macht als von außen geheim Umfassendes allem irdischenTreiben gegenübergestellt“ und die „vitalistische Anschauung“ damit in eine„astronomische verwandelt“, werde der „dämonische Irrationalismus“durch einen „magische[n] Rationalismus“ ersetzt.109 Man kann Rohs Posi-tion, und genau so die der Autoren des Kreises um die Kolonne, als Versuch

105 Zum Topos des ‚Wunders‘ in den programmatischen Äußerungen der ‚jungen Generation‘und zum Programm einer antirationalistichen Überformung der neusachlichen Ästhetik vgl.Scheffel, ‚Wunder und Sachlichkeit‘.

106 Franz Roh, Nach-Expressionismus. Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäi-schen Malerei, Leipzig 1925, S. 30. Den Begriff ‚magischer Realismus‘ verwendet Roh nichtals Stilbegriff, sondern als behelfsmäßige Bezeichnung der unterschiedlichen, in Abgrenzungzu Expressionismus, Futurismus und Kubismus entstandenen Ansätze gegenständlicherMalerei in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre.

107 Ebd., S. 33 (Hervorhebung im Text).108 Ebd., S. 34 f.109 Ebd., S. 67 f.

Anthropologie, Naturphilosophie und literarische Programmatik 115

einer Synthetisierung vitalistischer und sachlicher, dynamischer und stati-scher Konzepte beschreiben und seine Forderung nach einem ‚magischenRationalismus‘ in diesem Sinne als Programm einer naturphilosophischtransformierten Neuen Sachlichkeit charakterisieren. So gesehen bildet sieeine kunstprogrammatische Parallele zu entsprechenden Konzeptionen der‚Entzeitlichung‘ und ‚Existenzialisierung‘ in anderen Wissensbereichen.

Rohs Schrift ist aber auch deshalb aufschlussreich, weil sie deutlichmacht, dass die Abkehr vom Vitalismus mit einer Orientierung an neuennaturwissenschaftlichen Paradigmen einhergeht. Die Vorstellung einer ‚be-wegten Dauer‘ bzw. eines nicht-dynamischen Naturzusammenhangs kon-zipiert Roh nämlich nicht biologisch, sondern physikalisch, nach demMuster unsichtbarer physikalischer Kraftfelder. Die „neue Anschauung“,schreibt Roh, „empfindet den Vitalismus als anthropomorph und sehrnaiv“; sie zeige aber Verwandtschaft mit der physikalischen Betrachtungs-weise, da sie „alles als Zustände auffaßt, als Situationen des Gleichgewichtsoder der Verlagerung, jedenfalls eines gesamten statischen Systems.“110 Inganz ähnlicher Weise begründen auch Jünger und andere Autoren in dendreißiger und vierziger Jahren die ‚neue Anschauung‘ im Rekurs auf diemoderne Physik. Dort wird deutlich, was sich in Rohs Schrift bereits andeu-tet: dass die ‚neue Anschauung‘ nämlich eine prinzipielle Problematisierungder Anschaulichkeit zugrunde legt und daher auch keineswegs mit dem Pro-gramm eines mimetischen Realismus verwechselt werden darf.111 Charakte-ristisch für diese Autoren ist vielmehr die Koppelung der sinnlichen Wahr-nehmung an eine ästhetische oder theoretische Reflexion des unsichtbarenNaturzusammenhangs. Dem entspricht auch ihre auffällige Präferenz fürbildhaft-parabolische und essayistische Schreibweisen.

110 Ebd., S. 68 (Hervorhebung im Text). Roh bezieht sich am Ende seines Buches insbesondereauf die moderne Physik: „Es ist möglich, daß die neue Kunst sogar in unterirdischemZusammenhange mit der neuesten Physik steht, nämlich mit ihrer Grundlage der »starrenVierdimensionalität«, mit der diese neue Physik alles Dynamische ausrottet und allesGeschehen in Zustände zerlegen will.“ (S. 115)

111 Mit der Kritik am Anthropomorphismus und der Referenz auf die physikalische Theorie derunsichtbaren Materie nähert Roh sich avantgardistischen Programmschriften an. Auf diesemHintergrund erscheint es dann auch weniger überraschend, dass er in der Nachkriegszeit zueinem wichtigen Verfechter der abstrakten, nicht-gegenständlichen Malerei wurde. Vgl. bei-spielsweise Franz Roh, Zur Diskussion um die gegenstandslose Kunst, in: Prisma 1(1946/47), H. 10, S. 26–30.

116 ‚Verzauberung‘

III. Ernst Jünger

1. Operationen eines antikopernikanischen Geistes

Das Vorwort zur Buchfassung seiner Kriegstagebücher Strahlungen (1949)beginnt Ernst Jünger mit einer beziehungsreichen historischen Reminis-zenz. Und zwar erinnert er an die holländische Grönlandexpedition von1633/34, deren Teilnehmer die Wintermonate „zum Studium des ark-tischen Winters und der polaren Astronomie“ im Eismeer verbrachten, dortan Skorbut starben und nur ein Tagebuch hinterließen.1 Diesem geogra-phisch und historisch peripheren Ereignis stellt er dann die sich in der glei-chen Zeit vollziehenden ‚weltgeschichtlichen‘ Vorgänge gegenüber: die vonLuther und Erasmus geführte theologische Auseinandersetzung über dieWillensfreiheit, die Bartholomäusnacht und die Ermordung Wallensteins.Die Zusammenschau erfüllt in Jüngers Text mehrere Funktionen: Zumeinen konfrontiert sie Naturforschung und geschichtliches Handeln als zweigegensätzliche Haltungen, wobei der Hinweis auf das zurückgebliebene ‚Ta-gebuch‘ der Matrosen signalisiert, mit welcher Haltung der Autor sich eheridentifiziert.2 Zum anderen verdeutlicht das historische Beispiel, dass ‚Ge-schichte‘ selbst nur der Effekt einer bestimmten Betrachtungsweise, nämlichdes Fortschrittsdenkens und der Geschichtsphilosophie ist: Wer Wallen-steins Scheitern rückblickend als „retardierendes Element“, Richelieus undCromwells Triumph dagegen als „sinnvoll“ ansehe, urteile so, weil er im„Einheitsstaat“ das „Ziel“ eines sich mit innerer Notwendigkeit vollziehen-den Prozesses erblicke, zu dem „der Weltgeist in kunstvollen Zügen“ hin-strebe, weil er diese Ereignisse also teleologisch deute.3 Auf diese Weise, someint der Autor, sei die geistige Dimension der Historie aber nicht zu erfas-sen: Die vom „Bewußtsein“ geprägte „Rückseite der Medaillen“ bleibeunsichtbar.4

1 Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949, S. 7.2 Jünger beschreibt das Tage- bzw. Logbuch im Vorwort der Strahlungen als eine existentielle

Schreibform, zu der die Literatur in der Moderne ganz allgemein tendiere. Das Bild des vomEis eingeschlossenen Schiffes verwendet er bereits in seiner Frühschrift Der Kampf als inneresErlebnis (1922). Ähnlich wie später der ‚verlorene Posten‘ dient es dort als Metapher für einestatische Beobachterposition inmitten des modernen Dynamismus. Erfahrungshintergrundist in diesem Fall der Grabenkrieg des Ersten Weltkriegs. Vgl. Ernst Jünger, Der Kampf alsinneres Erlebnis, Berlin 1922, S. 22.

3 Jünger, Strahlungen, S. 7.4 Ebd.

Indirekt formuliert Jünger damit zugleich den eigenen Anspruch, diedem kausalen und geschichtsphilosophischen Denken unzugängliche Tie-fenstruktur der Historie zu erforschen, wozu es, wie er weiter ausführt, einergeistig-experimentellen Methodik bedürfe, für die „literarisch das Tagebuchdas beste Medium“ sei.5 Bei einer solchen, in die Tiefe gehenden Betrach-tung werden für ihn dann auch Ähnlichkeiten zwischen der Eismeerexpedi-tion und den zeitgleichen geschichtlichen Ereignissen deutlich. Dennsowohl das Streben nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis als auch dieAnnahme eines geschichtlichen Fortschritts sind in Jüngers Augen nur ver-schiedene Erscheinungsformen des kopernikanischen (oder anthropozentri-schen) Denkens, dessen wichtigste Merkmale der Glaube an die Intelligibi-lität der Natur und die universelle Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes sind.Die sieben Matrosen seien „bereits Gestalten aus der kopernikanischenWelt, zu deren Zügen auch die Sehnsucht nach den Polen zählt.“6 Implizitstellt Jünger damit einen Zusammenhang zwischen neuzeitlicher Naturwis-senschaft und Geschichtsphilosophie her, und zwar in einer rückblickendenPerspektive, die in der Überzeugung gründet, dass diese Epoche nun abge-schlossen ist oder doch gerade zu Ende geht. Und dabei beruft er sichsowohl auf neueste astrophysikalische Theorien als auch auf die moderneLiteratur:

Inzwischen ist uns der Gedanke vertraut geworden, daß wir auf einer Kugel hausen,die mit Geschosses-Geschwindigkeit in Raumestiefen fliegt, kosmischen Wirbelnzu. Bei Rimbaud übersteigt die Fahrt bereits die Vorstellung. Und jeder antik-opernikanische Geist wird bei der Erwägung der Lage auf den Gedanken stoßen,daß es unendlich leichter ist, die Bewegung zu steigern, als umzukehren zu ruhige-rer Bahn. Hierauf beruht der Vorteil des Nihilisten gegenüber allen anderen. Hie-rauf beruht auch das ungemeine Wagnis der theologischen Aktionen, die sichanbahnen. Es gibt einen Grad der Geschwindigkeit, für den alle ruhenden Gegen-stände ihrerseits bedrohlich werden und die Form von Geschossen annehmen. Imarabischen Märchen genügt die Nennung Allahs, um die fliegenden Dämonen zuverbrennen wie durch einen Stern.7

Jünger operiert in seinen Kriegstagebüchern selbst als ein solch ‚antikopern-ikanischer Geist‘ und bezieht sich dabei immer wieder auf aktuelle Tenden-zen in der Naturwissenschaft, in denen die Vorstellung von der Endlichkeitund Unbestimmtheit der Naturvorgänge die vertraute raum-zeitliche Kau-salität ablöst. Gerade die nicht-deterministischen Naturwissenschaftenerzwingen in seinen Augen auch ein Neudenken des Verhältnisses „vonWil-lensfreiheit und Determination“.8 Denn in ihnen offenbart sich zum einen

5 Ebd., S. 9.6 Ebd., S. 8.7 Ebd.8 Ebd., S. 18.

118 Ernst Jünger

die Materie selbst als spiritualisiert, zum anderen scheint es dem Menschenmöglich, Naturvorgänge auf geistige Weise zu beeinflussen.

Die Strahlungen, denen die eben zitierten Reflexionen vorangestelltsind, stehen bereits am Ende der oft festgestellten Entwicklung Jüngers vomNationalrevolutionär zum distanzierten Betrachter und vom politischenPublizisten zum literarischen Autor. In der Forschung ist diese Entwicklungunterschiedlich beschrieben worden: als Wendung vom Positivismus zurMetaphysik oder als Übergang von der Geschichtsphilosophie zur Ge-schichtsmythologie,9 gelegentlich auch als Besinnung auf den Humanis-mus.10 Tatsächlich orientierte sich Jünger in dieser Zeit jedoch in ersterLinie an naturphilosophischen Konzepten und partizipierte dabei an derantigeschichtlichen und antivitalistischen Wendung, die sich an den Krisen-diagnosen um 1930 zeigt. Dies wird auch daran deutlich, dass er selbst seinefrüheren Kriegsschriften zusammen mit dem Arbeiter (1932) Anfang dervierziger Jahre rückblickend als sein „Altes Testament“ klassifiziert und denBeginn der neuen Betrachtungsweise, die vor allem die zweite Fassung desAbenteuerlichen Herzens (1938), die Erzählung Auf den Marmor-Klippen(1939) und die Strahlungen prägt, vom Sizilischen Brief an den Mann imMond (1930) her datiert;11 also von dem Text, in dem er erstmals die Funk-tion des ‚stereoskopischen Blicks‘ erläutert, eine neue Dimension der Wirk-lichkeit aufzuschließen oder, in seinen Worten: „die Dinge in ihrer geheim-eren, ruhenderen Körperlichkeit“ zu erfassen.12

Diese Beobachtung legt es nahe, die Transformation des JüngerschenWerkes und sein Programm einer Wiederverzauberung und „Überwindungder rationalistischen Moderne“13 nicht allein mit der zeitgeschichtlichenKrisenerfahrung zu kontextualisieren, sondern auch als Reaktion auf diedamalige Wissenschaftskrise zu betrachten, die bereits in der Publizistik um1930 vielfach als Zusammenbruch des kopernikanischen Weltbildesbeschrieben wurde.14 Schon bei der Untersuchung der programmatischenVorstellungen aus dem Umfeld der Kolonne wurde ja deutlich, dass die imSizilischen Brief vorgestellten Überlegungen auf die Erkenntnis- und

9 Vgl. Peter Koslowski, Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers,München 1991, u. a. S.17 f. und S. 33.

10 Vgl. Gerhard Loose, Ernst Jünger. Gestalt und Werk, Frankfurt a.M. 1957, S. 171; und PaulNoack, Ernst Jünger. Eine Biographie, Berlin 1998, S. 151.

11 Jünger, Strahlungen, S. 166 (16. September 1942).12 Ernst Jünger, Blätter und Steine, Hamburg 1934, S. 118.13 Helmuth Kiesel, Wissenschaftliche Diagnose und dichterische Vision der Moderne. Max

Weber und Ernst Jünger, Heidelberg 1994, S. 116.14 Siehe dazu Kap. I, 1. Auf diesen Kontext hat auch Martin Meyer hingewiesen, der Parallelen

zwischen der Zeitdiagnose in Jüngers Essays Über den Schmerz und Sizilischer Brief an denMann im Mond und in Husserls Mitte der dreißiger Jahre entstandener Untersuchung DieKrisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie aufgezeigt hat;vgl. Martin Meyer, Ernst Jünger, München 1990, S. 229–232.

Operationen eines antikopernikanischen Geistes 119

Anschauungskrise der modernen Naturwissenschaft referieren.15 Daherwird die Entwicklung des Jüngerschen Werkes in den dreißiger und vierzi-ger Jahren im folgenden in erster Linie unter der Frage untersucht, mit wel-chen naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Denkfiguren derAutor operiert. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich dann auch die vielbeschworene ‚Wandlung‘ von Jüngers Schreiben neu bestimmen: nämlichals Wechsel von einer ‚vitalistisch-utopistischen‘ zu einer ‚anthropologisch-existentiellen‘ Betrachtungs- und Darstellungsweise.

2. Jüngers Anthropologie der Moderne.Vom Kampf als inneres Erlebnis (1922) zum Arbeiter (1932)

Ernst Jünger war schon in seinen Frühschriften darum bemüht, geschicht-liche und natürliche Vorgänge zu analogisieren. Was sich in seinem Werkverändert, ist folglich nicht die Orientierung an entweder Geschichte oderNatur, sondern die Konzeption des Verhältnisses von Natur und Geschich-te. Die Tendenz dieser Veränderung zeichnet sich bereits im Essay DerArbeiter (1932) ab, wenn man ihn mit der zehn Jahre vorher entstandenenKriegsdeutungDer Kampf als inneres Erlebnis (1922) vergleicht.

Die Deutung des Ersten Weltkriegs aus dem Jahr 1922 ist noch ganzvom lebensphilosophischen Denkstil geprägt. Der Krieg wird als Ausbruchund Befreiung der elementaren Triebnatur des Menschen beschrieben: InGrauen, Blutrausch und Angst durchbrechen „elementare Gewalten“ die„erstarrte Kruste“ und „offenbaren die lebendige Macht uralter Kräfte“.16

Im Hintergrund steht hier die Annahme eines anthropologischen Dualis-mus von Geist und Leib/Seele, also die Vorstellung einer spezifischen, imbeständigen Widerstreit beider Kräfte gründenden Antriebsstruktur desMenschen. Dieser Antrieb wirkt auch in der Geschichte, die sich in dieserPerspektive als spannungsreiche Wechselbeziehung von zunehmender Zivi-

15 Siehe dazu Kap. II, 3. – Obwohl Jünger keinen näheren Kontakt zum Kreis um die Kolonneoder zu anderen Zirkeln der ‚jungen Generation‘ hatte und um 1930 auch noch allgemeinals nationalrevolutionärer Publizist und Kriegsschriftsteller wahrgenommen wurde, avan-cierte er infolge seiner naturphilosophischen Wendung in den dreißiger Jahren zum geistigenund literarischen Vorbild für viele jüngere Autoren. Dies belegen u. a. die bewunderndenAufsätze und Rezensionen von Dolf Sternberger, Gerhard Nebel oder Eugen Gottlob Wink-ler. Vgl. Dolf Sternberger, Erstarrte Unruhe (1935), in: ders., Gang zwischen Meistern(= Dolf Sternberger, Schriften, Bd. VIII), Frankfurt a.M. 1987, S. 111–113; ders., Figurenund Konstellationen. Zu Ernst Jüngers Tagebuch von 1939–1940 (1942), ebd.,S. 297–301; Gerhard Nebel, Versuch über Ernst Jünger, in: ders., Feuer und Wasser, Ham-burg 1939, S. 202–252; ders., Ernst Jünger und das Schicksal des Menschen, Wuppertal1948; Eugen Gottlob Winkler, Ernst Jünger und das Unheil des Denkens, in: ders., Gestal-ten und Probleme, Leipzig/Markkleeburg 1937, S. 94–133.

16 Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 6.

120 Ernst Jünger

lisierung einerseits und wachsendem Druck der verleugneten und unter-drückten Natur andererseits darstellt. Jünger greift dabei auf das Modell desLebenszyklus zurück und kombiniert es mit der Vorstellung einer teleolo-gischen Entwicklung, etwa wenn er das Bild eines auf Schichten abgestor-bener Organismen immer höher wachsenden Korallenriffes verwendet.Dadurch erscheint die Menschheitsgeschichte als zielgerichteter Prozess, dernicht vom Menschen selbst vorangetrieben wird, sondern sich als Entfal-tung eines der Natur innewohnenden Plans vollzieht. Der Mensch ist hiernur ein „ständig wechselnde[s] Gefäß“ und Träger der Kraft, „die vor ihmandere mit unwiderstehlicher Gewalt den fernen, in Nebel gehüllten Zielenzutrieb“.17

Im Arbeiter, seiner groß angelegten Deutung der Moderne, versuchtJünger dieser vitalistischen Dynamik ein Ende zu setzten. Ging es ihm zuBeginn der zwanziger Jahre noch darum, dem Kriegserlebnis eine revolutio-näre Bedeutung abzugewinnen, so reagiert er nun auf die krisenhafte Erfah-rung unkontrollierbarer Beschleunigung mit der Suche nach Konzepten derVertiefung und Verräumlichung. Angesichts der globalen Krise des tech-nisch-ökonomischen Modernisierungsprozesses lautet das Ziel nun: „Bän-digung der absoluten Bewegung“.18 Diesem Zweck dient vor allem dieAnwendung einer gestalttypologischen Betrachtungsweise, die unter derbewegten Oberfläche ein ruhendes Sein zu erkennen versucht. Allerdingswird die Entstehung des Arbeiters, der Übergang vom „dynamisch-explosi-ve[n] Zustand“ in den „Zustand der Perfektion“, im Arbeiter immer nochteleologisch und willensmetaphysisch konzipiert.19 In Anlehnung an Nietz-sches Theorem des ‚Willens zur Macht‘ erklärt Jünger die Entstehung desneuen Typus als Einbruch verdrängter Kräfte in den bürgerlichen Raum, als„Rückkehr der ungebrochenen Leidenschaften und starker, unmittelbarerTriebe“.20 Dass er diese Konzeption selbst als ungenügend empfand, zeigtsein späterer Plan, einen zweiten, ‚theologischen‘ Teil des Arbeiters zu schrei-

17 Ebd. – Jünger operiert hier mit einem vitalistisch geprägten Generationenbegriff: „So wieder Urwald immer ragender und gewaltiger zur Höhe strebt, seines Wachstums Kräfte ausdem eigenen Niedergange, seinen im schleimigen Boden verwesenden und zerfallenden Trie-ben saugend, so erwächst jede neue Generation der Menschheit auf einem Grunde, geschich-tet durch den Zerfall unzähliger Geschlechter, die hier vom Reigen des Lebens ruhen. Wohlsind die Körper dieser Gewesenen, die zuvor ihren Tanz geendet, vernichtet, im flüchtigenSande verweht oder vermodert auf dem Grunde der Meere. Doch ihre Teile, ihre Atome wer-den vom Leben, dem sieghaften, ewig jungen, wieder herangerissen in rastlosem Wechselund so erhoben zu ewigen Trägern lebendiger Kraft“ (ebd., S. 5).

18 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1932, S. 76.19 Ebd., S. 169.20 Ebd., S. 58. – Die große Nähe von Jüngers Entwurf des Arbeiters zu Nietzsches Theorie des

‚Willens zur Macht‘ konstatierte auch Heidegger in seinen Aufzeichnungen über Ernst Jün-ger. Heidegger bezeichnete Jünger sogar als den „einzige[n] echte[n] Nachfolger Nietzsches“;vgl. Martin Heidegger, Zu Ernst Jünger (= Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 90),Frankfurt a.M. 2004, S. 227. Eine ganz auf die paradigmatische Funktion von Nietzsches

Jüngers Anthropologie der Moderne 121

ben, in dem die im ersten Teil vorgestellten „dynamischen Prinzipien“ ineine „ruhende Ordnung von höherem Rang“ eingeordnet werden sollten.21

Die spätere Wendung zu einer nicht-vitalistischen Anthropologie deutetsich jedoch im Arbeiter bereits an, und zwar in den Metaphern des Kraftfel-des und der Kristallisation. Schon am Ende seiner Schrift Der Kampf alsinneres Erlebnis (1922) hatte Jünger an einer Stelle von den „Kraftfeldernder modernen Schlacht“ gesprochen.22 Im Arbeiter vergleicht er nun dieGestaltbildung mit der Ausrichtung von Feilspänen in einem magnetischenFeld.23 Sie vollziehe sich „jenseits des Willens und jenseits der Entwick-lung“.24 Zum einen wendet er sich damit gegen das mechanistische Erklä-rungsmodell der Naturwissenschaften, das er vor allem in der Form desNeodarwinismus kritisiert; zum anderen grenzt er sich aber auch von der„vergleichende[n] Morphologie“ ab, die sich in historischen Vergleichenerschöpft und daher keine ‚höheren‘ Ordnungsprinzipien zu erkennen ver-mag.25 Statt mit organologischen oder morphologischen Denkfiguren ope-riert er in diesem Zusammenhang mit den physikalischen Figuren des mag-netischen Kraftfeldes, des Lichtspektrums und der Kristallisation, die nachseiner Überzeugung keine Determination unterstellen und eher im Rekursauf die „Theologie“ bzw. auf ein metaphysisches Wissen zu begreifen sind.26

In diesem Zusammenhang betont er immer wieder die Unergründlichkeit,„das Wunderbare“ der Naturvorgänge:27 „Unser Blick liegt diesseits desPrismas, das den farbigen Strahl in bunte Lichter zerbricht. Wir sehen dieFeilspäne, aber wir sehen nicht das magnetische Feld, dessen Wirklichkeit

‚Willen zur Macht‘ ausgerichtete Interpretation des Arbeiters findet sich bei Meyer, ErnstJünger, S. 163 ff.

21 Jünger, Strahlungen, S. 283 (17. März 1943).22 Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 114. Erst in einem späteren Auflagen neu hin-

zugefügten Absatz spricht Jünger explizit auch von den „Kraftfeldern der modernen Physik“;vgl. Ernst Jünger, Sämtliche Werke, Bd. 7: Essays I, Stuttgart 1980, S. 102.

23 Zur Figur des elektromagnetischen Kraftfeldes im Arbeiter und allgemein zum Eindringenvon Metaphern der Elektrizitätslehre in die Literatur und Philosophie der zwanziger Jahresiehe Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen,Frankfurt a.M. 1994, S. 209 ff.

24 Jünger, Der Arbeiter, S. 80.25 Ebd. – Zu Jüngers Kritik an der Spenglerschen Kulturmorphologie vgl. Julia Draganovic,

Figürliche Schrift. Zur darstellerischen Umsetzung von Weltanschauung im erzählerischenWerk Ernst Jüngers, Würzburg 1998 (= Epistemata-Literaturwissenschaft, Bd. 199),S. 64–73. Zum Verhältnis Jünger-Spengler siehe auch Gilbert Merlio, Jünger und Spengler,in: Peter Koslowski (Hg.), Die großen Jagden des Mythos. Ernst Jünger in Frankreich, Mün-chen 1996, S. 41–60.

26 Jünger, Der Arbeiter, S. 81. – Heisenberg hat die Kraftfeldtheorien des späten 19. Jahrhun-derts später rückblickend als „erste[n], wenn auch noch nicht allzu gefährliche[n] Einbruch“in das materialistische und deterministische Weltbild und als Beginn der Auflösung desMateriebegriffs bewertet; vgl. Werner Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik, in:Die Künste im technischen Zeitalter. Dritte Folge des Jahrbuchs Gestalt und Gedanke, hg.von der Bayerischen Akademie der schönen Künste, München 1954, S. 43–69, hier S. 49.

27 Jünger, Der Arbeiter, S. 218.

122 Ernst Jünger

ihre Ordnung bestimmt.“28 Hier wird deutlich, dass Jünger sich bei seinerSuche nach einemModell der Grundstruktur der Wirklichkeit schon in die-ser Zeit weniger an der morphologischen Vorstellung eines Urbildes odereiner Urpflanze orientiert als an physikalischen Konzepten der unsichtbarenbewegten Materie.

Auch im Arbeiter lässt sich die in der Krisenpublizistik dieser Zeit häu-fig anzutreffende Identifikation von geschichtlichem Entwicklungsdenkenund ‚mechanistischen‘ Naturwissenschaften nachweisen. So deutet Jüngerdie neodarwinistische Evolutionslehre – die Auffassung, die die Formen derNatur „dynamischen Prinzipien“ unterstellt und die Gestaltungskraft derNatur statt in „festgefaßten Bildern“ in ihren „Schwankungen, Variationenund Abirrungen“ sucht – als eine Projektion des bürgerlichen Liberalismus,des modernen Individualitäts- und Freiheitsbegriffs und des ökonomischenKonkurrenzprinzips auf die Natur.29 Die naturwissenschaftliche Erklärungfolgt in seinen Augen denselben Prinzipien wie das historische Fortschritts-denken: In beiden Fällen werde das Leben einer mit den Kategorien von„Zweck und Absicht“ und „Ursache und Wirkung“ operierenden Denk-weise unterworfen.30 Da Jünger diese Denkweise als die die Fortschrittsepo-che tragende Ideologie begreift, erhält das von ihm ihr entgegengesetzteGestaltsehen gleichzeitig einen appellativen Charakter und wird – ähnlichwie die Seinsphilosophie bei Heidegger – mit einer eschatologischen Hoff-nung verknüpft: Durch den Wandel des Sehens bzw. des Bewusstseins sollder Dynamismus der Moderne überwunden werden. „Von dem Augen-blick, in dem man in Gestalten erlebt,“, schreibt er, „wird alles Gestalt“.31

3. Abkehr vom Neovitalismus in den dreißiger Jahren

Man hat Jüngers Gestaltkonzept, das er später in Typus, Name, Gestalt(1963) weiter ausgearbeitet hat, immer wieder in den Kontext biologischenGanzheitsdenkens gestellt und insbesondere auf Verbindungen zum Neovi-talismus Hans Drieschs hingewiesen, dessen Vorlesungen der Schriftsteller1923 in Leipzig besucht hatte32 – und dessen Züge er später der Figur des

28 Ebd., S. 81 f.29 Ebd., S. 220.30 Ebd.31 Ebd., S. 32.32 Zu Jüngers Biologiestudium und seiner Rezeption des Neovitalismus siehe Dieter Zissler, In

der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen. Über Natur und Naturwissenschaft im WerkErnst Jüngers, in: Text und Kritik 105/106 (1990), S. 125–140. Zissler beobachtet nebenden Parallelen zu Driesch auch Ähnlichkeiten zum Gestaltkonzept von Konrad Lorenz. Erdeutet die wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge allerdings eher an, als dass er sieausführte. Allgemein haben Jüngers Bezugnahmen auf die Biowissenschaften und insbeson-dere auf Driesch in der bisherigen Forschung nur geringes Interesse gefunden. Mit dem Ein-

Abkehr vom Neovitalismus in den dreißiger Jahren 123

Taubenheimer im Heliopolis-Roman verlieh. Tatsächlich ist Jüngers Bezug-nahme auf den Neovitalismus evident. Die im Arbeiter mehrfach variiertePolemik gegen das mechanistische Zweckdenken, das die organische Ganz-heit der Formen verfehle, und insbesondere gegen den Neodarwinismusgreift offensichtlich auf die Thesen des damals bekannten Biotheoretikerszurück. In seiner (1928 in neuer Fassung erschienenen) Philosophie desOrganischen und zahlreichen weiteren Büchern und Broschüren verfochtDriesch eine nicht-mechanistische Auffassung des organischen Lebens,nach der sich die organische Formbildung nicht allein auf Grundlage einergegebenen naturgesetzlichen Struktur vollzieht, sondern auch einer eigenen‚vitalen‘ oder ‚Ganzheitskausalität‘ unterliegt. Das Ganze der organischenOrdnung ließe sich nicht ‚merogen‘, als Wechselbeziehung zwischen che-misch-physikalischen Teilchen, sondern nur ‚hologen‘, durch das Hinzutre-ten einer der Materie äußerlichen, fremden Kraft, erklären.33 Die im Arbei-ter zu findenden Sätze, die Gestaltbildung werde statt durch ‚Ursache undWirkung‘ durch „ein andersartiges Gesetz von Stempel und Prägung“bestimmt und das Ganze der Gestalt sei „mehr als die Summe seiner Teile“,scheinen auf diese Lehre Drieschs zu referieren.34

Die Beobachtung, dass Jünger neovitalistische und holistische Begriffeund Denkfiguren verwendet, hat viele Interpreten dazu bewegt, sein mitt-

fluss Drieschs auf Jüngers Ganzheitskonzept befasst sich Louis Dupeux, Der »Neue Nationa-lismus« Ernst Jüngers 1925–1932. Vom heroischen Soldatentum zur politisch-metaphysi-schen Totalität, in: Peter Koslowski (Hg.), Die großen Jagden des Mythos. Ernst Jünger inFrankreich, München 1996, S. 15–40, der Drieschs Theorie allerdings nur auf Grundlagevon dessen Autobiographie referiert. Dupeux beobachtet eine teilweise Distanzierung Jün-gers vom Neovitalismus Drieschs am Ende der zwanziger Jahre, die seiner Ansicht nach miteiner stärkeren Orientierung am morphologischen Gestaltkonzept Spenglers einhergeht (vgl.ebd., S. 27). In einem neueren Aufsatz interpretiert Thomas Löffler den Gestaltbegriff desArbeiters als Adaption von Drieschs Entelechiekonzept und vertritt die These, dass JüngersGestaltphilosophie als ein ins Geschichtsphilosophische gewendeter Neovitalismus zu verste-hen sei. Vgl. Thomas Löffler, Ernst Jüngers organologische Verwindung der Technik aufdem Hintergrund der Biotheorie seines Lehrers Hans Driesch, in: Friedrich Strack (Hg.),Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter, Würzburg2000, S. 57–67.

33 Vgl. Hans Driesch, Die Philosophie des Organischen, 4., gekürzte und teilweise umgearbei-tete Aufl., Leipzig 1928 (1. Aufl. 1909; engl. Erstveröffentlichung 1908). Driesch hat die inseinem Hauptwerk entwickelten Grundzüge des Neovitalismus in allgemeinverständlichenDarstellungen immer wieder zusammengefasst und dabei auch zu aktuellen Wissenschafts-fragen Stellung genommen. Vgl. Hans Driesch, Das Wesen des Organismus, in: ders., DasLebensproblem im Lichte der neueren Forschung, Leipzig 1931, S. 385–450; und ders.,Biologische Probleme höherer Ordnung, Leipzig 1941 (= Bios. Abhandlungen zur theoreti-schen Biologie und ihrer Geschichte, sowie zur Philosophie der organischen Naturwissen-schaften, Bd. 11). Zur Stellung Drieschs in der Geschichte des biologischen Holismus sieheKaren Gloy, Das Verständnis der Natur, Bd. 2: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens,München 1996, S. 154–197.

34 Jünger, Der Arbeiter, S. 31 f. – Zu Drieschs Ganzheitsbegriff vgl. Driesch, Philosophie desOrganischen, S. 365–374.

124 Ernst Jünger

leres und spätes Werk insgesamt als Ausdruck einer biologistischen Welt-anschauung zu bewerten. Dadurch wird jedoch der Blick auf die Präsenzanderer Wissenselemente verstellt und von der Tatsache abgelenkt, dass dieorganische Gestaltbildung keineswegs das einzige und nicht einmal dasdominante Muster in seiner Beschreibung des Naturzusammenhangs desmenschlichen Lebens ist. Charakteristisch und im Vergleich mit den Früh-schriften neu ist in Jüngers Schriften aus den dreißiger und vierziger Jahrenvielmehr die starke Bezugnahme auf die moderne Physik, auf die zuerst Eli-sabeth Emter aufmerksam gemacht hat.35

Die Neuorientierung deutet sich bereits im Arbeiter und im Aufsatzüber Die Totale Mobilmachung (1930) an, die der Autor beide noch seinem‚Alten Testament‘ zurechnete. So findet sich am Beginn des Arbeiters, woJünger auf die Verwandlung eingeht, die durch das Gestalt-Sehen hervor-gerufen wird, ein an dieser Stelle irritierender Hinweis: „Und hat übrigensdie Wissenschaft unserer Zeit nicht schon begonnen, die Atome nichtmehr als kleinste Teile, sondern als Gestalten zu sehn?“36 Durch die Ver-knüpfung mit dem neuen physikalischen Atommodell erhält das Gestalt-konzept hier eine theoretische Bedeutung, die mit dem Neovitalismus beigenauer Betrachtung nicht zu vereinbaren ist. Denn das Atom als kleinsteEinheit der Materie ist physikalisch-chemisch bestimmt, als ein aus Pro-tonen und Elektronen bestehendes Kraftfeld, das sich mit anderen Atomenbzw. Ionen zu Molekülen verbindet und so zum Grundbaustein einer che-mischen Verbindung wird. In der Sicht Drieschs handelte es sich hierbeium ein ‚mechanistisches‘ Modell, welches das ‚Vitalismusproblem‘, also dieFrage nach der Entstehung von organischen Formen ‚höherer Ordnung‘,nicht zu lösen vermag. Der Biologe hat in diesem Sinne auch mehrfach dienaturphilosophische Relevanz der Relativitätstheorie und der Quantenphy-sik bestritten.37

35 Vgl. Elisabeth Emter, Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik inSchriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970), Berlin/New York 1995 (= Quellen und Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 2),S. 134–147.

36 Jünger, Der Arbeiter, S. 32.37 Vgl. Hans Driesch, Relativitätstheorie und Philosophie, Karlsruhe 1924; ders., Der Mensch

und die Welt, Leipzig 1928, S. 41 f.; und ders., Die Überwindung des Materialismus, Zürichu. a. 1935 (= Bibliothek für idealistische Philosophie, Bd. 1), S. 29: „Es handelt sich beimVitalismusproblem um eine weltanschauliche Grundfrage, um eine Frage, die viel tiefergreift als etwa die sogenannte Relativitätstheorie, aus der man so viel gemacht hat, und dieschließlich doch nur eine geistvolle mathematische Formung gewisser Sachverhalte, die sichauch anders deuten lassen, betrifft.“. Vgl. weiterhin ders., Biologische Probleme höhererOrdnung, worin der Biologe sich mit dem Problem des Indeterminismus auf physikalischemGebiet befasst, wie es u. a. Heisenberg mit seiner ‚Unbestimmtheitsrelation‘ aufgeworfen hat-te. Nach Driesch betrifft die von Heisenberg beschriebene Unbestimmtheit nur „Ort undImpuls“, keineswegs aber die naturgesetzliche Determination der „»Makro«-Welt“ (S. 4).Grundsätzlich könne es auf dem Boden der Physik keine Freiheit geben: „Es ändert an diesen

Abkehr vom Neovitalismus in den dreißiger Jahren 125

Bevor untersucht wird, in welcher Weise Jünger Theoreme der moder-nen Physik verarbeitet, soll kurz über die Frage spekuliert werden, warum ernach Alternativen zum biologischen Ganzheitsdenken suchte. Man kannvermuten, dass der Grund hierfür in seiner ambivalenten Faszination vonder Technik lag sowie in seiner Erwartung, dass die Verschmelzung vonMensch und Technik eine fundamentale anthropologische Wandlung her-beiführen werde. Schon am Frühwerk lässt sich gelegentlich beobachten,wie er das Organische des Menschen im Rekurs auf physikalische Konzepte,insbesondere auf die Elektrizität, zu ‚überwinden‘ versucht.38 Davon zeugtunter anderem das Konzept der ‚organischen Konstruktion‘. Obwohl dieTechnik in den dreißiger Jahren ihre utopische Bedeutung für Jünger ver-liert, bleibt die Orientierung auf eine Organisches und Anorganischesumfassende Ordnungsstruktur bestehen. Diese Ganzheit aber ist mit demNeovitalismus Drieschs, der einen „radikalen Wesensdualismus von Mate-riellem und Nichtmateriellem“ behauptet, nicht denkbar.39 Jünger will die-sen Dualismus offensichtlich gerade hinter sich lassen und belebter undunbelebter Natur eine einheitliche Struktur unterlegen – ohne dabei ineinen Determinismus zurückzufallen.40

In den Schriften der zweiten Werkphase wird der Naturzusammenhangdes menschlichen Lebens nicht mehr auf biologischer, sondern auf physika-lisch-chemischer Wissensbasis konzipiert. Immer wieder rekurriert Jüngerin seinen Beschreibungen sozialer, geistiger und natürlicher Vorgänge aufdie Phänomene des Kraftfeldes, der Strahlung, des Lichts sowie der Kristal-

Betrachtungen nichts, wenn man nur gewisse Elemente eines Systems, etwa gewisse Elektro-nen eines chemischen Atoms »frei« sein lässt, oder aber nicht“ (S. 5). In derselben Schriftwendet Driesch sich auch gegen die Übertragung der Konzepte von physikalischer Strahlungund elektromagnetischem Feld auf das Gebiet der Biologie, ja er fordert, den Begriff des Fel-des ganz zu vermeiden, weil dieser „einen sehr physikalischen Klang“ habe (S. 38).

38 Das Bemühen um eine konzeptionelle ‚Überwindung‘ des Organischen muss auch auf denErfahrungshintergrund des Ersten Weltkrieges bezogen werden, den Jünger als Gewalt derMaterie erlebte, der gegenüber der Mensch nur bestehen konnte, wenn er sich den physika-lisch-technischen Kräften assimilierte.

39 Driesch, Biologische Probleme höherer Ordnung, S. 42. – Dieser Dualismus prägt auch dieAnthropologie Drieschs, die einige Parallelen zur Philosophischen Anthropologie aufweist.So erklärt er das menschliche Handeln ebenfalls mit der Exzentrizität und Umweltbezogen-heit des Menschen. Da alles „Geschichtliche“ für ihn zum „Seelenleben der Individuen“gehört und auf die „Wechselbeziehung zwischen seelischen Individuen“ zurückgeht, diesesSeelische aber prinzipiell unbestimmt ist, darf man seiner Auffassung nach im Falle derGeschichte nicht von „Entwicklung“, sondern allenfalls von „Kumulation“ sprechen; vgl.Driesch, Der Mensch und die Welt, S. 59).

40 Dabei befindet sich Jünger in Übereinstimmung mit dem Physiker Carl Friedrich von Weiz-säcker, der den Naturzusammenhang ebenfalls auf Basis einer nicht-mechanistischen physi-kalischen Theorie bestimmt und von hier aus den biologischen Vitalismus kritisiert. Dieserhabe die Tendenz, „physikalisch aufweisbare Vorgänge zu finden, die physikalisch unerklär-bar sein sollen“ (Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Geschichte der Natur. Zwölf Vorlesun-gen, Stuttgart 1948, S. 89).

126 Ernst Jünger

lisation und damit auf die Vorstellung einer einheitlichen, in der Konfigura-tion kleinster, elektrisch geladener Teilchen bestehenden Grundlage allermateriellen Erscheinungen, wie sie Vertreter der modernen Physik wieHeisenberg – den antiken Atomismus erneuernd – entwickelt hatten.41 DieAnnahme eines Indeterminismus, die die biologische Naturphilosophie nurfür höhere organische Formen gelten ließ, weitet er dabei auf die gesamteNatur aus. Und an diesem Punkt beruft er sich explizit auf die erkenntnis-theoretischen Implikationen der modernen Physik, die die aus der Mecha-nik abgeleitete raum-zeitliche Kausalität der klassischen Physik in Fragestellte. So erwähnt er im Abenteuerlichen Herzen „kühne Geister“ in derPhysik, die in „tiefst verborgene Räume“, in eine „neue Dimension“ derMaterie vorstießen.42 Man erlebe, wie eine „Intelligenz zu wachsen beginnt,welche die Stoffe belebt“.43 Indirekt verweist er auf die Quantentheorie(„das umfangreiche Eindringen rhythmischer Abläufe“) und auf die All-gemeine Relativitätstheorie („die Veränderungen, wie sie die hohenGeschwindigkeiten hervorrufen“).44 Und in den Strahlungen bemerkt er

41 Heisenberg beschrieb die moderne Atomphysik als Erneuerung und Fortführung der antikenAtomlehre Demokrits und Leukipps, die ebenfalls nicht deterministisch gewesen sei, da sievon einem Zusammenwirken vieler unregelmäßiger Vorgänge ausgegangen sei; vgl. WernerHeisenberg, Atomphysik und Kausalgesetz, in: Die neue Weltschau. Zweite internationaleAussprache über den Anbruch eines neuen aperspektivischen Zeitalters veranstaltet von derHandels-Hochschule St. Gallen, Stuttgart 1953, S. 119–133, hier S. 121. – In einer in dieSgraffiti eingefügten autobiographischen Passage erinnert Jünger sich, dass er schon alsJugendlicher häufig mit seinem Vater über Atome gesprochen habe und dass dabei schonfrüh der Name Heisenberg gefallen sei. Als er den Physiker dann später getroffen habe, sei ervon dessen Jugendlichkeit überrascht gewesen (vgl. Ernst Jünger, Sgraffiti, Stuttgart 1960,S. 102). Jünger und Heisenberg begegneten sich nachweislich 1953 in München, als siebeide Heideggers Vortrag in der Reihe ‚Die Künste im technischen Zeitalter‘ anhörten. EinFoto, das sie dort im Gespräch miteinander zeigt, ist in der Biographie Paul Noacks wieder-gegeben (vgl. Noack, Ernst Jünger, S. 252). Heidegger bewertete das Zusammentreffen mitHeisenberg und Jünger nachträglich als eine verpasste Chance, in ein Gespräch zu dritt zukommen, wie der Entwurf eines Briefes an Jünger zeigt; vgl. Heidegger, Zu Ernst Jünger,S. 298.

42 Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz. Figuren und Capriccios, Hamburg 1938, S. 194 f.(2. Nachtrag zur Aprikose).

43 Ebd., S. 195.44 Ebd. – Emter interpretiert die zitierte Stelle als Bezugnahme auf Heisenberg, der die alte

materialistische Vorstellung von den Elementarteilchen durch die Feststellung ihrer Doppel-natur als Welle und Teilchen aufgehoben hatte (vgl. Emter, Literatur und Quantentheorie,S. 141). Sie erblickt hierin die Grundlage von Jüngers Glauben, die Menschheit könne neueGötter hervorbringen, der vor allem in Sgraffiti (1960) zum Ausdruck kommt: „Von einemStandpunkt aus, der die Materie in letzter Instanz mit Geist gleichsetzt – eine Position, dieauch die späten naturphilosophischen Schriften Heisenbergs zunehmend prägte –, voneinem Standpunkt aus, dem die Vorstellung von »kleinsten beseelten Einheiten des Weltstof-fes« zugrundeliegt, kann Jünger einen Realismus vertreten, ohne auf Ahnung und Glaubenverzichten zu müssen.“ (Ebd., S. 144) Dass Jünger die Materie als beseelt versteht und diephysikalischen Motive bei ihm keineswegs nur illustrativ verwendet werden, hat zuerstMichael Shaw in einer Interpretation des Abenteuerlichen Herzens gezeigt, die allerdings reintextimmanent verfährt und den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext ausklammert (vgl.

Abkehr vom Neovitalismus in den dreißiger Jahren 127

nach der Lektüre von zwei Biographien über die Atomphysiker Max Planckund Max von Laue, dass das Verhältnis des Menschen zur Umwelt auf„diesen höchsten Stufen der physikalischen Einsicht […] wieder einfach,instinkthaft“ werde: „der optische, mathematische, undulatorische, kristal-lographische Sinn durchdringt den Körper gleich einem Fluidum.“45 DieTextstellen lassen erkennen, mit welchem Interesse Jünger die theoretischePhysik aufnimmt und zur Begründung des eigentümlichen ‚Physikalismus‘heranzieht, der seine in den dreißiger und vierziger Jahren entstandenenSchriften prägt. In seiner Sicht leistet die moderne Physik hauptsächlichdrei Dinge: Sie verbindet erstens anorganische und organische Natur durcheine gemeinsame Struktur; sie stellt damit zweitens einen Zusammenhangzwischen Makrowelt und Mikrowelt her, zwischen astronomischen undmikroskopischen Vorgängen; und sie nimmt drittens ein Interdependenz-verhältnis zwischen Beobachter und Objekt bzw. zwischen Geist und Mate-rie an.

Wie gesehen, deutet sich der Wechsel von biologischen zu physika-lischen Paradigmen bereits im Arbeiter an, und noch stärker im SizilischenBrief, den Jünger in der Rückschau auf das eigene Werk als „Übergang zumNeuen“46 einstufte. Darin schildert er das Erlebnis, wie ihm plötzlichbewusst wurde, dass die Menschheit sich „wieder einem Punkte“ nähere,„von dem aus gesehen Physik und Metaphysik identisch sind.“47 Die hierangedeutete Wendung zur Meta-Physik manifestiert sich dann in der zwei-ten Fassung des Abenteuerlichen Herzens. Darin entwirft Jünger ein Wahr-nehmungsmodell nach demMuster des elektromagnetischen Feldes, in demBeobachter und Objekt unmittelbar miteinander verbunden sind bzw. sichder sensuelle Apparat des Menschen dem ihn umgebenden Kraftfeld anpasstund dadurch einen unmittelbaren Zugang zur Materie gewinnt. So sprichter an einer Stelle vom ‚belehrenden‘ Schlaf, in dem ein „neues Stromsystem“die „innere Landschaft“ durchfließt und die Worte und Gedanken sich zu„rhythmische[n] Wirbel[n]“ und architektonischen Figuren ordnen.48 Undein anderes Mal von der Camera obscura der Traumwelt, in der der Geist„mit Mitteln von übergeordneter Sinnlichkeit“, als „strahlendes Fluidum“in das Innere der gegenständlichen Welt eindringe und dem „elektrischenStrom“ gleiche, der „bald menschliche Körper, bald Tiere oder auch lebloseDinge bis in die Atome durchfließt“.49 Oder er spekuliert über den Sprach-

Michael Shaw, Ernst Jüngers Vorstellung von einer Intelligenz der Materie, in: Zeitschrift fürdeutsche Philologie 83 [1964], S. 219–227).

45 Jünger, Strahlungen, S. 574 (14. November 1944).46 Brief an Edgar Traugott vom 21. September 1942; zitiert nach Heimo Schwilk (Hg.), Ernst

Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten, Stuttgart 1988, S. 187.47 Jünger, Blätter und Steine, S. 11.48 Jünger, Das abenteuerliche Herz, S. 24 f. (Die Überzeugung).49 Ebd., S. 193 f. (2. Nachtrag zur Aprikose).

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geist, der nicht in Worte oder Bilder, sondern „in die Atome eingebettet“sei, die „ein unbekannter Strom belebt und zu magnetischen Figurenzwingt“.50 Jüngers Faszination durch das neue, von der Atomphysik ge-prägte Modell der Materie und des Kosmos tritt an diesen Stellen offenzutage. Gleichzeitig zeigt sich, dass er die physikalische Erklärung auch aufgeistige Phänomene anzuwenden versucht und dabei in einer spekulativenWeise weiterdenkt, die selbst für Heisenberg in den dreißiger Jahren nureine Option für die Zukunft ist.

Weiterhin fällt auf, dass Jünger das neue physikalische Erklärungs-modell mit seinem Wunsch nach Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit derErfahrung zu vermitteln versucht. Dies erscheint auf den ersten Blick wider-sprüchlich, da die Atomphysik in Verfolgung ihres Einheitsstrebens – desZiels, alle den Sinnen und den Experimenten zugänglichen Eigenschaftender Materie auf das Verhalten und die Aggregatszustände der Atomezurückzuführen – gerade zu einer extremen Abstraktion, einer Mathemati-sierung und Geometrisierung der Darstellung, geführt hatte und sichdadurch von der lebendigen Natur viel weiter entfernt hatte als die klassi-schen Naturwissenschaften. Indem Jünger auch der modernen Physikgegenüber auf der Sinnlichkeit der Naturwahrnehmung insistiert, nimmt ergewissermaßen den Standpunkt Goethes ein, mit dem Unterschied, dass ersich der neuesten wissenschaftlichen Lehre nicht entgegensetzt, sondernsich im Bündnis mit ihr sieht. Historisch gesehen war diese Haltung nichtganz unbegründet, da sich Physiker wie Born und Heisenberg in dieser Zeitebenfalls darum bemühten, die neue Atomtheorie vom Stigma der Unan-schaulichkeit zu befreien.51 Und gerade Heisenberg stellte die eigene For-schung wiederholt in den Kontext der Goetheschen Naturbetrachtung.52

50 Ebd., S. 196 (3. Nachtrag zur Aprikose).51 Siehe hierzu Paul Forman, Kausalität, Anschaulichkeit und Individualität, oder: Wie die der

Quantenmechanik vorgeschriebenen Eigenschaften und Behauptungen durch kulturelleWerte vorgeschrieben wurden (1980), in: Karl von Meyenn (Hg.), Quantenmechanik undWeimarer Republik. Braunschweig/Wiesbaden 1994, S. 181–200, bes. S. 190–193. NielsBohr reagierte auf die Unmöglichkeit der Visualisierung der physikalischen Vorgänge mitder Forderung, man müsse verstärkt auf ‚symbolische Analogien‘ zurückgreifen. Siehe hierzuFrançoise Balibar, Wenn die Worte fehlen, um von der Natur zu sprechen… Relativitätstheo-rie, Quantenmechanik und Paradigmenwechsel in Physik und Philosophie, in: ChristineMaillard/Michael Titzmann (Hg.), Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935, Stuttgart/Weimar 2002, S. 39–49, hier S. 48.

52 Für Heisenberg erhielt Goethes Naturauffassung im Lichte der Atomphysik neue Aktualität,da diese die begrenzte Reichweite wissenschaftlicher Beobachtungsmethoden erwies. DieErkenntnis, dass sich die Natur „der genauen Festlegung in unseren anschaulichen Begriffendurch die unvermeidliche Störung, die mit jeder Beobachtung verbunden ist“, entzieht, lasseGoethes Anspruch um so berechtigter erscheinen; vgl. Werner Heisenberg, Die Goethescheund die Newtonsche Farbenlehre im Lichte der modernen Physik (Vortrag vom 5. Mai1941), in: ders., Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft. Sechs Vorträge, 3.,erweiterte Aufl., Leipzig 1942 (1. Aufl. 1935), S. 58–76, hier S. 72. Zwar meinte Heisen-berg, die Hoffnung sei „noch verfrüht“, dass man „schon bald zu einer lebendigeren und ein-

Abkehr vom Neovitalismus in den dreißiger Jahren 129

Auf sinnliche Erfahrbarkeit zielt Jünger unter anderem mit der Konzep-tion des ‚stereoskopischen Blicks‘, einer Wahrnehmungstechnik, die einen„Genuß“ der Materie vermitteln, ihre Eigenschaften sinnlich spürbarmachen soll.53 Sein Bestreben nach Anschaulichkeit kommt aber vor allemin der besonderen Vorliebe für die Figur des Kristalls bzw. der Kristallisationzum Ausdruck, die in seinen Texten sukzessive die Funktion übernimmt,die zuvor die organische Gestalt erfüllte: nämlich die Grundstruktur derFormbildung zu repräsentieren.54 Zwar handelt es sich beim Kristall um einelektrostatisches und chemisches Phänomen, zu dessen Verständnis dieQuantenphysik wichtige Beiträge geleistet hat, doch läßt sich die Konfigu-ration von Atomen, Ionen und Molekülen in der Kristallstruktur auchfigürlich, in dreidimensionalen Gittern darstellen.55 Wegen dieser Anschau-lichkeit kann Jünger den Kristall auch als physikalisches Pendant zurUrpflanze Goethes begreifen. So spekuliert er darüber, „ob nicht die Weltim großen und kleinen überhaupt nach dem Muster der Kristalle gebildetsei“, und äußert die Vermutung, dass auch die Erfassung der Urpflanze

heitlichen Stellung zur Natur zurückkehren“ könne, und sah die gegenwärtige Aufgabe viel-mehr darin, „die niederen Bereiche der Natur durch die Experimente zu erkennen und durchdie Technik uns anzueignen“, für die Zukunft schloss er eine solche Rückkehr aber nicht aus(S. 75). Später deutete Heisenberg dann die DNS als eine Realisierung des GoetheschenKonzepts der Urpflanze durch die Molekularbiologie; vgl. Werner Heisenberg, Das Natur-bild Goethes und die technisch-naturwissenschaftliche Welt, in: Goethe-Jahrbuch NF 29(1967), S. 27–42, bes. S. 39 f. Siehe hierzu und zur Bedeutung Goethes für die modernePhysik insgesamt Maren Partenheimer, Goethes Tragweite in der Naturwissenschaft. Her-mann von Helmholtz, Ernst Haeckel, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker,Berlin 1989, bes. S. 73 ff. Zu den zahlreichen Allusionen auf Goethes Naturbetrachtung imAbenteuerlichen Herzen siehe Christoph Quarch, Die Natur als inneres Erlebnis, in: GünterFigal/Heimo Schwilk (Hg.), Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten, Stuttgart1995, S. 183–203.

53 Jünger, Das abenteuerliche Herz, S. 30 (Der stereoskopische Genuß). – Zum Konzept des‚stereoskopischen Blicks‘ vgl. u. a. Meyer, Ernst Jünger, Kap. IV.; Quarch, Die Natur alsinneres Erlebnis; Horst Seferens: „Leute von übermorgen und von vorgestern“. Ernst JüngersIkonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945, Bodenheim 1998,S. 154–163; und Norbert Staub, Wagnis ohne Welt. Ernst Jüngers Schrift ‚Das abenteuerli-che Herz‘ und ihr Kontext, Würzburg 2000 (= Epistemata-Literaturwissenschaft, Bd. 277),S. 174–176.

54 Schon im Arbeiter verweist Jünger auf die Kristallisation und die strenge Symmetrie der Kris-tallform: „Es gibt nichts Regelmäßigeres als die Achsenstellung der Kristalle“ (Der Arbeiter,S. 220). Weitere Bezugnahmen finden sich im Sizilischen Brief und in Die totale Mobilma-chung (vgl. Blätter und Steine, S. 112, 118 und 131).

55 Dass das zeitgenössische Interesse am Kristall vor allem in seiner geometrischen Anschaulich-keit begründet war, belegt eine Bemerkung Max Benses in seiner ersten Monographie Raumund Ich aus dem Jahr 1934, in der er den Kristall als Zwischenform zwischen organischerund anorganischer Materie darstellt: „Organisches ist gestaltlicher als Anorganisches. Jenesist endogene Gestaltung, dieses wird gestaltet. […] Der Kristall steht dazwischen. Er ist alsLeben als reine Substanz, schon Wachstum von Innen, aber keine Zelle, sondern Gitter.Dem bestimmten Stoff gehört die bestimmte Gestalt. Die geometrische Gestalt ist das Idealund der Lebensausdruck des Kristalls“ (Max Bense, Raum und Ich. Eine Philosophie überden Raum, München/Berlin 1943 [1. Aufl. 1934], S. 86).

130 Ernst Jünger

„nichts anderes als die Wahrnehmung des eigentlich kristallischen Charak-ters im günstigen Augenblick“ gewesen sei.56 Anders als Benn versucht Jün-ger nicht, die Abstraktion zu transzendieren, sondern will die unsichtbarephysikalisch-metaphysische Ordnung der Wirklichkeit symbolisch veran-schaulichen.

4. Eintritt in die Äthersphäre: Auf den Marmor-Klippen (1939)

Mit dem Erscheinen der Marmor-Klippen im Herbst 1939 wurde dieWandlung Jüngers vom nationalistischen Publizisten zum ‚metaphysischen‘Betrachter auch von einem breiteren Publikum wahrgenommen. Dies lagvor allem daran, dass er nach dem Eindruck der meisten Leser mit dermythisch-zeitlosen Fabel eine Parabel auf die Situation im ‚Dritten Reich‘gegeben hatte.57 Obwohl der parabolische Charakter der Marmor-Klippenbis heute kaum bestritten wird, gingen und gehen die Einschätzungen beider Frage auseinander, welche Erklärungs- und Deutungsmuster der Autorden geschichtlichen Ereignissen dabei zugrunde legt und ob seine Haltungeher als Widerstand oder als Eskapismus zu bewerten ist.58 In der For-schung hat sich inzwischen eine Auffassung durchgesetzt, nach der dieErzählung von der Strategie geprägt ist, Geschichte auf Naturgeschichteund mythische Bilder zurückzuführen.59 Allerdings bleibt in solcher Per-spektive eine entscheidende Pointe ihrer modellhaften Grundkonzeptionunbeachtet: dass darin nämlich der naturgeschichtlichen Betrachtungsweiseeine überlegene physikalisch-naturphilosophische entgegengesetzt wird.

Die Auffassung, dass Geschichte in den Marmor-Klippen naturge-schichtlich aufgefasst wird, kann sich vor allem auf die kulturanthropologi-schen und morphologischen Elemente in der Beschreibung der kulturellenund sozialen Topographie der fiktiven Welt stützen, die unverkennbar

56 Jünger, Das abenteuerliche Herz, S. 10 (Zur Kristallographie). Vgl. auch den dritten Teilvon ‚Aus den Strandstücken‘, wo er die Kristallisation als Wahrnehmungsvorgang, als „Kris-tallisation des Auges“, beschreibt, in dem etwas „Verwandtes“ im Betrachter anklingt unddas Bewusstsein sich auf eine „höchste, metallische Ausprägung“ zu bewegt (ebd., S. 122).

57 Zur zeitgenössischen Rezeption vgl. Heidrun Ehrke-Rotermund/Erwin Rotermund, Zwi-schenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur ‚Verdeckten Schreibweise‘ im„Dritten Reich“, München 1999, S. 353–393. Allgemein zur Rezeptionsgeschichte und zuden Möglichkeiten und Problemen der zeithistorischen Kontextualisierung vgl. die wichtigeStudie von Helmuth Kiesel, Ernst Jüngers ‚Marmor-Klippen‘. „Renommier“- und Pro-blem„buch der 12 Jahre“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 14(1989), S. 126–164.

58 Zu den unterschiedlichen Interpretationsansätzen vgl. Steffen Martus, Ernst Jünger, Stutt-gart/Weimar 2001 (= Sammlung Metzler, Bd. 333), S. 123–137.

59 Vgl. u. a. Meyer, Ernst Jünger, S. 310 f.; und Hans Esselborn, Die Verwandlung von Politikin Naturgeschichte der Macht. Der Bürgerkrieg in Ernst Jüngers ‚Marmorklippen‘ und ‚He-liopolis‘, in: Wirkendes Wort 47 (1997), S. 45–61.

Eintritt in die Äthersphäre 131

modellhaften Charakter hat.60 Dies betrifft vor allem die kulturräumlicheDreiteilung in Marina, Campagna und Hochwald: Die Marina ist alsSphäre eines ländlichen und städtischen Bürgertums ausgewiesen, dessenKultur durch Weinbau, Handel, Verrechtlichung, Festtage, Ahnengedenkenund rationalisierte Religion gekennzeichnet ist; die Campagna umfasstdagegen eine arkadische Kultur, deren wichtigste Merkmale die Organisa-tion in Sippenverbänden, ein archaisches Vergeltungsrecht und ein pri-mitiver Götterglauben sind; an die Campagna grenzt ein Sumpfgebiet an,das in den Hochwald und das Gebirge übergeht, den Raum von „Barbaren-Völkern“, deren Leben sich durch anarchische Gewalt und Rechtlosigkeitauszeichnet.61 Die Beschreibung ist in diesen Passagen typisierend, da ein-zelne Phänomene, wie die besondere Form des Ahnenkultes, nach demMuster der vergleichenden Völkerkunde oder der Kulturmorphologie alsCharakteristika bestimmter Kulturzustände behandelt werden. Und sie istenthistorisierend, da in geschichtlicher Abfolge entstandene Kulturstufengleichzeitig bzw. nebeneinander betrachtet werden. Dass damit zugleich einbestimmtes Wahrnehmungsprogramm realisiert wird, macht eine Bemer-kung des Ich-Erzählers deutlich: „Wenn wir vom hohen Sitze auf die Stättenschauten, wie sie der Mensch zum Schutz, zur Lust, zur Nahrung und Ver-ehrung sich errichtet, dann schmolzen die Zeiten vor unserem Auge innigineinander ein.“62

Mit morphologischem Blick registrieren der Ich-Erzähler und sein Bru-der dann auch noch die beginnende Auflösung der bisherigen sozialen undreligiösen Ordnung in der Campagna und der Marina, deren erste Zeichendie Schändung der Hirtengötter und die Störung der traditionellen Toten-ehrung sind. Der Prozess der sich nun vollziehenden Ereignisse, der vom‚Bürgerkrieg‘ bis zur Errichtung der Tyrannis reicht, lässt sich allerdingsnicht mit einer typologischen Klassifikation erfassen. An dieser Stelle kom-men vitalistische und mythologische Darstellungs- und Erklärungsmodelle

60 In der Jünger-Forschung ist der ‚Modell-Charakter‘ der Erzählung immer wieder beschriebenund zur Grundlage strukturanalytischer Interpretationen gemacht worden. Vgl. insbeson-dere Volker Katzmann, Ernst Jüngers Magischer Realismus, Hildesheim/New York 1975(= Germanistische Texte und Studien, Bd. 1); und Helmut J. Gutmann, Politische Parabelund mythisches Modell: Ernst Jüngers ‚Auf den Marmorklippen‘, in: Colloquia Germanica20 (1987), S. 53–72.

61 Ernst Jünger, Auf den Marmor-Klippen, Hamburg 1939, S. 40. – Zur symbolischen Land-schaftsdarstellung vgl. auch Danièle Beltran-Vidal, Images du paysage méditerranéen dansles récits d’Ernst Jünger ‚Sur les falaises de marbre‘, ‚Héliopolis‘, ‚Eumeswil‘, in: dies. (éd.),Images d’Ernst Jünger. Actes du colloque organisé par le Centre de Recherche sur l’IdentitéAllemande de l’université de Savoie, Chambéry (30 e 31 mars 1995), Bern u. a. 1996,S. 105–129, hier S. 106–117. Zur psychischen Semantik von Landschaft und Raum vgl.Titus T. Suck, Bodily Spaces. The Locus of Politics in Ernst Jünger’s ‚Auf den Marmorklip-pen‘, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66(1992), S. 466–490.

62 Jünger, Auf den Marmor-Klippen, S. 38.

132 Ernst Jünger

ins Spiel. So „wie ein Pilzgeflecht im morschen Holze wuchert“,63 breitensich Anarchie und Gewalt vom Gebirge aus über die Campagna und dieMarina aus, gewinnen die vitalen Kräfte die Oberhand über die geistigeOrdnung. Im Hintergrund steht hier die aus der romantischen Mythendeu-tung bekannte und von Nietzsche sowie Spengler popularisierte Kultur-theorie, der zufolge auf eine Phase der Kultivierung und Zivilisierung not-wendigerweise wieder eine Phase der Barbarisierung folgt, in der dieverdrängte Natur zu ihrem Recht gelangt.64 Der Erzähler spielt darauf etwamit der sentenziösen Bemerkung an, es kehrten „in der menschlichenGeschichte stets die Punkte wieder, an denen sie in reines Dämonen-Wesenabzugleiten droht“.65 Oder in der Stilisierung des Kampfes als „Lebensjagd“und „wilde[s], blutfrohe[s] Fest“ der „große[n] Mutter“.66 Diese Kultur-theorie gründet auf einer vitalistischen Anthropologie, da Primitivierungals Befreiung der archaischen Triebnatur verstanden wird.67 Nur so wirddie Aussage des Ich-Erzählers verständlich, dass er und sein Bruder im Streitmit dem Oberförster mit „reine[r] Geistesmacht“ auch die „Macht des Trie-bes“ in sich selbst bekämpfen.68 Auch ihre botanischen Studien haben deut-lich erkennbar die Funktion antivitaler Exerzitien. Nach der doppeldeuti-gen Aussage des Ich-Erzählers dienen sie dazu, den „heißen Lebensmächtenstandzuhalten“.69

63 Ebd., S. 76.64 Vgl. auch Gutmann, Politische Parabel und mythisches Modell, S. 56.65 Jünger, Auf den Marmor-Klippen, S. 128.66 Ebd., S. 139.67 Das heißt nicht, dass Jünger den Nationalsozialismus in seiner Erzählung als rein vitalisti-

sches Phänomen zu deuten versucht. Denn zum einen gehören der Oberförster und seineGehilfen, die vom Autor und von den Interpreten immer wieder als Chiffrierungen desNationalsozialismus gelesen wurden, einer Sphäre an, die außerhalb der skizzierten Ideal-topographie liegt und durchaus moderne Züge hat. Sie siedeln in der Zwischenzone vonCampagna und Gebirge und gehen bei ihrem Zerstörungswerk technisch-planvoll vor. IhrHandeln richtet sich gegen die Kultur, aber genauso auch gegen die Natur, die sie zweck-mäßig benutzen und die dadurch erst ihr zerstörerisches Potential entfalten kann. Zum ande-ren wird der Erfolg des Oberförsters auch auf eine innere Schwäche der Kultur der Marinazurückgeführt, die gerade wegen ihrer weitgehenden Rationalisierung nicht mehr in der Lageist, dem Angriff zu widerstehen. In diesem Sinne vergleicht der Erzähler den Oberförster miteinem „bösen Arzte, der zunächst das Leiden fördert, um sodann dem Kranken die Schnittezuzufügen, die er im Sinne hat“ (ebd., S. 52). Und es ist kein Zufall, dass gerade der autoch-thone Hirtenführer Belovar den stärksten Widerstand leistet, während der Festungskom-mandant Biedenhorn und manche Stadtbewohner sich mit dem eindringenden ‚Gelichter‘verbünden. Diese Verknüpfung von Rationalisierung und Barbarisierung weist große Ähn-lichkeit mit der Technikkritik Friedrich Georg Jüngers auf. Zu Jüngers Kritik des National-sozialismus als ‚Modernisierungshelfer‘ vgl. Helmuth Kiesel, Zwischen Kritik und Affirma-tion. Ernst Jüngers Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, in: Günther Rüther(Hg.), Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus,Paderborn u. a. 1997, S. 163–172, bes. S. 170 f.

68 Jünger, Auf den Marmor-Klippen, S. 75.69 Ebd., S. 20. Dies zeigt sich vor allem an ihrem Vorhaben, die Pflanzenwelt ihrer Umgebung

umfassend zu kartographieren, wobei ihnen Linnés Systematik als Leitfaden dient, als einer

Eintritt in die Äthersphäre 133

Die vitalistische und kulturzyklische Deutung des Geschehens wird mitAnspielungen auf die mythische Kosmogonie unterlegt. So wird die ‚All-mutter‘ Lampusa, die in einer unter der Rautenklause gelegenen Küchen-höhle haust und in geheimer Verbindung mit den Barbaren steht, als Gaiastilisiert. Und das die Ordnung zersetzende ‚Gelichter‘ wird als ‚Feuerwür-mer‘ bezeichnet und erhält so, ebenso wie die rote Dogge des Oberförsters,den Anstrich von chthonischen Dämonen, die in der griechischen Kosmo-gonie in den Bereich des Titanismus und Gigantismus gehören.70 Darüberhinaus referiert die Erzählung indirekt auf die antike Elementenlehre undinsbesondere auf die Welterklärung Heraklits. Dies zeigt sich vor allem ander besonderen Bedeutung des Feuers. Für Heraklit war das kosmischeFeuer die archetypische und dominante Form der Materie, die sich inandere Weltmassen zu verwandeln vermag und der Urgrund aller natürli-chen Prozesse ist. Aristoteles und die Stoiker deuteten die Idee des ewigle-bendigen Feuers dann im Sinne einer sukzessiven oder periodisch wieder-kehrenden Zerstörung der Erde durch das Feuer.71 Diese kosmogonischeVorstellung ruft die Erzählung auf, indem sie die kriegerischen Auseinan-dersetzungen als Weltbrand stilisiert: Die Handlung verläuft parallel miteiner zunehmenden Ausbreitung von Feuer; zunächst flackert es nur verein-zelt in der Campagna auf, dann greift es immer weiter um sich, und schließ-lich erfasst es die gesamte Welt der Marmorklippen, die in einem apokalyp-tischen Schlussbild vernichtet wird. Diese kosmogonische Vorstellung istmit einer kulturzyklischen Theorie durchaus vereinbar, da auch die Feuer-zerstörung zugleich ein Neubeginn ist. Darauf deutet der Erzähler mit sei-ner der stoischen Heraklitdeutung entlehnten Bemerkung hin, die „Men-schen-Ordnung gleich[e] dem Kosmos darin, daß sie von Zeit zu Zeiten,um sich von neuem zu gebären, ins Feuer tauchen muß“.72

der „Säulen-Türme“, von denen aus „der Geist die wilden Zonen des Wachstums überblickt“(ebd., S. 85). Und beim Gang in den unüberschaubaren Wald leitet sie die Absicht, „hier dierechte und wahre Topographie zu schaffen“ (ebd., S. 88). Sinnfällig wird die im spirituellenwie im körperlichen Sinn existenzsichernde Funktion der botanischen Kartographie dannam Beispiel des ‚roten Waldvögeleins‘. Diese seltene Blume wird vom Erzähler bei seinemersten Waldgang auf seiner Karte verzeichnet, und nur deshalb kann ihr Anblick ihm später,als er in der unüberschaubaren Situation des als Blutrausch stilisierten Kampfes mit demOberförster die Orientierung verliert, den Weg aus dem Wald – und aus dem Zustand inne-rer „Erregung“ und „Jagdgier“ – heraus weisen (ebd., S. 132 f.).

70 Vgl. Friedrich Georg Jünger, Die Titanen, Frankfurt a.M. 1944, S. 66 ff. Die Personifikationder Naturkräfte ist ein Charakteristikum der frühen mythischen Kosmogonie, insbesondereder Theogonie des Hesiod. Vgl. Wilhelm Capelle (Hg.), Die Vorsokratiker. Die Fragmenteund Quellenberichte, übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968, S. 25.

71 Siehe hierzu Geoffrey S. Kirk/John E. Raven/Malcolm Schofield, Die vorsokratischen Phi-losophen. Einführung, Texte, Kommentare (übersetzt von Karlheinz Hülser), Stuttgart/Wei-mar 2001 (engl. Erstveröffentlichung 1957), S. 218 (Anm. 20). Siehe auch Capelle (Hg.),Die Vorsokratiker, S. 143.

72 Jünger, Auf den Marmor-Klippen, S. 62. – Zur Diskussion der kosmogonischen Bedeutungdes Feuers in den Fragmenten der Vorsokratiker und der Stoiker siehe Franz Lämmle, Vom

134 Ernst Jünger

Jüngers Bezugnahme auf die mythische Kosmogonie ist von der For-schung mehrfach bemerkt worden.73 Kaum beachtet wurde bisher jedoch,dass der Naturzusammenhang des Menschen in den Marmor-Klippen nichtallein im Rückgriff darauf konzipiert wird und das ‚Elementarische‘ nichtnur mythisch aufgefasst ist. Vielmehr kommt an entscheidenden Stellen desTextes eine andere Form physikalischer Naturphilosophie ins Spiel, deroffenkundig ein höherer Rang eingeräumt wird. Denn sie bildet denzunächst verborgenen, schließlich offen zu Tage tretenden Zielpunkt dergeistigen und experimentellen Tätigkeit beider Brüder. Zu Beginn derErzählung gewinnt man den Eindruck, ihre Studien hätten einen reinnaturgeschichtlichen Charakter. In klösterlicher Zurückgezogenheit arbei-ten sie an einem Gesamtverzeichnis der Pflanzenwelt, einer „Kleinen Flora“der Marina, und folgen dabei streng der Linnéschen Systematik – dem Vor-bild des „hohen Meister[s] Linnaeus“74 –, indem sie ihre Fundstücke nachStaub- und Fruchtblättern klassifizieren, wobei Bruder Otho die Zeichnun-gen übernimmt und der Ich-Erzähler die Registrierung und Archivierungim Herbarium. Bald stellt sich aber heraus, dass sich ihr Interesse nicht aufdas Klassifizieren von Pflanzen beschränkt, sondern auf die Erkenntnis desSchöpfungsvorgangs selbst gerichtet ist. Mit Hilfe bestimmter Wahr-nehmungstechniken – Bruder Otho nennt sie „die Zeit absaugen“ – suchensie zu dem vorzudringen, „was unveränderlich im Schreine der Erscheinungeingeschlossen ist“.75 Wie beim stereoskopischen Sehen verbindet sich derGeist hierbei mit der Materie. Der Erzähler beschreibt die Sphäre, in dersich diese Verbindung vollzieht, als besonderes Licht und besondere Luft, indie er und sein Bruder eintauchen und in der die Dinge einen neuen Glanzerhalten: Die „starke Luft“ in der Rautenklause verändere das Denken,„gleichwie im reinen Sauerstoff die Flamme steiler und heller brennt“, unddamit „veränder[n]“ sich auch „die Gegenstände“.76 Diese Wahrnehmungist offensichtlich weder systematisierend noch morphologisch. Im Unter-schied zur Gestaltschau, die auf Erkenntnis eines Urbildes nach demModellvon Goethes Urpflanze zielt, geht es hier um eine Verwandlung der Bezie-

Chaos zum Kosmos. Zur Geschichte einer Idee, Basel 1962 (= Schweizerische Beiträge zurAltertumswissenschaft, Bd. 10/11), S. 101 ff. – Gerhard Nebel, der stark durch die stoischePhilosophie geprägt war, meinte, dass Jünger der Erzählhandlung den Gegensatz von telluri-schem und solarem Feuer zugrunde gelegt hätte, um so die (stoische) Auffassung vom Men-schen als einem zugleich der materiellen und der göttlichen Sphäre angehörenden Wesen zuveranschaulichen. Vgl. Gerhard Nebel, Tyrannis und Freiheit, Düsseldorf 1947, S. 386 f.

73 Vgl. vor allem Gutmann, Politische Parabel und mythisches Modell, der von einer „Fusiondes Historischen und Kosmischen“ spricht (S. 57). In der Erzählung sei „der zyklischeGeschichtsverlauf seinerseits eingebettet in ein naturhaft-kosmisches Vorgangsmuster, dasden Geschichtsprozeß zugleich wiederholt und transzendiert“ (ebd.).

74 Jünger, Auf den Marmor-Klippen, S. 19.75 Ebd., S. 25.76 Ebd. An späterer Stelle wird die Rautenklause als Raum beschrieben, „der in den Kammern

magnetisch aufgeladen war“ (ebd., S. 77).

Eintritt in die Äthersphäre 135

hung zwischen Subjekt und Objekt. Die Aufmerksamkeit richtet sich aufdie unsichtbare, die materielle und geistige Welt bestimmende Ordnung der„Elemente“77 und unter ihnen insbesondere auf das fünfte Element, denÄther.

Ein esoterisches naturphilosophisches Wissen wird den Brüdern durchden befreundeten Pater Lampros vermittelt, der zugleich Geistlicher undForscher ist. Er befasst sich mit der mathematisch-geometrischen Beschreib-barkeit der Natur – mit einem Gegenstand also, der sowohl in der antikenNaturbetrachtung, vor allem in der Schule des Pythagoras und bei Platon,als auch in der Quantenphysik eine bedeutende Rolle spielte. Von Lamproshatten die Brüder zuerst während ihrer Studienzeit gehört, als sie sich bereitsmit der Frage beschäftigten, wie die Methoden der Kristallographie auf diePflanzenwelt angewendet werden könnten:

Wir waren damals mit der Art beschäftigt, in der die Pflanzen den Kreis aufteilen,mit der Axen-Stellung, die den organischen Figuren zugrunde liegt – und letztenEndes mit dem Kristallismus, der unveränderlich dem Wachstum Sinn erteilt, sowie dem Zeiger das Zifferblatt der Uhr.78

Als die Brüder nun erfahren, dass Lampros ein „Werk von der Symmetrieder Früchte“ verfasst hat,79 suchen sie seinen Umgang, und in der Folgewird der Mönch ihnen zu einem geistigen Lehrer, der sich unauffällig anihrer Arbeit über die ‚Axen-Stellung‘ beteiligt. Vor allem offenbart er ihnenan einer Staudenpflanze das „Mysterium“ der Symmetrie:80

Indessen, als wir uns auf sie herniederbeugten und sie aufmerksam musterten,erschien sie uns, als ob sie ungewöhnlich groß und regelmäßig gewachsen sei; ihrRund war als ein grüner Kreis gebildet, den die ovalen Blätter unterteilten undzackig ränderten, in deren Mitte sich leuchtend der Wachstumspunkt erhob. DieBildung erschien zugleich so frisch und zart im Fleische, wie unzerstörbar im Geis-tesglanze der Symmetrie.81

Hier demonstriert Lampros die Überlegenheit einer naturphilosophischenBetrachtungsweise über die Linnésche Systematik – wie auch über den Neo-vitalismus Drieschs. Dabei wird erneut deutlich, dass die Erkenntnis derkristallischen Grundstruktur an eine besondere Disposition des aufnehmen-den Geistes gebunden ist und Geist und Materie sich im Moment höchstergeistiger Klarheit miteinander verbinden – in einem Vorgang, der dem vonJünger früher beschriebenen Phänomen der Ausrichtung von Feilspänen imelektromagnetischen Feld ähnelt.82 Geist und Materie unterliegen derselben

77 Ebd., S. 27.78 Ebd., S. 27.79 Ebd., S. 67.80 Ebd., S. 72.81 Ebd.82 Auch Max Bense referiert in dieser Zeit auf die neuen physikalischen Theorien vom kristal-

lischen Zustand der Materie, in dem sich ihre metaphysische Ordnung erweise: „Mit derRaumidee und Ordnungsidee erklärt sich die Stellung des Menschen innerhalb des Kosmos.

136 Ernst Jünger

Symmetrie, anders formuliert: Der Geist durchdringt die mathematisch-geometrische Ordnung der Natur. Hier klingt der zuerst von den Pythago-reern entwickelte Gedanke von der „sinngebende[n] Kraft der mathemati-schen Strukturen“ an, in dem Heisenberg 1937 eine Grundlegung für den„symbolische[n] Charakter des heutigen Atombegriffs“ erkannte, wobei erexplizit auch auf die durch das „Studium der Kristalle“ gewonnenen Er-kenntnisse Bezug nahm.83

Allusionen auf eine geometrisch-kristallische Grundstruktur der organi-schen und anorganischen Welt sowie auf die alles durchwaltende Symmetriefinden sich über die ganze Erzählung verstreut. Beispielsweise in der kreis-förmigen Ordnung, die die Lanzenottern einnehmen, als der Knabe Erio sieim Augenblick der Gefahr durch den Klang einer „erzenen Gabel“ hervor-ruft.84 Oder in der Fensterrosette der brennenden Kirche des Pater Lam-pros, die den Brüdern im Glanz des Feuers ihre „verborgene Beziehung“ zurBlütenform der Staudenpflanze offenbart.85 Im ersten Bild zeigt sich, wel-che Macht der Geist gewinnt, wenn er in unmittelbarer Beziehung zu denElementen steht. Das zweite veranschaulicht den Gedanken der Unzerstör-barkeit der kosmischen Ordnung, der auch im Zentrum des von Lamprosoffenbarten ‚Mysteriums der Symmetrie‘ steht. Der „Glanz“, den die Dingeund Menschen in der von den Brüdern eingeübten neuen Sehweise anneh-men, ist der Glanz der „Unzerstörbarkeit“ bzw. ein Reflex des „Wissen[s],

Durch sie wird der Materie das Prinzip des Bösen und des Unreinen, der Sünde oder Schuldgenommen, und es verrät tief symbolisch die Auflösung jener These Kierkegaards von derUnwahrheit des menschlichen Seins, wenn Heisenberg mit den Materiephysikern, Mineralo-gen und Kristallographen die unaufhörliche Ordnung aller Materie im kristallischenZustand verkündet. Es verrät den Trieb nach Hierarchie, die Materie, Metalle und Nicht-metalle, gleichgültig ob flüssig oder fest […], im ganzen und allgemeinen kristallisch auf-zufassen“ (Max Bense, Aufstand des Geistes. Eine Verteidigung der Erkenntnis, Stuttgart/Berlin 1935, S. 53). Bense betrachtet die moderne Physik dabei als eine Erneuerung derGoetheschen Naturphilosophie, da auch sie ein „Urbild in den Dingen des physikalischenSeins“ suche (ebd., S. 84).

83 Werner Heisenberg, Gedanken der antiken Naturphilosophie in der modernen Physik(1937), in: ders.: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, S. 51–57, hierS. 51 und 54 f. (Zuerst publiziert in: Die Antike 13 [1937].) Neben der Kristallographie lie-fert vor allem die Analyse der Kunstwerke Heisenberg zufolge „wertvolle und wichtige Bei-träge“ zum Verständnis der gestaltenden Kraft mathematischer Ordnung: „Wenn in einermusikalischen Harmonie oder einer Form der bildenden Kunst die mathematische Strukturals Wesenskern erkannt wird, so muß auch die sinnvolle Ordnung der uns umgebendenNatur ihren Grund in dem mathematischen Kern der Naturgesetze haben“ (S. 55). – Vordiesem Hintergrund wären auch die sprachlich-lyrischen „Modelle“ näher zu betrachten, diedie beiden Brüder in der Erzählung in spielerischer Weise entwerfen, um auch hier „Maßund Regel“, die hinter allem Zufälligen liegende geometrische Ordnung, zu erkennen (Aufden Marmor-Klippen, S. 27), und genauso Jüngers eigene Untersuchungen zur Natur derSprache aus dieser Zeit, insbesondere der Essay Lob der Vokale (1934).

84 Jünger, Auf den Marmor-Klippen, S. 146.85 Ebd., S. 151.

Eintritt in die Äthersphäre 137

daß die Vernichtung in den Elementen nicht Heimstatt findet“.86 Schließ-lich ist die Idee der formalen Elementarstruktur des Lebens auch im Namender ‚Rauten-Klause‘ chiffriert, der nicht nur auf die in ihrer Umgebungwachsende Pflanze Bezug nimmt,87 sondern auch eine geometrischeGrundform bezeichnet. Und es ist angesichts der zahlreichen in den Texteingestreuten Anspielungen auf die formale Elementarstruktur der Naturwohl kein Zufall, dass die Kristallgitterstruktur von Calcit, der wichtigstengesteinsbildenden Substanz imMarmor, ebenfalls rautenförmig ist.

Dass sich diese Auffassung der Symmetrie indirekt auch gegen die neo-vitalistische Entelechievorstellung richtet, wird beim Blick auf eine SzenedesHeliopolis-Romans deutlich. Dort erinnert sich der Held Lucius de Geeran ein Experiment, das er in seinem früheren Studium unter Anleitung sei-nes Lehrers Taubenheimer an Seeigeln durchführte: Genau wie JüngersLehrer Driesch demonstriert Taubenheimer seinem Schüler an einem See-igelei die Eigengesetzlichkeit des Lebens.88 Nach künstlich herbeigeführterBefruchtung wird das Ei zum Schauplatz „des oft geschauten Wunders derStrahlung und dann der Teilung, die in kunstvollen Folgen von Symmetrieund Faltung das neue Wesen modelliert.“89 Während Taubenheimer diesals Beweis für die Ganzheitskausalität nimmt, gibt sich de Geer damit nichtzufrieden. Anders als sein Lehrer begreift er die Symmetrie als „Rätsel“ undals „Hinweis“ auf noch andere, verborgene Gesetzmäßigkeiten.90 Nach sei-ner Interpretation deutet die Symmetrie nicht auf eine im Organischen ver-ankerte Teleologie hin, sondern zeugt davon, dass sich das „Plasma“, das „ir-dische Element“, erst unter der Einwirkung „astrale[r]“ Kräfte, nach „Licht-und Strahlungsgesetzen“ formt.91

Die beiden Vorstellungen von der Unzerstörbarkeit der Elemente undvon der Spiritualisierung des Physikalischen werden in denMarmor-Klippen

86 Ebd., S. 77. – Über die Unzerstörbarkeit der Materie bemerkt Jünger später in Sgraffiti: „Ver-wesung kann in die Atome nicht eindringen. Die Physik, die zu so scharfsinnigen Gleichun-gen von Kraft und Stoff vorgedrungen ist, bedürfte der Ausdehnung in neue Dimensionen,um uns zu lehren, dass der Stoff gleichzeitig Geist ist und, so gesehen, nichts außerdem.Dort müssen die feinsten, immateriellen Teilchen sein. Erst so erklärt sich die Macht derPhänomene, und zwar nicht nur der physikalischen, sondern auch der biologischen undmoralischen, deren Ähnlichkeit auf eine unteilbare Einheit hinweist und deren Divergenzauf die perspektivische Beschränkung des exzentrisch gewordenen Beobachters. Es scheint,daß die Vorstellung der kleinsten beseelten Einheiten des Weltstoffs besonders jenen Geisterngegeben ist, die philosophisches und mathematisch-mechanisches Genie vereinen wie Pascalund Leibniz oder auch indischen Denkern, denen die Welt die Konzeption der Null und desPrana verdankt“ (Jünger, Sgraffiti, S. 185 f.).

87 Zur medizinischen Bedeutung der Rautenpflanze vgl. Katzmann, Ernst Jüngers MagischerRealismus, S. 168 f.

88 Zu Drieschs Seeigeleiexperimenten und ihrer Bedeutung für die neovitalistische Theoriebil-dung vgl. Gloy, Das Verständnis der Natur, Bd. 2, S. 155 f.

89 Ernst Jünger, Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt, Tübingen 1949, S. 104.90 Ebd.91 Ebd.

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mit dem Spiegel Nigromontans verknüpft, einem gleichsam sakralenInstrument aus dem Nachlass des alten Lehrers, dessen Anblick den Brü-dern Trost spendet und das sie im Moment größter Gefahr schließlich zumEinsatz bringen. Wie die Staudenblüte und die Fensterrosette verweist derSpiegel in seiner Form, der ringförmigen Einfassung eines Kerns, sowohlauf die Sonne als auch auf das ältere, ‚anschauliche‘Atommodell Bohrs: eine„Scheibe aus hellem Bergkristall, die rundum von einem Ring aus Elektronumgeben war“.92 Seine Funktion besteht darin, die Sonnenstrahlung ineine stärkere und reinere Elementarkraft, in ein „Feuer von hoher Kraft“, zuverdichten, in dem die Dinge nicht zerstört, sondern verwandelt werden:Gleich einem „reinen Destillat“ gehen sie ins „Unvergängliche“ und „Un-sichtbare“ ein.93 Dies geschieht am Ende der Erzählung, als die Brüder indem Augenblick, in dem das tellurische Feuermeer auch die Marmorklip-pen zu ergreifen droht, ihr Haus und ihr geistiges Werk mit dem Spiegelentzünden und durch das Verbrennen in seiner Flamme ‚retten‘.94 DieseOperation ähnelt gleichermaßen einem chemischen Experiment wie einerreligiösen Zeremonie. Denn in der Flamme des Spiegels wird das Werk desGeistes nicht zerstört, sondern paradoxerweise erst substantialisiert, indemes sich mit den Elementen verbindet.95 Erneut bringt der Text hier dieTheorie einer geometrischen Grundstruktur des Kosmos ins Spiel.

92 Jünger, Auf den Marmor-Klippen, S. 82.93 Ebd., S. 81 f.94 Vgl. dazu ebd. S. 99, 113 und 149 f. Auf den rettenden Charakter der Manuskript-Verbren-

nung im ‚solarischen‘ Feuer des Spiegels hat bereits Gerhard Nebel in seiner 1939 veröffent-lichten Rezension derMarmor-Klippen aufmerksam gemacht; vgl. Gerhard Nebel, Ernst Jün-ger und die Anarchie, in: Monatsschrift für das deutsche Geistesleben 41 (1939),S. 610–616, hier S. 615.

95 Auf diesem Hintergrund gewinnt auch das Opfer bei Jünger seine besondere Bedeutung, alsÜbergang in einen anderen, gleichzeitig elementaren und geistigen Seinszustand. In dieserWeise lassen sich die Überfahrt der Brüder über den See und ihr Eintritt in das ‚Vaterhaus‘,die schon in der frühen Jünger-Forschung gelegentlich als Todesmetapher gedeutet wurden,als eine dem Verbrennen des Hauses vergleichbare Verwandlung der Existenzform verstehen.Jedenfalls legt der Erzähler eine solche Deutung nahe, indem er im letzten Satz – „Da schrit-ten wir durch die weit offenen Tore wie in den Frieden des Vaterhauses ein“ (Jünger, Auf denMarmor-Klippen, S. 157) – das Bild wieder aufnimmt, mit dem er zuvor die Erkenntnis vonder Unzerstörbarkeit der elementaren Ordnung fasste: „Und wir erahnten: wenn wir in jenenZellen lebten, die unzerstörbar sind, dann würden wir aus jeder Phase der Vernichtung wiedurch offene Tore aus einem Festgemach in immer strahlendere gehn“ (ebd., S. 77). DasBild des Vaterhauses verwendet Otho auch mit Blick auf Pater Lampros, der später in seinerKirche verbrennt: Lampros zähle zu den Naturen, die dazu geschaffen seien, „in die hohenGrade des Feuers einzutreten wie durch Portale in das Vaterhaus“ (ebd., S. 74). Das Motivdes Eintauchens in die Äther-Sphäre findet sich später im Heliopolis-Roman (1949) wieder,an dessen Ende der Held Lucius de Geer und seine Gefährtin Budur Peri mit einem Raum-schiff in eine andere Welt entgleiten. Auch wird das Opfer in diesem Roman einmal als „Ver-wandlung von physischer in metaphysische Fruchtbarkeit“ definiert (Jünger, Heliopolis,S. 252). ZumMotiv des ‚Todestores‘ vgl. auch Jünger,Das abenteuerliche Herz, S. 37 f.

Eintritt in die Äthersphäre 139

Die Verbindung zur antiken Naturphilosophie wird vor allem durch diedirekte Benennung der jenseits des Feuers liegenden Sphäre als „Äther“ her-gestellt.96 Der Äther als fünftes, auch Quintessenz genanntes und von denanderen qualitativ unterschiedenes Element wurde der antiken Elementen-lehre erst von Aristoteles hinzugefügt und später als ewige Sphäre des Kos-mos angesehen, auch mit dem Licht identifiziert und teils als Seelensub-stanz, teils als das Wesentliche einer jeden Substanz angesehen.97 Daherkam das Äther-Konzept der Absicht, die Verbindung von Geist und Materiephysikalisch zu fassen, auf ideale Weise entgegen. Und von daher erklärtsich auch die der Erzählung zugrunde liegende Annahme, dass Unzerstör-barkeit allein in der Äther- und Lichtsphäre gegeben ist.98 Zugleich bot derÄther einen Anknüpfungspunkt für magische und spiritistische Ausdeutun-gen der modernen Physik, der auch Jünger bei der Beschreibung der Destil-lations- und Scheidekunst der Brüder zu folgen scheint.99

Man kann also feststellen, dass es in den Marmor-Klippen weniger umeine Mythisierung der ins Archaische zurückfallenden Moderne geht100 als

96 Jünger, Auf den Marmor-Klippen, S. 83.97 Zu den griechischen Ätherkonzeptionen siehe Lämmle, Vom Chaos zum Kosmos,

S. 98–101. Zur Differenz von mythologischer und naturphilosophischer Betrachtung heißtes dort: „Was bei Ovid und in der Stoa vereinigt ist im Feueräther, erscheint also bei Aristote-les aufgeteilt: das Feuer ist vom Äther geschieden, in die Reihe der gewöhnlichen Elementegleichsam zurückversetzt und jeder besonderen göttlich schöpferischen Prädikation entklei-det; diese ist vielmehr dem Äther allein als einem Andersartigen und Unvergleichlichen zuge-wiesen, das auch insofern ein Besonderes ist, als es allein mit den übrigen Elementen keineMischung eingeht.“ (S. 100) Siehe hierzu auch Gernot Böhme/Hartmut Böhme, Feuer,Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996, S. 144. – DasÄtherkonzept spielte auch eine wichtige Rolle in der Physik des späten 19. Jahrhunderts, dieden Äther mit dem Elektromagnetismus identifizierte und als eine den Atomen gleichberech-tigte Substanz betrachtete. Maxwell beispielsweise verstand die von ihm beschriebenen elek-tromagnetischen Wellen als periodische Veränderung der Ätherspannung. Die Suche nachden physikalischen Eigenschaften des Äthers wurde 1905 durch Einstein beendet, der mitseiner Speziellen Relativitätstheorie die Vorstellung einer absoluten Bewegung negierte. Vgl.dazu Bernulf Kanitscheider, Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum. Zueinem neuen Verständnis der Natur, Darmstadt 1993, S. 32.

98 Das lässt sich auch in Sprache und Körperbau beobachten, wo Jünger eine ‚vorweltliche‘ Ein-heit von Geist und Materie bzw. Sprache und Körper der Äthersphäre gleichsetzt: „DiesesVerhältnis liegt außerhalb der Geschichte, ja außerhalb der Zeit – tief in den geheimnisvollenGründen, von denen gesagt wird: »Das Wort ward Fleisch.« Wir sind mit Sprache begabt –das heißt, wir haben Anteil an jenem gewaltigen Elemente, das äthergleich als Geist, alsLogos, als Pneuma die Welt erfüllt“ (Ernst Jünger, Sprache und Körperbau, 2. Aufl., Frank-furt a.M. 1949 [1. Aufl. 1947], S. 8).

99 Eine solche mystische Ausdeutung des Äthers findet sich beispielsweise bei Maurice Maeter-linck, Die vierte Dimension, Stuttgart 1929, S. 91: „Er ist die Substanz des Raumes, infolge-dessen ein anderes Gesicht der Zeit; und seine Wellen, die alle Dinge formen und beleben,sind Raum in Bewegung, wie der Raum Äther in Ruhe ist.“

100 Diese Meinung vertrat an prominenter Stelle, nämlich auf den ersten Seiten der Arbeit amMythos (1979), Hans Blumenberg. Dort interpretiert er den vom Ich-Erzähler formuliertenSatz „»Wir kannten noch nicht die volle Herrschaft, die dem Menschen verliehen ist.«“ alsVorausdeutung auf eine „mythische Ermächtigung“, die Jünger mit dem „Kunstmythos“ der

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um eine Rationalisierung mythischer Naturbetrachtung. Das zeigt sich imdistanzierend-objektivierenden Umgang der beiden Brüder mit der Naturund in der für ihre naturphilosophische Betrachtung grundlegenden Unter-scheidung zwischen einer sinnlich wahrnehmbaren und einer formalen,dem intelligiblen Vermögen zugänglichen Natur, die auch den Beginn derantiken Naturwissenschaft bei Platon markiert.101 Am Ende der in derErzählung durchgespielten Betrachtungsweisen steht eine als überlegenbewertete naturphilosophische Sichtweise, in der Wissenselemente der anti-ken und modernen Physik synkretistisch verbunden sind.

5. Die naturphilosophische Poetik der Strahlungen (1949)

Jüngers naturphilosophische Betrachtungsweise schlägt sich auch in der lite-rarischen Form nieder. In den Marmor-Klippen wird dies am Wechsel vonder Narration, also der Konstruktion eines zeitlich-genealogischen Hand-lungszusammenhangs, hin zur ästhetischen Deskription und zum Entwurfsymbolischer Bilder – wie der Fensterrosette der Kirche oder des SpiegelsNigromontans – deutlich. Dem thematisierten ‚Umschalten‘ des Blicks, derdie betrachteten Gegenstände aus der Zeit herauslöst und Geist und Mate-rie verbindet, entspricht die Unterbrechung und Aufhebung der Narrationdurch ästhetisierende und symbolisierende Passagen, an die sich oft lehr-hafte Betrachtungen anschließen. Diese Verbindung von Ästhetisierungund Reflexion wird dann in den Strahlungen zum vorherrschenden Form-prinzip und im Vorwort von Jünger auch explizit naturphilosophischbegründet.

Mit ‚Strahlungen‘ nimmt Jünger einen Begriff zur Kennzeichnung sei-nes Verfahrens in Anspruch, der sowohl eine physikalische als auch einemetaphysische Semantik hat.102 Er will darunter zum einen den „Eindruck“verstanden wissen, „den die Welt und ihre Objekte auf den Autor hervor-rufen, das feine Gitter von Licht und Schatten, das durch sie gebildet wird“,zum anderen auch den Vorgang, in dem diese Eindrücke „vom Autor aufden Leser reflektiert“ werden.103 Erneut rekurriert er dabei auf die Vorstel-lung einer einheitlichen Struktur der physischen und geistigen Sphäre, die

Marmor-Klippen habe befördern wollen; vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos. Frank-furt a.M. 1979, S. 15.

101 Vgl. dazu Karen Gloy, Das Verständnis der Natur, Bd. 1: Die Geschichte des wissenschaftli-chen Denkens, München 1995, S. 83.

102 Auf die philosophisch-theologische Dimension hat bereits Max Bense aufmerksam gemacht,der bemerkte, dass das Spektrum der Strahlungen bei Jünger „eine lichtmetaphysische Quellebesitzt, deren historischer Ort bei Witelo, Augustinus oder Plotin gefunden werden kann“;vgl. Max Bense: Ptolemäer und Mauretanier oder die theologische Emigration der deutschenLiteratur. Köln/Berlin 1950, S. 50.

103 Jünger, Strahlungen, S. 10 f.

Die naturphilosophische Poetik der Strahlungen (1949) 141

in den Marmor-Klippen als Äther gefasst wurde.104 Emotional-kognitiveEindrücke erscheinen als Komplement sensueller Eindrücke, der „Büschelvon Licht“, die das „Dasein“ jedes Menschen in jedem Augenblick „berüh-ren, umweben, durchschießen“.105 Jedem Bild, jedem Ton, jeder Farbe ent-spricht eine emotionale Note. Umgekehrt stellen sich die ‚Welt‘ und dasSubjekt als aus Selektion und Kombination dieser Strahlen hervorgegan-gene Artefakte dar. Natur, Mensch und Geschichte sind in diesem Sinnegeistig-körperliche ‚Bilder‘, die sich aus der jeweiligen Ordnung von Lichtund Schatten ergeben:

Wer kennt und wer ermißt das Wirken um unseren Körper, unsere Sinne, unserenGeist – die Ordnung, den Ausgleich, zu dem wir unaufhörlich gezwungen sind?[…] So sind wir rastlos bemüht, die Lichterfluten, die Strahlengarben zu richten,zu harmonisieren, zu Bildern zu erhöhen. Leben heißt ja nichts anderes.Im höchsten Ordnungsgange werden kosmische und irdische Strahlen so ver-woben, daß sinnvolle Muster aufleuchten. Das ist das Zeichen dafür, daß das Lebender Menschen, das Leben des Volkes gelungen ist.106

Im Bild der gebündelten Strahlen tritt die schon bekannte Figur der Kristal-lisation hervor: Durch Brechung entstehen „Sinnbilder“ und „sinnvolleMuster“.107 Daher bezeichnet Jünger das Kunstwerk auch als ein Muster,dem eine „ungeheure Richtungskraft“ zukommt, wobei dem Künstler dieAufgabe zufällt, Bilder „nach einem geheimen Schlüssel mit dem Licht aus-zustatten, das ihrem Rang entspricht“.108 Der Autor erfüllt in dieser Sichtdie Funktion eines Prismas und zugleich eines geistigen Führers, weil er dieeinfallenden Strahlen nicht nur zerlegt, sondern auch zu neuen Musternverbindet.109 Jüngers Wahrnehmungs- und Schreibkonzept unterscheidet

104 Die Entdeckung der physikalischen Strahlung wurde allgemein mit der Vorstellung einerEntmaterialisierung bzw. einer ‚Auflösung der Materie‘ verknüpft. Um die Jahrhundert-wende waren es die Röntgenstrahlung und die Radioaktivität, die die Gewissheiten von derUndurchlässigkeit der Körper, der Erhaltung der Energie und der Konstanz der Elementeumstießen und damit eine starke ästhetische Faszination auf die Kunstrichtungen des Sym-bolismus, des Art Nouveau und des Expressionismus ausübten. Vgl. dazu Christoph Asen-dorf, Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen1990, S. 139–148. In den zwanziger und dreißiger Jahren wurde dieses Faszinosum durchdie Entdeckung der kosmischen Strahlung im Jahr 1912/13 und durch die quantenphysika-lischen Experimente erneuert.

105 Jünger, Strahlungen, S. 10.106 Ebd., S. 11.107 Ebd.108 Ebd.109 Zu dieser ‚theologischen‘Auffassung des Dichters und des Dichtens vgl. Danièle Beltran-Vi-

dal, Der poetische Schaffensprozeß bei Ernst Jünger: Sehen, Konzipieren, Komponieren, in:Peter Koslowski (Hg.), Die großen Jagden des Mythos. Ernst Jünger in Frankreich, Mün-chen 1996, S. 81–96. Die Dichtkunst wird Beltran-Vidal zufolge für Jünger zum „Spiegelder ‚hohen Ordnung‘, der Wirklichkeit, die sich hinter den verschiedenen Masken des Rea-len verbirgt“ (S. 90). Die Autorin erkennt darin eine Parallele zu Ästhetik der modernenMalerei, etwa der Paul Klees (vgl. S. 96).

142 Ernst Jünger

sich damit erkennbar von dem Benns, der zwar ähnliche optische Meta-phern verwendet, mit der prismatischen Wahrnehmung aber allein den Vor-gang der Teilung und Dispersion bezeichnet.110

Aufgrund welcher Kräfte und Mittel ist der Autor aber in der Lage, ein‚Muster‘ zu bilden, das in Einklang mit der ‚kosmischen Ordnung‘ stehtund deshalb ‚sinnvoll‘ ist? Eine Bedingung für eine derart objektivierendeMedialität ist die Ausschaltung des Individuellen und Moralischen, eineandere das genaue Studium der ‚physikalischen Natur‘ der sprachlichenMittel. Denn Jünger betrachtet den Sprachstil als wichtigstes Mittel derMusterbildung, und dieser setzt für ihn beim Autor eine genaue Kenntnisder Valenzen und Klangfarben von Worten und Vokalen voraus. Der Klanggilt ihm als eine andere Seite des Lichts: Ein makelloser Satz sei eine infeinstes Gleichgewicht gebrachte „Verteilung von Licht und Schatten“.111

Und das Verhältnis von Bild und Gedanken in der Literatur vergleicht erdem zwischen Korpuskular- und Undulationstheorie des Lichts in dermodernen Physik, das heißt er betrachtet beide als komplementäre Darstel-lungsformen der einen Natur. Für sich selbst als „sowohl Anhänger derUndulations- als auch der Korpuskulartheorie“ erhebt er den Anspruch,beide Betrachtungs- und Wirkungsweisen in einem ideogrammatischen Stilzu verschmelzen.112 So dehnt er die Physikalisierung auf die Sprache unddie geistig-sensuelle Sphäre aus. Gegen Romantizismus und Positivismus,gegen spekulatives Denken und Bilderseligkeit gewandt, beruft er sich beider programmatischen Begründung der eigenen Schreibweise auf die

110 Max Bense – als entschiedener Verfechter des Bennschen Experimentalstils – charakterisierteJüngers Geistesverfassung daher als „linear und einfach“, Benns dagegen als „mehr-dimensio-nal und komplex“ (Bense, Ptolemäer und Mauretanier, S. 34). Während Jünger sich in sei-nem symbolhaften Denk- und Schreibstil der modernen Welt und der Technik konsequentverweigert und „jedes Stück Physik […] durch eine Mythologie“ ersetzt habe, habe Bennsich mit seinem expressionistischem Stil an die „moderne Welt assimiliert“ (S. 30).

111 Jünger, Strahlungen, S. 11. – Die Verbindung zwischen dem Strahlungskonzept und demProgramm eines ‚magischen Realismus‘ skizziert Emter, Literatur und Quantenphysik,S. 144 f. Auf die Verwandtschaft mit dem stereoskopischen Sehen verweist Erik Porath,Strahlungen Ernst Jüngers. Anmerkungen zu einer Tagebuchnotiz, in: Wirkendes Wort 45(1995), S. 241–257, hier S. 256 (Anm. 26).

112 Jünger, Strahlungen, S. 16. Wenn Jünger sich hier als Anhänger sowohl der Undulations- alsauch der Korpuskulartheorie bezeichnet, zeigt dies, dass er die zeitgenössischen physika-lischen Debatten verfolgte. Bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war die Physikdavon ausgegangen, dass Licht, das heißt Strahlung, eine Wellenbewegung sei, während dieMateriebestandteile, Moleküle und Atome, Teilchencharakter hätten. Die Quantentheorieführte dann zu einer radikalen Umformung der klassischen Materiekonzeption. Im An-schluss an Plancks Untersuchungen zu den Energiequanten und an Einsteins Lichtquanten-theorie postulierte Louis de Broglie 1925 die durchgehende Wellen- und Teilchennatur derMaterie theoretisch, und Niels Bohr brachte das logische Verhältnis beider Aspekte 1928 aufden Begriff der ‚Komplementarität‘. Vgl. Kanitscheider, Von der mechanistischen Welt zumkreativen Universum, S. 97 f.

Die naturphilosophische Poetik der Strahlungen (1949) 143

moderne Physik und auf die Idee einer mathematisch-geometrisch be-schreibbaren Grundstruktur der geistigen und materiellen Welt.113

Dabei ist zu beachten, dass der Dichter in Jüngers Poetik kein Erkennen-der, kein Betrachter mehr ist, sondern auf die unsichtbare Grundstruktur derWirklichkeit einwirkt. Hierbei beruft er sich auch auf neueste Entwicklun-gen in den Naturwissenschaften, die in seiner Sicht dazu tendieren, die Tren-nung von Subjekt und Objekt aufzugeben und selbst die Naturgesetze alseine Form schöpferischer Wahrnehmung zu begreifen. Am 13. August 1942notiert er nach Lektüre von Jean Cocteaus Essai de Critique Indirecte:

»Surnaturel hier, naturel demain.« Gewiß, denn die Naturgesetze, von deren Kon-stanz Renan soviel Aufhebens macht, werden sich immer anpassen. Sie gleichen derBegleitmusik, die, wo die Dinge wichtig werden, wahrscheinlich überhaupt ver-stummt. Man könnte das auch so ausdrücken: Naturgesetze sind die Gesetze, diewir wahrnehmen. An allen Punkten, an denen wir in die Entscheidung treten, neh-men wir sie nicht mehr wahr.114

Tatsächlich hatten prominente Vertreter der Quantenphysik die Naturge-setze und die physikalischen Erkenntnisse zu subjektiven (oder kulturellen)Konstruktionen erklärt, die nicht die Natur an sich, sondern nur die Rela-tion zwischen Subjekt und Objekt beschrieben.115 Wenn Jünger meint,dass durch die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft die Trennungvon Wirklichkeit und Möglichkeit hinfällig geworden sei, scheint er aller-dings vor allem an philosophische Ausdeutungen der theoretischen Physikaus den frühen dreißiger Jahren, etwa von Bohr und Heisenberg, anzu-knüpfen.

113 Der Erforschung der Natur der Sprache widmet Jünger sich v. a. in Lob der Vokale (1934)und Sprache und Körperbau (1947). Er geht dabei von einer genauen Entsprechung zwischenSprachstruktur und physiologischer Struktur des Menschen aus, die er auf Basis der mathe-matisch-geometrischen Naturphilosophie Platons und insbesondere der Idee eines allesdurchwaltenden Symmetriegesetzes konzipiert. Auf die naturphilosophische Bedeutung derSymmetrie im Anschluss an Platon verweist er im 2. Pariser Tagebuch (vgl. Strahlungen,S. 473 [22. Januar 1944]). Hieran knüpfen dann die Überlegungen an, die er in Sprache undKörperbau zur Bedeutung der Symmetrie im Körper für die Denk- und Sprachstruktur ent-wickelt (vgl. Sprache und Körperbau, bes. S. 10 ff.). Zu den sprachtheoretischen Überlegun-gen in den Strahlungen in Hinblick auf Jüngers Vorstellung von einer Heilkraft der Sprachesiehe Wolfgang Brandes, Der „Neue Stil“ in Ernst Jüngers „Strahlungen“. Genese, Funktionund Realitätsproduktion des literarischen Ich in seinen Tagebüchern, Bonn 1990 (= Abhand-lungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 389), S. 106–113, bes. S. 108.

114 Jünger, Strahlungen, S. 152.115 In dieser Weise äußerte sich beispielsweise Schrödinger in einem Vortrag von 1930: „Die

Beobachtungen, die einzelnen Meßergebnisse, sind die Antworten der Natur auf unsereunstetigen Fragestellungen. Daher sind sie vielleicht in sehr wesentlicher Weise eine Angele-genheit nicht des Objektes allein, vielmehr eine Angelegenheit der Wechselbeziehung zwi-schen Subjekt und Objekt“ (Erwin Schrödinger, Die Wandlung des physikalischen Weltbil-des [1930], in: ders.: Was ist ein Naturgesetz? Beiträge zum naturwissenschaftlichenWeltbild, 2., unveränd. Aufl. München/Wien 1967 [1. Aufl. 1962], S. 18–26, hier S. 25;Hervorhebung im Text).

144 Ernst Jünger

Kritiker und Interpreten haben den Stil der Strahlungen oft als zwang-haft und manieriert kritisiert und als Ausdruck der Verdrängung von kör-perlicher Angst und moralischer Verstörung gedeutet.116 So äußerte ErichKuby bereits 1950 den Verdacht, der „beispiellose geistige Aufwand“, der indiesen Kriegstagebüchern betrieben werde, sei nichts anderes als der „Ersatzfür das Gebet“.117 Und Jan Philipp Reemtsma hat das Abdriften des Stils insentenziöse Rede und nur scheinbar präzise Beschreibung, das immer danneinsetze, wenn die „moralische Verfassung“ des Autors affiziert sei, in jünge-rer Zeit als „mentale[s] Fading“ charakterisiert.118 So plausibel solche psy-chologischen Interpretationen wirken, ignorieren sie doch die antianthro-pozentrische Poetologie Jüngers, deren Ziel gerade die Überwindung desPsychischen und Organischen ist – bzw. die Verwandlung von „physische[r]Schwäche“ in „metaphysische Stärke“.119 Davon zeugt etwa JüngersBewunderung für Lautréamont, dessen Sprache er „eine Art von Metallis-mus“ attestiert; es herrsche dort „ein schmerzloser Stil, wie etwa auf einemschönen, schnellen und menschenleeren Schiffe, auf dem statt der Elektrizi-tät Bewußtsein den Antrieb lieferte.“120 Spürbar ist dieser Impuls auch inseiner Erklärung des schöpferischen Akts in der Poesie, den er bezeichnen-derweise nicht als „Rausch“ verstanden wissen will, sondern als „Umstim-

116 Der Manierismusvorwurf steht auch im Zentrum von Benses früher Analyse der Strahlungen.Vgl. Bense, Ptolemäer und Mauretanier, S. 28 ff. Die literarische Bewertung der Strahlungenhat sich von Beginn an an die Frage geknüpft, in welchem Zusammenhang Stil und psycho-logisch-moralische Konstitution des Autors stehen. Ihre Beantwortung gestaltete sich vorallem deshalb so schwierig und kontrovers, weil Jünger die Eliminierung jeder psychologi-schen und moralischen Wertung in seinem Stil- und Wahrnehmungskonzept selbst program-matisch vertreten und die ausgiebige Verwendung der Ich-Form im Tagebuch in einer dieRezipienten oft irritierenden Weise mit dem Anspruch auf objektivierende Medialität ver-bunden hat. Als Erster hat Arnold Gehlen diese Strategie, aus einer sympathisierenden Sichtbeschrieben und die überwiegend negative Aufnahme des Buches durch die zeitgenössischeKritik zugleich als Zeichen für ihr Scheitern gedeutet: „Jünger hat bei der Kritik nicht durch-zusetzen vermocht, daß das Ich selbst ein objektives Datum ist, zwar ein accident, aber einaccident absolu, und daß es eine Art metaphysischer Egozentrik gibt, vorausgesetzt, daß dasIch sich gegen das Böse in ihm weniger verteidigt, als überhaupt erst herstellt. Wer übersiehtdenn heute, was man mit dem Individuellen verteidigt“ (Arnold Gehlen, Strahlungen, in:Wiener Literarisches Echo 2 [1950], H. 4, S. 72–75, hier S. 73).

117 Erich Kuby, Die künstliche Provinz. (Ernst Jüngers Strahlungen I.), in: Frankfurter Hefte 5(1950), S. 205–209, hier S. 206.

118 Jan Philipp Reemtsma, „Es schneet der Wind das Ärgste zu“. Ernst Jünger im Kaukasus, in:ders., Mord am Strand. Allianzen von Zivilisation und Barbarei. Aufsätze und Reden, Ham-burg 1998, S. 316–346, hier S. 321.

119 Gert Mattenklott, Hundert Jahre Jünger, in: Sinn und Form 47 (1995), S. 391–400, hierS. 397. Mattenklott bezieht sich mit dieser Formulierung auf Jüngers Konzeption des ‚stereo-skopischen Blicks‘: „Die Blickrichtung dieser seltsamen Sicht ist geradezu gegenläufig:anthropozentrisch die eine, lunar, ja planetarisch, die andere. Im Blickfeld der einen liegtüberwältigend das kreatürliche Schmerzensbündel, in dem der anderen dieses Bündel als einwinziger Punkt in einem kosmischen Geschehen der stetigen Verdunklung und Erkaltung“(ebd.).

120 Jünger, Strahlungen, S. 137 (21. Juli 1942).

Die naturphilosophische Poetik der Strahlungen (1949) 145

mung der Moleküle unmittelbar vor der Kristallisation“.121 Seine eigeneDenkweise charakterisiert er ebenfalls als „atomistisch“, als ein Voranschrei-ten „durch Umsatz kleinster Teilchen, durch Osmose und Filterungen,durch Bindung und Bildung unsichtbarer Art“.122

Dolf Sternberger hat in einer Rezension von Gärten und Straßen (1942)Jüngers Schreibweise bereits 1942 mit der Alchemie verglichen und damit(unbeabsichtigt?) auf den naturphilosophischen Kontext von dessen Wahr-nehmungs- und Stilkonzept hingewiesen.123 Tatsächlich wird die Vorstel-lung einer Vergeistigung der Materie von Jünger im Zweiten Pariser Tage-buch – wie auch schon in denMarmor-Klippen – nicht nur mit dem antikenElementarismus in Verbindung gebracht, sondern ebenso mit der – daraufaufbauenden – alchemistischen Praxis. Dort schreibt er, der Geist werde dieKunst, verstanden als ‚Scheidekunst‘, als Verfahren der Selektion und Tren-nung, dann hinter sich lassen, wenn der Prozess der Reinigung, die „Reihevon Destillationen“, sein Ziel erreicht habe: das „Absolute“ und „Unge-mischte“ oder den „Stein der Weisen“.124 Die Alchemie dient hier als Meta-pher für eine Natur und Geist verknüpfende Wissenschaft. Darüber hinauszeugt die Verwendung von Begriffen wie Scheidekunst, Essenz und Steinder Weisen von der Faszination durch die Idee einer magischen Beeinflus-sung der Natur.125 Die antike und mittelalterliche Alchemie orientierte sichja an dem praktischen Ziel der Erzeugung bestimmter sinnlicher Qualitätenund glaubte im Unterschied zur antiken Elementenlehre, dass Qualitäten

121 Ebd., S. 266 (9. Februar 1943).122 Ebd., S. 472 f. (22. Januar 1944). – Vgl. auch die schon oben zitierte Bemerkung aus dem

Abenteuerlichen Herzen, wo es heißt, der „Sprachgeist“ ruhe nicht in Worten oder Bildern,sondern sei „in Atome eingebettet, die ein unbekannter Strom belegt und zu magnetischenFiguren zwingt“, und nur so in der Lage, die Einheit der Welt „in allen Zuständen des Geis-tes und der Materie“ zu erfassen (Das abenteuerliche Herz, S. 196; 3. Nachtrag zur Apriko-se).

123 Vgl. Sternberger, Figuren und Konstellationen, S. 300.124 Jünger, Strahlungen, S. 333 (23. Mai 1943). – Jüngers Rekurs auf die Alchemie ist historisch

gesehen keineswegs außergewöhnlich, sondern steht im Kontext einer breiten wissenschaftli-chen und literarischen Rezeption alchemistischen Wissens, insbesondere in derPsychologie – etwa bei C.G. Jung –, in der phantastischen Literatur und in der Heimatlitera-tur. Einen systematischen Überblick der Rezeption und der unterschiedlichen Funktionali-sierung der Alchemie im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts gibt Christine Maillard,Die „mythologisch apperzipierende Wissenschaft“. Alchemie in Theorie und Literatur(1890–1935): Das sonderbar anhaltende Fortleben einer ‚unzeitgemäßen‘ Wissenschaft, in:Maillard/Titzmann (Hg.), Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935, S. 165–191.

125 In Gärten und Straßen, dem ersten, noch im Krieg publizierten Kriegstagebuch, grenzt Jün-ger die Sprachkunst allerdings gegenüber einer magischen Alchemie ab, welche die Dingedurch „Zauberbann“ beherrschen will, und bezeichnet es demgegenüber als sein Ziel, mittelsder Sprache in eine Sphäre von „schwerelosem Äther“ vorzustoßen, ein Gedanke, den erdann in der zitierten Reflexion über Destillation und Reinigung wieder aufgreift; vgl. ErnstJünger, Gärten und Straßen. Aus den Tagebüchern von 1939 und 1940, Berlin 1942, S. 203(11. Juli 1940).

146 Ernst Jünger

selbständige Substanzen seien, die sich isolieren ließen und mittels derer dieMaterie selbst verändert werden könne.126

6. Zerstörung als Verwandlung

Wenn es darum geht, die Art zu bestimmen, in der Jüngers Kriegstage-bücher geschichtliche Phänomene zur Darstellung bringen, zitiert man häu-fig den Satz aus Gärten und Straßen, der „Sinn der Urgeschichte“ sei es, „dasLeben in seiner zeitlosen Bedeutung darzustellen“, im Unterschied zur „Ge-schichte“, die es „im zeitlichen Ablauf“ schildere.127 Daran knüpft sich die,schon aus derMarmor-Klippen-Forschung bekannte, These, das Zeitgesche-hen werde in den Strahlungen naturgeschichtlich repräsentiert.128 Obwohldie Naturgeschichte viel Raum im Tagebuch einnimmt und Jünger parallelzu seinen anthropologischen, literarischen und kulturellen Trouvaillenimmer auch naturkundliche Beobachtungen einflicht, seine Beutestückeder ‚subtilen Jagd‘ verzeichnet und in das Originaltagebuch sogar einzelnePflanzenblätter einlegte,129 wird Geschichte in den Strahlungen eher kos-mologisch aufgefasst. Das Ziel des ästhetisch-reflexiven Experimentierensliegt auch hier darin, die zeitgeschichtlichen Ereignisse als ein elementaresWerden, als Umwandlungs- und Schöpfungsvorgang zu konzeptualisie-ren.130 Die schreckliche Zerstörungskraft des Krieges erscheint – in Fortent-

126 Vgl. Böhme/Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 121–131.127 Jünger, Gärten und Straßen, S. 78 f. (14. Januar 1940).128 Vgl. etwa Meyer, Ernst Jünger, S. 323; oder für die frühe Kritik Fritz Usinger, Abenteuer

und Geschichte. Zu Ernst Jüngers ‚Strahlungen‘, in: Die Neue Rundschau (1950),S. 248–266, der die Strahlungen als einen den Werken von Spengler und Toynbee vergleich-baren Versuch deutet, „von den bildenden Innenkräften der Geschichte sich einen Begriff zumachen“ (S. 248).

129 Zum Tagebuchmanuskript vgl. die Fotos in Schwilk (Hg.), Ernst Jünger, S. 120.130 In der in den letzten Jahren sprunghaft gewachsenen Forschungsliteratur zu Jüngers Tagebü-

chern ist dieser Aspekt kaum beachtet worden. Allein Lothar Bluhm weist auf die wichtigeFunktion der Naturbetrachtung für die literarische Konzeption des Tagebuchs hin, deutet sieaber als einen gegen den zeitgeschichtlichen Kommentar gerichteten Rückzug auf ein gestalt-typologisches Verfahren zur Erkenntnis der „unsichtbare[n] Harmonie der Welt“, bei demJünger auf die „naturkundlichen Beschreibungen des 18. und 19. Jahrhunderts“ zurückgrei-fe; vgl. Lothar Bluhm, Natur in Ernst Jüngers Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg, in:Wirkendes Wort 37 (1987), S. 24–32, hier S. 31 und 26. Vgl. auch ders., Ernst Jünger alsTagebuchautor und die ‚Innere Emigration‘. (‚Gärten und Straßen‘ 1942 und ‚Strahlungen‘1949), in: Hans-Harald Müller/Harro Segeberg (Hg.), Ernst Jünger im 20. Jahrhundert,München 1995, S. 125–153, bes. S. 139 f. Im Zentrum der neueren Forschung steht dieFrage nach der Literarizität des Tagebuchs und den Konstruktionen des literarischen Ichsbzw. den ‚Rollen‘, die der Erzähler in den wechselnden Situationen und Schreibweisendurchspielt. Vgl. Brandes, Der „Neue Stil“ in Ernst Jüngers „Strahlungen“; Jörg Sader, „ImBauche des Leviathan“. Tagebuch und Maskerade. Anmerkungen zu Ernst Jüngers „Strah-lungen“ (1939–1948), Würzburg 1996 (= Epistemata Literaturwissenschaft, Bd. 156); undJustus Fetscher, Portrait of the Poet as a Dead Man. Ernst Jünger’s Writing in the Second

Zerstörung als Verwandlung 147

wicklung der schon auf den Ersten Weltkrieg angewandten Denkfigur der‚Feuerwelt‘ – als ein kosmologisches Geschehen, in dem Natur und Menschin ihre Elementarstruktur aufgelöst und umgeschmolzen werden. Besondersdeutlich wird dies an einer Betrachtung, in der Jünger die Nachricht vonder Zerstörung Hamburgs reflektiert:

Der Angriff auf Hamburg ist unter anderem auch das erste derartige Ereignis, dassich der Bevölkerungs-Statistik entzieht. Die Standesämter sind unfähig mitzutei-len, wieviele Menschen umkamen. Die Opfer starben wie Fische oder Heuschre-cken, außerhalb der Historie, in der Elementarzone, die keine Register kennt.131

Das selbst in der Schreckensgeschichte des Zweiten Weltkriegs einzigartigeEreignis der Zerstörung Hamburgs entzieht sich nicht nur der historischenDarstellung, es lässt sich nicht einmal mehr als statistisches Phänomen er-fassen – und muss doch, so der programmatische Anspruch der Strahlungen,gedeutet werden. Die von der Nachricht ausgehenden, das Subjekt affizie-renden Strahlen müssen vom Autor zu einem sinnvollen Muster gebrochen,Wort und Bild zum Sinnbild verwoben werden. Und dies ist für den Autorzugleich der Weg, dem elementarischen (titanischen) Geschehen einen geis-tigen ‚Stempel‘ aufzudrücken.

Wird sie als Prozess der Materieumwandlung wahrgenommen, erhältdie Zerstörung einen kosmologischen Sinn und wirkt zugleich wie eineOffenbarung, da sie einen Blick in die unzerstörbare Grundstruktur desLebens eröffnet. Deshalb reagiert das Tagebuch-Ich auf die Nachricht vonder Zerstörung seiner Heimatstadt Hannover auch mit einer „tiefe[n]Freude im Verluste“:132 Bei dieser wie bei vielen anderen Schreckensmel-dungen dieser Zeit ergehe es ihm, als ob er „einen schön bemalten Prospektvor einer Bühne in Flammen auflodern sähe“, wodurch sich zugleich „dieTiefe erschlösse, vor deren Unversehrtheit er zitterte.“133 Stellen wie diese,vor allem das immer wieder zitierte Panorama des brennenden Paris, wer-den üblicherweise als Beispiele einer literarischen Strategie zur Ästhetisie-rung des Schreckens und der Gewalt angeführt.134 Dabei wird leicht über-sehen, dass diese Ästhetisierung im funktionalem Zusammenhang mit dernaturphilosophischen Konzeption einer Einheit der kognitiven, sensuellenund materiellen Welt und mit der Idee einer Spiritualisierung der Materiesteht. So findet sich die Koppelung von Feuer- und Bühnenmetaphorik

World War: ‚Strahlungen‘, in: Helmut Peitsch/Charles Burdett/Claire Gorrara (ed.), Euro-pean Memories of the SecondWorld War, New York/Oxford 1999, S. 99–109.

131 Jünger, Strahlungen, S. 383 f. (17. August 1943).132 Ebd., S. 371 (30. Juli 1943).133 Ebd.134 Vgl. insbesondere Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische

Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, Frankfurt a.M., Berlin 1983 (Erstveröffentlichung1978), S. 448 ff.

148 Ernst Jünger

schon im Abenteuerlichen Herzen, wo sich dem Betrachter im Feuer die‚kristallische‘ Grundform der Materie offenbart.135 Die dort eingestreutenAnspielungen auf Karthago, Zion, Byzanz oder die „brennende Decke imisländischen Saal“ weisen zudem auf die kulturhistorisch-literarischen Präfi-gurationen für die Stadtuntergangsszenarien in den Strahlungen hin.136

Die Entwicklung dieser Ästhetik verläuft parallel zu Jüngers intensiverAuseinandersetzung mit der antiken und biblischen Kosmogonie. Zu denwichtigsten, im Tagebuch immer wieder erwähnten Lektüren dieser Zeitzählen eine zweisprachige Heraklit-Ausgabe, die Theogonie Hesiods sowiedie Bibel, insbesondere das Buch Genesis. In den „Ur-Kunden der Men-schengeschichte“137 sucht der Autor nach Konzeptionen kosmischen Wer-dens, mit deren Hilfe sich auch das gegenwärtige Geschehen als Teil einesSchöpfungs- und Verwandlungsprozesses begreifen lässt. So liest er dieTheogonie und die Genesis als Berichte vom ursprünglichen Sein „in derFülle, in den Elementen,“138 über das in anderer Weise auch Heraklit Aus-kunft gibt.139

Die anthropologische Verwandlung wird im Tagebuch, ähnlich wie inden Marmor-Klippen, aber nicht nur im Rekurs auf Schöpfungsmythen,sondern auch auf neue wissenschaftliche Theorien konzipiert. GroßeBedeutung erhält dabei insbesondere die Mutationslehre:

Unsere Hoffnung beruht allein auf innerer Wandlung des Menschen – nicht aufEntwicklung, sondern auf Mutation, auf generatio spontanea, auf neuem Umbru-che. Mathematisch gesehen, sind wir verloren, auch biologisch gesehen.140

Warum erscheint Jünger gerade die ursprünglich aus der Biologie stam-mende Mutationstheorie so geeignet dafür, Veränderung zu denken? Zumeinen zweifellos deshalb, weil sie sprunghaft auftretende, nicht berechenbareFormveränderungen beschreibt und deshalb als wissenschaftliche Erkennt-nis des ‚schöpferischen Prinzips‘ aufgefasst werden konnte. In diesem Sinnehatte Jünger sie schon im Arbeiter als „eine der Wiederentdeckungen des

135 Vgl. Jünger, Das abenteuerliche Herz, S. 130 f. (Historia in nuce: Der verlorene Posten) undS. 190 f. (1. Nachtrag zur Aprikose).

136 Vgl. ebd., S. 130 (Historia in nuce: Der verlorene Posten).137 Jünger, Strahlungen, S. 333 (23. Mai 1943).138 Jünger, Gärten und Straßen, S. 67 (28. November 1939). Vgl. auch Jünger, Strahlungen,

S. 593 (15. Dezember 1944).– Zur Hesiod-Lektüre vgl. auch Jüngers Brief an GerhardNebel vom 10. Dezember 1939, in dem er sich für die Zusendung von dessen Essaysamm-lung Feuer und Wasser bedankt: „Ich lese hier im Hesiod, einer mächtigen Quelle, aber wederdes Wassers noch des Feuers, sondern der Erde als des Elementes, das uns in besondererWeise zugeordnet ist. Hierauf gründet sich vielleicht auch die uns unerklärliche Wirkung vie-ler Alten, die Hesiod dem Homer vorzogen, der ja viel stärker im Wasser und Feuer lebt“(Ernst Jünger/Gerhard Nebel, Briefe 1938–1974, hg., kommentiert und mit einem Nach-wort von Ulrich Fröschle und Michael Neumann, Stuttgart 2003, S. 31).

139 Vgl. Jünger, Strahlungen, S. 53 (17. September 1939) und S. 183 f. (23. Juni 1940).140 Ebd., S. 410 (12. September 1943).

Zerstörung als Verwandlung 149

Wunders durch die moderne Wissenschaft“ bezeichnet.141 Und in diesemSinne führt er sie im Tagebuch gegen die Evolutionslehre Darwins ins Feld,der er vorwirft, Naturphänomene, die man sich nur als in einem „spontanenAkt“ entstanden vorstellen könne, unter Anwendung einer falschen An-schauungsweise in eine kausale Zeitfolge aufzulösen:142 Der „geistige Reizder Zoologie“ liege nicht im Aufspüren regelhafter Folgen, aus denen sichGesetzmäßigkeiten ableiten lassen, sondern gerade „im Studium der pris-matischen Abweichung“.143 Aus diesem Grund konzentriert sich die Natur-betrachtung in den Strahlungen auch in so auffälliger Weise auf Besonder-heiten und „Arabesken“.144

Zum anderen mußte Jünger die Denkfigur der Mutation auch deshalbfaszinieren, weil sie sich sowohl mit der modernen Physik als auch mit derantiken Elementenlehre in Verbindung bringen ließ. So erklärt er die spon-tanen Abweichungen und Neubildungen in der Natur als Effekt der Einwir-kung der Elemente, als Folgen einer Berührung mit dem Feuer oder desWechsels aus einer heißen in eine feuchte Umgebung.145 Einmal erzählt ereinen Traum, in dem er in einem Sumpfgebiet einige „zart metallischeArten“, „Brusprestiden“, findet, die eigentlich auf „trockene Sonnenhitzeeingerichtet“ seien und denen die „Sumpf- und Wasserwelt“ daher fremdsei.146 An diese Betrachtung schließen sich dann allgemeine Überlegungenzu akausalen Veränderungen im Naturreich an: Es handele sich um „Über-gänge, Bestätigungen im fremden Element“, die ähnlich „wie das Licht“einer unerklärlichen Regel folgten.147 Die Hervorhebung des metallischenCharakters der Insekten erinnert hier daran, dass die Elementarzone, in dersich die Verwandlungen vollziehen, für Jünger auch die Zone der Vermitt-lung von organischem und anorganischem Leben ist, ebenso wie von Naturund Technik. Einer Vermittlung und Verwandlung, die die besondere, im

141 Jünger, Der Arbeiter, S. 221. – Die Mutationstheorie war um 1900 im Zuge der Wiederent-deckung der Mendelschen Forschung vom niederländischen Botaniker Hugo de Vries ent-wickelt worden.

142 Jünger, Strahlungen, S. 335 (26. Mai 1943). Vgl. auch ebd., S. 268 f. (13. Februar 1943).Genauso bringt er auch die mythische Kosmogonie gegen die Evolutionstheorie in Stellung:„Diese gewaltige Gleichzeitigkeit, das Neben- und Miteinander wird vom Darwinismus inein Nacheinander aufgelöst – das Knäuel wird zu einer Rolle aufgespult. Damit verliert sichgerade das Grandiose der Schöpfung, das Wunder des Ur-Sprunges, das mit einem Schlageoder in gewaltigen Zyklen und Äonen erwächst wie in den Sieben Tagen Mosis, der kosmo-graphischen Hierarchie des Hesiod oder der chinesischen Naturphilosophie“ (ebd., S 573;10. November 1944).

143 Ebd., S. 412 (15. September 1943).144 Ebd.145 Die starke Gewichtung der (klimatisch-elementaren) Umweltfaktoren begründet wohl auch

Jüngers Anerkennung für Lamarck, dessen Theorie er eine weitaus größere „theologisch[e]“Bedeutung zumisst als der Darwins (ebd. S. 573; 10. November 1944).

146 Ebd., S. 411 f. (15. September 1943).147 Ebd.., S. 412.

150 Ernst Jünger

Tagebuch praktizierte Wahrnehmungstechnik bereits vollzieht. Dies zeigtsich auch und gerade an der Ästhetisierung des Krieges, etwa an derBeschreibung einer Bomberflotte über Paris:

Die Abendröte traf die Flugzeuge von unten und machte sie deutlich sichtbar; dieRümpfe hoben sich wie Silberfische vom blauen Himmel ab. Besonders dieSchwanzflossen schienen die Strahlen aufzufangen und zu sammeln; sie glänztenwie Leuchtkugeln.Diese Geschwader zogen im Kranichfluge, schimmernd, in geringer Höhe über dasWeichbild, während Gruppen von weißen und dunklen Wölkchen sie begleiteten.Man sah die Feuerpunkte, um die sich, erst scharf und winzig wie Nadelköpfe unddann allmählich zerfließend, die Bälle breiteten. Zuweilen stürzte brennend, ganzlangsam und ohne rauchende Fahne, als goldene Feuerkugel ein Flugzeug ab. Einssank auch dunkel, sich kreiselnd drehend wie ein Blatt im Herbste zu Boden, unddieses ließ eine Spur von weißem Qualm zurück. Wieder ein anderes wurde imSturz zerrissen, ein großer Flügel schwebte lange in der Luft. Auch etwas Sepi-abraunes, Umfangreiches fiel mit steigender Geschwindigkeit; hier stürzte einMensch am kohlenden Fallschirm ab.148

In einem Zustand höchster sensitiver Empfindlichkeit, in dem das wahr-nehmende Ich ganz in die Äther- und Lichtsphäre eintaucht, werden diedem normalen Blick verborgenen kontinuierlichen Übergänge zwischen derorganischen und der anorganischen Welt, wird das kosmische Werden sicht-bar. Wie der Erzähler in den Marmor-Klippen bezieht auch das wahrneh-mende und reflektierende Ich in den Tagebüchern seinen inneren Halt ausdem Gedanken, dass alle Zerstörung Verwandlung ist. Davon zeugt unteranderem auch eine Eintragung von Anfang 1943, die eine Passage ab-schließt, in der Jünger seinen Kirchhorster Schreibtisch mit den auf ihmausgebreiteten Zeugnissen seiner individuellen Existenz – Schreibgeräten,Fotos und Briefen – beschreibt: „All dies kann morgen verbrennen und vonmir abgezogen werden wie eine bunte Raupenhaut.“149

Anregung und Legitimation für die Vorstellung einer elementarenGrundstruktur des organischen Lebens konnte Jünger auch in der moder-nen Physik und Chemie finden. So wurde in der Mitte der dreißiger Jahreim Zuge der Anwendung quantentheoretischer Verfahren auf organischeVorgänge auch die mutationsauslösende Wirkung von Strahlung (Röntgen-und Radiumstrahlen) erforscht und eine Theorie entwickelt, die Genmuta-tionen als eine durch Strahlungsenergie, also auch durch einfache Tempera-turschwankungen, bewirkte Veränderung im Atomverband der Geneerklärte.150 In derselben Zeit, in der Jünger Transformationen des organi-

148 Ebd., S. 413 (15. September 1943).149 Ebd., S. 268 (10. Februar 1943).150 Diese Theorie wurde zuerst 1935 in dem sogenannten ‚Drei-Männer-Werk‘ formuliert. Vgl.

N.W. Timoféef-Ressovsky/K.G. Zimmer/M. Delbrück, Über die Natur der Genmutationund der Genstruktur, in: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen.Mathematisch-physikalische Klasse. Neue Folge. Fachgruppe 1: Biologie, Berlin 1935,

Zerstörung als Verwandlung 151

schen Lebens in der Hitze der Elementarzone beschrieb, entwickelte ErwinSchrödinger in seinen Vorlesungen eine quantentheoretische Erklärung vonGenen und Mutationen. Ausgehend von der Beobachtung, dass es unter derEinwirkung von Röntgenstrahlen zu einer Erhöhung der Mutationszifferkommt, und in Anlehnung an das von Max Delbrück entwickelte Molekül-modell gelangte er zu der Überzeugung, dass es sich bei Mutationen umVorgänge der Ionisierung handelt, um eine „durch zufällige Schwankungder Schwingungsenergie verursachte isomere Änderung der Konfigurationin irgendeinem Teile des Moleküls“.151 Ebenso wie bei Jünger war dieseWendung zu einem einheitlichen, physikalischen Modell der organischenund anorganischen Materie bei Delbrück und Schrödinger mit der Abkehrvon der herkömmlichen Vorstellung physikalischer Gesetzmäßigkeit ver-bunden. Die lebende Materie folge „anderen physikalischen Gesetzen“, dienur quantentheoretisch beschreibbar seien, konstatierte Schrödinger.152

Daraus zog der Physiker interessanterweise ähnliche philosophische Kon-sequenzen wie Jünger. Denn auch für ihn ergab sich nun die Notwendigkeiteiner Neubestimmung der Willensfreiheit.153

Die Strahlungen zeigen den Menschen als Element der allumfassendenphysikalischen Welt. Mit demselben Blick, mit dem er die Mutationen derpflanzlichen und tierischen Natur wahrnimmt, versucht der Autor auch dieVeränderungen zu erfassen, die der menschliche Organismus vollzieht,wenn er in die Elementarzone gerät oder auch nur am Rande mit ihr inBerührung kommt. Wie beispielsweise das Kind eines Nachbarn in Kirch-horst, von dem ihm seine Frau in einem Brief berichtete:

Es fielen Bomben auf die Weiden nahe dem Haus. Der Höhepunkt der Schreckenscheint zu nahen, wenn »Tannenbäume« am Himmel leuchten – das sind Büschelvon Lichtern, welche den Massenabwurf ankündigen. Das siebenjährige Töchter-chen eines Nachbarn wurde am Morgen in die Irrenanstalt gebracht. Die Zukunftder Kinder macht mir Gedanken – welche Früchte mag dieser Frühling zeitigen?

S. 190–245. Dort heiß es: „Die Mutation wird durch Zufuhr der Energie von außen oderdurch Schwankung der Temperaturenergie, die unvermeidlich mit der statistisch-kinetischenNatur der Wärme verbunden ist, erzeugt, und besteht in einer Umlagerung der Atome ineine andere Gleichgewichtslage innerhalb eines Atomverbundes“ (S. 234). Ich danke Chris-tina Brandt für den Hinweis auf dieses Werk.

151 Erwin Schrödinger, Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrach-tet, 2. Aufl., München 1951 (1. Aufl. 1946, englische Erstveröffentlichung 1944), S. 89.

152 Ebd., S. 96. – Im Gegensatz dazu vertrat die nationalsozialistische Rassenkunde eine kausal-mechanistische Auffassung von den biologischen Vererbungsgesetzen und versuchte, das vonder Quantenphysik unterhöhlte Kausalitätsgesetz in der Rassenbiologie aufrecht zu erhalten.Siehe hierzu Könneker, Auflösung der Natur – Auflösung der Geschichte, S. 304 ff. JüngersBezugnahme auf die moderne Physik kann vor diesem wissenschaftspolitischen und ideo-logischen Hintergrund als intellektuelle Gegenbewegung zum Biologismus und Rassismusder Nationalsozialisten verstanden werden.

153 Vgl. dazu den Epilog ‚Über Determinismus und Willensfreiheit‘ in: Schrödinger, Was istLeben?, S. 122–128, in dem der Physiker sich u. a. auf die indische Religion und auf dieMystik beruft.

152 Ernst Jünger

Die hohen und tiefen Temperaturen werden auf die Schmetterlingsflügel dieserSeelchen seltsame Muster einzeichnen.154

Nach dem schon an den Passagen über die Zerstörung Hamburgs und denAngriff auf Paris beobachteten Muster – das sich mit Peter Sloterdijk als ‚zy-nische Kosmologie‘ interpretieren ließe155– versucht Jünger den berichtetenFall ‚elementarisch‘ zu deuten. Die seelische Beschädigung erscheint dabeials eine durch den Wechsel der ‚Klimazonen‘ ausgelöste spontane Verände-rung der anthropologischen Substanz.156 An ähnliche Beobachtungenknüpft er an anderer Stelle die positive Erwartung an, es könne eine neueForm des Menschen entstehen.

7. Jenseits von Humanismus und Nihilismus:Heliopolis (1949)

Mit dem Zweiten Weltkrieg war in Jüngers Augen zwar die Fortschrittsepo-che an ihr Ende gekommen, eine qualitative Verwandlung jedoch ausgeblie-ben. Dieser Schluss liegt jedenfalls nahe, wenn man seinen ersten großenErzähltext nach dem Krieg, den 1949 erschienenen Roman Heliopolis, nichtals Utopie, sondern als einen Versuch zur „geistige[n] Durchdringung“ derNachkriegszeit liest.157 Aus der Zukunft zurückblickend wird darin von derZeit nach der „Ära der Großen Feuerschläge“ und nach dem „Scheitern desersten Weltimperiums“ erzählt.158 Die geschichtliche Entwicklung hatdurch die Errichtung einer „planetarische[n] Ordnung“ ihren Abschluss

154 Jünger, Strahlungen, S. 425 (5. Oktober 1943).155 Vgl. Peter Sloterdijck, Kritik der zynischen Vernunft, 2. Bd., Frankfurt a.M. 1983, S. 823 f.156 Die These, dass sich in der Gegenwart ein fundamentaler anthropologischer Wandel vollzie-

he, findet sich schon in Jüngers Texten aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, bezieht sichdort aber noch in erster Linie auf die revolutionäre Wirkung der Technik. So heißt es bei-spielsweise im Essay Über den Schmerz (1934): „Der Geist, der seit über hundert Jahren anunserer Landschaft formt, ist ohne Zweifel ein grausamer Geist. Er drückt seine Spuren auchim menschlichen Bestande ab; er trägt die weichen Stellen ab und härtet die Flächen desWiderstandes. […] Schon aber wachsen neue Generationen auf, sehr fern von allen Traditio-nen, mit denen wir noch geboren sind, und es ist ein wunderliches Gefühl, diese Kinder zubeobachten, von denen so manches das Jahr 2000 noch erleben wird. Dann wird die letzteSubstanz des modernen, das heißt des kopernikanischen Zeitalters verschwunden sein.“(Ernst Jünger, Blätter und Steine, S. 210)

157 Jünger, Heliopolis, S. 109. Mit dieser Formulierung wird im Roman die Erwartung bezeich-net, die der Prokonsul an Ortners Heliopolis-Roman richtet. Dass Jünger anhand der FigurOrtners zugleich die Poetik seines eigenen Romans reflektiert, wird später noch deutlicher,wenn Ortner seine Poetik sowohl gegenüber dem Realismus, der „unausweichlich dem Nihi-lismus“ zuführe, als auch gegenüber dem Idealismus, der zur „leeren Utopie“ tendiere,abgrenzt und es demgegenüber als seine Absicht bezeichnet, die Welt als „Modell“ zu fassenund „Einblick zu gewinnen in die Gesetze und Konstellationen, die in ihr gültig sind“(S. 123).

158 Ebd., S. 34 und 426.

Jenseits von Humanismus und Nihilismus 153

gefunden,159 ebenso wie die technische Entwicklung, die den Zustand derPerfektion erreicht hat. Damit ist die Moderne jedoch noch nicht überwun-den, sondern nur in ein krisenhaftes Übergangsstadium „zwischen demEnde des Fortschritts und dem Anbrechen des nachgeschichtlichen Äons“eingetreten.160 Im Roman wird diese Zeit mit einem Schlüsselbegriff derKonservativen Revolution als „Interregnum“ bezeichnet.161 Es ist ein Stadi-um, in dem „die Geschwindigkeiten absolut geworden“ sind,162 also genaudie Lage, die Jünger in der zur gleichen Zeit entstandenen Vorrede zu denStrahlungen für die Nachkriegszeit diagnostiziert. In der bereits zitiertenPassage des Tagebuchs schreibt er, jeder antikopernikanische Geist erkenneangesichts der inzwischen erreichten Geschwindigkeit, dass es unendlichleichter sei, diese zu steigern, als sie umzukehren. Und fügt hinzu, dassdarauf einerseits der „Vorteil des Nihilisten“ beruhe und andererseits das„ungemeine Wagnis“ der sich anbahnenden „theologischen Aktionen“.163

Mit dieser Diagnose, die der wenig später entstandene Essay Über die Linie(1950) weiter ausformuliert, ist in nuce auch der Handlungsrahmen vonHeliopolis umrissen. Denn die geistige Situation der Romanwelt ist durchSpannung zwischen nihilistischen Machttechnikern auf der einen und‚theologisch‘ experimentierenden Künstlern und Gelehrten auf der anderenSeite gekennzeichnet, und die Entwicklung bzw. ‚Bildung‘ des HeldenLucius de Geer vollzieht sich im Spannungsfeld zwischen diesen Polen.Nach verschiedenen Krisen und Prüfungen wird er am Ende in den gehei-men Zirkel des fernen Regenten aufgenommen, der die zukünftige neueWeltordnung vorbereitet.

Der Roman schließt mit der Vorausdeutung auf die zukünftige Rück-kehr des abwesenden, gottähnlichen Regenten nach Heliopolis und dieÜberwindung des in der Romangegenwart herrschenden Status quo, indem sich konservative und nihilistische Kräfte in einem „latentente[n] Bür-gerkrieg“164 die Waage halten. Diese Kräfte werden sowohl in Hinblick aufihre politische Programmatik als auch in Hinblick auf ihr Menschenbildunterschieden. Während die Partei des Prokonsuls eine konservative Elite-herrschaft und die Errichtung einer „historische[n] Ordnung“, in der „derMensch der Herrscher“ ist, anstrebt und eine auf Charakterbildung zielendeErziehung unterstützt, betrachtet die Landvogt-Partei den Menschen als ein

159 Ebd., S. 201.160 Koslowski, Der Mythos der Moderne, S. 86.161 Jünger, Heliopolis, S. 182. – Die Annahme, dass man in einem ‚Interregnum‘ lebe, einem

Zustand, in dem die alte Ordnung zusammengebrochen, die neue aber noch nicht erkennbargeworden ist, bildet nach Armin Mohler den Ausgangspunkt aller konservativ-revolutionä-ren Weltanschauungen; vgl. Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland1918–1932. Grundriß ihrer Weltanschauungen, Stuttgart 1950, S. 25 und 117.

162 Jünger, Heliopolis, S. 32.163 Jünger, Strahlungen, S. 8.164 Esselborn, Die Verwandlung von Politik in Naturgeschichte der Macht, S. 45.

154 Ernst Jünger

„zoologisches Wesen“ und begründet darauf ihren Plan zur Errichtung der„Herrschaft einer absoluten Bürokratie“ bzw. zur „Bildung von intelligentenInsektenstaaten“.165 Der Landvogt-Partei werden dabei sowohl typischeMerkmale moderner Industriegesellschaften als auch Charakteristika tota-litärer Systeme zugeschrieben. Dieses Bild entspricht der von Jünger (wieauch von Heidegger) vertretenen Deutung des Nationalsozialismus (undStalinismus), nach der es sich bei diesem um eine Spielart des modernenNihilismus, letztlich also eine Konsequenz der modernen Rationalisierunghandelt. So werden auch die Schädelvermessungen des Dr. Beckett und dieMenschenversuche des Dr. Mertens, die auf die nationalsozialistische ‚Ras-seforschung‘ und die medizinischen ‚Experimente‘ in den Konzentrations-lagern verweisen, ebenso wie die auf die Judenverfolgung anspielendenPogrome gegen die Parsen im Roman als zynische Anwendung einer reintechnischen Intelligenz dargestellt.166

Auch wenn die Partei des Prokonsuls, der der Romanheld dient, im Ver-gleich zum Terrorregime des Landvogts als die humanere Macht erscheint,repräsentiert sie im Roman doch kein zukunftsfähiges Modell. Vielmehrentsteht der Eindruck, dass Jünger mit den beiden Parteien die beiden inseiner Sicht vorherrschenden Weltanschauungen der ausgehenden Moder-ne, Konservatismus und Nihilismus, nebeneinander stellen und gleicherma-ßen historisieren wollte. Dies zeigt sich unter anderem an der Beschreibungder wichtigsten wissenschaftlichen Institutionen der beiden Parteien. DemLandvogt untersteht das Punktamt, dessen Wissenschaftler mit einer Kom-bination von Statistik und vergleichender Morphologie daran arbeiten, „dieBeziehung aller geformten Dinge auf das Koordinatensystem“ zu übertra-gen, um so eine absolute Herrschaft über den Raum zu ermöglichen.167

Das Pendant dazu bildet das vom Prokonsul kontrollierte Zentralarchiv, das„die Kenntnis des zeitlichen Zusammenhangs der Dinge“ bewahrt, dabeiaber ebenfalls mit statistischen Methoden und einer „zugleich mechanisier-te[n] und raffinierte[n] Intelligenz“ arbeitet.168 Hier wird also beiden Seiteneine positivistische Wissenschaftsauffassung zugeschrieben. An anderenStellen stellt sich das Verhältnis eher als Gegensatz von Empirie und Ganz-heitlichkeit dar. Beispielsweise im Disput zwischen dem dem Landvogtnahestehenden rothaarigen Techniker und dem Professor für Kultur-geschichte Orelli, den der Held zu Beginn des Romans noch auf dem Schiffbelauscht: Gegen den Techniker, der allein an „Fakten“, „Berichte[n]“ undverwertbaren „Resultate[n]“ interessiert ist, verteidigt der Akademiker eine

165 Jünger, Heliopolis, S. 175 f.166 Vgl. auch Ernst Jünger, Über die Linie, Frankfurt a.M., 1950, S. 16: „Selbst an den Plätzen,

an denen der Nihilismus seine unheimlichsten Züge aufweist wie an den großen physischenVernichtungsstätten, herrscht Nüchternheit, Hygiene und strenge Ordnung bis zuletzt.“

167 Jünger, Heliopolis, S. 38.168 Ebd., S. 201 f.

Jenseits von Humanismus und Nihilismus 155

ästhetisierend-einfühlende Betrachtung, die die Einzelbeobachtungen zueinem „Ganzen“ zusammenfügt.169 Lucius de Geer bewertet dieses Ge-spräch aus der Position des distanzierten Beobachters heraus für sichanschließend als ein Beispiel für die Differenz von „konservative[n] undnihilistische[n] Neigungen“.170

Lucius de Geer nimmt die Vorgänge in Heliopolis, obwohl er als Han-delnder in sie involviert ist, doch ähnlich distanziert wahr, wie die beidenBrüder in denMarmor-Klippen die Geschehnisse, die sich in ihrer Welt voll-ziehen. Und wie in der Erzählung löst sich der Held im Verlauf der Roman-handlung mehr und mehr aus alten Bindungen und tritt am Ende in eineandere, geistigere Sphäre über. Genau besehen handelt es sich dabei umeine doppelte Ablösung. Zum einen um eine vomMilitär- und Staatsdienst,dessen Anforderungen und Gesetzen er in dem Maße nicht mehr gerechtwerden kann, in dem seine metaphysischen Neigungen stärker werden unddie neuen Motive der Liebe und des Mitleids sein Handeln zu leiten begin-nen. Zum anderen löst er sich von der Lehre seines früheren Lehrers Nigro-montan, und damit von der naturphilosophischen Betrachtungsweise, inder die Brüder in den Marmor-Klippen noch den Weg zum Heil sahen.Unter dem Einfluss seines Mentors Pater Foelix wendet er sich im Verlaufder Handlung einer christlich geprägten Weltsicht zu und erkennt am Ende:„Christus war stärker als Plato, als Sokrates.“171

Die theologischen Reflexionen und christlichen Motive in Heliopolissind von Lesern und Interpreten schon früh bemerkt und zum Anlassgenommen worden, von einer ‚christlichen Wendung‘ Jüngers in der Nach-kriegszeit zu sprechen.172 Unabhängig davon, wie man Jüngers synkretisti-schen Umgang mit westlicher und östlicher, christlicher und gnostischerReligion bewertet, und unabhängig von der Frage, ob daraus eine welt-anschauliche Position des Autors abgeleitet werden kann, lässt sich feststel-len, dass im Zentrum der Romankonzeption eine esoterische Theologieund keine esoterische Naturphilosophie steht, wie noch in den Marmor-Klippen. Zugleich wird das naturphilosophische Wissen, das in JüngersWerk seit dem Abenteuerlichen Herzen mit dem Namen Nigromontans ver-bunden ist, im Roman selbst einer kritischen Revision unterzogen. InHelio-polis wird die esoterische Naturphilosophie vor allem durch den Bergratvertreten, der wie Lucius de Geer als früherer Schüler Nigromontans einge-führt wird. Gleich in der ersten Szene des Romans referiert der Bergrat imGespräch mit Lucius noch einmal des Meisters Geheimwissenschaft vonOberfläche und Tiefe. Er erinnert daran, dass „Nigromontanus‘ Lehre vonden Oberflächen“ das Licht zu den wichtigsten „Schlüsseln“ rechne, die die

169 Ebd., S. 25 und 28.170 Ebd., S. 31.171 Ebd., S. 412.172 Vgl. dazu Draganovic, Figürliche Schrift, S. 172 ff.

156 Ernst Jünger

„Fülle der Materie“ aufschließe.173 Und er gibt gleich im Anschluss mit derSchilderung seiner jüngsten Expedition in eine phantastische kristallischeLandschaft ein Beispiel dieser Betrachtungsweise:

Zusammenhänge von anderer Art als jener, die wir als Leben kennen, beginnenaufzuleuchten – der Stil der Baupläne. Sie bannen den Geist durch eine Spannung,durch ein Staunen, das der drohenden Vernichtung die Waage hält. […] Die Geis-teswelt tritt unverhüllt hervor, mit blendenderem Lichte, als es den Augen frommt.Sie öffnet einen Zirkel strenger und feierlicher Bilder, Pläne entschleiernd, die sonstverschlüsselt und menschlicher Betrachtung im Innersten der Heiligtümer verbor-gen sind. […] Bei solcher Berührung erahnt der Geist, was Maß und Ordnung amUniversum ist. Und er erfaßt, daß Linien, Kreise und alle einfachen FigurenAbgründe der Weisheit sind.174

Deutlich treten hier die Bezüge zu der in den Marmor-Klippen und in denStrahlungen praktizierten Wahrnehmungstechnik hervor. Hier wie dortoffenbart sich dem Betrachter im Medium des Lichts die geistige Ordnungder Natur, und hier wie dort wird dieser Gedanke mit der antiken Theorieeiner geometrischen und elementaren Grundstruktur des Kosmos in Verbin-dung gebracht. Zudem werden im Gespräch mit dem Bergrat die bekanntenFiguren des Kraftfeldes und der Kristallisation ins Spiel gebracht.

Innerhalb der perspektivischen Anordnung der unterschiedlichen wis-senschaftlich-weltanschaulichen Schulen im Roman nimmt der Bergrat diePosition eines bedeutenden Opponenten der nihilistischen Tendenzen ein.Durch die überdeutlich akzentuierte Konzentration auf die anorganisch-mineralische Welt steht seine Naturbetrachtung insbesondere im Gegensatzzu den Experimenten, die der Chefarzt des Landvogts und Leiter des Toxi-kologischen Instituts, Dr. Mertens, am organischen Leben anstellt. Dieserbefasst sich mit der Belebung toter Materie in „physiologische[n] Fabri-ken“, wozu er widerliche „plasmatische Kulturen“ anlegt.175 In Lucius’Drogenrausch kehrt sein Labor dann später als alptraumhafte Vision wie-der, die sowohl Anklänge an Dantes Hölle als auch an nationalsozialistischeKonzentrationslager aufweist.176 Wie die Schinderhütte in den Marmor-Klippen erscheint das Toxikologische Institut als böser Ort, an dem sich dernihilistische Geist mit vitalistischer Lebenskraft, mit dem irdischen Elementverbindet. Der Erzähler bezeichnet es auch als „grauenvolle Küche der Tita-nenwelt“177 und „Eingeweide der Titanenwelt“.178 Im Kontrast dazu reprä-sentiert der Bergrat, wie in der Erzählung Pater Lampros, die kulturelle

173 Jünger, Heliopolis, S. 15.174 Ebd., S. 17 f.175 Ebd., S. 369.176 Zum topischen Vergleich der nationalsozialistischen Konzentrationslager mit Dantes Inferno

in der ‚Lagerliteratur‘ vgl. Thomas Taterka, Dante Deutsch. Studien zur Lagerliteratur, Ber-lin 1999 (= Philologische Studien und Quellen, Bd. 153).

177 Jünger, Heliopolis, S. 399.178 Ebd., S. 411.

Jenseits von Humanismus und Nihilismus 157

Überlegenheit einer naturphilosophischen Betrachtungsweise, die geistigeOrdnung im Elementaren stiftet und sich so gegenüber mythischer Gewaltbehauptet. Sie setzt der Eigengesetzlichkeit des organischen Lebens, desPlasmas, und seiner nihilistisch-naturwissenschaftlichen Manipulation einhöheres Formprinzip entgegen und beruht auf der Überzeugung, dass eineVergeistigung allein in der Sphäre unsichtbarer physikalischer Prozessestattfindet.179

Am Ende des Romans empfindet der Held jedoch die Kälte des Anorga-nischen. Rückblickend stellt er fest, dass sich für ihn „beim Anstieg in dieKristallwelt und in der Ahnung ihrer überirdischen Paläste die Wärme ver-mindert und die Luft verdünnt“ hatte.180 Es ist dies der Moment, an demer die Überlegenheit der christlichen über die platonische Weltsicht erkenntund sich bewusst wird, dass Pater Foelix den Einfluss Nigromontans aufsein Denken nachhaltig erschüttert hat: Die „Hieroglyphen-Säule“ ist ein-gestürzt.181 Nigromontan und seine Schule rücken damit in eine kritischeDistanz, werden im Roman allerdings auch anders charakterisiert als in denfrüheren Schriften Jüngers. So hebt Jünger hier zugleich magische undrationale Züge an Nigromontans Denken hervor und rückt ihn dabei in dieNähe der mit Ziffern und logischen Figuren operierenden Machttechnik,die auf Seiten beider Parteien anzutreffen ist. Als Lucius noch unter demEinfluss Nigromontans stand, hatte er, wie er sich gegen Ende eingesteht,„gehofft, daß sich Heliopolis zum alten Glanze, zur feierlichen Würdemagischer Städte erheben würde, in denen ein höchstes, eingeweihtes Wis-sen das Leben bewegte wie ein Uhrwerk, das auf Saphiren schwingt.“182

Damals hatte er Christus gehasst, weil dieser den „Schwerpunkt der Ge-schichte transzendiert“ hatte: „Er hatte eine Unbekannte in sie eingeführt.Der Mensch war unberechenbar geworden; die alten Gleichungen gingennicht mehr auf.“183

Nigromontans Lehre wird hier als Glaube an immanente Gesetzmäßig-keiten charakterisiert, der keinen Raum für Transzendenz und Unbestimmt-heit lässt. Sie gleicht damit aber viel eher dem Credo von Jüngers Frühwerk,seinem ‚Alten Testament‘, als der Naturphilosophie, die er in seinen Textenaus den dreißiger Jahren mit dem Namen Nigromontan verbindet. Zudemunterscheidet sich Lucius’ ‚christliche Wendung‘ kaum vom Erkenntnis-und Initiationsprozess, den die beiden Brüder in den Marmor-Klippendurchleben. Und dem Opfer, das ein Eckpfeiler der neuen Lehre des PaterFoelix ist, wird schon in der Erzählung metaphysische Bedeutung beigemes-

179 Peter Koslowski hat die Opposition von Organischem und Anorganischem als Reflex desgnostischen Leib-Geist-Dualismus gedeutet; vgl. Koslowski, DerMythos derModerne, S. 94.

180 Jünger, Heliopolis, S. 413.181 Ebd., S. 412.182 Ebd.183 Ebd.

158 Ernst Jünger

sen.184 Gleiches lässt sich für die Referenz auf das Licht bzw. den Äther fest-stellen. Wie in der Erzählung wird die Sphäre des Absoluten und Unteil-baren im Roman mit der unsichtbaren Ordnung der Lichtstrahlen identifi-ziert.185 Die Differenz zu den früheren Texten besteht so gesehen in ersterLinie darin, dass Jünger die Vorstellungen von Transzendenz und Indeter-minismus inHeliopolismehr theologisch als physikalisch konnotiert.

Dass die Einarbeitung ‚theologischer‘ Motive nicht als Hinwendungzum Humanismus, sondern als Gegenentwurf zu diesem verstanden werdenmuss, darauf hat bereits Peter Koslowski hingewiesen.186 Im Roman kriti-siert Pater Foelix den „Humanismus“ Lucius gegenüber als Ausdruck desneuzeitlichen Rationalismus, der auf der Überzeugung beruht, dass „derMensch das Maß der Dinge“ ist: „Das ist einer der gewaltigen Sprüche, dergewaltigen Irrtümer, die sich durch die Jahrtausende fortschleppen.“187

Später stellt Phares, der Lucius Einblick in die geheimen Pläne des Regentengibt, den atheistischen Charakter dieses Irrglaubens am Beispiel des nihilis-tischen Mauretanier-Ordens heraus:

[D]as Wesen dieses Ordens liegt darin, daß er die Welt bei hinreichendem Abstandan jedem ihrer Punkte für meßbar hält. Aus diesem Grunde zielt seine Auswahl aufdie kühlsten Rechner ab. Das setzt voraus, daß weder Freiheit, noch Unsterblich-keit besteht – nichts Göttliches, mit einem Wort. Nur so ist das Zusammenspielder geometrischen und automatischen Charaktere zu begründen, auf dem dieHerrschaft ruht. Es setzt durchdachte Abtötung voraus. Dafür tritt dann derMensch als autonome Größe ins Schicksal ein. Er hat die Zeit gewählt. Wir aberbestehen sowohl auf Freiheit wie auf Unsterblichkeit.188

Der Nihilismus erscheint in dieser Sicht als eine ins Machttechnischegehende Steigerung des Glaubens an die menschliche Autonomie, der auchden Humanismus trägt. Anders gesagt: Humanismus und Nihilismus sindnur verschiedene Spielarten anthropozentrischen Denkens. Allerdings istdieses Denken erst durch die nihilistische Wissenschaft und Politik somachtvoll geworden, dass es den Einzelnen zu vernichten droht und ihnzugleich zur Entscheidung drängt. Der Nihilismus sei eine „Grundmacht,deren Einfluß sich niemand entziehen kann“, es sei denn durch das „Op-

184 Die Funktion des Opfers wird Lucius von Pater Foelix eröffnet. Dieser Lehre zufolge wirdim Opfer die „naturgeschichtliche Notwendigkeit“ in der Historie aufgehoben: „wir trennendann von unserem Naturanspruche einen Teil zum Ruhme Gottes ab. Das ist der Teil, dertausendfältig, der ewig zinst. Er mag gering sein – er kann aber auch unser ganzes natürlichesLeben einschließen“ (ebd., S. 248)

185 Zur Bedeutung des Lichts im Roman vgl. Danièle Beltran-Vidal, Visages de Ernst Jüngerdans ‚Heliopolis‘, in: Allemagne d’aujourd’hui N.S. 139 (1997), S. 117–134, bes. S. 132 f.;und Draganovic, Figürliche Schrift, S. 204–219.

186 Vgl. Koslowski, Der Mythos der Moderne, S. 87.187 Jünger, Heliopolis, S. 244.188 Ebd., S. 428. Auch in Über die Linie wird die auf „die reine Meßkunst reduzierte Wissen-

schaft“ als Signum des Nihilismus angeführt (Jünger, Über die Linie, S. 23).

Jenseits von Humanismus und Nihilismus 159

fer“, heißt es im Essay Über die Linie (1950).189 Auf diesem Hintergrundlässt sich die Geschichte des Romanhelden, der seine Teilhabe an der Machtaufgibt und so Zugang zum metaphysischen Reich gewinnt, als Vorausdeu-tung auf ein zukünftiges ‚Überschreiten der Linie‘ lesen. Indem Jünger dieÜberwindung des Nihilismus mit seiner Opferphilosophie verknüpft undals metaphysische Erfahrung begründet, nimmt er eine deutliche Gegen-position zu den humanistischen Erneuerungsprogrammen in der Nach-kriegszeit ein. Gleichzeitig gerät er aber auch – ohne sich dessen bewusst zusein – in Gegensatz zur seinsphilosophisch begründeten Nihilismus- undHumanismuskritik Heideggers.190

189 Jünger, Über die Linie, S. 10.190 Dass Jünger selbst sein Konzept einer Überwindung der nihilistischen Moderne als Unter-

nehmen im Heideggerschen Geiste begriff, wird schon an der erstmaligen Publikation desEssays Über die Linie in der Festschrift zu Heideggers 60. Geburtstag im Jahr 1955 deutlich.Heidegger stellte die prinzipielle Differenz zwischen dem seinsphilosophischen und demmetaphysischen Denkansatz dann in seiner fünf Jahre später (in der Festschrift zu Jüngers60. Geburtstag) publizierten Erwiderung klar; vgl. Martin Heidegger, Über „Die Linie“, in:Armin Mohler (Hg.), Freundschaftliche Begegnungen. Festschrift für Ernst Jünger zum 60.Geburtstag, Frankfurt a.M. 1955, S. 9–45. Siehe hierzu Günter Figal, Der metaphysischeCharakter der Moderne. Ernst Jüngers Schrift „Über die Linie“ (1950) und Martin Heideg-gers Kritik „Über ‚Die Linie‘“ (1955), in: Hans-Harald Müller/Harro Segeberg (Hg.), ErnstJünger im 20. Jahrhundert, München 1995, S. 181–197.

160 Ernst Jünger

IV. Gerhard Nebel

1. Zwischen Wissenschaft und Kunst

Als einer der Ersten hat der Schriftsteller Gerhard Nebel in den dreißigerJahren Jüngers Abkehr von der Geschichte registriert und aus sympathisie-render Sicht als ‚metaphysische Wendung‘ beschrieben. In seinem 1938 ver-fassten Versuch über Ernst Jünger konstatiert er eine zwar noch partielle undwiderspruchsvolle, aber doch deutlich wahrnehmbare Abkehr Jüngers vom„Hang zur Utopie“, der noch die Totale Mobilmachung und den Arbeitergeprägt habe.1 In Jüngers Essay Über den Schmerz sowie in der Natur-betrachtung einzelner Passagen in der ersten Fassung des AbenteuerlichenHerzens und im Dalmatinischen Aufenthalt erkennt Nebel einen Denk-ansatz, der ein anderes, existentielleres ‚Sein‘ erschließt als die „in dieZukunft gewendete Romantik“ der Kriegsschriften oder des Arbeiters.2 Diezweite Fassung des Abenteuerlichen Herzens, die er kurz darauf erhält, bestä-tigt ihn in diesem Urteil. Zudem kann er nun feststellen, dass Jünger seineNeigung, „metaphysisch zu experimentieren“, jetzt auch in sinnlich-bild-liche Schreibweise umgesetzt habe.3 Die Marmor-Klippen deutet er dannEnde 1939 als symbolische Erzählung von der Herrschaft und Überwin-dung des „abendländischen Nihilismus“.4

In literaturgeschichtlichen Darstellungen findet Gerhard Nebel allen-falls als Gestalt aus dem Umfeld Jüngers Erwähnung, oder als Verfasser desAufsatzes Auf dem Fliegerhorst, der 1941 beinahe zum Verbot der NeuenRundschau führte.5 Forschungsarbeiten zu ihm gibt es – von der Behand-

1 Gerhard Nebel, Feuer und Wasser, Hamburg 1939, S. 212 (Versuch über Ernst Jünger). –Nebel hat zahlreiche weitere Aufsätze und auch zwei der ersten Monographien über Jüngerverfasst: ders., Ernst Jünger und das Schicksal des Menschen, Wuppertal 1948; und ders.,Ernst Jünger. Abenteuer des Geistes, Wuppertal 1949.

2 Nebel, Feuer und Wasser, S. 212. – Tatsächlich hat Nebel mit seinen Aufsätzen und Bücherndie Veränderung des Jünger-Bildes in den vierziger Jahren stark beeinflusst. Dies zeigen etwadie Rezensionen von Karl Korn, Gerhard Nebel: Feuer und Wasser, in: Das Reich, 4. August1940; Robert Dvorak, Von der Metaphysik zur Theologie, in: Frankfurter Allgemeine Zei-tung, 28. Januar 1950; Erhart Kästner, Der Weg aus dem Nihilismus, in: Schwäbische Lan-deszeitung (Augsburg), 16. August 1950.

3 Nebel, Feuer und Wasser, S. 243 (Zur zweiten Fassung des ‚Abenteuerlichen Herzens‘).4 Gerhard Nebel, Ernst Jünger und die Anarchie, in: Monatsschrift für das deutsche Geistesle-

ben 41 (1939), Novemberheft, S. 610–616, hier S. 611.5 Vgl. Gerhard Nebel, Auf dem Fliegerhorst, in: Die Neue Rundschau 52 (1941),

S. 606–608.

lung dieses Aufsatzes und von einigen Seiten in Lothar Bluhms Studie zumTagebuch im ‚Dritten Reich‘ abgesehen6 – nicht. Dafür können verschie-dene Umstände verantwortlich gemacht werden: die in frühen Rezensionenund kritischen Äußerungen von Jünger selbst verbreitete Meinung, eshandle sich bei Nebel um einen bloßen Epigonen Jüngers,7 das ‚Unzeitge-mäße‘ seiner späteren philosophischen Publizistik8 und die Tatsache, dasssich seine im engeren Sinn literarische Produktion auf die Gattungen Tage-buch, Reisebericht und Essay beschränkte. Zudem hat Nebels fast aus-schließliche Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte in den fünfziger,sechziger und siebziger Jahren den Blick auf die literarisch und zeit-geschichtlich interessanteren Essays und Tagebücher aus den dreißiger undvierziger Jahren verstellt.9

6 Vgl. Heidrun Ehrke-Rotermund, Gegen die „Insektifizierung des Menschen“. GerhardNebels Kritik an der Luftwaffe des ‚Dritten Reiches‘, in: Zeitschrift für Germanistik, NF 2(1999), S. 375–399; Heidrun Ehrke-Rotermund/Erwin Rotermund, Zwischenreiche undGegenwelten. Texte und Vorstudien zur ‚Verdeckten Schreibweise‘ im „Dritten Reich“,München 1999, S. 547–561; Lothar Bluhm, Das Tagebuch im Dritten Reich. Zeugnisse derInneren Emigration von Jochen Klepper bis Ernst Jünger, Bonn 1991 (= Studien zur Litera-tur der Moderne, Bd. 20), S. 169–176. Zu Nebels Technik- und Moderne-Kritik in dendreißiger und vierziger Jahren siehe Gregor Streim, ‚Tempo – Zeit – Dauer‘. Zum phänome-nologischen Technikdiskurs im ‚Dritten Reich‘, in: Erhard Schütz/Gregor Streim (Hg.),Reflexe und Reflexionen von Modernität 1933–1945 (= Publikationen zur Zeitschrift fürGermanistik, NF, Bd. 6), Bern u. a. 2002, S. 41–59.

7 So merkte beispielsweise Helmut Schelsky schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit kri-tisch an, Jünger sei für Nebel „im Ausdruck und Inhalt in einer Weise zum verbindlichenVorbild geworden“, die an „Manier“ grenze (Helmut Schelsky, Das Elementare und dasKünstliche. Betrachtungen zu den Essays Gerhard Nebels, in: Merkur 3 [1949], H. 11,S. 1138–1144, hier S. 1144). Diese Einschätzung setzt sich bis in die literaturgeschichtlicheUntersuchung Lothar Bluhms fort, der Nebels Kriegstagebücher in einem Unterkapitel „Ta-gebücher im Schatten Ernst Jüngers“ behandelt (vgl. Bluhm, Das Tagebuch im DrittenReich, S. 162). Jünger selbst hat sich nach anfänglicher Nähe bald von Nebel distanziert.Zur Entwicklung dieser Beziehung vgl. Ernst Jünger/Gerhard Nebel, Briefe 1938–1974,hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Ulrich Fröschle und Michael Neumann,Stuttgart 2003. Vgl. auch Jüngers Briefwechsel mit dem gemeinsamen Bekannten CarlSchmitt: Ernst Jünger/Carl Schmitt, Briefe 1930–1983, hg., kommentiert und mit einemNachwort von Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999, hier S. 210, 219, 221, 225, 229 und 237.Zur späteren Distanzierung siehe den Kommentar ebd., S. 636 f.

8 Auf das Unzeitgemäße von Nebels Werk und auf die mangelnde Resonanz wies JoachimGünther in seinem Nachruf auf den 1974 verstorbenen Autor hin; vgl. Joachim Günther,o.T. [Nachruf auf Gerhard Nebel], in: Neue Deutsche Hefte 21 (1974), S. 886–889. EbensoSiegfried Bein, der Nebels Buch Zeit und Zeiten (1965) einen „Generalangriff gegen denZeitgeist“ nannte; vgl. Siegfried Bein, Objektive Zeit und Erlebniszeiten. Zu Gerhard Nebelsjüngstem Werk [Rezension], in: Welt und Wort 21 (1966), S. 43f, hier S. 43. Ähnliche Wer-tungen finden sich in zwei neueren Artikeln von Hans Ulrich Treichel, Bekennender Hinter-wäldler. Ausgewählte Essays von Gerhard Nebel [Rezension], in: Neue Zürcher Zeitung,10. Mai 2001; und Sebastian Kleinschmidt, Trotz gegen den Lauf der Welt. Erinnerungenan Gerhard Nebel, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie (2000), S. 289–303, bes.S. 301.

9 Dies zeigt sich auch an der Zusammenstellung einer 2000 erschienenen Auswahl von NebelsEssays, die fast ausschließlich Arbeiten aus den sechziger und siebziger Jahren präsentiert:

162 Gerhard Nebel

1903 geboren, gehörte Nebel ebenso wie der gleichaltrige Egon Viettazu den Intellektuellen der Nachkriegsgeneration, deren Denken stark vonder Phänomenologie und Existenzphilosophie geprägt war.10 Er begannerst im ‚Dritten Reich‘ zu schreiben und veröffentlichte 1939 in der Ham-burgischen Verlagsanstalt seinen ersten Essayband Feuer und Wasser, in demer eine Form von Naturbetrachtung erprobte, die offensichtlich von derProsa des (im selben Verlag erschienenen) Abenteuerlichen Herzens inspiriertwar. Den hier eingeschlagenen Weg verfolgte er in den später unter demTitel Von den Elementen (1947) zusammengefassten Essays und in seinenKriegstagebüchern aus den Jahren 1942 bis 1945 – Bei den nördlichen Hes-periden (1948), Auf ausonischer Erde (1949) und Unter Partisanen undKreuzfahrern (1950) – weiter, bis er sich nach Kriegsende dann einer pro-testantisch-theologisch geprägten Zeitkritik zuwandte, die vor allem denEssayband Tyrannis und Freiheit (1947) und die Studie GriechischerUrsprung (1948) prägt.11

Nebels Texte aus den dreißiger Jahren und der Kriegszeit lassen sichnicht als unzeitgemäß klassifizieren, jedenfalls dann nicht, wenn mandarunter eine Abtrennung von zeitgenössischen Diskursen oder einen for-malen Traditionalismus versteht. So unterscheiden sie sich deutlich von derKulturkritik konservativer Autoren aus dieser Zeit. Seine Essays orientierensich an phänomenologischen und seinsphilosophischen Konzepten, neh-men Bezug auf die viel beschworene Wissenschaftskrise und reagieren auf

Gerhard Nebel, Schmerz des Vermissens. Essays, ausgewählt von Gerald Zschorsch, miteinem Nachwort von Sebastian Kleinschmidt, Stuttgart 2000. – Allerdings konnte auchNebels erstaunliche Produktivität auf dem Gebiet der philosophischen Publizistik – in denfünfziger, sechziger und siebziger Jahren erschienen etwa 30 Einzeltitel, darunter die Mono-graphien Die Geburt der Philosophie (1967), Sokrates (1969) und Hamann (1973) – nichtverhindern, dass er „bereits zu Lebzeiten in Vergessenheit geriet“ (Annette Rink, GerhardNebel: Schmerz des Vermissens [Rezension], in: Weimarer Beiträge 47 [2001], S. 633–636,hier S. 634).

10 Nebel studierte Altphilologie und Philosophie u. a. bei Husserl, Heidegger und Jaspers undwurde 1927 in Heidelberg von Ernst Hoffmann mit einer Arbeit über Plotins Kategorien derintelligiblen Welt (erschienen Tübingen 1929) promoviert. Von 1928 bis 1933 und Mitte der30er Jahre war er Studienassessor im höheren Schuldienst. Im Mai 1937 wurde er Mitgliedder NSDAP. (Vgl. die Ortsgruppenkartei im Bundesarchiv Berlin, OK P0059.) Zwischen1935 und 1938 unternahm er längere Reisen nach Ägypten, Ostafrika und Griechenland.Während des Krieges diente er zunächst als Dolmetscher beim Stab der Luftwaffe in Parisund gehörte dort zum ‚Georgsrunde‘ genannten Kreis um General Hans Speidel und ErnstJünger, bis er 1942, u. a. wegen des von Goebbels inkriminierten Aufsatzes Auf dem Flieger-horst, als Bausoldat auf die Kanalinseln strafversetzt wurde. 1943 und 1944 war er in Italienstationiert. Das Fragment seiner Autobiographie wurde 2003 aus dem Nachlass publiziert:Gerhard Nebel, „Alles Gefühl ist leiblich“. Ein Stück Autobiographie, hg. von Nicolai Rie-del, Marbach 2003 (= Marbacher Bibliothek, Bd. 6).

11 Armin Mohler schrieb mit Blick auf Tyrannis und Freiheit, Nebels Ziel sei „die tiefere Durch-dringung und Wiedergewinnung der Antike und des durch den Zusammenbruch uns neuals Aufgabe gestellten Christentums“ (Armin Mohler, Gerhard Nebel und der Wuppertaler„Bund“, in: Neue Schweizer Rundschau NF 19 [1948/49], S. 692–695, hier S. 693).

ZwischenWissenschaft und Kunst 163

sie mit der Erprobung einer sinnlich-reflexiven Schreibweise. Für sie gilt,was Joachim Günther in einer Rezension des späteren Buches über die Vor-sokratiker angemerkt hat, dass nämlich Nebels Arbeiten alle ein „Zwischen-ding von science, literature, philosophy, critics“ darstellen.12 HelmutSchelsky – der ehemalige Assistent Hans Freyers und Arnold Gehlens – hatNebels Verfahren im gleichen Sinn schon früher als „geistig hintergründigeDeskription“ charakterisiert, die „eine eigentümliche Zwitterstellung zwi-schen Wissenschaft und Kunst“ einnehme.13 Zeittypisch erscheinen dieseEssays in historischer Sicht aber vor allem deshalb, weil sie Orientierungnicht mehr auf humanistische Weise in Bildung und Geschichte suchten,sondern eine Einheit des Wissens auf naturphilosophischer Basis entwar-fen. Wie manche andere Autoren der ‚jungen Generation‘ – beispielsweiseEgon Vietta – stellte Nebel den eigenen humanistischen Bildungshinter-grund radikal in Frage und suchte in den dreißiger und frühen vierzigerJahren einen unmittelbaren, nicht durch Bildung verstellten Zugang zum‚Sein‘ zu gewinnen.14 Und er bemühte sich darum, die Kluft zwischenNatur- und Geisteswissenschaften zu überbrücken, indem er den kulturel-len, technischen und natürlichen Phänomenen eine einheitliche naturphi-losophische Perspektive unterlegte.

12 Joachim Günther, Gerhard Nebel: Die Geburt der Philosophie, in: Neue Deutsche Hefte 14(1967), S. 198–204, hier S. 199. – Nebel selbst hat sich in der Tradition des Dilettantismusder Goethezeit gesehen und den Dilettanten als jemanden definiert, der im Gegensatz zumGelehrten in der Lage sei, „neue Impulse zu empfangen“ und Wissen „in schöpferischeAktionen umzusetzen“; vgl. Gerhard Nebel, Griechischer Ursprung, 1. Bd., Wuppertal1948, S. 6.

13 Schelsky, Das Elementare und das Künstliche, S. 1143.14 Zu Nebels Kritik am museal gewordenen bildungsbürgerlichen Humanismus vgl. Gerhard

Nebel, Das Griechentum als Museum, in: Monatsschrift für das deutsche Geistesleben 41(1940), H. 2, S. 43–52: „Den Griechen kann man nur dann begegnen, wenn man überReste derselben Kraft verfügt, die die Werke, die man zu verstehen sucht, hervorgebrachthat. Griechenfreund kann man nur sein durch den eigenen Gehalt an Sein, und so ist dennjede auf sich gestellte Beziehung zur Antike – und das ist der heutige Humanismus – insofernsinnlos, als sie nicht in die Nähe des Gemeinten kommt, sondern bei einem blassen undunechten Bilde haltmacht […]. Nur wer aus eigener Kraft Metaphysik zu verwirklichen wagtund dabei zunächst ganz ohne die Griechen auskommt, vermag mit ihnen einen angemesse-nen Umgang zu pflegen“ (S. 46). Die Kritik des Gymnasiallehrers Nebel richtet sich dabeivor allem gegen die positivistische Klassische Philologie und gegen die „ins Bürgerliche undLiberale übersetzte Karikatur“ (S. 44) echter Bildung und nicht so sehr gegen die Institutiondes humanistischen Gymnasiums, in der er noch eine den Angriffen des Massenzeitalterstrotzende Bastion echter Bildung erkennt. Die Bewegung des ‚dritten Humanismus‘ betrach-tet er dagegen mit Skepsis. Zu Nebels Bewertung des humanistischen Gymnasiums vgl. auchGerhard Nebel: Der Studienrat, in: Monatsschrift für das deutsche Geistesleben 42 (1941),H. 1, S. 15–20. Zur Humanismus-Diskussion im ‚Dritten Reich‘ vgl. Kap. VI, 5.

164 Gerhard Nebel

2. Konzeptionen des Elementaren: die EssaybändeFeuer und Wasser (1939) und Von den Elementen (1947)

Im Zentrum von Nebels Vereinheitlichungsbestreben steht der Begriff desElementaren, der insbesondere durch Jüngers Schriften aus den zwanzigerJahren popularisiert worden war.15 Wie Jünger erkennt er in der Elemen-tenlehre ein Modell, mit dem sich der Natur- und Seinszusammenhang desmenschlichen Lebens erfassen lässt. Die Elemente seien eine „zu allen Zei-ten häufig benutzte Pforte zum Sein“.16 Und wie Jünger legitimiert er dieAktualisierung mit dem Hinweis auf die moderne Physik, die alle natürli-chen Phänomene ebenfalls auf mikrophysikalische Vorgänge zurückführe.17

Allerdings wird der Begriff des Elementaren von Nebel nicht in einer ein-heitlichen Bedeutung verwandt. Vergleicht man die in Afrika entstandenenEssays aus Feuer und Wasser mit den Anfang der vierziger Jahre geschriebe-nen Essays, die in Von den Elementen enthalten sind, sowie mit den Schil-derungen in den Kriegstagebüchern, so lässt sich beobachten, dass der Autordas Elementare anfangs eher als Wahrnehmungsmodus behandelt und spä-ter stärker im Sinne der spätantiken Elementenlehre auffasst.

Nach den einführenden Bemerkungen dürfte bereits deutlich gewordensein, dass es sich bei den afrikanischen Essays nicht um Reisebeschreibungenhandelt. Landschaft, Klima, Flora, Fauna und gelegentlich auch Kultur Afri-kas werden hier vielmehr zum Gegenstand einer philosophisch-anthropolo-

15 Neben Jünger und Nebel bemühten sich auch andere deutsche Autoren in den dreißiger undvierziger Jahren darum, die Elementenlehre als Darstellung- und Deutungsmuster zu aktuali-sieren, wie beispielsweise Carl Schmitt mit seiner 1942 im Leipziger Reclam-Verlag publi-zierten Broschüre Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung. Nebel führte währenddes Krieges über dieses Thema auch Gespräche mit Schmitt. Vgl. Jünger/Nebel, Briefe1938–1974, S. 50. Und Schmitt hat nach dem Krieg bei Lektüre von Nebels Von Inseln,Flüssen und Bergen die Verwandtschaft dieser Sammlung mit Land und Meer konstatiert; vgl.Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, hg. v. Eberhard Freiherrvon Medem, Berlin 1991, S. 59 (Eintrag vom 30. April 1948).

16 Gerhard Nebel, „Feuer und Wasser“. Über ein neues Buch von der Begegnung mit dem Sein,in: Monatsschrift für das deutsche Geistesleben 41 (1939), Dezemberheft, S. 650–652, hierS. 650.

17 Nebel weist an einer Stelle in Von den Elementen selbst auf diesen Kontext hin: „Wir alle ken-nen die Theorie der vier Elemente, jenes Lehrstück von Erde, Wasser, Luft und Feuer, dasvon den Griechen auf uns gekommen ist […]. [D]iese angeblichen Elemente sind ja längstteils als zusammengesetzte Körper, teils als bloße Prozesse entlarvt, und an die Stelle ihrerVierzahl sind die einigen hundert Urkörper der Chemie getreten, die sich freilich nun auchschon wieder als Komposition herausgestellt und vier anderen letzten Einheiten Platzgemacht haben, den positiv und den negativ geladenen Protonen, den Elektronen und Neu-tronen“ (Von den Elementen, Wuppertal 1947, S. 9 [Von Inseln, Flüssen und Bergen]). Spä-ter bezieht er sich, wie noch gezeigt werden wird, dann direkt auf die Quantenphysik, die inder Nachkriegszeit bei ihm, ähnlich wie bei Jünger, zur Berufungs- und Legitimationsinstanzfür die propagierte metaphysische Wende wird.

Konzeptionen des Elementaren 165

gischen Betrachtung, die auf die Wesenhaftigkeit von Natur, Geschichteund Zivilisation gerichtet ist. Ihre Form ist eine phänomenlogischeBeschreibung, die alle Beobachtungen und Erlebnisse als raum-zeitlicheBewusstseinszustände reflektiert. Dabei repräsentiert ‚Afrika‘ die ErfahrungvonWeite, Stille und Dauer, die Erfahrung des „ruhenden Augenblick[s]“.18

In dieser Weise fungiert es als Gegenbild der modernen westlichen Zivilisa-tion, als deren Wesen Nebel die Zerstückelung von Raum und Zeit in derallumfassenden Beschleunigung erkennt. So entlegen oder eskapistisch dieafrikanischen Essays anmuten mögen, sind sie daher immer auch als Zeit-kritik zu lesen. Allerdings nicht als politische Zeitkritik, sondern als Zeitkri-tik im Sinne einer radikalen Infragestellung des modernen Rationalismus,als eine im einzelnen durchaus ambivalente Problematisierung der ‚Seinsfer-ne‘ der westlichen Zivilisation, von Fortschrittsglauben, Technisierung undMassenkultur.19 Es werde gewagt, „den verschlossenen und an Wundernreichen Raum der Metaphysik zu betreten, Fragen an den Gott zu richtenund das Sein zu feiern“, schreibt Nebel in einer Selbstrezension seiner Essay-sammlung.20 Afrika, seine Menschen, Tiere und Landschaften, repräsentie-ren bei ihm dabei ein ursprüngliches und urbildhaftes Sein. Ein Sein, daszugleich aber auch formlos und geschichtslos ist.21 Es mangele „dieser rei-

18 Nebel, Feuer und Wasser, S. 15 (Weite in Afrika). – Dieser und weitere Texte aus Feuer undWasser und Von den Elementen erschienen zwischen 1939 und 1941 auch als separate Aufsätzein der (ebenfalls in der Hanseatischen Verlagsanstalt verlegten) Monatsschrift für das deutscheGeistesleben.

19 Dieser Standpunkt begründet auch Nebels zwiespältige Haltung gegenüber dem ‚DrittenReich‘ und seiner ‚ambivalenten Modernität‘. Siehe hierzu Streim, ‚Tempo – Zeit – Dauer‘.

20 Nebel, „Feuer und Wasser“. Über ein neues Buch von der Begegnung mit dem Sein, S. 650.21 Nebel übernimmt von Spengler die Unterscheidung zwischen ‚geschichtslosen Naturvölkern‘

und ‚Fellachenvölkern‘ (vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisseeiner Morphologie der Weltgeschichte, München 1980 [Erstveröffentlichung 1918/22],S. 1005 f.) und wendet sie im Essay Neger und Inder auf das Verhältnis von Schwarzen undIndern in Afrika an, wobei insbesondere die Beschreibung der Inder – als „geriebene undskrupellose Händler“, „späte Schwächlinge, deren lauernde und saugende Augen auffallen“(Nebel, Feuer und Wasser, S. 59 f.) –, aber auch die Charakterisierung der geschichtsunfä-higen schwarzen Urbevölkerung rassistische Züge aufweisen: „[D]em Neger aber fehlen Ver-gangenheit und Zukunft, Erinnerung und Sorge, Verantwortung und Planung. […] Er istder Mensch des Augenblicks, nicht der hohen Seinsberührung, die die Gefüge der Zeitdurchschritten hat, sondern des tierischen »Jetzt« vor der Zeit. So ist er wesentlich geschichts-los und unfähig, Staaten zu bilden“ (ebd., S. 58). Diese Sichtweise begründet auch bei Nebelden Glauben an die Überlegenheit der weißen Rasse – vor allem in dem Essay Herr undSklave – und rechtfertigt zugleich die Kolonisation des afrikanischen Kontinents. Er unter-scheidet dabei allerdings – typisch für den deutschen Kolonisationsdiskurs in dieser Zeit –zwischen einem negativen, der westlichen Zivilisation verpflichteten Kolonisationsmodell, indem die afrikanische Weite durch die westliche ‚City‘ ersetzt wird, und einem positiven, vorallem durch die deutschen Afrika-Pioniere, aber auch durch die faschistischen italienischenKolonialherren repräsentierten Modell, das die wesenhafte Weite nicht zerstört, sonderntechnisch überformt (insbesondere in den Essays Karl Peters,Mombasa und Massaua). Nebelhat die Aufsätze Neger und Inder, Karl Peters, Herr und Sklave undMassaua in den nach demKrieg erschienenen Band Von den Elementen nicht mehr aufgenommen, zum einen weil, wie

166 Gerhard Nebel

nen Naturlandschaft an Geformtheit durch die menschliche Hand“,bemerkt er.22

Nebel orientiert sich bei seiner Naturbeschreibung in den afrikanischenEssays an morphologischen, gestalttypologischen und auch (neo)plato-nischen Darstellungs- und Erklärungsmustern. Indirekt bezieht er damitgegen eine zeitlich-kausale Erklärung im Sinne der Evolutionstheorie Stel-lung. Das folgende Beispiel mag dies verdeutlichen:

Nirgends ist auf der Erde ein Land wie dieses, in dem die Tiere beinahe mehr nochals die Pflanzen das Gesicht der Landschaft ausmachen. Herden prall geformterZebras ziehen äsend über den Weg, untermischt mit Gnus, deren fahle Farbe undgewaltig plumpes Haupt von der harmonischen Proportion und Färbung ihrerGenossen absticht. Man wird daran erinnert, daß Pferd und Rind die beidenGrundideen des Haustieres sind – darauf weist auch die berühmte Beschreibungbeider Formen in den Georgica Vergils –, und hier begegnet man ihnen in einerleichten Veränderung und Übersetzung ins Wilde. […] Abseits halten sich dieElen-Antilopen, die an langen und geraden, nach hinten gerichteten Hörnern undeiner Wamme kenntlich sind. […] Mit der Giraffe tritt man in die Kategorie derunwahrscheinlichen Tierformen ein, der auch Elefant und Nashorn zuzuordnensind. Während die andern Tiere […] sich in den Rahmen der Savanne fügen undals ihre animalische Bekundung erscheinen, überschreiten Elefanten, Giraffen undNashörner jede Proportion, und das nicht nur durch ihre Größe, sondern auchdurch ihre Gestalt. Sie wirken wie Erscheinungen oder Begleiter einer fremdenGottheit.23

Der Autor unterscheidet die Tierarten hier in Hinblick auf ihre Gestalt undBewegung und setzt sie dadurch in Relation zum ‚Ursprung‘ bzw. zu den‚Grundideen‘ der Schöpfung. Dabei geht er davon aus, dass der gesamteReichtum der Formen bereits im Schöpfungsentwurf enthalten war undsich nicht erst im Verlauf eines Evolutionsprozesses entwickelte.24 Die

er selbst einräumte, eine unveränderte Wiedergabe „Anstoß erregen“ hätte können, zumanderen weil „vieles in ihnen durch die weltgeschichtliche Entwicklung überholt und auchvom Autor selbst überwunden worden“ sei (Nebel, Von den Elementen, S. 141). Der 1941in der Neuen Rundschau publizierte Essay Der weiße Mann und die Tropen wurde dort ineiner neuen Fassung abgedruckt. Dieser Essay leitete auch einen Band ein, der alle afrikani-schen Essays im Krieg noch einmal gesondert versammelte. Vgl. Gerhard Nebel, Vom Geistder Savanne, Hamburg 1941.

22 Nebel, Feuer und Wasser, S. 72 (Kilimandscharo-Wanderung).23 Ebd., S. 20 f. (Reichtum der Steppe).24 In Nebels Essays finden sich zahlreiche kritische und polemische Bemerkungen über die ‚me-

chanistische‘ Evolutionstheorie, der er eine philosophische Sichtweise entgegensetzt. ZumBezug auf antike Schöpfungstheorien, etwa bei Lukrez, vgl. Nebel, Griechischer Ursprung,S. 279 (Die Freiheit der Stoa. Neue Fassung). Zur Kritik der Darwinschen Abstammungs-lehre vgl. auch den Essay Platon und die Unsterblichkeit der Seele, wo Nebel feststellt, die „ir-dischen Kausalitäten“, mit denen die Abstammungslehre arbeitete, hätten „vor der Mannig-faltigkeit der Tier- und Pflanzenarten, der Formen und Organe geradezu kläglich versagt“(Nebel, Griechischer Ursprung, S. 133). Wenn überhaupt auf etwas, dann verwiesen „Fami-lien, Gattungen und Arten des vegetativen und animalischen Reiches auf transzendente Vor-gänge“ und seien nur „als Gedanken Gottes“ zu verstehen (ebd.).

Konzeptionen des Elementaren 167

ästhetisch-phänomenologische Betrachtung, die alle Gegenstände aufForm, Farbe und Bewegung reduziert, verbindet er hier mit dem von Aris-toteles und dem Platonismus entwickelten hylomorphistischen Schema, dasalle Gegenstände als je spezifische Zusammenfügungen von Form (Eidos)und Stoff (Hyle) fasst.25 Nebel handhabt dieses Schema jedoch mit merk-licher Ironie. So sieht er die ‚Idee‘ der Wüsteneidechse in ihrer Schnelligkeitausgedrückt, erkennt im Gecko eine Abwandlung dieser Idee ins „Kröten-hafte“ und bezeichnet das Chamäleon als eine „etwas mißglückte Verwirk-lichung der Idee des Baumwesens“.26

Im Vorwort zur zweiten Auflage von Feuer und Wasser von 1941 erklärtNebel, sein Begriff des Elementaren habe seit der Entstehungszeit der Auf-sätze eine Entwicklung weg vom Rationalen und der „rationalen und syste-matischen Form der griechischen Elementarlehre“ hin zumMetaphysischenerfahren.27 Zwar habe sich in diesen Essays das „Rationale“ bereits durchdie Betonung des „mythologischen und symbolischen Gehalt[s]“ der be-schriebenen Gegenstände relativiert, doch überwiege noch der Erkenntnis-wille gegenüber der „Ahnung“ des Seins, das Verstehenwollen gegenüberder „Parusie“.28 Diese Selbstdeutung ist etwas irreführend, suggeriert siedoch, der Autor habe sich sukzessive von der antiken Naturphilosophie ent-fernt und sei von der antiken Physik zum Mythos zurückgegangen. Ver-gleicht man aber die frühen Essays mit den später entstandenen, dannscheint die naturphilosophische Ausrichtung eher noch stärker geworden zusein. Jedenfalls wird das Elementare auch in diesen nicht als irrationaleErfahrung konzipiert. Schon Schelsky konstatierte in seiner Rezension desBandes Von den Elementen, dass Nebels „Pathos des Elementaren“ auf einem„höchst künstlichen Untergrund“ stehe und dass die in den Essays erreichte„neue Dimension der Sinnlichkeit“ ihren Ursprung „gerade in der sehrhohen und verfeinerten Rationalität des Zeitalters“ habe.29

Nebels eigene Aussage, die auch dadurch relativiert wird, dass er in demBand von 1947 die Elemente in den Titel setzt, lässt sich nur dann mit die-ser Textbeobachtung in Einklang bringen, wenn man seine Absage an die‚griechische Elementarlehre‘ als Kritik speziell an der vorsokratischen Physikund der atomistischen Theorie interpretiert. Für eine solche Deutungspricht auch eine Stelle aus dem Essay Feuer und Wasser, in der der Essayistgegen Heraklit gerichtet bemerkt, das Elementare müsse „freilich metaphy-

25 Siehe hierzu Wolfgang L. Gombocz, Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frü-hen Mittelalters (= Geschichte der Philosophie, hg. v. Wolfgang Röd, Bd. 3), München1997, S. 159.

26 Nebel, Feuer und Wasser, S. 23 und 25 (Reichtum der Steppe).27 Nebel, Von den Elementen, S. 6. (Nebel zitiert hier sein Vorwort zur 2. Aufl. von Feuer und

Wasser.)28 Ebd.29 Schelsky, Das Elementare und das Künstliche, S. 1138 f.

168 Gerhard Nebel

sisch und nicht physikalisch verstanden werden“.30 Tatsächlich orientiertNebel sich, wie im folgenden deutlich wird, hauptsächlich an einer späterenForm der Elementenlehre, die im Unterschied zu der der Vorsokratiker voneiner allumfassenden Beseelung der Materie ausgeht: nämlich an derstoischen Naturphilosophie.31 Auch dieser liegt jedoch ein physikalischesund kein mythologisches Verständnis der Elemente zugrunde.

Bereits an den afrikanischen Essays fällt auf, dass Nebel das Elementari-sche nicht nur als einen physikalischen Zustand verstanden wissen will, son-dern auch als ein metaphysisches Sein. Und dieses erschließt sich seinerÜberzeugung nach durch sinnliche Erfahrung. Viel wichtiger als die ratio-nale, wissenschaftliche Erkenntnis der Elemente, zu der die vorsokratischeElementenlehre tendiere, sei es, den Elementen „zu begegnen, d. h. diePoren zu besitzen, durch die sie eintreten und Körper und Seele durchzie-hen können.“32 Erst wenn man die Elemente metaphysisch begreife, könneman auch verstehen, warum sie den Menschen „erheitern“ und „beglücken“könnten:

Wenn sich im Elementaren der Sinn des Seins als Einheit in der Vielfalt darstellt,so werden wir in seiner Betrachtung vor das göttliche Sein selbst gebracht und ausseiner unendlichen Fülle gespeist. Im Genuß des Elementaren transzendiert derMensch, und hierin liegt die metaphysische Bedeutung jeder Landschaft, in der dasElementare einen großen Raum einnimmt, also besonders des Meeres.33

Speisen, Genießen, durch Poren aufnehmen – die Elemente sind in diesemVerständnis nicht getrennte, unveränderliche Stoffe, sondern vielmehr die-sen Stoffen entsprechende Qualitäten, die auch ineinander übergehen kön-nen. Und da sie Körper und Seele durchziehen, sind diese Qualitätenzugleich Träger einer alles verbindenden Kraft. Daher ist in Essays wieReichtum der Steppe, Feuer und Wasser oder Kilimandscharo-Wanderung auchwenig von den vier Elementen Empedokles’ und Heraklits die Rede, dafüraber immer wieder von Feuchte, Wärme, Luftigkeit oder Trockenheit undMischformen wie Schwüle oder Staubhitze. Die afrikanische Naturerscheint hier gerade in ihrer Diversifikation und Wandelbarkeit als einheit-lich, da alle Formen als je verschiedene und in beständiger Veränderungbegriffene Mischungen derselben Bestandteile gelten. Und der Mensch istTeil dieses Zusammenhangs, unterliegt denselben Einflüssen und vollziehtdieselben Metamorphosen. Das wird insbesondere in den Essays deutlich,die sich mit den ‚Stämmen‘ und ‚Rassen‘ auf dem afrikanischen Kontinent

30 Nebel, Feuer und Wasser, S. 38 (Feuer und Wasser).31 Die paradigmatische Funktion der stoischen Naturphilosophie in Nebels Essayistik ist von

den Rezensenten und Interpreten nicht bemerkt worden. Auch Schelsky geht irrtümlichdavon aus, dass Nebel sich auf die vorsokratische Elementenlehre bezieht.

32 Nebel, Von den Elementen, S. 6. (Nebel zitiert hier sein Vorwort zur zweiten Auflage vonFeuer und Wasser.)

33 Nebel, Feuer und Wasser, S. 38 f. (Feuer und Wasser).

Konzeptionen des Elementaren 169

oder mit dem Verhältnis zwischen ‚Herr und Sklave‘ befassen. Auch hiermacht Nebel wesenhafte Differenzen aus, die er aber nicht rassenbiologisch,sondern klimatologisch erklärt.34

3. Stoische Naturphilosophie und theoretische Physik

Das skizzierte Wahrnehmungs- und Beschreibungsmuster weist deutlichestrukturelle Analogien zur Naturphilosophie der Stoiker auf, mit der Nebelsich in dieser Zeit intensiv beschäftigte, wie auch sein Essay über Die Frei-heit der Stoa belegt.35 Die Analogien lassen sich an zwei zentralen Theo-remen der stoischen Naturlehre festmachen: an der Sympathie und der Kra-sis, der Mischungslehre. Sie betreffen damit gerade die Punkte, an denendie epistemologische Neuerung der Stoa gegenüber der vorsokratischenPhysik am deutlichsten hervortrat. Diese Neuerung bestand, verkürztgesagt, in der Transformation eines atomistischen Strukturmodells derMaterie in ein dynamisches bzw. in der Entwicklung eines die anorganischeund die organische Natur umfassenden, einheitlichen physikalischen Erklä-rungsmodells.

Die frühe antike Physik hatte die Körper als je verschiedene Zusam-mensetzungen aus Anteilen der Elemente nach dem Modell des Neben-einander bzw. des ‚Haufens‘ verstanden. Empedokles, der als Erster die Vor-stellung einer Vierzahl der Elemente entwickelte, sprach zwar bereits vonMischung, fasste diese aber im Bild eines Pulvers, ging also noch von einerGetrenntheit der Partikel und von der Unveränderlichkeit der Elementeaus.36 In Abgrenzung davon entwickelten die stoischen Naturphilosophen,Chrysipp und vor allem Poseidonios, dann die Krasislehre, derzufolge alleKörper aus Vermischung und Verschmelzung der Elemente entstanden sindund die Materie sich auf diese Weise wandelt. Genauer gesagt, vermischen

34 Vgl. beispielsweise den Essay Afrikanische Jahreszeiten, in dem er den ‚Stumpfsinn‘ der „Ne-ger“ auf das Fehlen der jahreszeitlichen Wechsel zurückführt, die dem Europäer einen„Reichtum an Stimmungen“ gäben, der wiederum der „Ursprung des Verstandes“ sei (Nebel,Feuer und Wasser, S. 34). Es handelt sich in Nebels Sicht mithin um keine genetischen Ras-semerkmale, was auch daran zu erkennen ist, dass der Europäer seiner Auffassung nach beizu langem Aufenthalt in Afrika ebenfalls in Gefahr gerät, in Stumpfsinn zu verfallen. Dieeuropäische Seele beginne dann, sich „ihrer Umwelt anzugleichen“ und „Stimmungstiefe wieStimmungsreichtum zu verlieren“, woraus der „Bure“ entstehe (ebd., S 33). – Zu Nebels Ver-wendung des Rassebegriffs siehe auch Kap. IV, 6.

35 Der Essay zeigt, welche Bedeutung Nebel der stoischen Philosophie für die Orientierung inder Gegenwart zumaß. Allerdings befasste er sich darin nicht vorrangig mit naturphilosophi-schen, sondern mit philosophischen und pädagogischen Aspekten der Stoa. Die erste Fas-sung wurde zusammen mit den afrikanischen Essays in Feuer und Wasser publiziert. Einestark erweiterte Fassung erschien 1948 in Griechischer Ursprung.

36 Siehe hierzu Geoffrey S. Kirk/John E. Raven/Malcolm Schofield, Die vorsokratischen Phi-losophen. Einführung, Texte und Kommentare, Stuttgart/Weimar 2001, S. 316 ff.

170 Gerhard Nebel

sich nicht die Elemente selbst, sondern die diesen zugehörigen Qualitäten,die neue Aggregatszustände eingehen, beispielsweise von feucht zu trocken,weshalb die gesamte Natur in dieser Sicht als eine sich aus den ersten Quali-täten herleitende Folge von Verwandlungen erscheint. Dabei räumten dieStoiker, hierin Heraklit verpflichtet, dem Feuer eine Vorrangstellung einund begriffen den warmen Hauch, das Pneuma, als eine in allen Dingenwirkende, verbindende Kraft.37 Diese pneumatische Durchdringung wurdeauch im Bild der Nahrung bzw. des Sich-Nährens gefasst.38 Die Sympathieals kosmischer, erklärender Begriff bezeichnete bei den Stoikern das Prinzipdes Weltzusammenhangs, den Zusammenhang innerhalb des Mikrokosmosebenso wie die Relation von Mikro- und Makrokosmos oder die Entspre-chungen von Seelischem und Leiblichem, also die Gesamtheit der Korrela-tionen, Übertragungen und Affizierungen.

Nebel war die stoische Naturphilosophie aus seinen philosophiehistori-schen Studien bekannt. Zudem hatte die Stoa seit Beginn des Jahrhundertseine Renaissance erlebt und gerade in den zwanziger Jahren und auch zurZeit des ‚Dritten Reiches‘ erschienen in Deutschland zahlreiche wissen-schaftliche und populärwissenschaftliche Aufsätze und Monographien überdie Stoiker. Besonders einflussreich waren die Poseidonios-Arbeiten vonKarl Reinhardt, der diesen Philosophen in den zwanziger Jahren als Ätiolo-gen, Systematiker und ganzheitlichen Welterklärer – als einen „antikenGoethe“39 – in den Vordergrund rückte und ihm die Erfindung der Sym-pathie und der Organismenhaftigkeit der Elemente zuschrieb.40 WelcheMotive mögen aber Nebel zur Adaption der stoischen Naturlehre bewogenhaben? Wenn man die ästhetische und argumentative Struktur seiner Essaysbeachtet, dann stellt man fest, dass die stoischen Denkfiguren darin vorallem drei Funktionen erfüllen: die einheitliche Konzeption von organischerund anorganischer Natur, die Spiritualisierung der gesamten Natur und dienicht-mechanistische Erklärung von Verwandlung. Ähnlich wie die Muta-

37 Siehe hierzu Malte Hossenfelder: Stoa, Epikureismus und Skepsis (= Die Philosophie derAntike, Bd. 3), München 1985, S. 97. Siehe auch Nebels eigene Darstellung in der zweitenFassung vonDie Freiheit der Stoa, in: Nebel, Griechischer Ursprung, S. 334.

38 Vgl. Karl Reinhardt, Poseidonios von Apameia. Der Rhodier genannt, Stuttgart o. J. [1954](Erstveröffentlichung 1921), Sp. 658.

39 Olof Gigon, Studien zu Poseidonios [Rezension], in: ders., Studien zur antiken Philosophie,Berlin/New-York 1972, S. 259–267, hier S. 259.

40 Vgl. neben der Studie von 1921 auch Karl Reinhardt, Kosmos und Sympathie. Neue Unter-suchungen über Poseidonios, München 1926 (zur Organismenhaftigkeit der Elemente vgl.bes. S. 42 f.). – Die Bedeutung von Poseidonios wird heute allgemein geringer eingeschätzt;vgl. Hossenfelder, Stoa, Epikureismus und Skepsis, S. 97. Insbesondere wird die Entwick-lung des Sympathiegedankens schon für die frühe Stoa festgestellt; vgl. Karl Deichgräber,Pseudohippokrates. Über die Nahrung. Text, Kommentar und Würdigung einer stoisch-he-raklitisierenden Schrift aus der Zeit um Christi Geburt, München 1973 (= Akademie derWissenschaften und Literatur, Abhandlungen der Geistes- und SozialwissenschaftlichenKlasse, Jg. 1973, Nr. 3), S. 78.

Stoische Naturphilosophie und theoretische Physik 171

tion bei Jünger dienen die Denkfiguren von Krasis und Sympathie Nebeldazu, Wandlungen und Übergänge im Zwischenbereich von Geistigem undKörperlichem anzunehmen.

Nebels Bezugnahme auf die antike Naturphilosophie steht ebenfalls imZusammenhang mit der zeitgenössischen Grundlagenkrise in der Naturwis-senschaft, auch wenn er sich mit dieser nicht direkt auseinandergesetzt hat.Im Unterschied zu Jünger finden sich in seinen Essays nur selten Referenzenauf bestimmte Theoreme der modernen Biologie oder Physik. Allerdingsbegründet er die Aktualität naturphilosophischer Konzepte indirekt mit derInfragestellung mechanistischer Erklärungsprinzipien durch die modernePhysik. Und offensichtlich betrachtet er das Aufkommen der stoischen Phi-losophie in der Antike als eine wissenschafts- und kulturgeschichtlicheParallele zur zeitgenössischen Wissenschaftskrise. Zwar äußert er sich in sei-nen philosophiehistorischen Essays gelegentlich auch kritisch zur stoischenNaturlehre, insbesondere zu ihrem Kausalitätsbegriff, und deutet eine prin-zipielle Überlegenheit mythisch-symbolischer Naturbetrachtung an. Aktuellund bedeutsam erscheint jene ihm aber deshalb, weil sie Metaphysik undErklärung verbindet und so eine Zwischenstellung zwischen Naturphiloso-phie und Naturwissenschaft markiert, auf die sich die Gegenwart seinerEinschätzung nach wieder zubewegt. Die Stoa dient ihm so auch als Para-digma für die erwartete bzw. erhoffte philosophische Transformation derNaturwissenschaften im zwanzigsten Jahrhundert.41

Einerseits sieht Nebel die stoische Elementenlehre in der Kontinuitäteines auf die modernen Naturwissenschaften zulaufenden Rationalisie-rungsprozesses, in dem die ursprünglich mythischen Bilder des Seins inKosmologie, in ein „System des Verstandes“ und der verstandesmäßigenOrdnung der Natur, verwandelt wurden.42 Andererseits erkennt er in derpneumatischen Durchdringung ein Konzept, das die kausale Erklärung mitder Annahme eines göttlichen Prinzips nach dem Modell des ‚bewegtenBewegers‘ verbindet und dadurch der – im antiken Atomismus schon ange-legten und in den modernen Naturwissenschaften manifest gewordenen –Gefahr des ‚Nihilismus‘ entgeht. Anders gesagt: Die stoischen Philosophenentwickelten zwar ein für die moderne Wissenschaft konstitutives Prinzip,nämlich die „durchgängige ursächliche Bestimmtheit des natürlichen Ge-

41 Die Parallele zur Gegenwart macht Nebel jedoch nicht nur in der wissenschaftsgeschicht-lichen Umbruchsituation aus, sondern auch in der politischen Machtkonstellation, auf derenHintergrund sich dieser Umbruch vollzieht. Die neue Naturphilosophie Poseidonios’ seisowohl durch die Begegnung mit den Naturwissenschaften als auch „durch die innige Berüh-rung mit der Wirklichkeit politischer Macht“, nämlich durch die „weltgeschichtliche Berüh-rung“ mit dem Imperium Romanum ausgelöst worden (Feuer und Wasser, S. 131 f.). Indi-rekt parallelisiert Nebel dabei das Römische Imperium mit dem ‚Dritten Reich‘ (vgl. auchS. 148 f.).

42 Nebel, Feuer und Wasser, S. 142 (Die Freiheit der Stoa).

172 Gerhard Nebel

schehens“, fassten dieses aber zugleich als metaphysisches auf.43 Daran hattenach Nebels Darstellung insbesondere Poseidonios Anteil, der die stoischePhilosophie erstmals mit der neuen Wirklichkeit der „Naturwissenschaf-ten“, „mit der unendlichen Fülle an Einzelbeobachtungen des natürlichenGeschehens“ – der Verfasser denkt dabei vor allem an die Schule des Aristo-teles – zusammenbrachte und diesen „dem Sein verschlossenen Naturwis-senschaften“ so „metaphysische[n] Grund“ gab.44 Da sich in der modernenNaturwissenschaft schließlich aber nicht das pantheistische Modell, sonderndas transzendenzlose Denken Demokrits und Epikurs durchsetzte, stellt diestoische Physik in seinen Augen zugleich auch „die letzte“, mit dem Mythosnoch schwach verbundene und doch „schon weithin rationalisierte Fassungdes gefüllten Diesseits“ dar.45

Überblickt man Nebels Aussagen zur antiken Kosmologie und zurstoischen Naturlehre, dann lassen sich vor allem in zwei Punkten Verbin-dungen zur damaligen Debatte um die Naturwissenschaften ausmachen:Zum einen geht es um die Möglichkeit der einheitlichen Erklärung vonVorgängen in der organischen und anorganischen Natur, zum anderen ver-handeln sie die Problematik der Unanschaulichkeit und Auflösung derMaterie. Beides sind Aspekte, die, wie auch bei Jünger und Benn deutlichwird, in der damaligen Rezeption der Atom- und Quantenphysik virulentwaren.

Die erste Verbindung zeigt sich an der Art, wie Nebel den antiken Ato-mismus und die stoische Naturlehre miteinander vergleicht. Und zwarbeschreibt er deren Verhältnis bildlich als Gegensatz zwischen einer „Schrei-nerwerkstatt“ und einem „chemische[n] Laboratorium“.46 Während Leu-kipp und Demokrit die Materie als Trägerin „akzidentielle[r] Veränderun-gen“ konstruiert hätten, als ein auf dem Prinzip „äußerlicher Aggregation“beruhendes „Spiel des Zusammensetzens und Auseinandernehmens“, habedie Stoa das Bewegungsprinzip ins „Innere der Materie“ verlegt und deshalb„echte Wandlungen“ beschreiben können.47 Da diese Wandlungen aberauch von der Stoa mit den Elementen begründet und als Verbindung kleins-ter Teilchen erklärt wurden, handelt es sich in Nebels Augen um eine Aus-dehnung physikalischer Erklärung auf das Gebiet der organischen Natur.48

43 Ebd., S. 145. „Der stoische Gott steht nicht jenseits der Geschichte und der Bewegung, son-dern wohnt – als wirkende Spannung, als zeugendes und zerstörendes Feuer – als Bewegtesund Bewegung in den Dingen selbst […]. Da muß denn die Notwendigkeit zu einem beson-deren theologischen Rang befördert werden“ (ebd., S. 146).

44 Ebd., S. 131.45 Nebel, Griechischer Ursprung, S. 325 (Die Freiheit der Stoa. Neue Fassung).46 Ebd., S. 265.47 Ebd.48 Dass Nebel die stoische Naturlehre als Synthese physikalischer und biologischer Erklärung

darstellen möchte, zeigt sich schon an der Metaphorik. Etwa, wenn er das Element des Feuersmit Blut gleichsetzt: „Das Feuer ist bewegtestes Leben, reinste Aktivität, die Atome sind pas-

Stoische Naturphilosophie und theoretische Physik 173

Die stoische Elementenlehre hat für ihn damit eine ähnliche Funktion wiedie chemophysikalische Molekültheorie für Jünger. Und wie bei Jüngerknüpft sich bei ihm die Vorstellung einer Spiritualisierung an die einheitli-che Erklärung der Materie. Die ‚echte Wandlung‘ verwendet er als metaphy-sisches Gegenmodell zum ‚Determinismus‘ der Newtonschen Physik undder Darwinschen Evolutionstheorie.

Die zweite Verbindung stellt Nebel an zwei Stellen selbst her. So beob-achtet er an der zeitgenössischen Physik die Tendenz zur Überwindung desKörperlichen und zur „Auflösung der Materie“:49 Die Urkörper der „vonder Quantität bezauberte[n] abendländische[n] Physik“ begännen, sich „insymbolische Bezüge zu verflüchtigen“, in „Wesenheiten“, die „zugleich Wel-len und Korpuskeln sein sollen“.50 Eine ähnliche Entwicklung konstatierter für den antiken Atomismus, der ebenfalls die Unsichtbarkeit des atoma-ren Geschehens behauptete. Nebel erkennt darin eine Konsequenz desrationalistischen Irrglaubens an eine intelligible Natur: Die Unsichtbarkeitentspräche dem „tiefen Bedürfnis des Verstandes“, sich eine Wirklichkeit zuschaffen, „in der er frei schalten kann und in der ihm auch die Sinne nichtzu widersprechen wagen.“51 Auf der Folie dieser Darstellung des Atomis-mus erscheint die aktuelle Krise der Anschaulichkeit als Endpunkt eines mitder Trennung der „atomaren und phänomenalen Ereignisse“ in der Antikeeinsetzenden Prozesses.52 Nebel problematisiert die Naturwissenschaftenalso unter dem Aspekt der Sichtbarkeit und setzt sie mit der Abkehr vonForm und Gestalt gleich. Gleichzeitig eröffnet die Auflösung der Körper inunsichtbare Vorgänge jedoch auch die Aussicht auf Überwindung diesesRationalisierungsprozesses, da das Verschwinden der sichtbaren Referenzenwissenschaftlicher Begriffe nach Nebels Überzeugung – wie der vieler ande-rer Intellektueller seiner Zeit – den metaphorischen und symbolischen Cha-

sive und harte Steine. Diese Härte aber ist das eigentliche Element des Verstandes. Das Feuerliegt, wie irgendein weicher und blutvoller Stoff, jenseits seiner Kapazität“ (ebd., S. 278).

49 Ebd., S. 264. Ähnlich äußert er sich im Essay Platon und die Unsterblichkeit der Seele: „Wei-terhin könnte der Materialismus der mechanischen Naturwissenschaften bedenklich stim-men, dem ja in der Technik ein überzeugender Wahrheitsbeweis gelungen zu sein scheint,wenn nicht diese Methode, das Sein auf quantitative Körperlichkeit auszulegen, zu ihrer eige-nen Verwunderung inzwischen bei einer Idee von Wirklichkeit angekommen ist, der dasKörperliche und Ausgedehnte nicht mehr genügt“ (Nebel, Griechischer Ursprung, S. 132).

50 Nebel, Von den Elementen,.S. 10 (Von Inseln, Flüssen und Bergen). Im Essay Höhlen undSchächte stellt er fest, „daß sich das Materielle immer mehr auflöst und daß es von einerGeneration der Wissenschaftler zur anderen duftiger, unkörperlicher, ja geradezu geistigerwird. Die stumpfe und dumpfe Materie, bei der die Wissenschaft begann, hat sich in Wellen-und Kraftfelder verwandelt, und es gibt genug Köpfe auch unter den Positivisten selbst, dieden Schritt von dieser physikalischen Kraft zur sonst nur metaphysisch oder ästhetischerfahrbaren Dynamis des Seins für klein halten“ (Gerhard Nebel, Tyrannis und Freiheit,Düsseldorf 1947, S. 365). Der Essay Höhlen und Schächte erschien auch im Merkur (1. Jg.,1947, S. 239–156).

51 Nebel, Griechischer Ursprung, S. 271 (Die Freiheit der Stoa. Neue Fassung).52 Ebd., S. 275.

174 Gerhard Nebel

rakter aller wissenschaftlichen Begriffe enthüllt und die Einstellung gegen-über der Wissenschaft somit grundlegend verändert.53 Aus dieser Wissen-schaftskritik bezieht seine essayistische Schreibweise ihre Anregung undprogrammatische Begründung: als ein literarischer Stil, der sinnliche Wahr-nehmung und verstandesmäßige Erkenntnis verbindet; als ein mit Auslas-sungen, Vergrößerungen und Überblendungen operierendes ‚metaphysi-sches Experiment‘.54

4. ‚Stimmung‘ als psychophysisches Korrespondenzmodell

Nebels Naturbetrachtung ist immer auch anthropologische Reflexion.Denn sie kreist um das Problem der Leib-Seele- und Mensch-Umwelt-Relation und verfolgt implizit die Frage, die auch im Zentrum der Phi-losophischen Anthropologie steht: wie sich eine Konzeption des Menschenjenseits von geschichtlichem Humanismus einerseits und naturwissenschaft-lichem Determinismus andererseits gewinnen lässt. Nebel teilt diese an-thropologische Betrachtungsweise auch mit der stoischen Philosophie undPhysik, in der der Mensch als tierisch-göttliches Doppelwesen verstandenwird. Als Teil der Natur besteht der Mensch nach Auffassung der Stoikerebenfalls aus einer Mischung der Elemente. Er besitzt Bestandteile aller vierQualitäten und ist aus diesem Grund auch unmittelbar dem Einfluss seinerelementaren Umwelt unterworfen. Nebel referiert diesen Gedanken, wenner schreibt:

Die Elemente begegnen einander an der Oberfläche der Erde, und so ist es keinWunder, daß der Mensch, der auf dieser Fläche haust und schweift, an ihnen teil-hat. Er besitzt das Tragende und Beständige der Erde, das Unruhige der Luft unddas Flammende und Mutvolle des Feuers.55

Aufgrund der Mischungs- und Durchdringungslehre hat die stoische Ele-mentenlehre eine psychosomatische Ausrichtung, die sie mit der unterihrem Einfluss entstandenen hippokratischen Medizin teilt. Seelische Vor-

53 Der Verlust der Anschaulichkeit liefert in Nebels Augen den letzten Beweis dafür, dass die„auf Richtigkeit und Erfolg so stolze Wissenschaft eine Mythologie ist, die sich von derhomerischen vor allem durch ihre Dürftigkeit unterscheidet“ (Nebel, Von den Elementen,S. 10 [Von Inseln, Flüssen und Bergen]).

54 Als „metaphysische[s] Experiment“ charakterisiert Nebel selbst den – für ihn in vieler Hin-sicht vorbildlichen – epigrammatischen Stil Jüngers, der vor allem im Abenteuerlichen Herzenausgeprägt ist (Nebel, Feuer und Wasser, S. 246 [Zur zweiten Fassung des „AbenteuerlichenHerzens“]). Dieser Stil sinke „nie ins Begriffliche ab“, bleibe vielmehr „stets der Sinnlichkeit,dem Bilde und dem unmittelbaren Appell verschworen“ (ebd.). „Auch an der aphoristischenForm baut das Optische mit; da es sich darum handelt, einen Gesichtseindruck zu durch-dringen und auszubreiten, so kann die schriftstellerische Form nicht eine zusammenhän-gende Erörterung sein; man muß bei jedem neuen Eindruck neu einsetzen (ebd., S. 248).

55 Nebel, Von den Elementen, S. 13 (Von Inseln, Flüssen und Bergen).

‚Stimmung‘ als psychophysisches Korrespondenzmodell 175

gänge sind mit dem Leib und mit der Umwelt untrennbar verknüpft. Voneiner materialistischen Anthropologie unterscheidet sich diese Lehredadurch, dass sie die Natur und die Elemente selbst als göttlich beseeltansieht, so dass die Partizipation an der Natur zugleich die Partizipation amgöttlichen Prinzip bedeutet. Daraus ergibt sich jedoch das – ähnlich auchbei der Philosophischen Anthropologie beobachtete – theoretische Pro-blem, wie dann das spezifisch Menschliche gegenüber dem Tierischen abzu-grenzen ist, welches Nebel in seinem langen Aufsatz über Die Freiheit derStoa verhandelt. Die Stoiker versuchten dieses Problem mit der Annahmeeiner auf die menschliche Vernunft zulaufenden Teleologie in der Natureinerseits und mit dem Entwurf einer eigenen, im Pflichtbegriff kulmi-nierenden Handlungslehre andererseits zu lösen. Der Somatisierung desPsychischen steht in der Stoa daher eine auf Affektfreiheit gerichtete Ethikentgegen.56 Dieselbe Doppelung von Psychosomatik und Diätetik, Natura-lisierung und Ethik findet sich, wie sich noch zeigen wird, auch in NebelsTagebuchaufzeichnungen.

Dass Nebels Naturbeschreibung anthropologischen Charakter hat, wirdschon an den afrikanischen Essays deutlich, in denen er sich darum bemüht,im Sinne des stoischen Sympathiegedankens Korrespondenzen zwischenLandschaft, Klima und Menschen aufzuzeigen. Die leiblich-seelische Ein-bindung des Menschen in diesen Zusammenhang bezeichnet er dort als‚Stimmung‘. Damit greift er einen Begriff auf, der in der Existenzphiloso-phie, insbesondere bei Heidegger und Bollnow, eine zentrale Rolle spielt.57

Im Essay über Afrikanische Jahreszeiten bezeichnet Nebel die „Stimmung“bzw. die „stimmungsmäßige Verfassung“ als „Kern“ des Daseins58 – ähnlichwie Heidegger, dem das Dasein als „je schon immer gestimmt“ gilt.59

Da der Essayist unter Stimmung aber nicht nur körperliche und see-lische Befindlichkeiten, sondern auch intellektuelle Dispositionen fasst,rückt der Begriff bei ihm in die Nähe des zeitgenössischen Mentalitäts-begriffs. In dieser weiten Bedeutung bildet Stimmung die Grundlage allerzivilisatorischen und geschichtlichen Erscheinungen. So führt Nebel dieEntwicklung der europäischen Zivilisation, insbesondere ihre Zeitrech-nung, auf die starken jahreszeitlichen Differenzen in Europa zurück underklärt die Indifferenz und Geschichtslosigkeit der afrikanischen Menschenumgekehrt mit dem Fehlen eben dieser Zäsuren: Auf dem afrikanischenKontinent fehle die den Europäer prägende „wesentliche Zuordnung vonSeelischem und Weltlichem […], die das Äußere zur Darstellung und zum

56 Zur stoischen Handlungs- und Affektenlehre siehe Hossenfelder, Stoa, Epikureismus undSkepsis, S. 46–53.

57 Siehe hierzu auch Kap. I, 6.58 Nebel, Feuer und Wasser, S. 31 und 30 (Afrikanische Jahreszeiten).59 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Erste Hälfte, 2. Aufl., Halle a. d. S. 1929 (1. Aufl. 1926),

S. 134.

176 Gerhard Nebel

Symbol des Inneren macht und das Innere als Wesen und eigentlichenGehalt des Äußeren erscheinen läßt“.60 Liege einerseits „der Ursprung desVerstandes“ im „Reichtum an Stimmungen und Gefühlen“,61 so erzeugeandererseits die Eintönigkeit des Klimas und der Landschaft Apathie undStumpfsinn. Frühling und Herbst bewertet der Autor dabei als die „eigentli-chen Jahreszeiten“, da sie Seelisches „in Bewegung“ setzen, während Som-mer und Winter seiner Ansicht nach verlangsamend wirken.62 Damit greifter deutlich erkennbar auf Beschreibungs- und Erklärungsmuster aus derantiken Medizin zurück, die ebenfalls den Jahreszeiten neben sonstigen kli-matischen Faktoren einen entscheidenden Einfluss auf die Physiognomieund die Lebensweise der verschiedenen Völker zuschrieb.63

Eine Eigentümlichkeit Nebels zeigt sich darin, dass er Stimmung in sei-nen Essays sowohl elementarisch als auch phänomenologisch begreift. Soerklärt er die Stimmung konstituierenden Bewegungen zum einen mit denGesetzen der Thermodynamik: Der „stimmungsmäßige Zauber“ resultiereaus der Erwärmung oder Abkühlung von Partikeln im Körper.64 Zum ande-ren bestimmt er Bewegung auf phänomenologische Weise als Folge derWahrnehmungen und deutet die Stimmung dabei im Sinne von Husserls‚natürlicher Einstellung‘ als eine in den Spontaneitäten des Bewusstseinserfolgende Verknüpfung von Ich und Umwelt:65 Stimmung sei „etwas See-lisches“ und die „Seinsart des Seelischen“ sei „Bewegung“, weshalb sich auchalles scheinbar „Identische“ in der Seele mit der Zeit doch verändere.66

Stimmung wäre demnach als eine unterhalb der spontanen Wahrnehmun-

60 Nebel, Feuer und Wasser, S. 31 (Afrikanische Jahreszeiten).61 Ebd., S. 34.62 Ebd., S. 31.63 Eine klassische Formulierung fand diese u. a. auch von Platon und Aristoteles vertretene

Theorie in der Schrift Von der Umwelt aus dem Corpus Hippokrateum. Der Verfasser stelltdort fest, dass sich die europäischen und asiatischen Völker „infolge der starken Wechsel derJahreszeiten und der Natur des Landes“ voneinander unterschieden (Die Schrift von derUmwelt, in: Hippokrates, Von der Umwelt. Fünf auserlesene Schriften, eingeleitet und neuübertragen von Wilhelm Capelle, Frankfurt a.M./Wien 1991, S. 92–122, hier S. 110). All-gemein seien die Asiaten gutartiger, da Asien „in der Mitte der Sonnenaufgänge“ liege und so„von den Regionen der Kälte und Wärme weiter entfernt“ sei (ebd., S. 109). Dort herrscheein „Gleichgewicht aller Kräfte“ (ebd.), das sich nicht allein in der Physiognomie der Men-schen, sondern genauso in der von Haustieren und wilden Tieren niederschlage. Und auchan der mentalen Differenz der Asiaten gegenüber den Europäern, die sich etwa in ihremunkriegerischen Charakter zeige, seien „vor allem die Jahreszeiten schuld, die keinen großenWechsel mit sich bringen, was Wärme und Kälte betrifft, sondern einander ganz ähnlichsind“ und daher „keine starken Erschütterungen des Denkens und keine empfindliche Ver-änderung des Körpers“ hervorrufen (ebd., S. 112).

64 Nebel, Feuer und Wasser, S. 33 (Afrikanische Jahreszeiten).65 Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen

Forschung. 1. Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, 2., unveränderteAufl., Halle 1922 (1. Aufl. 1913), S. 50.

66 Nebel, Feuer und Wasser, S. 31 (Afrikanische Jahreszeiten).

‚Stimmung‘ als psychophysisches Korrespondenzmodell 177

gen liegende Ebene dauerhafterer Eindrücke im Sinne von Bergsons duréezu verstehen: „Das Geschehen in der Seele ist allmählich“, schreibt er, „lang-sam verschiebt sich ihr Gehalt, langsam baut sie auf und ab. Etwas »Plötzli-ches«, von außen Herandringendes muß »verdaut« werden“.67

Vergleicht man Nebels Umgang mit dem Stimmungsbegriff mit Hus-serls Analyse der Bewusstseinsvorgänge oder mit der Begriffsverwendungbei Heidegger, so lässt sich die Gemeinsamkeit in der Suche nach einernicht-psychologischen Beschreibung menschlicher Befindlichkeit fest-machen. Nebel unterscheidet sich aber von den beiden Philosophen durchdie zusätzliche physikalische Begründung der Stimmung. In seinen Essaysdominiert die psychosomatische und klimatologische Perspektive, wodurchauch der Seinsbegriff eine stark sensualistische Färbung erhält. Das Irdischesei der Ort der „gefüllten und schönen Nähe“, schreibt Nebel.68 Und: „Frei-lich darf es nicht mit einem Diesseits verwechselt werden, dem ein Jenseitsdie besten Kräfte entzogen hat; es ist beides, und seine Göttlichkeit beruhtdarin, daß es von jener Welt ist.“69 Daher führt er den Seinsverlust in derModerne auch auf durchaus handfeste Ursachen zurück, nämlich auf Ver-änderungen der Lebenswelt. Die Entfremdungserfahrung in der modernenZivilisation resultiert in seiner Sicht nicht zuletzt aus der Ablösung desMenschen von der elementaren Umwelt, die insbesondere das Großstadt-leben mit sich bringt.70 Umgekehrt lässt sich neue Seinsnähe seiner Mei-nung nach mit einem Eintauchen in die Elemente zurückgewinnen. Diesgilt insbesondere für das Schwimmen und Gehen, die den Menschen als imdoppelten Sinne „elementare Bewegungen“ in direkten Kontakt mit der ele-mentaren Umwelt bringen und ihm „hohe und seinserschließende Räusche“vermitteln.71

5. Kosmos und Sympathie: das KriegstagebuchBei den nördlichen Hesperiden (1942/48)

Nebels erstes, auf den Aufzeichnungen des Jahres 1942 basierendes Kriegs-tagebuch Bei den nördlichen Hesperiden, das nach dem Krieg im Wupper-taler Marées-Verlag erschien, hat teilweise den Charakter eines Anschau-ungs- und Lehrbuches für eine Rückkehr zu den Elementen im obenerläuterten Sinne. So gesehen handelt es sich um eine untypische, gelegent-lich auch kurios anmutende Variante der Gattung Kriegstagebuch. Aller-

67 Ebd., S. 32.68 Nebel, Von den Elementen, S. 13 (Von Inseln, Flüssen und Bergen).69 Ebd.70 Vgl. ebd., S. 18.71 Ebd., S. 14.

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dings konnte der Autor auch in diesem Fall an ein Vorbild anknüpfen.Denn in Gärten und Straßen (1942) hatte schon Jünger seine Aufzeichnun-gen aus dem Frankreichfeldzug mit Naturbetrachtungen kombiniert.72 Jün-gers Kriegstagebuch dürfte Nebel die entscheidende Anregung dazu gege-ben haben, im Moment seiner Strafversetzung – oder, wie er es nannte:‚Verbannung‘ – von Paris auf die Kanalinsel Alderney selbst ein Tagebuchzu beginnen. Im Vorwort der Buchausgabe von 1948 beruft er sich auchexplizit auf das Vorbild der Strahlungen und des auch für Jünger wegweisen-den Journal von André Gide, dessen erster Band 1939 in Paris erschienenwar. Von den Strahlungen unterscheiden sich Nebels Kriegstagebücher je-doch durch die größere Einheitlichkeit.73 Während Jünger einzelne Kriegs-erlebnisse, Naturbeobachtungen, Lektüreeindrücke und Reflexionen relativunverbunden aneinanderreiht, integriert Nebel die verschiedenen Beobach-tungen und Betrachtungen in eine autobiographische Erzählung.

Ebenso wie in den Essays versucht Nebel in seinen Tagebüchern sinn-liche Erfahrung und Erkenntnis, subjektive Eindrücke und Zeitdeutungmiteinander zu vermitteln. Im Vorwort der Buchausgabe stellt er die Ten-denz zur Objektivierung des eigenen Erlebens als charakteristischen Zug inder gegenwärtigen Entwicklung der Gattung heraus. In einer Zeit, in derdas Individuum der Willkür von „Organisationen“ ausgeliefert sei, könneman vom Tagebuch keine intimen Bekenntnisse mehr erwarten.74 Vielmehrwerde sich das Tagebuch, auch wenn es Subjektivität spiegele, notwendiger-weise „mit der Deutung objektiver Mächte und Zusammenhänge beschäfti-gen“.75 Zugleich sei das zeitgenössische Tagebuch auch als „Verteidigungund Notwehr des Individuums“ gegenüber diesen objektiven Mächten zuverstehen.76 Dabei hat Nebel nicht allein die körperliche Freiheitsberau-bung und Unterjochung des Einzelnen durch das Militär und den Staat imBlick. Noch wichtiger erscheint ihm die geistige Unterjochung durch ‚Welt-anschauungen‘. So identifiziert er die objektiven Mächte einmal mit dentotalitären Tendenzen des modernen Staates und spricht, ganz im Ton Jün-gers, von einem Schreiben „im Bauch des Leviathan[s]“.77 Ein anderes Mal

72 Vgl. auch die Rezension von Erhart Kästner, Der intellektuelle Gefreite, in: Allgemeine Zei-tung (Mainz), Literaturblatt Ostern 1949: „[G]ewiß ist das vielbändig angelegte Kriegs-tagebuch nach des Meisters Rezept aus des Meisters Apotheke gemischt: ein Drittel Schlan-gen, Krabben und Quallen, ein Drittel Lesefrüchte […], ein Drittel Erlebnisse des Tages unddes Krieges.“

73 Dies gilt auch für die später entstandenen italienischen Kriegstagebücher Auf ausonischerErde. Latium und Abruzzen (Wuppertal 1949) und Unter Partisanen und Kreuzfahrern (Stutt-gart 1950), auf die hier nicht näher eingegangen wird.

74 Gerhard Nebel, Bei den nördlichen Hesperiden. Tagebuch aus dem Jahre 1942, Wuppertal1948, S. 5.

75 Ebd.76 Ebd.77 Ebd., S. 6.

Kosmos und Sympathie 179

fasst er darunter aber auch die moderne Naturwissenschaft mit ihremAnspruch auf eine vollständige kausale Erklärung der Wirklichkeit – der inseinen Augen nicht minder ‚totalitär‘ ist, da er dem Individuum auch aufdiesem Felde die Herrschaft über das Dasein entzieht. Wenn Nebel vonobjektiven Mächten und Zusammenhängen spricht, meint er also imGrunde den Rationalisierungs- und Entzauberungsprozess der Moderne,den er mit Heidegger als Entwicklung zum Nihilismus begreift. Und er ver-steht das Tagebuch deshalb als Notwehrmaßnahme, weil sich seiner Mei-nung nach gerade in dieser Gattung die Seinserfahrung gegenüber der ratio-nalen Erkenntnis behaupten kann:

Wir haben unter der Herrschaft des Nichts fast alle Wirklichkeit verloren, Wirk-lichkeit unseres Daseins und Wirklichkeit der Welt, und das Tagebuch ist nun dieForm, in der der Mensch Wirklichkeit ansammelt und sich aus der Leere heraus-zutasten versucht. Daß seit dem 19. Jahrhundert ein ungeheures Material aufgele-sen und katalogisiert wurde, widerspricht dieser Behauptung nicht, sondern bestä-tigt sie. Dieses Material liegt fremd und tot vor dem Menschen und es gelingtdiesem immer weniger, sich auch nur einen kleinen Teil davon anzueignen. Derbiologische Stoff, über den Aristoteles verfügte, war gewiß winzig im Vergleich zuden Beständen, die die heutige Wissenschaft verwaltet, und doch ist Aristoteles denmodernen Biologen unendlich überlegen, weil er sein Material metaphysisch ver-arbeitet hat, während unsere Forscher von den Stoffgebirgen erdrückt werden.78

Die hier zum Ausdruck gebrachte wissenschafts- und zivilisationskritischeGrundhaltung führt allerdings nicht etwa dazu, dass Nebel der Entzaube-rung der Natur nun einfach mit „Mythologisierung“79 begegnet. Kenn-zeichnend für den experimentellen Charakter seines Tagebuchs – und seinerEssays – ist vielmehr ein reflexiver und spielerischer Umgang sowohl mitMythen als auch mit naturwissenschaftlichen oder naturphilosophischenDenkfiguren. Er selbst setzt die „Kategorie des Spielerischen“ der Einseitig-keit der „modernen ‚Weltanschauungen‘“ entgegen, die ausschließlich eineWahrheit kennen, und betont, dass sich das Sein nur in einer Betrachtungs-weise erfassen lasse, die „Spiel und Ernst zur Einheit“ verschmelze.80 Dasstilistische Mittel, mit dem diese einseitige Festlegungen vermeidende Per-spektive im Tagebuch umgesetzt wird, ist die Ironie.

Der spielerische und ironische Duktus der Tagebücher ist nicht nurdurch die Kritik am wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch begründet. Ersteht auch in engem Zusammenhang mit Nebels naturphilosophischerKonzeption, die einen göttlichen Ursprung der Materie und eine Präsenzdes Göttlichen in den einzelnen Dingen, also sowohl eine Differenz alsauch eine Identität von Sein und Dingen, annimmt. Ironie dient ihm dazu,die Spannung zwischen der sinnlichen Erfahrbarkeit des Göttlichen in der

78 Ebd., S. 6 f.79 So die Charakterisierung von Bluhm, Das Tagebuch im Dritten Reich, S. 173.80 Nebel, Bei den nördlichen Hesperiden, S. 229.

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Natur und der symbolisch-bildhaften Betrachtung der Dinge als zeichen-hafter Repräsentation des Göttlichen aufrechtzuerhalten bzw. sie erst herzu-stellen. Der Autor deutet diese Absicht an, wenn er schreibt, man dürfe dasVerhältnis von Sein und Dingen nicht einseitig in der Kategorie der Identi-tät oder Andersheit festlegen, vielmehr komme es darauf an, „dieses Verhält-nis in Paradoxien zu umspielen“.81 Man müsse „sich zwischen beiden Sät-zen schwebend und spielend in der Mitte halten, sie sich neutralisieren,bekämpfen, vernichten und versöhnen lassen, um mit der geheimnisvollenWahrheit dieses Verhältnisses in einem auch nur punktuellen Kontakt zubleiben.“82 Da Nebel den Wirklichkeitsverlust der Moderne als Resultateiner fortschreitenden Ablösung sinnlicher Erfahrung durch abstrakte Zei-chensysteme begreift, zielt die Ironie in seinen Texten darauf, die Präsenzdes Göttlichen in der Natur anzudeuten und die Sinne als Erkenntnismittelzu rehabilitieren. Dies gilt insbesondere für die allgegenwärtige Metaphorikdes Elementaren, in der Nebel das wichtigste Mittel erkennt, um „dem Irdi-schen eine dämonische Tiefe abzugewinnen, […] die Sinne zu ehren unddie Enden der getrennten Wesenheiten aneinanderzufügen“.83 Seine iro-nische Verwendung dieser Metaphorik wird spätestens dann deutlich, wenner im Knollengemüse die „Züge niederer Elementardämonen“ entdeckt.84

Die Orientierung auf elementare Seinserfahrung führt dazu, dass inNebels Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg sehr viel von seinenkörperlichen und seelischen Befindlichkeiten und vergleichsweise seltenvon militärischen Vorgängen die Rede ist. Der Krieg wirkt in diesemKriegstagebuch seltsam irreal, und dies nicht nur deshalb, weil die Kanal-inseln trotz ihrer Frontlage während Nebels Stationierung von Kampfhand-lungen weitgehend verschont blieben. Vielmehr erhalten die militärischenHandlungen, das Kasernenleben mit seinen Einschränkungen und Entbeh-rungen und die militärische Ordnung mit ihren Zwängen und Demütigun-gen in der Perspektive des Tagebuchs den Status von Umweltfaktoren. Siewerden vornehmlich in ihrer Wirkung auf die körperlich-seelische Konsti-tution des Schreibers und kaum in ihrer militärischen oder historischenBedeutung reflektiert. Die Kaserne etwa erscheint als eine Sphäre allumfas-sender „Müdigkeit“.85 Allgemein bewirkt die ‚Elementarisierung‘ der Wahr-nehmung hier eine Entzeitlichung des Daseins – zugleich aber auch eineradikale Entheroisierung des und damit Kritik amMilitärischen.86 Die Ein-

81 Ebd., S. 217.82 Ebd., S. 219 f.83 Ebd., S. 219.84 Ebd., S. 278.85 Ebd., S. 116.86 Nebel hat die ‚elementarische‘ Betrachtung im Krieg auch mehrfach in Opposition zu

geschichtlichen bzw. geschichtsphilosophischen Deutungen gesetzt, u. a. in einer Tagebuch-aufzeichnung vom 27. Februar 1945: „In den welthistorischen Wochen dieses Frühjahrsfühle ich mich stark zu den ungeschichtlichen Kräften hingezogen – ich erfasse die Über-

Kosmos und Sympathie 181

träge verzeichnen Zustände des Unwohlseins und des Wohlbefindens, han-deln von der Einteilung der eigenen Kräfte im Wechsel von Dienst undFreizeit, von Strategien der Verlangsamung und der Berauschung, sämtlichausgerichtet auf das Ziel des Überstehens mittels weitest möglicher Distan-zierung von den ‚objektiven Mächten‘.

Noch mehr Raum als die Beschreibung der militärischen ‚Umwelt‘nimmt im Tagebuch die der natürlichen Umgebung ein, die Schilderungvon Landschaft und Klima der Insel, des Wechsels von Witterung und Jah-reszeiten, der direkten Berührungen mit den Elementen, insbesondere mitMeer und Sonne. In langen Passagen sinniert Nebel über den „Landschafts-dämon“ der Kanalinseln und über das „subtropische Dasein“, das Ozeanund Golfstrom hier ermöglichen.87 Ein „sanfter, dunstiger Schleier“umhülle die Insel; typisch sei das „Feuchte, Milde, das Immergrüne“.88 Essei ein „Sein“, schreibt er, das einen „aufs höchste erregt“ und,,in einen zar-ten Taumel versetzt“; allerdings nur dann, wenn man dazu begabt sei, sichden Elementen zu öffnen:89 „Jedenfalls braucht man, um diese Wesenheitin ihrer andringenden Fülle zu genießen, ein besonderes Organ, das mirzum Glück nicht fehlt.“90 Unschwer lässt sich in solchen Passagen die Refe-renz auf antike Krasis- und Sympathiegedanken erkennen: Leib und Seelesind mit der elementaren Umwelt in einem beständigen Austausch verbun-den; der einzelne Organismus ist Teil des Gesamtorganismus der beseeltenNatur und ebenso wie dieser als ein permanenten Wandlungen unterworfe-ner Mischungszustand der Elemente gedacht. Ein besonders anschaulichesBeispiel dafür ist die Beschreibung eines kurzen, offiziell als Dienstreisedeklarierten Parisbesuchs:

Ich betrat die dämonische Stadt in einem Rausch, der feiner und süßer war, als ihnirgendein Rauschmittel hätte schaffen können. Die Seelenteilchen sind in heftigeBewegung geraten und spritzen ohne Unterbrechung Protuberanzen nach außen.Ich lebe in diesen wenigen Stunden mehr als in den vergangenen zwei Monaten;alle Prozesse gehen unvergleichlich rascher und entschiedener vor sich, alles Stoff-liche findet sofort zur Form, und der trübe Brei, der sonst den Seelengrund ein-nimmt, hat sich in ein lauteres, sprudelndes, belebendes Quellwasser verwandelt.91

legenheit des Elementaren über das Heraldische des Landes“ (Gerhard Nebel, Unter Partisa-nen und Kreuzfahrern, Stuttgart 1950, S. 282).

87 Nebel, Bei den nördlichen Hesperiden, S. 19 f.88 Ebd.89 Ebd.90 Ebd.91 Ebd., S. 137. – Die Parisbeschreibung im Tagebuch steht in engem Zusammenhang mit

dem ebenfalls 1942 entstandenen Essay Paris und das Wasser, der eine an die afrikanischenEssays erinnernde Form ‚elementarischer Völkerkunde‘ erprobt und die leiblich-seelischeKonstitution der Pariser auf die Lage der Stadt zwischen Flüssen und in der Nähe des Atlan-tiks, auf Feuchtigkeit und Winde, zurückführt. Damit wendet Nebel ein Verfahren an, dassich auch in der Schrift Von der Umwelt aus dem Corpus Hippocrateum findet, in der dieKrankheiten und Temperamente von Städtebewohnern verglichen und in Relation zur jewei-

182 Gerhard Nebel

Die paradigmatische Funktion der spätantiken Naturphilosophie auch fürdas Tagebuch zeigt sich vor allem an der wiederholten Herstellung vonPolaritäts- und Korrespondenzrelationen zwischen Mikro- und Makrokos-mos. Dadurch gewinnen die Aufzeichnungen nicht nur eine klimatologi-sche Dimension, sondern erhalten darüber hinaus auch einen ausgespro-chen medizinischen, ätiologischen und therapeutischen Charakter. DerVerfasser kann dabei an Poseidonios’ Ausführungen zum Kräftezusammen-hang des Körpers und dessen Beeinflussung beispielsweise durch Mondpha-sen und Gezeitenwechsel und an ähnliche Aussagen bei Platon, Aristotelesund Polybios anknüpfen.92 Er kann aber auch auf das in den Schriften desCorpus Hippocrateum verzeichnete Wissen der antiken Medizin zurückgrei-fen, die die Elementenlehre in eine medizinische Theorie überführte undauf ihrer Grundlage unter anderem die Theorie der vier Säfte und derHumores sowie therapeutische und diätetische Programme entwickelte.93

Die hippokratischen Ärzte betrachteten den Menschen ebenfalls als Mikro-kosmos, der sich aus denselben Substanzen zusammensetzt wie der Makro-kosmos, also Teil der göttlichen Allnatur ist.

Einen hippokratischen Charakter haben Nebels Aufzeichnungen vorallem da, wo er die heilende Wirkung von Meeresbädern beschwört. DasBaden wird von ihm zur therapeutischen Maßnahme erklärt und zugleichzu einem kultischen Ritus stilisiert. Er erlebt das Eintauchen in das Elementsowohl „als Reinigung des Gemütes und der Stimmung wie als Erfrischungdes Körpers“.94 Bei jedem Bad gehe „eine geheime Intention auf Reinigungnicht nur der Haut, sondern auch der Seele“; die Frische, die man danachempfinde, sei „nicht auf den Leib beschränkt“.95 Das Wasser wird dabei inder Geschlechterpolarität als weiblich-mütterliche Sphäre gefasst und demFeuer als einer „aktive[n] und höchst männliche[n] Potenz“ entgegen-gesetzt.96 Sein „elementare[s] Wesen“ verhindere „alles Schroffe, Gegensätz-liche, Kantige“ und sorge „für Ausgleich, Nivellierung und Harmonie.“97

Nebel greift damit die antike Analogisierung der See mit dem Weiblichenund mit der Seele auf:

ligen Lage ihrer Stadt, insbesondere zu den Wind- und Himmelsrichtungen, gesetzt werden.Vgl. Die Schrift von der Umwelt, in: Hippokrates, Von der Umwelt, S. 92–122, bes.S. 94 ff.

92 Siehe hierzu Reinhardt, Kosmos und Sympathie, S. 45 ff.93 Klassische Formulierungen der Vier-Säfte- und der Umwelt-Lehre finden sich bei Polybios

Die Natur des Menschen (ca. 380 v. Ch.) und in der bereits zitierten Schrift Von der Umwelt.Siehe hierzu auch die Einleitung von Wilhelm Capelle in: Hippokrates, Von der Umwelt,S. 11–59. Zur Transformation der Elementenlehre in eine medizinische Theorie siehe Ger-not Böhme/Hartmut Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemen-te, München 1996, S. 166 ff.

94 Nebel, Bei den nördlichen Hesperiden, S. 289.95 Ebd., S. 45.96 Ebd., S. 61.97 Ebd.

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Jeder tiefere Betrachter der See vergleicht sie mit der Seele und belebt damit diealte Lehre vom Mikrokosmos. Auch die Seele, nicht nur das Weltall, enthält dieElemente, auch sie umschließt das Verläßlich-Mütterliche der Erde und dasSchrecklich-Gewagte des Wassers, und weil das der Fall ist, darum können die Ele-mente für das Selbst- und Seinsverständnis so bedeutsam werden.98

Immer wieder werden die antiken Lehren von den Elementen und vonMakro- und Mikrokosmos von Nebel als eine Art Wahrnehmungstechnikund deren Anwendung als etwas wie Lebenskunst beschrieben. Daher hängtder therapeutische Effekt der Elemente für ihn auch entscheidend von derEinstellung des Betrachters ab: Nur der, dem die Elemente nicht „als tote,dumpfe Materie erscheinen“, erfährt die „göttliche Kraft“ der Elemente und„vernimmt“ „leibhaftig“ das „Hen kai Pan“.99 Vergleichbar werden auchErde, Feuer und Luft in ihrer leiblich-seelischen und therapeutischen Wir-kung geschildert. Ebenso wie das Bad in der See „heilt“ das in der Sonne „inder Tat fast alles“ und „wirkt tief in das Seelische hinein“.100 Wind undSturm dagegen stören die Harmonie von Mensch und Umwelt, sie greifenden Körper an und trüben damit auch die seelische Befindlichkeit:

Doch hier ist mir des Guten zuviel, und man fühlt, daß die ständige Unruhe, gegendie der Körper sich mühsam zu halten hat, auch auf die Seele einwirkt. Auch an ihrreißt und zerrt der Sturm; er beeinträchtigt ihr ausgeglichenes Gefüge, zumal dieGeborgenheit, die man in Guernsey hinter Mauern und in Hohlwegen fand, hierfehlt. So meine ich fast, daß der chaotische und wüste Eindruck, den die Inselmacht, ebensosehr im Geist des Betrachters wurzelt, dem die Winde des Kanalszugesetzt haben, wie in der ungeordneten und harmonielosen Wirklichkeit. Mansehnt sich nach windstillem Sonnenfrieden. Auch friert mich ständig, nicht weil eskalt, sondern weil es stürmisch ist, und jeder von uns leidet an einem leichten Bla-senkatarrh.101

Die therapeutische Betrachtung wird, wie hier, häufig von ätiologischenÜberlegungen ergänzt. Mehrfach skizziert Nebel in seinem TagebuchKrankheitsbilder sowohl eigener Gebrechen als auch der von Kameraden,wobei ihn nach eigenem Bekunden die „körperlichen oder bakteriellenÄtiologien“ weniger interessieren als die „seelischen Ursprünge“.102 Da „dasSeelische und das Körperliche nicht getrennt nebeneinander“ existierten,sondern „ineinander verflochten“ seien, halte er es „für wahrer, den Körpervon der Seele als die Seele vom Körper her zu interpretieren.“103 JedeKrankheit müsse daher in die „menschliche Ganzheit von Seele und Körperhineingestellt werden“.104

98 Ebd., S. 163.99 Ebd., S. 101.

100 Ebd., S. 215.101 Ebd., S. 115.102 Ebd., S. 314.103 Ebd.104 Ebd.

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6. Umwelt, Rasse, Freiheit.Nebels Auseinandersetzung mit der Rassenbiologie

Die ganzheitliche Anthropologie, zu der sich Nebel in der zuletzt zitiertenPassage ausdrücklich bekennt, weist einige Ähnlichkeiten mit Positionenauf, die auch von im ‚Dritten Reich‘ anerkannten Wissenschaftlern vertre-ten wurden. Wie zuvor bereits gezeigt wurde, erfüllten gerade die BegriffeUmwelt und Stimmung eine wichtige Funktion in den anthropologischenTheorien von Bollnow und Gehlen, die den Denkansatz der Philosophi-schen Anthropologie während des Nationalsozialismus nationalpädagogischzu transformieren versuchten.105 Nebel selbst scheint seine ganzheitlich-ele-mentarische Betrachtungsweise allerdings als eine Art geistige Oppositionzum NS-Staat verstanden zu haben. Dies wird vor allem daran deutlich, wieer die antike Elementenlehre in seinen Essays gegen die völkische Zivilisa-tionskritik und die Rassenbiologie ausspielt.

Beispielhaft hierfür sind seine beiden 1942 in Paris entstandenen – undnach Angabe des Autors dort 1942 auch erschienen – Essays Paris und dasWasser undÜber einen Zug des französischen Wesens. Darin greift er das völki-sche Stereotyp von der verweiblichten und schwächlichen französischenZivilisation und die geschlechtertypologische Entgegensetzung zum männ-lich-deutschen Wesen auf, vermeidet aber in auffälliger Weise die gängigenWertungen.106 Zwar wird das französische Wesen auch in diesen Essays mitdem Weiblichen, Weichen und Geschmeidigen identifiziert. Diese Eigen-schaften werden jedoch durch ihre klimatologische Erklärung als Ausdruckeines elementaren Seins, mithin als natürliche vorgestellt, nicht als Resultateines degenerativen Zivilisationsprozesses. Aufgrund seiner besonderenNähe zum Wasser, seiner Lage an der Seine und unweit des Atlantiks,erscheint Paris hier sogar als besonders ursprüngliche und vergleichsweise

105 Vgl. dazu Kap. I, 5. und I, 6.106 Ein Beispiel für den im ‚Dritten Reich‘ herrschenden Frankreich-Diskurs und das im Krieg

noch forcierte Bemühen um eine ‚Entmythisierung‘ von Paris gibt Fred K. AngermayersKriegsfeuilleton Abrechnung mit Paris. Paris wird darin als „krankes Weib“ metaphorisiert,das die Welt allzulange mit „seinen Tändeleien, seiner Mode, seinem sinnlosen Flitter, sei-nem Leichtsinn und abwegigen Freiheitsideen“ verwirrt und betäubt habe (Fred A. Anger-mayer, Abrechnung mit Paris, in: Wilfrid Bade/Wilmont Haacke [Hg.], Das heldische Jahr.Front und Heimat berichten den Krieg. 97 Kriegsfeuilletons, mit einem Vorwort von Reichs-pressechef Dr. Dietrich, Berlin 1941, S. 5–11, hier S. 11). Der entlarvende Gestus des Arti-kels zeigt sich insbesondere in der Beschreibung der einzelnen Quartiere. Die an den Innen-boulevards gelegenen Stadtviertel der „Genußgier und Verführung“, die von einem „schierunglaublichen Leichtsinn angetrieben, spielerisch, kokett und verweichlicht“ erschienen,würden von einem „Elendsgürtel umkränzt“, der „wie ein Fluch den ganzen sinnlosenLuxus“ überschatte (S. 9).

Umwelt, Rasse, Freiheit 185

unzivilisierte Großstadt.107 Die kritische Intention dieser Umwertung mitBlick auf die antifranzösische Propaganda im ‚Dritten Reich‘ lässt sich etwaan der folgenden Passage erkennen:

Wie also die Jugend kein Lob, das Alter keinen Tadel einschließt, so soll auch mitder Vermutung, daß die auf Frankreichs Erde herrschende Gottheit ein Weib ist,das französische Wesen nicht erniedrigt werden. Im Gegenteil: Hier sind vielleichtReserven verborgen, hier warten vielleicht elementare Kräfte darauf, hervorzutre-ten, von denen wir Deutsche uns nichts träumen lassen. Die Frau entfernt sich jaimmer weniger vom Elementaren als der Mann […].108

Wenn man bei der Lektüre von Nebels Essays immer wieder den Eindruckeiner Ambivalenz im Verhältnis zum völkischen Diskurs gewinnt, dann vorallem deshalb, weil in ihnen ebenfalls anthropologische Wesenheiten be-hauptet und gelegentlich dieselben Begriffe verwendet werden. In NebelsVorstellung bildete die naturphilosophische Sichtweise jedoch den genauenGegenpol zum herrschenden Biologismus. Die indirekte Auseinanderset-zungmit dem ‚Dritten Reich‘, die er in seinen Essays und Tagebüchern führt,ist im Wesentlichen eine Auseinandersetzung mit dem vermeintlich natur-wissenschaftlichen Determinismus der Rassenbiologie. Im Kriegstagebuchschreibt er an einer Stelle, man habe den „biologischen Materialismus“ zur„ideologischen Grundlage der Despotie und des Krieges gemacht“.109

Diese biologistische Anthropologie wird von ihm nun aber nicht aushumanistischer Sicht, im Rekurs auf Geist und Geschichte, konterkariert.Vielmehr bemüht er sich um eine naturphilosophische Begründung derwesensmäßigen Indetermination bzw. Freiheit des Menschen. Die Freiheitals die den Menschen auszeichnende und vom Tier unterscheidende Beson-derheit leitet er nämlich aus einem natürlichen Mangel ab: Er erklärt sie alsUnbestimmtheit. Im Unterschied zum Tier sei der Mensch kein Spezialistund kaum instinktgebunden. „Biologisch“ betrachtet sei er „keineswegs dieKrone der Schöpfung“.110 Er sei ein „Wesen der Freiheit und Indiffe-renz“.111 Und weil ihm der Instinkt „als extreme Gebundenheit und Spezia-lisierung“ fehle, sei er dazu angehalten, sich „in der schöpferischen Indiffe-renz“ zu halten.112 Damit greift Nebel ein Axiom der Philosophischen

107 „Die Weltstädte zeigen ein Streben nach dem Trockenen; ihr Stoff ist der starre Stein, ihreForm der scharfe, zerrissene Kontur, und so ist auch der Geist der Zivilisation ein Erzeugnisder trockenen Kälte. Paris dagegen ist seinen feuchten Ursprüngen treu geblieben, und so hates denn eine glückliche Distanz zum Zivilisatorischen gewahrt. Es ist natürlicher gebliebenals die andern Städte dieses Maßes.“ (Nebel, Von den Elementen, S. 33; Paris und das Was-ser)

108 Ebd., S. 37.109 Nebel, Bei den nördlichen Hesperiden, S. 187.110 Ebd., S. 188.111 Ebd.112 Ebd. – Nebel bezieht sich mit diesen Aussagen auf die Schrift des Zoologen und ‚Tierpsycho-

logen‘ Herbert Fritsche, Tierseele und Schöpfungsgeheimnis (1940), die er während seiner Sta-tionierung auf Alderney las und die ihm wesentliche Argumente gegen den ‚biologischen

186 Gerhard Nebel

Anthropologie auf, für das Scheler den Begriff der ‚existentiellen Entbun-denheit‘ geprägt hatte und Plessner den der ‚Exzentrizität‘ des Menschen.113

Gerade seine häufigen Schilderungen von Tieren dienen dazu, das Spezi-fisch-Menschliche im Kontrast zur tierischen Instinktgebundenheit hervor-treten zu lassen, es also in der Polarität von Notwendigkeit und Freiheit zubestimmen. Die Betrachtung der Tiere sei für den Menschen deshalb sofruchtbar, schreibt er im EssayDas Aquarium, weil er sich dabei der „furcht-baren Gabe der Freiheit“ bewusst werde.114 Dem Tier sei die „Freiheitfern“, der Mensch hingegen sei mit dieser Gabe „zugleich beglückt undbestraft“.115 Das Axiom der Entbundenheit dient hier dazu, die Indetermi-nation des Menschen natürlich zu erklären. Während das Tier seineWesenszüge „mit allem Elementaren und allen Gestalten des untermensch-lichen Lebens“ teile, sei der Mensch, als „einzelne und abgesonderte Krea-tur“, aufgrund seiner „Armut“ an Instinkt mit „Sinnen“ und „Gedächtnis“ausgestattet, die es ihm ermöglichten, Erfahrungen zu machen.116

Der Ansatz der Philosophischen Anthropologie stößt jedoch dann anGrenzen, wenn die Freiheit nicht allein im Sinne von natürlicher Unbe-stimmtheit, sondern im Sinne von Willensfreiheit aufgefasst werden soll.Das wird in Nebels Essay über die Freiheit der Stoa deutlich, der ebenfallsdie Frage nach dem Spezifisch-Menschlichen, also nach dem Punkt, andem der Mensch sich von der „Tierheit“ ablöse, verhandelt.117 Freiheitwird hier als Stimmung bestimmt, die alle Handlungen lenkt, und zwar imSinne einer grundsätzlichen, ethischen Entscheidung zwischen „Gut- undSchlechtsein“.118 Mit der Stimmung ist also einerseits eine psycho-physi-sche Korrespondenz gemeint und andererseits die Sphäre der Entschei-

Materialismus‘ an die Hand gab. Fritzsche, der sich u. a. auf die spekulative Paläontologieund Mythenforschung Edgar Dacqués beruft, spricht darin von einer ‚kopernikanischenWende‘ der gegenwärtigen Wissenschaft, die daran manifest werde, dass auch die „physika-lischen und chemischen Forschungsdisziplinen“ nun die „Beseelung der Unendlichkeit“ unddie „Weltseele Goethes“ wiederentdeckt hätten: „Erst entseelte die Wissenschaft den Him-mel, sodann die Erde. Zuletzt verstieg man sich so weit, das Pflanzen- Tier- und Menschen-leben auf dieser entseelten Erde für einen komplizierten Sonderfall physikalischer und che-mischer Tatsachen hinzunehmen, den es mit allerfeinster, allerexaktester Methodik in seinemMechanismus zu ergründen gelte. […] Der tote Stoff sollte das Geheimnis des lebendigenhergeben. Die Biologie wurde zu einer Grenzwissenschaft der Physik und der Chemieerniedrigt. Heute stehen die führenden Physiker der Gegenwart gleich ihrem BahnbrecherKopernikus abermals vor einem Fremden, uferlos Unendlichen: vor dem Abgrund der Meta-physik“ (Herbert Fritsche, Tierseele und Schöpfungsgeheimnis, Leipzig 1940, S. 10 f.).

113 Vgl. dazu Kap. I., 2 b.114 Nebel, Von den Elementen, S. 42 (Das Aquarium). – Der Essay erschien zuerst in: Monats-

schrift für das deutsche Geistesleben 42 (1941), H. 2, S. 51–56.115 Ebd., S. 42.116 Ebd., S. 42 f.117 Nebel, Feuer und Wasser, S. 149 (Die Freiheit der Stoa).118 Ebd., S. 150.

Umwelt, Rasse, Freiheit 187

dungsfreiheit.119 Nebel greift bei diesem Versuch, ethische Entscheidungs-freiheit anthropologisch zu begründen, auf die stoische Ethik zurück, undinsbesondere auf ihre Bestimmung des Gutseins als Homologie, als Über-einstimmung von seelischer Befindlichkeit und äußerer Lebenssituationoder „Einheit mit sich selbst“.120 Damit kann er aber nicht den Wider-spruch auflösen, dass die so verstandene Stimmung in der Stoa das Resultateiner in ethischen Entscheidungen begründeten Lebensführung, nämlichdas Ergebnis diätetischer Maßnahmen ist und als solches nicht selbst dieInstanz der ethischen Entscheidung sein kann.

Im Zentrum von Nebels Kritik des ‚biologischen Materialismus‘ stehtdie Auseinandersetzung mit dem Rassebegriff. Und gerade hier tritt dieSchwierigkeit einer naturphilosophischen Kritik der biologistischen An-thropologie besonders deutlich zutage. Schon bei der Behandlung der afri-kanischen Essays wurden rassistische Züge an Nebels elementarischer Be-schreibung der verschiedenen Ethnien festgestellt. Zwar erklärt er dieDifferenzen zwischen diesen auch dort mit Umwelteinflüssen und nicht mitgenetischen Anlagen. Da er den Umwelteinflüssen aber eine den Charakterformende Wirkung zuschreibt und äußere Erscheinung und mentale Dis-positionen als Einheit betrachtet, unterscheidet sich seine Beschreibung aneinigen Stellen kaum vom völkischen Rassismus. Anscheinend war sich derAutor dieser problematischen Nähe selbst bewusst. Denn er versucht seineDarstellung immer wieder von der Rassenideologie abzugrenzen. Etwa,wenn er am Beispiel der Buren die Veränderlichkeit der leib-seelischenGestalt durch das Klima herausstellt. Oder wenn er in Über einen Zug desfranzösischen Wesens bemerkt, dass alle Rassen unter denselben Umwelt-bedingungen in derselben Weise verwandelt würden: Dem weiblich-feuch-ten Element seien „nach und nach alle Rassen unterlegen, die diesen [fran-

119 Im späteren Essay über Platon und die Unsterblichkeit der Seele versucht Nebel die Eigenstän-digkeit der Seele innerhalb des psychosomatischen Komplexes mit Rückgriff einerseits aufdie von Bergson verwendete Metapher des Filters und andererseits auf die Hirnforschung zuerklären. Das „Großhirn“ – als ein den Instinktmangel kompensierendes und den Menschenauszeichnendes Organ – fungiert in dieser Sicht als „Filter der Seele“, als ein „Gitterwerk“,durch das „die beiden sonst getrennten Wesenheiten“miteinander „kommunizieren“ (Nebel,Griechischer Ursprung, S. 132 f.). Auch in Dämonologie des Blutes nimmt er – in ähnlicherWeise wie Benn – indirekt auf die Hirnforschung Bezug, wenn er über den Menschenschreibt: „Seine biologische Substanz wird nicht vom anatomischen Gerüst getragen, son-dern vom Großhirn als dem Ort, an dem jene unkörperliche und eigentliche Wesenheit sichim Physischen darstellt, und so wird schon aufgrund naturwissenschaftlicher Überlegungendeutlich, daß er ein Wesen der Möglichkeiten, der Entscheidung und der Freiheit ist“ (Ne-bel, Tyrannis und Freiheit, S. 150).

120 Nebel, Feuer und Wasser, S. 151 (Die Freiheit der Stoa). – Nebel setzt bei der Bestimmungder Homologie allerdings einen anderen Akzent, da er als idealen Seelenzustand nicht die„mit sich selbst identische Langeweile“ ansieht, sondern die – vor allem in Jüngers Textenbeschriebene – abenteuerliche „Hingabe an das Begegnende“ (ebd.).

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zösischen, G.S.] Boden betraten und besetzten.“121 Diese Verwandlung sei„nicht weiter aufzulösen“ und müsse daher „in der Landschaft und nicht inRasse, Sprache und Kultur begründet sein.“122

Im Essay über Die Freiheit der Stoa greift Nebel die Frage nach der prä-genden Kraft von Umwelt und Rasse dann wieder auf, und zwar im Zusam-menhang mit einer grundsätzlichen Reflexion über Freiheit und Determi-nation. Hier wird auch deutlich, dass sein Rückgriff auf die – in dieser Zeitin Deutschland als ‚semitisch‘ diskreditierte123 – stoische Naturphilosophiemit der Intention verbunden war, in ihr ein metaphysisch ausgerichtetesGegenmodell zum rassenbiologischen Determinismus im ‚Dritten Reich‘ zufinden. In der zweiten Fassung des Essays aus dem Jahr 1948 setzt Nebel diestoische Anthropologie dann auch explizit in Opposition zum „Rassis-mus“.124 In der stoischen Lehre, so schreibt er dort, stelle sich „geradezubeispielhaft der Sieg des Geistes über das Blut dar“.125 Diese Behauptungist allerdings problematisch. Denn sie trifft in solcher Klarheit nur auf dieEthik der Stoa zu, nicht jedoch auf die Naturlehre mit ihrem leiblich-see-lischen Erklärungsansatz. Genau besehen liegt das Problem darin, dassNebel beide Ebenen in seiner Argumentation zu verbinden versucht. Sobezeichnet er die Freiheit als „Kern“ des Menschlichen, räumt zugleich aberein, es gebe „weite Bestände im Gesamtgefüge des Menschen, die der Frei-heit entzogen“ seien.126 Zu letzteren zählt er alles „Umweltliche“, „Körper-liche“ und auch „vieles Seelische“.127

In diesem Zusammenhang äußert sich Nebel in der ersten Fassung desEssays auffällig vage zu der Frage nach der Bestimmung des Menschendurch ‚rassische‘ Faktoren. Einerseits konstatiert er – und darin kann mandurchaus ein Zugeständnis an den damaligen rassebiologischen Diskurserkennen –, dass die „Notwendigkeit“, der die Seele „in einem bestimmten

121 Nebel, Von den Elementen, S. 40 (Über einen Zug des französischen Wesens).122 Ebd.123 Die Diskussion um den ‚semitischen‘ Charakter der stoischen Philosophie reichte bis in die

zwanziger Jahre zurück. In einem Aufsatz von 1926 versuchte Max Pohlenz, ausgehend vonder These, der Begründer der Stoa, Zenon, sei semitischer Herkunft gewesen, „den semiti-schen Einschlag im Stoizismus“ nachzuweisen. Diesen machte er einerseits in der Ausdeh-nung des Naturgesetzes auf das Innere des Menschen aus, im stoischen „Fatalismus“, derauch die antike ‚semitische Astrologie‘ kennzeichne, zum anderen im Pflichtethos, das demgriechischen Freiheitskonzept entgegenstehe. Vgl. Max Pohlenz, Stoa und Semitismus, in:Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 2 (1926), S. 257–269, hier S. 268.Nebel hat diese Auffassung und insbesondere Pohlenz’ Versuch, „die Stoa zu einem Erzeugnissemitischen Blutes zu machen“, in der zweiten Fassung der Freiheit der Stoa ausdrücklichkritisiert – allerdings nicht, weil er eine solche Betrachtungsweise an sich für verfehlt hielt,sondern weil es ihr seiner Meinung nach an „physiognomischem Takt“ fehlte (vgl. Grie-chischer Ursprung, S. 336).

124 Nebel, Griechischer Ursprung, S. 336 (Die Freiheit der Stoa. Neue Fassung).125 Ebd., S. 335.126 Nebel, Feuer und Wasser, S. 148 (Die Freiheit der Stoa).127 Ebd.

Umwelt, Rasse, Freiheit 189

Volk, in einer Familie, unter besonderen Erbverhältnissen und in einer Ras-se“ unterworfen sei, weniger „Spielraum“ zulasse als die Bedingtheit durchdie Umwelt.128 Es sei dies ein Umstand, den die Stoa „ignoriert oder nichtgekannt“ habe.129 Andererseits plädiert er dafür, die „Antinomie zwischenerlebter Freiheit und von außen gewußter Schranke“ nicht „rationalistischzugunsten des einen oder anderen Gliedes“ aufzuheben.130 Stattdessenschlägt er vor, sich auf die platonische Präexistenzlehre zu besinnen, welcheden Gedanken erlaube, „daß vor dem Eintritt der Seele in einen Erbzusam-menhang ihre freie Entscheidung zu diesem Schicksal liegt“.131 Damitersetzt er den biologistischen Rassebegriff durch einen metaphysischen, derden Konnex von Rasse und Seele jedoch nicht nur nicht auflöst, sonderndie Rassezugehörigkeit auch noch als Ergebnis einer schicksalhaften Ent-scheidung erklärt. Nirgends wird deutlicher als hier, wie wenig der vonNebel geforderte Rückgriff auf den „metaphysischen Mythos“132 geeignetwar, den völkischen Glauben an die rassische Bestimmung des Menschen zuwiderlegen – oder auch: welche Aporien sich aus einer naturphilosophi-schen Argumentation im ‚Dritten Reich‘ ergaben.

Nebels ambivalente Stellungnahmen zur Rasse und zur Rassenbiologiedürfen nicht nur als taktische Annäherung an den herrschenden Diskursverstanden werden. Vielmehr ist ihre Ambivalenz in der (synkretistischen)Verwendung naturphilosophischer und naturwissenschaftlicher Theoremeund Figuren begründet. Dies wird insbesondere in dem am Kriegsende ver-fassten und 1947 publizierten Essay Dämonologie des Blutes deutlich. Wiedie anderen in Tyrannis und Freiheit versammelten Beiträge hat dieser Essayden Charakter einer Bilanzierung und Abrechnung mit Krieg und Diktatur,die allerdings im Hinblick auf den Rassismus des ‚Dritten Reichs‘ kaum ein-deutiger ausfällt als in den früheren Äußerungen. Im Zentrum der Kritiksteht auch hier der Vorwurf, die nationalsozialistische Rassenkunde undWeltanschauung sei auf einem unhaltbaren biologischen Determinismusbegründet gewesen. Zwar habe die Vererbungsbiologie „ein durchaus sachli-ches Fundament“, doch sei sie von den Nationalsozialisten fälschlich „zumRang einer Metaphysik“ erhoben und zum Kern einer politischen Welt-anschauung gemacht worden.133 Den ‚Rationalismus‘ und die ‚Modernität‘der nationalsozialistischen Weltanschauung wie überhaupt jedes ‚Rassismus‘

128 Ebd.129 Ebd.130 Ebd. – Diese Ambivalenz bestimmt gleichermaßen die zweite Fassung des Essays, in der

Nebel der Anerkennung der vielfältigen Determination des Menschen allein die „innereErfahrung“ seiner Entscheidungsfreiheit entgegensetzt (Griechischer Ursprung, S. 344).

131 Nebel, Feuer und Wasser, S. 149 (Die Freiheit der Stoa). Vgl. dazu auch die Aussagen zurPaligenesie im Essay Platon und die Unsterblichkeit der Seele in: Griechischer Ursprung, bes.S. 170 f.

132 Nebel, Feuer und Wasser, S. 148 (Die Freiheit der Stoa).133 Nebel, Tyrannis und Freiheit, S. 96 (Dämonologie des Blutes).

190 Gerhard Nebel

erkennt Nebel darin, dass diese eine anthropologische Determinante inForm eines Monokausalismus verabsolutieren würden.134 Seine Kritik rich-tet sich also gegen die vermeintlich naturwissenschaftliche Begründung derRassenkunde und mündet in den Vorwurf, die Nationalsozialisten hättendas „Geheimnis der Rasse“ rational auflösen wollen.135

Damit traf Nebel einen wichtigen Aspekt der rassenideologischen Pro-paganda im ‚Dritten Reich‘. Tatsächlich hatten die führenden NS-Rassen-kundler stets die Wissenschaftlichkeit ihrer Lehre betont. Selbst Rosenberghatte die Rassenkunde als „neue Wissenschaft“ und als „exakte wissenschaft-liche Forschung“ deklariert.136 Allgemein fungierte die Biologie, genauergesagt die Vererbungsbiologie, im ‚Dritten Reich‘ als Leitwissenschaft undgalt weithin auch als wissenschaftliche Basis der nationalsozialistischenWeltanschauung. Wie Carsten Könneker gezeigt hat, beruhte diese Hoch-schätzung der Biologie auf einem übersteigerten ‚Glauben‘ an die Gültigkeitdes Kausalgesetzes. Obwohl längst erwiesen war, dass die MendelschenRegeln nur statistische Relationen beschrieben, wurden sie von den Rassen-kundlern des ‚Dritten Reichs‘ als kausale Gesetze behandelt.137 Und mehrnoch: Das Kausalgesetz selbst galt den Nationalsozialisten als Ausdruckeiner spezifisch ‚germanischen‘ „Naturerforschung“, die in Opposition zurmathematisch-physikalischen Naturwissenschaft und insbesondere zur ‚jü-dischen‘ Physik gesehen wurde.138 Vor diesem Hintergrund erweist sich

134 Zur ambivalenten Bewertung der biologistischen Rassenlehre vgl. auch Nebel, Das Grie-chentum als Museum. Darin kritisiert Nebel eine Lehre, die die Bedeutung der griechischenAntike für die Deutschen allein rassisch begründet und weist den geistigen Prägungen eineebenso große Bedeutung zu: „Es geht nicht an, wie es manche Vertreter der Rassenlehre tun,unser Verhältnis zur Antike auf das Nebengleis einer parallelen Ausprägung desselben Bluter-bes abzuschieben […]. Die Geschichte fließt auch noch aus anderen Strömen als denen desBlutes zusammen, und in diesem Sinne hat unser Wesen drei Ursprünge: den bluthaften desGermanentums und die beiden geistigen des Griechentums und der Verkündigung des Jesusvon Nazareth“ (S. 45).

135 Nebel, Tyrannis und Freiheit, S. 146 (Dämonologie des Blutes).136 Alfred Rosenberg, Weltanschauung und Wissenschaft, München o. J. [1937] (= Nationalso-

zialistische Wissenschaft. Schriftenreiche der N.S. Monatshefte, H. 6), S. 5 f.137 Vgl. Carsten Könneker, „Auflösung der Natur – Auflösung der Geschichte“. Moderner

Roman und NS-„Weltanschauung“ im Zeichen der theoretischen Physik, Stuttgart/Weimar2001, S. 299–311, bes. S. 304 f.

138 Rosenberg, Weltanschauung und Wissenschaft, S. 5. Zum Kausalgesetz heißt es dort u. a.:„Man hörte in den letzten Jahren manchesmal, das mechanistische Zeitalter der Wissenschaftsei gestorben, der Kausalitätsbegriff sei überwunden und durch andere ersetzt worden. Wennwir dies hören, so müssen wir dem Bekenntnis zur exakten Wissenschaft genau so stark dasBekenntnis zu einer strengen Erkenntniskritik hinzufügen. Denn die Fragen nach derUrsächlichkeit auf allen Gebieten des Lebens sind ein Urgesetz dieses unseres Daseins unddieses Denkens. […] die innere und äußere Gesetzmäßigkeit des Lebens, des Universums zuerweisen, wird immer Ziel germanischer Forschungstätigkeit bedeuten, und wer etwas ande-res will, der will nicht Wissenschaft, sondern zaubern“ (ebd., S. 6.) Vgl. dazu auch Könneker,Auflösung der Natur – Auflösung der Geschichte, S. 308. Ob man die „ins Maßlose ver-kehrte Wertschätzung des genetischen Kausalgesetzes“ allerdings „nur vor dem Hintergrund

Umwelt, Rasse, Freiheit 191

Nebels Kritik am Determinismus der NS-Rassenbiologie als ebensogerechtfertigt wie sein Vorwurf, die Nationalsozialisten hätten dem geneti-schen Ursache-Wirkung-Prinzip einen metaphysischen Rang eingeräumt.

Erkennbar wird aber auch, dass sich Nebels Kritik an der Rassenideo-logie nicht als Opposition einer philosophischen zu einer naturwissen-schaftlichen Argumentation begreifen lässt. Denn Nebel wie die nationalso-zialistischen Rassenkundler bedienen sich sowohl naturwissenschaftlicherals auch philosophischer bzw. religiöser Argumente. Während die National-sozialisten die Vererbungsgesetze metaphysisch überhöhen, deutet Nebeldie ‚Rassen‘ als metaphysische Wesenheiten. Er bezeichnet sie in Dämono-logie des Blutes als „wesentliche Faltungen des Menschlichen“ im Sinne einerschon im Schöpfungsursprung angelegten Differenz.139 Dabei spricht erden Kräften des Blutes, insbesondere dem Geschlechtstrieb, metaphysischeBedeutung zu: Das Geschlechtliche sei der Ort, an dem sich „zwei Blutbah-nen“ mischten, weil sich das „Blut der Partner anzieht“; der Ort, an dem„der aus grauer Vorzeit heranfließende Blutstrom übernommen und in eineunbestimmte Zukunft weitergesandt“ werde.140 Diese Sichtweise scheintvon der Blutmetaphysik der Nationalsozialisten nicht allzu weit entfernt zusein. Tatsächlich teilt Nebel nicht nur die – gegen die ‚rationalistischen‘Gleichheitspostulate gerichtete – Auffassung der wesenhaften rassischenUnterschiede zwischen den Menschen,141 sondern auch die Vorstellung,dass die Differenzierung der ‚Rassen‘ einen metaphysischen Ursprung habe.Der entscheidende Unterschied zum völkischen Rassediskurs liegt darin,dass er diesen Ursprung bzw. das metaphysische Prinzip nicht als Kausalität,sondern als Indeterminismus fasst. Dafür steht bei ihm der Begriff des ‚Ge-heimnisses‘: Der Ort, an dem die Menschen – und ebenso die Tiere undPflanzen – „während der Schöpfung standen“,142 sei als Geheimnis zubegreifen, weil dort keine Kausalbeziehungen zwischen Blut und Geistherrschten. Eben dies Geheimnis hätten die nationalsozialistischen Rassen-

einer pathologischen Abneigung gegenüber der modernen Physik und ihrem statistischemCharakter“ (ebd., S. 306) erklären kann, wie Könneker meint, erscheint fraglich.

139 Nebel, Tyrannis und Freiheit, S. 142 (Dämonologie des Blutes).140 Ebd., S. 140.141 Auch für Nebel steht es außer Zweifel, dass „bestimmte Dinge nur von bestimmten Rassen

geleistet werden können“, ein „Chinese“ etwa keine „Bachsche Musik komponieren“ und ein„Neger“ keine „Kantische Philosophie entwerfen“ könne (ebd., S. 145). Dem Rassismus hälter ausdrücklich zugute, nicht systematisch-vergleichend zu verfahren, sondern „mit physio-gnomischem Takt“ eine „Schau von Einheiten“ versucht zu haben, um „ausdrucksmäßigeGanzheiten“ zu unterscheiden (ebd., S. 147). Die Identifikation geistiger und körperlicherMerkmale und die Differenzierung der ‚Rassen‘ in Hinblick auf ihre Ursprungsnähe hatauch bei Nebel eine antisemitische Tendenz. So spricht er den Schriftstellern jüdischer Her-kunft das schöpferische Potential ab: „Fast keiner von den jüdischen Dichtern lebt in derUrsprünglichkeit der zeugenden Bedeutungsartikulation, sondern sie verharren in der Gän-gigkeit der geleerten Hülsen“ (ebd., S. 162 f.).

142 Ebd., S. 151.

192 Gerhard Nebel

kundler verletzt, indem sie versuchten, „geistige Verhältnisse“ mit „biologi-schen Begriffen“ zu erfassen.143

In diesem Zusammenhang beruft sich Nebel nun selbst auf die Natur-wissenschaft, allerdings nicht auf die ‚mechanistische‘ Biologie des ‚DrittenReiches‘, sondern indirekt auf den Indeterminismus der modernen Physik,insbesondere der Quantenmechanik. Mit dem weiteren Vordringen der„Wissenschaft“, so schreibt er, werde „der »geistige«, der überkörperlicheCharakter des Lebens“ immer klarer zu Tage treten.144 Ebenso wie Jüngerund Benn deutet er die – ihm offenkundig nur aus zweiter oder dritterHand bekannten – Erkenntnisse der neuesten Physik und Molekulargenetikhier als Rückkehr zur Metaphysik. Die neuen Theorien über Zellkerne,Atome und Gene bestätigen ihn in seiner im Umgang mit der PlatonischenPhilosophie gewonnenen Einstellung, alles Körperliche als Ausdruck vonmetaphysischen Wesenheiten zu betrachten. Demgemäß interpretiert er diemoderne Physik als Bestätigung und Aktualisierung des naturphilosophi-schen Wissens der Antike, als Annäherung an die alte Lehre der Einheit vonGeist und Materie: „Nicht nur das »Leben« verflüchtigt sich gleichsam inmetaphysischen Energien und löst sich vom Physischen ab, sondern auchdie sogenannte Wirklichkeit der Welt.“145

7. Metaphysik vs. Humanismus.Zeitkritik nach dem Zweiten Weltkrieg

Als zwischen 1947 und 1950 in rascher Folge die Sammlung Von den Ele-menten, die Kriegstagebücher, die Abhandlungen über Ernst Jünger sowiedie beiden Essaybände Tyrannis und Freiheit und Griechischer Ursprungherauskamen, schien es, als könnte Nebel zu einem einflussreichen Kultur-kritiker der Nachkriegszeit werden. Er selbst hat in dieser Zeit auf verschie-dene Weise Einfluss auf eine ‚geistige Erneuerung‘ Deutschlands zu nehmenversucht: mit der Gründung des Wuppertaler ‚Bundes‘ und dessen Tagungs-veranstaltungen,146 mit Vorträgen und Zeitungsartikeln sowie mit dem ehr-

143 Ebd., S. 150.144 Ebd., S. 148.145 Ebd., S. 148 f.146 Die Gesellschaft ‚Der Bund‘ wurde 1946 in Wuppertal von Hans-Jürgen Leep, Klaus Geb-

hard, Heinrich Gremmels und Gerhard Nebel gegründet und veranstaltete im Herbst 1947eine erste Tagung zum Thema ‚Die Antike und wir‘, deren Beiträge in dem von Hans-JürgenLeep herausgegebenen Band Der Bund. Jahrbuch 1947 publiziert wurden. Vgl. hierzu NebelsBriefwechsel mit Friedrich Georg Jünger und den dazugehörigen Kommentar: FriedrichGeorg Jünger, „Inmitten dieser Welt der Zerstörung“. Briefwechsel mit Rudolf Schlichter,Ernst Niekisch und Gerhard Nebel, mit Einleitungen und Kommentaren hg. von UlrichFröschle und Volker Haase, Stuttgart 2001, S. 163, 177 und 199.

Metaphysik vs. Humanismus 193

geizigen, aber nicht realisierten Projekt der Zeitschrift ‚Pallas‘, die von denBrüdern Jünger, Heidegger, Heisenberg und ihm selbst gemeinsam heraus-gegeben werden sollte.147 Dass seine öffentliche Wirkung letzten Endesdoch gering blieb, lag zum einen an der polemischen und oft hasserfülltenTonlage seiner literatur- und kulturkritischen Publizistik, in der er die meis-ten intellektuellen und künstlerischen Tendenzen der Nachkriegszeit alsseinsfernen Rationalismus brandmarkte, zum anderen an der Hermetik sei-ner ‚theologischen‘ Zeitdeutung, mit der er sich auch im rechtskonservati-ven Lager isolierte.

Ebenso wie Jünger und Heidegger deutete Nebel die Kriegs- und Nach-kriegszeit umfassende Gegenwart als Endpunkt der Moderne und dieModerne als Nihilismus, als Prozess fortschreitender „Entmenschung“ des„in die technische Zivilisation hineingeworfenen Menschen“.148 Angesichtsdieses „Zerfall[s] des Seins“musste seiner Überzeugung nach jede „wesentli-che Regung des menschlichen Genius“ notwendigerweise die „Form derZeitkritik“ annehmen.149 Als einen solchen Zeitkritiker versuchte er ErnstJünger den Deutschen in der frühen Nachkriegszeit in mehreren Publikatio-nen nahe zu bringen.150 Und als Zeitkritik in diesem Sinne verstand erzweifellos auch seine eigenen, in Tyrannis und Freiheit vereinigten Aufsätze,

147 Die Zeitschrift sollte unter der Leitung Nebels zweimonatlich im Klett-Verlag erscheinenund mit Auszügen aus Jüngers noch unveröffentlichtem Heliopolis-Roman eröffnet werden.Das Unternehmen scheiterte in erster Linie am Rückzug Heideggers, der in dieser Zeit nochmit Lehrverbot belegt war und daher Bedenken hatte, sich politisch zu exponieren, und derzudem Heisenberg als Mitherausgeber ablehnte. Daraufhin zog auch Jünger seine Unterstüt-zung zurück. (Vgl. dazu Nebels Brief an Ernst Jünger vom 6. Juni 1949, in: Jünger/Nebel,Briefe 1938–1974, S. 317 f.; Jüngers Brief an Nebel vom 25. Juni 1949, ebd., S. 323 f.;sowie die Auszüge aus Nebels Briefwechsel mit Heidegger aus dem Frühjahr 1949, ebd.,S. 780–783.) Der von Heidegger als bedenklich angesehene politische Aspekt des Unterneh-mens wurde übrigens von Nebel durchaus bejaht, wie sein Brief an Heidegger vom 1. Juni1949 deutlich macht: „Unsere Zeitschrift wird der erste Ausdruck der deutschen Souveräni-tät sein, zum ersten Mal keine Agentur irgendeiner Besatzungsmacht – und wir könnendamit nicht warten, bis wenigstens scheinbar eine politische Souveränität hergestellt ist. DerGeist muss vorangehen, muss Promachos sein“ (ebd., S. 781). Auf Heideggers anderen Ein-wand, es fehle dem Unternehmen ein inhaltlicher Kern, entgegnete er mit einer vagen Rich-tungsbestimmung: „Meine gemeinsam an Ihnen und an Ernst Jünger abstrahierte Idee dazuist die folgende: Ich setzte ‚Sein und Zeit‘ mit dem ‚Arbeiter‘ in Parallele und sehe in beidenWerken den ebenso notwendigen wie gescheiterten Versuch, den Nihilismus in aller nurmöglichen Breite und Tiefe anzunehmen, sich gleichsam bis zur Zertrümmerung mit demNichts einzulassen, dem Schicksal des modernen Menschen zu stellen. […] Jünger und Siesind zum Sein aufgebrochen – und dieser Aufbruch, der natürlich kein Programm sein kann,da er damit schon verraten wäre, soll dennoch der Sinn der Zeitschrift sein“ (ebd.). ZurGeschichte dieses Zeitschriftenprojekts vgl. auch Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassen-heit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger1920–1960, Göttingen 2007, S. 337–348.

148 Nebel, Ernst Jünger und das Schicksal des Menschen, S. 3.149 Ebd., S. 3 f.150 Vgl. hierzu auch Gregor Streim, Der Auftritt der Triarier. Radikalkonservative Zeitkritik im

Zeichen Jüngers und Heideggers, am Beispiel von Gerhard Nebel und Egon Vietta, in:

194 Gerhard Nebel

die er nach eigener Aussage unmittelbar nach dem Waffenstillstand in Süd-tiroler Lazaretten verfasst hatte.151 In ihnen formulierte er die fundamentaleZivilisationskritik, die schon seine zur Zeit des ‚Dritten Reiches‘ entstande-nen Essays und die Kriegstagebücher grundierte, nun offen aus. Und dabeikam es auch zur Abrechnung mit dem ‚Dritten Reich‘. Anders als Jüngerund seine ‚konservativ-revolutionären‘ Freunde, denen Nebel ansonstenideologisch nahe stand,152 konstatierte er in diesen frühen Nachkriegstexten„eine moralische und metaphysische Verschuldung des Deutschtums ansämtliche Nationen Europas und an die Menschheit“.153 Während Jüngerdie Deutschen und die Nationalsozialisten allein als Opfer des ‚Weltbürger-kriegs‘ begriff, warf Nebel den Deutschen vor, Wegbereiter des Nihilismusgewesen zu sein. Hitler und seine Anhänger, die dem ‚Massenhaften‘ mit„barbarischem Pomp“154 zum Triumph verholfen hätten, wären deshalb soerfolgreich gewesen, weil die Deutschen aufgrund der „Ungeformtheit“ihrer Nationalität und ihrer Volksseele besonders anfällig dafür gewesenwären.155 Die nationalsozialistische ‚Tyrannis‘ kritisierte Nebel als das fort-geschrittenste Stadium des modernen Prozesses der Vermassung und meta-physischen Entleerung des Menschen: Im ‚Dritten Reich‘ hätte dermoderne ‚Massencharakter‘ die Form einer ‚Despotie‘ angenommen, dieden „Plan der totalen Kaserne und des Insektenstaates“ verfolgt und die Ver-dinglichung des Menschen im „Rassismus“ zur „Weltanschauung“ erhobenhätte.156

Seine radikale Kritik der Moderne als Nihilismus brachte Nebel in derNachkriegszeit zugleich in Opposition zu all jenen Programmen geistigerErneuerung, die auf eine Wiederbelebung des Humanismus setzten bzw.sich, in Nebels Worten, der „verstaubte[n] Kulissen klassizistischer, christli-cher, humanitärer Art“ bedienten.157 An Heidegger schrieb er: „Wir kön-

Erhard Schütz/Peter Uwe Hohendahl (Hg.), Solitäre und Netzwerker. Kulturkonservatismusnach 1945, Essen 2008 [im Erscheinen].

151 Vgl. Nebel, Tyrannis und Freiheit, S. 7 (Vorwort).152 Armin Mohler, der in seiner Dissertation, mit der er 1949 von Herman Schmalenbach und

Karl Jaspers in Basel promoviert wurde, erstmals das Bild der ‚Konservativen Revolution‘ alseiner zwar verzweigten, aber doch zusammenhängenden ‚geistigen Erneuerungsbewegung‘entwarf, rechnete Nebels Tyrannis und Freiheit selbst dieser Richtung zu; vgl. Mohler, DieKonservative Revolution in Deutschland, S. 25.

153 Nebel, Tyrannis und Freiheit, S. 8 (Vorwort). – Carl Schmitt, der Nebels sonstige Schriftendurchaus schätzte, empfand diese Kritik an den Deutschen bereits als eine Art Verrat: „Nunschimpfen diese Intellektuellen auf das arme deutsche Volk und zählen seine Fehler undSchändlichkeiten auf. Modellbild: Luthers Beschimpfung der armen Bauern“ (Schmitt,Glossarium, S. 90 [Eintrag vom 31. Januar 1948]).

154 Nebel, Tyrannis und Freiheit, S. 15 (Über die Masse).155 Ebd., S. 290 (Vom deutschen Wesen).156 Ebd., S. 76 und 68 (Über die Masse).157 Nebels Brief an Heidegger vom 1. Juni 1949, in: Jünger/Nebel, Briefe 1938–1974,

S. 780–782, hier S. 782.

Metaphysik vs. Humanismus 195

nen nicht mehr in verfaulten, verfallenen, antiquierten, bloss traditionellenBehausungen heimisch sein, in Kirchen, Weltanschauungen, Humanismenoder Bestialismen.“158 Die Gründe dafür lassen sich den Schriften überErnst Jünger und Tyrannis und Freiheit entnehmen. Zum einen ist esNebels – an die Humanismuskritik der zwanziger und dreißiger Jahreanknüpfende – Überzeugung, dass die letzten Reste der „ ‚Bildung Alteuro-pas‘ (Jakob Burckhardt)“, die den Prozess der Vermassung und Technisie-rung überdauert hätten, unter der Herrschaft Hitlers endgültig zerstört wor-den seien.159 Hinter diesem kulturkritischen Argument verbirgt sich zumanderen aber eine viel schwerer wiegende anthropologische Begründung.Denn in Nebels Augen handelt es sich nicht einfach um den Verlust vonBildung, sondern um einen Verlust an metaphysischer Substanz des Men-schen im Rationalisierungsprozess selbst.160 Und den Humanismusbetrachtet er als Teil dieses Prozesses, obwohl er sich auf den ersten Blickvon der „animalisierenden“ Anthropologie des neunzehnten Jahrhundertsund den nihilistischen „Massen-Ideologien“ des zwanzigsten Jahrhundertsabzusetzen scheint:161

Solchen Interpretationen scheint sich der Humanismus entgegenzusetzen, der denMenschen aus dem Menschen begreifen und ihn metaphysisch auf Bildung, Kul-tur, Sittlichkeit oder auf ein Reich idealer Schönheit beziehen will. Der Menschwird hier zwar vom Tier gesondert, Gott aber wird auf die Weise des Pantheismusoder Moralismus in Pension geschickt.162

Ebenso wie Heidegger hält Nebel den Humanismus aufgrund seines An-thropozentrismus bzw. ‚Anthropomorphismus‘ grundsätzlich für ungeeig-net, den Seinsverlust der Moderne zu bekämpfen. „Humanismus und Meta-physik widersprechen sich“, schreibt er an Jünger.163 Und er macht dieanthropozentrische Ausrichtung dafür verantwortlich, dass die Rhetorik der‚Kultur‘ die wissenschaftliche und politische ‚Bestialisierung‘ des Menschennicht verhindern konnte: Der „Humanismus der Kultur“, der auch dieWeimarer Klassik prägte, habe dem „Leviathan“ nicht widerstehen könne,vielmehr habe er diesem ständig „neue Opfer“ zugetrieben.164 Gegen denLeviathan hilft nach Nebels Überzeugung nicht Bildung, sondern allein

158 Ebd., S. 781.159 Nebel, Tyrannis und Freiheit, S. 75 (Über die Masse).160 Diese Sichtweise entwirft er bereits 1940 im Aufsatz über Das Griechentum als Museum, in

dem er den Humanismus als Phänomen des Verfalls der Metaphysik im „abendländischenNihilismus“ bzw. im „Massenzeitalter“ erklärt (Nebel, Das Griechentum als Museum,S. 45 f.). Als Beispiele einer nicht musealen Begegnung mit der Antike führt er am Ende die-ses Artikels die Essays Friedrich Georg Jüngers und die Gedichte Josef Weinhebers an.

161 Nebel, Ernst Jünger, Abenteuer des Geistes, S. 322.162 Ebd.163 Brief Nebels an Jünger vom 30. Januar 1950, in: Nebel/Jünger, Briefwechsel, S. 359 f., hier

S. 359.164 Nebel, Ernst Jünger. Abenteuer des Geistes, S. 322.

196 Gerhard Nebel

Gott bzw. Transzendenz. Und diese lasse sich nur erreichen, wenn man denMenschen nicht aus sich selbst heraus begreife, sondern ihn auf ein elemen-tares oder göttliches Sein beziehe. Gegen naturalistische bzw. ‚animalisti-sche‘ und idealistische Anthropologien führt er dabei erneut den Gedankender Indetermination ins Feld:

Der Mensch aber ist ein unfaßbares Wesen, und es scheitert stets, wer ihn aus sichselbst begreifen will. Er ist der metaphysische Nullpunkt, der in sich unbestimmtund wesenlos ist und dessen Rang man nur aus den positiven oder negativen Wer-ten festlegen kann. Die Essenz des Menschen läßt sich entweder nur von Gott –imago dei – oder vom Tier her – imago simiae – ansprechen […]. Der Mensch läßtsich nicht im Nichts seines Wesens festhalten, sondern springt, wenn man so etwasversucht, elastisch entweder auf Gott oder auf das Tier zu.165

Interessanterweise begründet Nebel mit der Unbestimmtheit des Menschendie Notwendigkeit des Glaubens, der in seiner Sicht allein vor der Bestiali-sierung bewahrt. Nur der Glaube, schreibt er in Tyrannis und Freiheit,könne „den Massencharakter und damit das Elend aufheben und die Ideedes Menschen wiederherstellen“.166

Es bleibt die Frage, wie die verdinglichte bzw. animalisierte Menschheitwieder auf Gott ‚zuspringen‘ kann. Obwohl Nebel sich gerade in der theo-logischen Frage von Jünger distanziert, dem er vorhält, das Göttliche„erkennen“ und im Mythos rationalisieren zu wollen,167 erinnert seine Ant-wort stark an Jüngers Metaphysik des Schmerzes. Denn eine Rückgewin-nung metaphysischer Substanz ist für ihn in erster Linie durch das „Opfer“und das „Leiden“ möglich.168 Im Gegensatz zu allen politischen, tech-nischen oder sozialen „Utopien“ der Moderne, die den Menschen einen

165 Ebd., S. 323.166 Nebel, Tyrannis und Freiheit, S. 33 (Über die Masse). – Dass Nebel Glauben dabei nicht im

Sinne des christlichen Humanismus oder des christlichen Existentialismus verstand, wird anmehreren Aussagen deutlich. So heißt es im bereits zitierten Brief an Heidegger: „Wenn Sievom Gott oder von der Huld des Seins sprechen, so hat das eine unendlich grössere, auch‚christliche‘ Bedeutung, als alle christlichen Limonaden, die etwa Guardini anrichten kann“(Nebels Brief an Heidegger vom 1. Juni 1949, in: Jünger/Nebel, Briefe 1938–1974,S. 781 f.).

167 Nebel, Ernst Jünger. Abenteuer des Geistes, S. 324. Vgl. auch Nebels Brief an Erhart Kästnervom 16. Oktober 1949, in dem er betont, dass er „religiös und theologisch […] eine völligandere Position“ einnehme als Jünger: „Er [Jünger, G.S.] bleibt, auch wenn er von Christusspricht, in der magisch-mythischen Welt, als deren Überwinder ich Christus betrachte“ (Er-hart Kästner/Gerhard Nebel, Briefwechsel, in: Sinn und Form 56 [2004], S. 175–199, hierS. 176). Am deutlichsten artikulierte Nebel seine Kritik an Jünger seiner Auffassung nachunzureichendem Verständnis der Theologie am Ende seiner – ansonsten apologetischen –Rezension der Strahlungen. Und zwar kritisiert er dort die „theologisch ungebildete Naivität“von Jüngers Umgang mit der Bibel (Gerhard Nebel, Ernst Jüngers große Rechenschaft [Re-zension], in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. November 1949). Dieser bleibe im Tage-buch noch in seiner „mythisch-magisch[en] Welt gefangen, die er aber voraussichtlich indem kommenden RomanHeliopolis überwinden werde (ebd.).

168 Nebel, Tyrannis und Freiheit, S. 33 f. (Über die Masse).

Metaphysik vs. Humanismus 197

leidlosen Zustand vorspiegelten und die Gegenwart durch die Orientierungan der Zukunft ‚entleerten‘, werde der Mensch im Leiden auf den „Endlich-keitspol seines Wesens“ und damit auf seine metaphysische Bestimmungverwiesen.169 Allein das Elend verhindere, dass die Menschheit zu einem„bloßen biologischen Faktum“ reduziert werde.170 Rückblickend erhält soauch das Leiden des Zweiten Weltkriegs noch einen geschichtsphilosophi-schen Sinn: als ein „Werkzeug des Schicksals“, das den „metaphysischenTod“ im „totalen Insektenstaat“ verhindert und, „wenn nicht eine Wieder-herstellung des Menschen erzwingen, so doch einen weiteren Verfall abweh-ren“ kann.171 Von der Nachkriegszeit erwartete Nebel daher auch eine all-gemeine Wendung zur Metaphysik und zur Religion.172

Bei aller Polemik gegen den Humanismus lässt sich nicht übersehen,dass der Altphilologe und Gymnasiallehrer Nebel bei seinem Eintreten fürgeistige Erneuerung selbst humanistischer Tradition verpflichtet war. Daherseine grundsätzliche Orientierung an der griechischen Antike, von der seinephilosophiegeschichtlichen Studien zeugen und ebenso die von ihm zusam-men mit dem Wuppertaler ‚Bund‘ im Herbst 1947 veranstaltete „humanis-tische Tagung“ mit dem Titel ‚Die Antike und wir‘, zu der klassische Philo-logen wie Bruno Snell, Karl Reinhardt, Otto Regenbogen, HeinrichWeinstock und Günther Jochmann eingeladen waren.173 Seine in Grie-chischer Ursprung versammelten Aufsätze bezeichnete er im Vorwort selbstals „Erzeugnisse eines humanistischen, von der Größe des Griechentumsbewegten Dilettantismus“.174 Wenn Nebel sich bei solchen Gelegenheitenzu einer Erneuerung des Humanismus bekannte, dann bezog er sich vorallem auf die von Nietzsche bis Walter F. Otto reichende Gegenbewegungzum geisteswissenschaftlichen Positivismus, insbesondere zum Positivismusin der klassischen Philologie.175 Dies änderte aber nichts an seiner prinzi-piellen Gegnerschaft zum Humanismus als einer im Kern rationalistischenund antimetaphysischen Denkrichtung. So sah er ja auch nicht die Philoso-

169 Ebd., S. 33.170 Ebd., S. 37.171 Ebd., S. 81 f.172 Vgl. beispielsweise seinen Brief an Ernst Jünger vom 23. Januar [1950], in dem er sich zum

Erfolg von Harald Brauns christlichem Film Nachtwache äußert; Jünger/Nebel, Briefe1938–1974, S. 354–357, hier S. 356.

173 Vgl. Nebels Brief an Friedrich Georg Jünger vom 17. Juni [1947], in: Jünger, „Inmitten die-ser Welt der Zerstörung“, S. 177 f., hier S. 177. Für die Tagung, an der „fast alle bedeutendenHumanisten Deutschlands“ teilnehmen sollten, hatte Nebel ursprünglich auch Ernst Jünger,Friedrich Georg Jünger und Wolfgang Frommel zu gewinnen versucht (vgl. Jünger/Nebel,Briefe 1938–1974, S. 133 f.). Zu Frommel und seinem Konzept eines ‚Dritten Humanis-mus‘ vgl. Kap. VI, 5.

174 Nebel, Griechischer Ursprung, S. 5.175 Vgl. auch ebd., S. 146 f. (Platon und die Unsterblichkeit der Seele); und Nebels Brief an

Friedrich Georg Jünger vom 3. September [1947], in: Jünger, „Inmitten dieser Welt der Zer-störung“, S. 179.

198 Gerhard Nebel

phie oder die Philologie als zentrale Wissenschaft der Zeit an, sondern dieprotestantische Theologie,176 und bemühte sich, die antike Philosophie aufdieser Grundlage auszudeuten. Dabei wandte er sich sowohl gegen eineWiederbelebung mythischer Bewusstseinsformen, wie sie Georg FriedrichJünger anstrebte,177 als auch gegen die Verabsolutierung der Willensfrei-heit, zu der Ernst Jünger in seinen Augen tendierte. Dieser würde „die rationoch überschätzen“ und damit im „humanistischen Bereich, auf der eras-mischen Seite“ verharren, obwohl die Wahrheit „bei Luther“ liege, schrieber in einem Brief an den befreundeten Autor in Anspielung auf die im Vor-wort der Strahlungen erwähnte Kontroverse zwischen Erasmus und Lutherüber die Willensfreiheit, in der er eine Urszene für das Schicksal der „abend-ländischen Kultur“ erblickte.178 Und selbst seinem früheren Lehrer Heideg-ger warf er vor, mit seiner Philosophie des Seins die echte religiöse Erfah-rung zu verfehlen.179

Seine Humanismus- und Nihilismuskritik brachte Nebel in der Nach-kriegszeit sowohl in Opposition zu liberal-bürgerlichen als auch zu avant-gardistischen Tendenzen. Als antiliberaler Provokateur tat er sich unteranderem mit einem im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ver-öffentlichten Artikel zu Thomas Manns 75. Geburtstag hervor. Alle „Ge-burtstags-Sentimentalität“ von sich weisend, nahm er das Datum zumAnlass für einen frontalen Angriff auf den dem rechtskonservativen Lagerverhassten Schriftsteller.180 Dabei verknüpfte er den verbreiteten politischenVorwurf, Mann habe sich vom „Schicksal“ seines Volkes getrennt, mit einergrundsätzlichen Kritik am rationalistischen Geist seines Werkes:181 MannsDenken und seiner Sprache fehle „alles Elementare“; mit den Worten ver-fahre er nach Art des Artisten „in souveräner Freiheit“, mit „Jongleur-

176 Nebel wandte sich allerdings gegen die ‚liberale Theologie‘, die in seinen Augen ebenso posi-tivistisch war wie die klassische Philologie (vgl. Nebels Brief an Ernst Jünger vom 25. No-vember 1949, in: Jünger/Nebel, Briefe 1938–1974, S. 338ff, hier S. 339). Stark beeindruck-ten ihn dagegen die Bücher von Walter Schubart, Religion und Eros, München 1941, undHans Blüher, Die Achse der Natur. System der Philosophie als Lehre von den reinen Ereig-nissen der Natur, Hamburg 1949. (vgl. Nebels Brief an Ernst Jünger vom 18. Januar 1950,ebd., S. 348 ff., hier S. 349).

177 Vgl. Nebels Brief an Friedrich Georg Jünger vom 4. April [1948], in: Jünger, „Inmitten die-ser Welt der Zerstörung“, S. 185 f.

178 Vgl. Nebels Brief an Ernst Jünger vom 11. Februar 1950, in: Jünger/Nebel, Briefe1938–1974, S. 365 ff. hier S. 365 f.

179 Vgl. Nebels Brief an Ernst Jünger vom 30. Januar 1950, in: Jünger/Nebel, Briefe1938–1974, S. 360.

180 Gerhard Nebel, Thomas Mann. Zu seinem 75. Geburtstag, in: Frankfurter Allgemeine Zei-tung, 6. Juni 1950. – Die provokative Wirkung dieses von Karl Korn bei Nebel in Auftraggegebenen Geburtstagsartikels wurde noch dadurch erhöht, dass Nebel ihm als Motto eineauf Mann gemünzte Sottise Carl Schmitts voranstellte. Ernst Jünger lobte Nebel für seine‚Geburtstagsglückwünsche‘ als „tolle[n] Draufgänger“ (Jüngers Brief an Nebel vom 17. Juni[1950], in: Jünger/Nebel, Briefe 1938–1974, S. 370).

181 Nebel, Thomas Mann. Zu seinem 75. Geburtstag.

Metaphysik vs. Humanismus 199

Virtuosität“, so dass man sich immer „in der humanistischen Leere, ineinem gegen Götter, gegen die Einbrüche des Seins gesicherten Raum“bewege.182 Ebenso wie an Nebels Aussagen zur Rasse fallen auch an diesemästhetischen Urteil die Parallelen zum völkischen Diskurs ins Auge. Seitden späten zwanziger Jahren war Manns Werk ja von völkisch-nationalisti-scher Seite als Artistik und Intellektualismus diffamiert worden. Dass Nebeldas ‚Sein‘ anders definierte als die Ideologen von Blut und Boden, ändertedabei nichts an der Übereinstimmung in der Kritik.183 Zumal Nebel sichnicht scheute, in der Nachkriegszeit das pathologisierende Vokabular dervölkischen Propaganda gegen ‚entartete Kunst‘ zu verwenden. So hielt erMann vor, er „rühre im Blutbrei der tuberkulösen Lunge mit demselbenEifer wie im gelben Matsch des syphilitischen Gehirns“ und betreibe „Ko-prophilie“.184

Nebels Vorwurf des seinsfernen Intellektualismus traf aber nicht nurden bürgerlichen Romancier, sondern auch und in erster Linie die künstleri-sche Avantgarde. Und dies, obwohl bzw. gerade weil diese ebenfalls eineTranszendierung der rationalisierten Welt anstrebte. In einem Brief an Jün-ger bezeichnete Nebel das Programm der Artistik, wie es Benn unter Beru-fung auf Künstler wie Picasso, Valéry oder Strawinsky schon im ‚DrittenReich‘ skizziert hatte und nach dem Krieg offen vertrat, als „die verführer-ische, die aktuelle“ und „gefährliche“ Erscheinungsform des „Humanis-mus“, die es vorrangig zu bekämpfen gelte.185 Im Zentrum stand dabei derVorwurf, dass die artistische Ästhetik mit „raffinierten Manipulationen“Transzendenz zu konstruieren versuche, obwohl diese nur als „Widerfahr-nis“ zu gewinnen sei.186 Auch in diesem Fall ähnelte Nebels Kritik dem völ-kischen Kampf gegen die Avantgarde. Besonders deutlich wird dies in seinerPolemik gegen Benn, den er Jünger gegenüber als „Schädling ersten Ran-ges“187 bezeichnete und dem er in einem im Januar 1950 erschienenenZeitschriftenaufsatz vorhielt, er hätte aufgrund seiner romanischen Prägung

182 Ebd.183 Nebels wiederholt erhobene Forderung, Kunst müsse im mythischen Sein wurzeln, hatte zur

Folge, dass er in der Nachkriegszeit als ‚faschistischer Theoretiker‘ verdächtigt wurde. Vgl.Alfred Andersch, Antwort auf eine Provokation, in: Texte und Zeichen 2 (1956),S. 318–320, hier S. 318. Andersch bezog sich dabei auf den kurz zuvor erschienen Aufsatzvon Gerhard Nebel, Mythische Dichtung, in: Neue Deutsche Hefte 2 (1956), S. 898–910.

184 Nebel, Thomas Mann. Zu seinem 75. Geburtstag.185 Nebels Brief an Ernst Jünger vom 30. Januar 1950, in: Jünger/Nebel, Briefe 1938–1974,

S. 359. Nebel bezog sich mit dieser Aussage offensichtlich auf Benns kurz zuvor erschienenenEssayband Ausdruckswelt (1949), der unter anderem den Anfang der vierziger Jahre entstan-denen Aufsatz Kunst und Drittes Reich enthielt, in dem Benn die genannten Künstler alsRepräsentanten der europäischen Avantgarde anführte und deren formales Ausdrucksstrebendem völkischen Substanzdenken entgegensetzte.

186 Ebd.187 Ebd.

200 Gerhard Nebel

keinen Zugang zur „deutschen Metaphysik“ gefunden.188 Nachdem erBenn in seiner kurz zuvor erschienenen Rezension der Jüngerschen Strah-lungen noch zusammen mit Heidegger und Jünger zu den „Triarier[n]“einer antihumanistisch ausgerichteten deutschen Nachkriegskultur gezählthatte,189 verdammte er dessen Konzept der ‚Ausdruckswelt‘ nun als Forma-lismus: Benns Kunst sei nichts als eine „Konfiguration von Oberflächenele-menten“ und daher „frei von allem Religiösen und Metaphysischen“; der„Sprung aus dem Nichts“ ende bei ihm in einer „mit Atelier-Anstrengungerspielten Pseudo-Transzendenz“.190

Interessanterweise traf Nebel sich in dieser radikalen Ablehnung Bennsmit der Benn-Kritik Carl Schmitts, begründete diese jedoch auf entgegengesetzte Weise. Denn während Schmitt dem Lyriker vorwarf, mit oberfläch-lichen „nihilistischen Schauerlichkeiten“ den „pietistischen Kern“ seinerÄsthetik zu verdecken, kritisierte Nebel Benns Kunst als verfehlte Metaphy-sik.191 Anders als Schmitt hielt er Benn und der gesamten Avantgarde vor,den Nihilismus nur künstlerisch gestaltet und ins Extrem getrieben, abernicht überwunden zu haben. Sowohl die moderne Malerei, die in seinenAugen nur „das Grauen des Nichts“ spiegelte, statt „mythische Bilder desSeins“ zu entwerfen, als auch der Existentialismus, der einen „angstdurch-bebten, des Seins beraubten, bilder- und weltlos gewordenen Menschen“zeigte, waren für ihn Erscheinungsformen nihilistischer ‚Verwesung‘ und

188 Gerhard Nebel, Gottfried Benns Lob der „Ausdruckswelt“, in: Thema. Zeitschrift für dieEinheit der Kultur 1 (1949/50), H. 7, Jan. 1950, S. 22–24, hier S. 24.

189 Nebel, Ernst Jüngers große Rechenschaft.190 Nebel, Gottfried Benns Lob der „Ausdruckswelt“, S. 23. – Kurz zuvor hatte Nebel Benn

noch zu den ‚metaphysischen Anatomen‘ gerechnet, die den Nihilismus schonungslos zurDarstellung brächten und so die ‚Heilung‘ vorbereiteten: „Der bedeutendste Autor, den diedeutsche Sprache in das große Abbruchunternehmen delegiert hat, ist ohne Zweifel Gott-fried Benn, und man darf sogar überlegen, ob seine metaphysische Ästhetik der Verzweif-lung, ob die Form, die am Abgrundsrand aufleuchtet, ob das Gedicht, das sich statisch undbedeutungsschwer den rasenden und sinnlosen Weltprozessen enthebt, noch ein nicht zer-fressender Rest oder schon ein Neubeginn ist, der eine Versetzung nach oben rechtfertigt“(Nebel, Ernst Jünger. Abenteuer des Geistes, S. 33).

191 Schmitt, Glossarium, S. 317 (Eintrag vom 14 Juli 1951). Schmitts Kritik, die hier insbeson-dere auf die formvollendete späte Lyrik Benns zielt, steht in Widerspruch zu seiner früherenAnerkennung der Person und der Werke Benns, etwa der Erzählung Der Ptolemäer (vgl. ebd.,S. 150 [Eintrag vom 15. Mai 1948]). Diese Veränderung in seiner künstlerischen Bewertungvon Benn war entscheidend durch dessen öffentliche Rolle in der Nachkriegszeit bestimmt.Schmitts Verdacht, dass Benns Nihilismus nur gespielt sei, wurde erst durch dessen ‚Come-back‘ und vor allem durch dessen (ironisch gemeinte) Bemerkung im Berliner Brief (1848),dass sein ‚Fragebogen in Ordnung sei‘, geweckt, die Schmitt als Anbiederung an die Besat-zungsmächte und den sich nach den Maßgaben der Reeducation-Politik neu formierendenKulturbetrieb empfand (vgl. ebd., S. 226 [Eintrag vom 13. März 1949]). Vgl. auch die sar-kastische Bemerkung vom 8. Februar 1950: „Heidegger besteht die Probe des Comeback mitdem Prädikat vollbefriedigend nach beiden Seiten; Gottfried Benn ganz großartig, ErnstJünger fällt elend durch“ (ebd., S. 297).

Metaphysik vs. Humanismus 201

„Vereiterung“.192 Im Unterschied zu Jünger, der sich in dieser Zeit geradeum eine Annäherung an Benn bemühte,193 grenzte er das eschatologischgefärbte Programm einer Überwindung des Nihilismus bzw. des ‚Über-schreitens der Linie‘ damit scharf von einem zu Formalisierung tendieren-den Neoavantgardismus ab.

192 Nebel, Ernst Jünger und das Schicksal des Menschen, S. 8.193 Deshalb führte die Veröffentlichung von Gottfried Benns Lob der „Ausdruckswelt“ auch zu

einer Verstimmung im Verhältnis zu Ernst Jünger. Jüngers Sekretär Armin Mohler warnteNebel eindringlich vor einer ‚Abrechnung‘ mit Benn (vgl. Mohlers Brief an Nebel vom30. November 1949, in: Jünger/Nebel, Briefe 1938–1974, S. 810) und entschuldigte sichnoch vor dem Erscheinen des Artikels im Auftrag Jüngers bei Benn für die Eskapaden ihres‚Sorgenkindes‘ (vgl. Mohlers Brief an Benn vom 3. Dezember 1949, in: Gottfried Benn/Ernst Jünger, Briefwechsel 1949–1956, hg., kommentiert und mit einem Nachwort vonHolger Hof, Stuttgart 2006, S. 10 f.).

202 Gerhard Nebel

V. Horst Lange

1. ‚Landschaftliche Dichtung‘ 1933

Im August 1944 reflektiert der verwundete und zum Oberkommando desHeeres in Berlin versetzte Gefreite Horst Lange in seinem Tagebuch diehoffnungslose gegenwärtige Situation und macht vor allem drei „große undgefährliche Götzen dieser Zeit“ für sie verantwortlich: die Geschichte, denSozialismus und die Naturwissenschaft.1 In einem folgenden Eintrag fügt ernoch die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Rasse‘ hinzu. Wie viele andere Autoren inder letzten Kriegsphase und in der frühen Nachkriegszeit erklärt er denWeltkrieg als Konsequenz des Modernisierungsprozesses und des ihn tra-genden, als säkularisierte Heilsgeschichte verstandenen Fortschrittsdenkens.Geschichte „als eine Art von übernatürlicher, die Metaphysik und GottesAllmacht ersetzender Macht“ ist in seinen Augen Aberglauben – „Primitivi-tät, Fetischismus“ –, „Schlagwort einer entarteten Bürgerlichkeit“ und dasResultat einer misslungenen Befreiung des Menschen aus der Natur.2 Sie istqua Rationalisierung wiedererstandene Natur, und der Mensch verfällt die-ser sein Leben schicksalhaft lenkenden Macht in dem Maße, in dem er denFortschritt zu beherrschen meint. Die Krise kann nach Langes Überzeugungnur durch die Herstellung eines von Fortschrittsglauben und Utopienbefreiten, ‚sachlichen‘ Weltverhältnisses überwunden werden. Der ‚Glaube‘an die Geschichte sei nichts anderes als „mangelnder Sinn für Sachlichkeit“bzw. „mangelnder Realitätssinn“.3

Mit seiner Kritik an der Vergötzung der Geschichte in der Endphasedes Zweiten Weltkrieges bezog sich Lange vor allem auf die nationalsozialis-tische Durchhalte- und Endsiegpropaganda. Wenn man das Gesamtwerkdes Autors überblickt, stellt man allerdings fest, dass das ihr zugrunde lie-gende Denkmuster, in dem Rationalismus und Barbarei als unauflösbarerKausalzusammenhang begriffen werden, schon in Langes Texten vom An-fang der dreißiger Jahre ausgeprägt ist. 1904 in Liegnitz (Legnica) geboren,

1 Horst Lange, Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, hg. und kommentiert von Hans Die-ter Schäfer, Mainz 1979 (= Die Mainzer Reihe, Bd. 46), S. 152 (19. August 1944).

2 Ebd., S. 152 f. „Der Sozialismus ist die Quittung auf die Industrialisierung. Die Barbarei, inder wir jetzt leben, ist die Quittung auf Humanität und Zivilisation, Hygiene und Fort-schritt. Eins erzeugt das andere. Die Natur, von der sich der Mensch freizumachen versucht,schlägt mit großer Gewalt zurück und rächt sich entsetzlich“ (ebd., S. 154).

3 Ebd., S. 153.

kam der junge Schriftsteller in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre nachBerlin und schloss sich dort Autoren aus dem Umfeld der Kolonne und demliterarischen Kreis um den Verleger Viktor Otto Stomps an.4 Mit der ‚jun-gen Generation‘ teilte er die Kritik am bürgerlichen Humanismus und derliberalen Kultur der Weimarer Republik.5 Speziell mit den um die Kolonneund den um Stomps versammelten Autoren verband ihn die programmati-sche Forderung nach einem natürlichen Menschenbild jenseits des neusach-lichen Funktionalismus auf der einen und der völkischen Blut-und-Boden-Ideologie auf der anderen Seite.6

Diese Einstellung bezeugt vor allem sein programmatischer Aufsatzüber Landschaftliche Dichtung, der ein halbes Jahr nach der nationalsozialis-tischen ‚Machtergreifung‘ in der von V.O. Stomps herausgegebenen Zeit-schrift Der weiße Rabe erschien und in dem Lange zentrale Argumente undSchlagworte der Kolonne aufgriff. Dort heißt es, dass nach dem Scheiternder rationalistischen Fortschrittslehren „ein neues Bild vom Menschen“ imEntstehen sei.7 Das „Zeitalter, in dem der Mensch vom Intellekt her dieWelt zu beherrschen versuchte,“ gehe nun unweigerlich zu Ende.8 Der Ver-fasser begründet diese Diagnose mit dem Hinweis auf die Krise der positi-vistischen Wissenschaften und auf die neuere Mythen- und Vorgeschichts-forschung. Ebenso wie Martin Raschke oder Egon Vietta analysiert er diegegenwärtige Lage als Krise des Anthropozentrismus. Die europäische Zivi-lisation sei auf dem Glauben gegründet gewesen, der Mensch sei ein „Ver-nunft-Wesen“ und stehe „außerhalb der Natur“.9 Dieser Glaube löse sichjetzt aber auf:

Dort, wo es in einer künftigen Zeit um eine allgemeine neue Sinngebung gehenwird, die die abendländischen Kulturen aus ihrer jetzigen Sphäre des Verfalls und

4 Zur Biographie vgl. Oda Schaefer, Horst Lange. Ein Lebensbild, in: Lange, Tagebücher ausdem Zweiten Weltkrieg, S. 263–289. Lange war ab dem Ende der zwanziger Jahre in Berlinals freier Schriftsteller für Zeitungen und Rundfunk tätig. Nachdem 1928 sein ersterGedichtband Nachtgesang erschienen war, publizierte er erstmals im Dezember 1930Gedichte in der Kolonne (Jg. 1, H. 9, S. 63) und erhielt 1932 zusammen mit Peter Huchelden Lyrik-Preis der Zeitschrift. Weitere Gedichte erschienen in der von Martin Raschkeherausgegebenen Neuen lyrischen Anthologie (Dresden 1932) und dem von Karl Rauchherausgegebnen Sammelband Tisch der Sehnsucht. Lyrik und Prosa aus dem heimlichenDeutschland (Berlin-Zehlendorf 1932). Zu Langes Beziehung zum Kolonne-Kreis vgl. HansDieter Schäfer, Die nichtnationalsozialistische Literatur der jungen Generation im DrittenReich (1976), in: ders., Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirk-lichkeit 1933–1945, München 1981, S. 7–54.

5 Vgl. Kap. II, 1.6 Vgl. dazu auch Hans Dieter Schäfer, Horst Langes Tagebücher 1939–1945, in: Lange, Tage-

bücher aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 291–331, bes. S. 296 f.7 Horst Lange, Landschaftliche Dichtung, in: Der weiße Rabe 2 (1933), H. 5/6, S. 21. Lange

wiederholt darin im wesentlichen die Argumente aus Martin Raschkes Aufsatz Man trägtwieder Erde von 1931 (vgl. Kap. II, 3).

8 Lange, Landschaftliche Dichtung, S. 22.9 Ebd.

204 Horst Lange

der Beunruhigung hinüberführt in eine neue Wirklichkeit, wird jedesmal das Ver-hältnis zwischen Mensch und Natur in andere Ordnungen gebracht werdenmüssen.10

Langes Aufsatz ist zugleich ein Beispiel für die Transformation des program-matischen Diskurses der ‚jungen Generation‘ nach der ‚Machtergreifung‘,in deren Folge die Forderung nach einem neuen, ‚schöpferischen‘ Men-schenbild zur ideologischen Leitlinie erhoben und gerade die jungen Auto-ren aufgefordert wurden, ihren Beitrag zu dessen Durchsetzung an der ‚Lite-raturfront‘ zu leisten.11 Die integrierende bzw. formierende Funktion dieserLeitlinie wird an der etwa zwei Monate vor dem zitierten Aufsatz Langes,am 21. April 1933, erschienenen und vom (ebenfalls zum Kreis um Stompsgehörenden) Interimsherausgeber Eberhard Meckel konzipierten Ausgabeder Literarischen Welt erkennbar, die unter der programmatischen Zielvor-gabe, den „im inneren Reichtum des Volkes und der Landschaft“ wurzeln-den „schöpferischen Kräften Raum geben“ und „das Bild des deutschenMenschen der Zukunft“ mitgestalten zu wollen,12 auch eine Auswahl ‚jun-ger Dichter‘ aus dem Kreis der ‚jungen Generation‘ vorstellte, unter ihnenHorst Lange und Peter Huchel.13

In seinem Artikel über Landschaftliche Dichtung bemüht sich Langeoffensichtlich um eine eigene Positionsbestimmung im Zusammenhangdieser ‚Debatte‘. Dabei verknüpft er die von der ‚jungen Generation‘ schonum 1930 vielfach zum Ausdruck gebrachte Erwartung, dass sich in derGegenwart eine epochale Verwandlung hin zu ‚neuer Wirklichkeit‘ vollzie-he, nun in positiver Weise mit der nationalsozialistischen ‚Machtergreifung‘

10 Ebd.11 Siehe dazu Kap. II, 1. Vgl. auch die vom Schriftleiter Lange und dem Verleger V.O. Stomps

gemeinsam gezeichnete programmatische Einleitung zum dritten Jahrgang des WeißenRaben, in der eine zeitgemäße junge Literatur jenseits jedes „Dilettantismus ästhetischer undsuperkluger Art“ gefordert wird, die auf dem Boden der stattgefundenen „Erschütterungenund Bewegungen“ auch in der Literatur zu einer geistigen „Erneuerung“ der „Nation“ beitra-ge, „an jener Front stehend, welche in Deutschland seit jeher von »verlorenen Posten« gegendie Geschäftstüchtigen und die bereitwilligen Worte-Drechsler gehalten wurde“ (Horst Lan-ge/V.O. Stomps, o.T. [Einleitung], in: Der weiße Rabe 3 (1934), H. 1, S. 1 f., hier S. 1).

12 Eberhard Meckel, o.T. [Vorwort], in: Die literarische Welt. Unabhängiges Organ für dasdeutsche Schrifttum 9 (1933), Nr. 16, 21. April 1933, S. 1. – Eberhard Meckel trat in die-sem Heft erstmals als neuer Herausgeber hervor. In demselben Heft forderte Paul Fechter ineinem programmatischen Leitartikel den Anschluss der jungen Dichtung „an das Ganze desVolkes, an die Gesamtheit der Nation“, die aber nicht durch „die bloße Behandlung volks-tümlicher oder volksdeutscher Fragen“ und modische Bauerndichtung bewiesen werde (PaulFechter, Aufgaben und Ziele der deutschen Dichtung, in: Die literarische Welt. Unabhängi-ges Organ für das deutsche Schrifttum 9 [1933], Nr. 16, 21. April 1933, S. 2). Solche Dich-tung könne nur der schaffen, der das Gemeinsame in der eigenen Tiefe erfahre und von dortaus wieder „in die Bereiche des Geistigen stößt, das in gleicher Weise verpflichtend ist wiedas tragende Volksgefühl“ (ebd.).

13 Von Lange erschien eine kurze Skizze: Horst Lange, Die Bruchmühle, in: Die literarischeWelt. Unabhängiges Organ für das deutsche Schrifttum 9 (1933), Nr. 16, 21. April 1933,S. 4.

‚Landschaftliche Dichtung‘ 1933 205

und konstatiert erleichtert das Ende der „bürgerlich-materialistische[n]Welt“ und des „demokratischen Interregnums“.14 Seine ambivalente Hal-tung gegenüber der völkischen Ideologie ist jedoch immer noch spürbar.Zwar folgt Lange dem Diskurs der völkischen Zivilisationskritik mit seinerForderung, dass man nach der Phase „überspitzte[r] Psychologie“ und „»ni-hilistische[r]« Vernunft und Aufklärungsliteratur“ zu einem natürlicherenMenschbild, ja zu einem „neuen deutschen Menschen“ gelangen müsse.15

Doch vermeidet er es, den Begriff Rasse zu verwenden. Und er wendet sichgegen eine „Apotheose des Bauerntums“ wie in den HeimatromanenRichard Billingers, deren Ursprung seiner Meinung nach im Expressionis-mus mit seiner Faszination durch das Primitive liegt.16 Deutlich erkennbarist hier die schon an der Kolonne festgestellte Tendenz zu einer ‚versachlich-ten‘ Konzeption der menschlichen Natur, die alles Psychologische, aberauch alles Biologische ausschließt. Daher bleibt Langes Rede von den „na-menlose[n] Kräfte[n]“ und den „große[n] Gesetze[n]“, unter die sich derMensch wieder beugen müsse, um den „Individualismus“ zu überwinden,allerdings auch recht unbestimmt.17 Genauso wie sein Programm einer erstzu schaffenden „naturgebundene[n] Dichtung“:18 Deren Aufgabe sei es,„im heutigen deutschen Menschen die Teile des Seelischen wachzuhalten,die danach verlangen, Boden zu haben“.19

Die Abkehr von ‚bürgerlichem Individualismus‘ und ‚aufklärerischemNihilismus‘ auf der einen Seite und das ambivalente Verhältnis zu einer dieNatur ins Zentrum rückenden Anthropologie auf der anderen Seite kenn-zeichnet Langes gesamtes Werk vom ersten Roman Schwarze Weide (1937)über die Ulanenpatrouille (1940) und die Kriegserzählungen Die Leucht-kugeln (1944) bis zu den szenischen und narrativen Texten aus der Nach-kriegszeit. Im Vergleich dieser von Stil und Genre her sehr unterschiedli-chen Werke lässt sich beobachten, wie der Autor in den dreißiger Jahren,von dem Bestreben geleitet, sich von der „öden, geheimnislosen Sachlich-keit“20 der Weimarer Republik abzugrenzen, zunächst die in der Kolonneprogrammatisch geforderte Naturalisierung des Intellekts und des Seelen-lebens literarisch umzusetzen versucht und im Zweiten Weltkrieg eine phä-nomenologisch und antipsychologisch geprägte Schreibweise entwickelt,die ihn in der frühen Nachkriegszeit dann vorübergehend mit der neuen‚jungen Generation‘ verbindet.

14 Lange, Landschaftliche Dichtung, S. 23.15 Ebd., S. 23 f.16 Ebd., S. 25.17 Ebd., S. 26.18 Ebd., S. 22.19 Ebd., S. 26.20 Horst Lange, Über „Die polnischen Bauern“ von Stanislaw Reymont, in: Der weiße Rabe 3

(1934), H. 1, S. 41–44, hier S. 41.

206 Horst Lange

2. Schwarze Weide (1937), ein Heimatroman?

Mit seinem 1937 bei H. Goverts in Hamburg erschienenen, in Schlesienspielenden Roman Schwarze Weide legte Lange vier Jahre nach dem obenzitierten Aufsatz selbst ein Beispiel neuer deutscher ‚Landschafts-Dichtung‘vor.21 Der Roman, den Hans Dieter Schäfer 1976 als den „wohl bedeu-tendsten Roman der nichtemigrierten Schriftsteller“ wieder in das literarhis-torische Bewusstsein zu rücken versuchte,22 rief bei seinem Erscheinen einüberwiegend positives Echo hervor. Von den Rezensenten wurde insbeson-dere die atmosphärisch dichte Schilderung einer chthonischen Natur her-vorgehoben. Karl A. Kutzbach schrieb in Will Vespers Die Neue Literatur,das Buch zeige „die dunkle Abseite des Lebens mit ihren Süchten und Gier-den, ihrer dämmrigen Ungewißheit und schattigen Düsternis wie ihrenunbenennbaren Ahnungen und seltsamen Verzauberungen“, wo „geheim-nisvolle Beziehungen zwischen den menschlichen Einzelleben und dennamenlosen Kräften des Totenreiches und der Natur walten“.23 Und ErnstJünger zählte Lange aufgrund dieses Romans neben Barlach, Kubin, Traklund Kafka zu den „östlichen Schilderer[n] des Verfalls“, die durch die „so-ziale Erscheinung“ hindurch „in elementare Zusammenhänge“ vordrän-gen.24 Gerade das Dämonische und Morbide in Langes Schilderung vonLandschaft und Menschen rief allerdings die scharfe Kritik eines Rezensen-ten hervor, der den Roman nach den Maßgaben der nationalsozialistischenRassenideologie bewertete. Man werde „in eine Sphäre geführt, in der das

21 Horst Lange, Schwarze Weide, Hamburg/Leipzig 1937.22 Schäfer, Die nichtnationalsozialistische Literatur der jungen Generation im Dritten Reich,

S. 22. – 1979 wurde der Roman dann im Claassen-Verlag neu aufgelegt, und 1981 erschieneine Taschenbuchausgabe bei Fischer.

23 Karl A. Kutzbach, o.T. [Rezension], in: Die Neue Literatur 39 (1938), S. 400–402, hierS. 401. Vgl. auch Karl Korn, Erstlinge. Eine Bücherschau, in: Die Neue Rundschau 49(1938), 1. Teilband, S. 403–415, hier S. 413: „Das Buch bedeutet im gegenwärtigen Augen-blick des deutschen Schrifttums ein Ereignis. Es ist prall gefüllt mit dichterischer Substanz,gesättigt mit Anschauungsempfinden, es hat Witterung für die Abgründe und geheimnisvol-len Tiefen, die in der menschlichen Brust verborgen sind.“ Martin Beheim-Schwarzbacherkannte in Schwarze Weide eine für alle bedeutenden Dichtungen der Zeit charakteristische„Düsterkeit der Stimmung und ein tragisches Weltgefühl“, eine Schilderung der „dämo-nische[n] Abgründe“ des Menschen, die in der Sehnsucht nach Erlösung „der Kreatur“ ende(Martin Beheim-Schwarzbach, o.T. [Rezension], in: Eckart 14 [1938], H. 2, S. 92 f.). UndIlse Molzahn schrieb: „Die Atmosphäre des Buches ist dicht, oft wie ein Alpdruck: denn esist eine morbide Welt, die Dimke und sein Dichter erleben […]“ (Ilse Molzahn, SchwarzeWeide [Rezension], in: Die deutsche Zukunft, 7. November 1937, S. 11). Zur damaligenRezeption siehe auch Erhard Schütz, Zwischen „Kolonne“ und „Ethos des bescheidenenStandhaltens“. Zu den Romanen von Horst Lange und August Scholtis während des DrittenReichs, in: Christiane Caemmerer/Walter Delabar (Hg.), Dichtung im Dritten Reich? ZurLiteratur in Deutschland 1933–1945, Opladen 1996, S. 77–95, bes. S. 82.

24 Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949, S. 457 (Eintrag vom 21. Dezember 1943).

Schwarze Weide (1937), ein Heimatroman? 207

Dumpfe und Untermenschliche“ zu Hause sei, schrieb Eberhard Terr-Ned-den in der Weltliteratur.25 Dabei würde „der in jeder Hinsicht klare natio-nalsozialistische Begriff der Rasse“ vermieden und ersetzt durch einen „Be-griff von Blut, der nichts anderes bedeutet als Dumpfheit der Natur undgleichbedeutend ist mit Sexualität und Lebensgier“.26 Lange würde verken-nen, „daß der Begriff der Rasse den Menschen aus der Natur in dieGeschichte hinaufhebt, in der er erst seine Freiheit hat“, und dass schließ-lich „der Begriff des Deutschen Ostens dem Wortklang zum Trotz keinräumlicher, sondern ein geschichtlicher Begriff“ sei.27 Interessanterweisewurde Lange damit gerade von einem nationalsozialistischen Kritiker vor-gehalten, ein Bild der menschlichen Natur zu entwerfen, das Freiheit unddamit Geschichte ausschließe.

2. a) Struktur, Stil- und Gattungsmuster

Wie sieht der Roman aus, der solch konträre Bewertungen hervorrief? Tat-sächlich werden äußere und innere Natur in ihm als dämonisch-triebhafteSchicksalhaftigkeit dargestellt, aus der sich der Mensch kaum zu befreienvermag. Das Grundmuster der Romanhandlung findet sich schon in Langes1933 in der Berliner Rabenpresse veröffentlichten Erzählung Die Gepeinig-ten.28 Darin verfällt der jugendliche Held in leidenschaftlichem Begehreneiner älteren Frau, verliert daraufhin jeden Halt, wird zum Brandstifter undverkauft seine Schwester einem Wunderheiler und Mörder, der sie in dernächstgelegenen Stadt erst zur Prostitution und dann zur Abtreibung zwin-gen will. Am Ende werden die schuldhaften Verstrickungen beider Ge-schwister durch Reinigung von inneren und äußeren triebhaften Zwängenaufgelöst. Der Roman entwickelt dieses Handlungsmuster dann auf überfünfhundert Seiten zu einem episch anmutenden Panorama des Ortes Kalt-wasser und seiner Bewohner, das alle Figuren und Handlungen in einemkomplexen Beziehungsgeflecht verbindet und das gegenwärtige Geschehenin zahlreichen Binnenerzählungen und symbolischen Konstruktionen mit

25 E. T.-N. [Eberhard Terr-Nedden], Zerrbilder aus Schlesien. Horst Lange – August Scholtis:Ein Fall, in: Die Weltliteratur 3 (1941), S. 80–82, hier. S. 81.

26 Ebd., S. 82.27 Ebd. – Die morbide Schilderung musste die nationalsozialistische Kritik insbesondere des-

halb provozieren, weil sie auf die schlesische Heimat Langes bezogen werden konnte unddamit einen Kernbereich der nationalsozialistischen Propaganda, die Ostgebiete, betraf. Wieideologisiert dieses Thema war, zeigen die zahlreichen nazistischen Grenzlandromane, diezumeist von schlesischen Autoren wie Wilhelm Wirbitzky (Gequältes Volk, 1932), WilibaldKöhler (Sehnsucht ins Reich, 1933; Vitigo, 1941), Alfons Hayduk (Sturm über Schlesien,1939) oder Egon Rakette (Der Planwagen, 1940) stammten. Vgl. dazu Arno Lubos, Linienund Deutungen. Vier Abhandlungen über schlesische Literatur, München 1963, S. 134 ff.

28 Vgl. Horst Lange, Die Gepeinigten, Berlin 1933.

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zeitlich weit zurückliegenden Vorgängen verknüpft. Handlungsort ist einemit fiktiven Ortsnamen bezeichnete ländliche Region in Oberschlesien.29

Der erste Hauptteil schildert die Erlebnisse des Helden und Ich-Erzäh-lers während weniger Tage im Sommer 1919. Der pubertierende Gymnasi-ast Dimke besucht seinen Onkel, der Gärtner auf einem herrschaftlichenGut ist, und wird in eine verworrene Welt sexuellen Begehrens, schuldhafterVerstrickungen, alter und neuer Verbrechen eingeführt. Während er selbsterste sexuelle Erfahrungen macht, entdeckt er gemeinsam mit der Tochterdes Gutsbesitzers, Cora, die Spuren eines lang zurückliegenden tragischenLiebestods, erfährt vom Ehebruch seiner Tante Alma, die dafür von ihremMann fast erschossen wird, und beobachtet die Vorbereitung zum Mord andem reichen Bauern Starkloff, von dem sich später herausstellt, dass er seinleiblicher Vater war. Die verhängnisvollen Entwicklungen kulminierendann im Mord, der von einem apokalyptisch anmutenden Gewitterein-bruch begleitet wird. An diesem Punkt der Handlung kehrt der Held flucht-artig in die Stadt zurück. Es folgt ein kurzer, nach einem Zeitsprung vonzehn Jahren einsetzender Zwischenteil, in dem erzählt wird, wie der inzwi-schen in einer nicht näher bezeichneten ‚westlichen‘ Großstadt lebendeHeld erfährt, dass er von dem ermordeten Bauern als Erbe eingesetzt wurde,und beschließt, nach Kaltwasser zurückzukehren. Kontrapunktisch zum ers-ten Hauptteil erzählt der zweite, wieder in Kaltwasser spielende Hauptteildann, wie die vor zehn Jahren unaufgelöst zurückgelassenen Schuldkom-plexe aufgelöst werden und die Vergangenheit befriedet wird. Der Mörderdes Bauern wird angeklagt und in den Selbstmord getrieben. Die unehelicheTochter der inzwischen gestorbenen Tante wird gefunden und von Dimkean Kindes statt angenommen. Und er selbst geht einen von allem sexuellenBegehren freien Bund mit der Tochter des Gutsbesitzers ein und siedelt sichin Kaltwasser an. Vor dieser Lösung steht auch hier eine reinigende Natur-katastrophe: Infolge von Schneeschmelze und sintflutartigen Regenfällentritt der das Dorf durchfließende Bach mit dem titelgebenden NamenSchwarze Weide über die Ufer, überflutet Land und Häuser und schwemmt,folgt man der Symbolstruktur des Romans, alle schlechten Triebe und alleverhängnisvollen Bindungen an vergangene Ereignisse davon.30

29 Gleichwohl finden sich in der Erzählung zahlreiche Anspielungen auf die niederschlesischeHeimatlandschaft Langes. Vgl. hierzu Oda Schaefer, Horst Lange. Ein schlesischer Dichter,in: Schlesien 16 (1971), S. 193–196, bes. S. 194; und Gernot Wolz, Mystische Landschaft.Zum erzählerischen Werk Horst Langes, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Schlesien. Literari-sche Spiegelungen im Werk der Dichter, Berlin 2000 (= Literarische Landschaften, hg. imAuftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bd. 1), S. 112–136.

30 Zur apokalyptischen und religiösen Ikonographie dieses Romans wie auch anderer TexteLanges vgl. Gerald Funk, Zwischen Apokalypse und Arkadien. Zu den Bilderwelten HorstLanges im Dritten Reich, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 30(2000), S. 107–117. Funk deutet die dualistische Konzeption von Licht und Finsternis,Naturverfallenheit und Erlösung im Roman als Ausdruck gnostisch-eschatologischen Den-

Schwarze Weide (1937), ein Heimatroman? 209

Schon bei einer ersten Lektüre des Romans wird klar, was Terr-Neddensscharfe Kritik provozierte: Einerseits steht Langes dämonisierende Beschrei-bung von Landschaft und Menschen in klarem Gegensatz zum völkischenRassenidealismus; andererseits ist der Roman in seiner diffizilen und sym-bolischen Zeichnung eines primitiven Trieblebens von der ‚überspitztenPsychologie‘ der literarischen Moderne nicht so weit entfernt, wie Langeseigene programmatische Aussagen zur Landschaftlichen Dichtung vermutenließen. Daher hatte der Autor zunächst auch Schwierigkeiten, den Romanbei seinem Verleger Eugen Claassen durchzusetzen, der den Autor nach des-sen eigener Aussage „auf eine bäuerlich-realistisch-naive Linie“ festlegenwollte.31 Der Rezensent Joachim Günther nannte das Werk eine „seltsameMischung von bedeutender Intellektualität und Blutsnähe“;32 ein Mitarbei-ter der Reichsschrifttumskammer eine „seltsame Mischung von Eichendorffund Joyce“.33 Erhard Schütz hat Langes ambivalente und durchausmoderne Darstellung der ländlichen Region, die sich in diesen kritischenKommentaren spiegelt, in neuerer Zeit treffend als „Perspektive einer nicht-intellektuellen, aber auch nicht antiintellektuellen ‚Kreatürlichkeit‘“ charak-terisiert, die nicht von der Region, sondern „von Berlin aus geschrieben“sei.34 Dies wird besonders dann deutlich, wenn man die von Lange verwen-deten literarischen Muster untersucht.35 Der Autor und nachfolgende Inter-

kens. Vgl. auch ders., Between Apocalypse and Arcadia. Horst Lange’s Visionary Imagina-tion during the Third Reich, in: Neil H. Donahue/Doris Kirchner (ed.), Flight of Fantasy.New Perspectives on ‚Inner Emigration‘ in German Literature 1933–1945, New York/Ox-ford 2003, S. 248–255.

31 Karte von Horst Lange an Peter Huchel vom 25. Mai 1936; zitiert nach Hub Nijssen, Derheimliche König. Leben und Werk von Peter Huchel, Würzburg 1998 (= Epistemata-Litera-turwissenschaft, Bd. 235), S. 122.

32 Joachim Günther, Erzählung und Roman III, in: Europäische Revue 14 (1938), S. 245–250,hier S. 246.

33 Brief eines Mitarbeiters der Reichsschrifttumskammer an die Schillerstiftung vom 30. No-vember 1937; zitiert nach Nijssen, Der heimliche König, S. 123 (Anm. 141).

34 Schütz, Zwischen „Kolonne“ und „Ethos des bescheidenen Standhaltens“, S. 78. – DieModernität des Romans wird in all den Darstellungen verkannt, die den Roman als schlesi-schen Heimatroman oder als Ausdruck schlesischen Mystizismus’ interpretieren, wie bei-spielsweise Arno Lubos, Horst Lange. Ein Werk unter dem Zeichen des Ostens, Lorch(Württemberg) o. J. [1967].

35 Ein intertextueller und diskursgeschichtlicher Zugang scheint für das Verständnis desRomans fruchtbarer zu sein als die verschiedentlich unternommenen stiltypologischenBestimmungsversuche. Schäfer bewertete den Roman in diesem Sinne als Beispiel einer ‚mo-dernen Klassik‘; vgl. Hans Dieter Schäfer, Zur Periodisierung der deutschen Literatur seit1930 (1977), in: ders., Das gespaltene Bewußtsein, S. 55–71, bes. S. 58 f.; und ders., Dienichtnationalsozialistische Literatur der jungen Generation im Dritten Reich, S. 25 f. Inneueren Arbeiten wird er dagegen zumeist als ‚magischer Realismus‘ klassifiziert. Vgl.Michael Scheffel, Magischer Realismus. Die Geschichte eines Begriffs und ein Versuch seinerBestimmung, Tübingen 1990 (= Stauffenberg Colloquium, Bd. 16), S. 87 ff.; und DorisKirchner, Doppelbödige Wirklichkeit. Magischer Realismus und nicht-faschistische Litera-tur, Tübingen 1993 (= Stauffenberg Colloquium, Bd. 27), S. 70–98.

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preten haben den Roman immer wieder in die Tradition schlesischerBarockliteratur gestellt.36 Viel wichtiger erscheinen jedoch zwei andereinter- bzw. architextuelle Bezüge, die Langes Roman im Kontext der literari-schen Moderne situieren: zum einen die Verbindung mit dem modernenHeimat- bzw. Regionalroman37 und zum anderen die Anlehnung an diesymbolistisch-neoromantische Literatur der Jahrhundertwende.

Langes Orientierung an der Literatur des Fin de siècle wird an zahlrei-chen Motiven, vor allem aber an der subjektivierenden Erzählhaltung deut-lich. Psychische Befindlichkeit und Erscheinungen der Objektwelt werdenso miteinander verknüpft, dass alle Phänomene der Außenwelt – Naturvor-gänge, Landschaftsbilder oder Personenkonstellationen – als Symbolisierun-gen der Innenwelt des Protagonisten und Ich-Erzählers erscheinen – einerInnenwelt allerdings, die keinen individuellen Charakter hat, sondern selbstTeil des umfassenden ‚Lebens‘ ist. Alle Empfindungen, Handlungen undNaturerscheinungen, Subjekt und Objektwelt werden gleichermaßen alsAusdrucksform eines dynamischen Prinzips präsentiert, das metaphysischals ‚Willen‘ (Schopenhauer, Nietzsche), psychoanalytisch als ‚Es‘ (Freud)oder eher biologisch als ‚élan vital‘ (Bergson) beschrieben werden kann. DerVeranschaulichung der „fremde[n] Kraft“,38 des allgegenwärtigen sexuellenTriebes und des ihm verschwisterten Todestriebes, die die Handlungen derMenschen lenkt, dient eine ganze Reihe von Bildern, welche die symbolis-tisch-neoromantische Literatur der Jahrhundertwende konventionalisierthat, wie die omnipräsenten Motive des Wassers, des Fallens und Versin-kens,39 der Gegensatz von Natur und Künstlichkeit oder die naturalisierten

36 Lange selbst hat mehrfach den Einfluss der schlesischen Barockliteratur auf sein Werkbetont. Vgl. Horst Lange, Zwischen Osten und Westen … Ein Selbstportrait, in: Welt undWort 2 (1947), S. 138 f. Günter Eich deutet Langes Rückgriff auf den Barock Anfang derfünfziger Jahre als Mittel, die „Erlebnisse von Tyrannis und Krieg“ zu verarbeiten, da derBarockstil „wie kein anderer abendländischer Stil […] das Barbarische unter das Gesetz derMathematik“ zwinge (Günter Eich, Neulebendiges Barock. Die Lyrik Horst Langes [1951],in: ders., Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe, Bd. IV, hg. von Axel Vier-egg, Frankfurt a.M. 1991, S. 595 f.). Auf barocke und expressionistische Elemente inSchwarze Weide verweisen Siegfried Lenz, Im Schatten der Katastrophe (1980), in: MarcelReich-Ranicki (Hg.), Romane von gestern – heute gelesen, Bd. 3: 1933–1945, Frankfurta.M. 1990, S. 135–141; und Wojciech Kunicki, Günther – Heym – Lange. Zur Intertextua-lität der „Schwarzen Weide“ von Horst Lange, in: Jens Stüben (Hg.), Johann Christian Gün-ther (1695–1723). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters, München1997 (= Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte, Bd. 10),S. 325–342.

37 Auf diese Verbindung ist in der Forschung mehrfach hingewiesen worden. Vgl. insbesondereNorbert Mecklenburg, Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, König-stein (Ts.) 1982, S. 75 ff.

38 Lange, Schwarze Weide, S. 279.39 Exemplarisch für eine Vielzahl ähnlicher Beschreibungen sind folgende Passagen: „Sie gli-

chen Mondsüchtigen, die über gefährliche Wege neben bodenloser Tiefe aufeinander zuge-gangen waren und sich nun gegenüber standen, im Begriff, schon dann zu fallen, wenn einer

Schwarze Weide (1937), ein Heimatroman? 211

Frauenfiguren.40 Cora figuriert unter anderem als Undine mit „fischige[r]Haut“, die sich beim Baden in den Arm des Helden verbeißt, um ihn „nachunten zu ziehen“.41 Alma und Irene sind in dem sie beherrschenden sexuel-len Begehren zugleich von einer latenten Todessehnsucht getrieben.

Der Heimat- und Regionalroman im ersten Drittel des zwanzigstenJahrhunderts teilt mit der frühen Moderne nicht nur die lebensphilosophi-sche Anthropologie, sondern adaptiert auch die dort ausgebildeten Schreib-weisen.42 Auch hier werden innere und äußere Natur in symbolische Kor-respondenzbeziehung gesetzt. Deshalb ist die äußere Natur auch imHeimatroman nie unproblematisch. Als dämonische Macht tritt die Naturdem einzelnen Subjekt oder der dörflichen Gemeinschaft entgegen. Gefähr-liche Sumpf- und Wasserwege, bröckelnde Berghänge und vor allem diestets wiederkehrende Naturkatastrophe gehören ebenso zum festen Moti-vinventar des Genres wie die diversen kreatürlichen und geistesverwirrtenExistenzen am Rande der kulturellen Ordnung. Unter dem Einfluss derliterarischen Moderne der Jahrhundertwende und der dort vorgeprägtenNaturalisierung des Seelenlebens entwickelt auch der Heimatroman – bei-spielsweise bei dem von Lange verehrten Hermann Stehr43 – eine großepsychologische Komplexität in seiner Figurenzeichnung und eine besondereAufmerksamkeit für psychische Krisensituationen und Normabweichun-gen, wie mystische Entgrenzung, sexuelle Obsession oder traumatischeFixierung.44 Er thematisiert also Phänomene, die auch in den Texten der

von beiden auch nur die geringste Bewegung machen würde. Alma hatte ihn mit sich geris-sen, der Fall nahm kein Ende. Immer dunklere Schlünde taten sich auf“ (ebd., S. 130). „[I]chglitt vom glitschigen Geländer ab, fiel rücklings in die Tiefe und konnte mich in dem schim-mernden Dickicht nicht rühren.“ (S. 161) „Es war mir, als müßte ich wie gebannt ins Zen-trum eines tanzenden Wirbels blicken, der mich mit seinem kreiselnden Sog einzufangentrachtete […]“ (ebd., S. 471).

40 Intertextuelle Bezüge bestehen insbesondere zum Frühwerk Hofmannsthals, auf das mehr-fach direkt angespielt wird. So erinnert Dimkes Begegnung mit Almas Kind im Gewächs-haus an eine Szene desMärchens der 672. Nacht (1895).

41 Lange, Schwarze Weide, S. 156.42 Die strukturellen Übereinstimmungen sind auch in personalen Verbindungen begründet.

Wichtige Repräsentanten der frühen Moderne wie Carl Hauptmann (beispielsweise in Diearmseligen Besenbinder, 1913) und Gerhart Hauptmann (beispielsweise in Der Ketzer vonSoana, 1918) nahmen in ihren mittleren und späten Werken Elemente der Heimatliteraturauf. Begünstigt wurde diese Entwicklung dadurch, dass bereits der Naturalismus die Regionliterarisch neu entdeckt hatte. Zum Verhältnis von Primitivismus und früher Moderne vgl.Mecklenburg, Erzählte Provinz, S. 64–70.

43 Zu Langes Bewunderung für Stehr vgl. Horst Lange, Zum siebzigsten Geburtstag HermannStehrs, in: Der weiße Rabe 3 (1943), H. 1, S. 27 f.

44 Vgl. beispielsweise Will Erich Peuckerts in spätexpressionistischem Stil verfassten histori-schen Heimatroman Apokalypse 1618 (1921), der die Geschichte des verzweifelten Gott-suchers, Mystikers und Ketzers Friedel Knoll erzählt, die mit Inzest, Mord und Selbstmordendet, oder Hermann Stehrs Bauernroman Der Heiligenhof (1918), in dessen Zentrum der‚tolle‘ Bauer Jakob Sintlinger steht, der, vom wilden Blut seiner Ahnen getrieben, ein aus-schweifendes Leben führt, seine vitale Natur nach der Geburt einer blinden Tochter aber in

212 Horst Lange

Avantgarde und im Großstadtroman der zwanziger Jahre behandelt werden.Die Einbettung des geographisch und zeitlich besonderen Heimatraums inein Netz dauernd wirkender Naturkräfte folgt dabei dem Mikrokosmos-Modell: Das einzelne Dorf bzw. der einzelne Hof bildet eine exemplarischeForm kultureller Existenz, der konkrete Konflikt nur eine besondere Aus-prägung des ewigen Antagonismus von Kultur und (inneren wie äußeren)Naturkräften und das stereotype Handlungsmuster von Störung (durchVerbrechen oder sonstige Verschuldung) und Restitution (durch eineNaturkatastrophe) der kulturellen Ordnung ist Teil eines endlosen Zyklus.So entwirft der moderne Heimatroman immer zeit- und raumunabhängiggültige Konstellationen des menschlichen Daseins und fasst ‚Heimat‘ dabeianthropologisch auf. Im Unterschied zur Literatur des Fin de siécle, die alleHandlungen und Geschehnisse psychologisiert, ist der moderne Heimat-roman auf eine Naturalisierung des Seelenlebens ausgerichtet. Leib undSeele werden als Teil des natürlichen Lebenszyklus präsentiert,45 weshalbman bei diesem Genre statt von einer Psychologie richtiger von einer Phy-siologie des Seelenlebens sprechen müsste. Das gilt auch für Langes Roman.

In Schwarze Weide herrscht ein Zustand schicksalhafter Determination.Dies betrifft nicht nur die einzelnen Figuren, sondern auch die intersubjek-tive Handlung. Jede neue Wendung des Geschehens kündigt sich in gluck-senden Bewegungen des Sumpfwassers an, jeder Kuss und jede Verführungdes Helden ziehen notwendigerweise Blitz, Donner und Sturm nach sich.Die Romanfiguren selbst agieren größtenteils marionettenhaft. Die meistenFrauen sind in ihrer Fisch- und Tierhaftigkeit dem ‚kosmogonischen Eros‘(Klages)46 unterworfen, aber auch alle anderen Gestalten sind mit ihrer see-lischen und leiblichen Befindlichkeit in ein alle natürlichen Vorgängeumspannendes Kräftefeld eingebunden. Dieses wird an mehreren Stellen

einem mystischen Glauben sublimiert. Neben den Romanfiguren dieser beiden ebenfalls ausSchlesien stammenden Autoren sind die komplizierten Charaktere in den Romanen des vonLange hoch geschätzten Wilhelm Lehmann zu nennen. Norbert Mecklenburg ordnet Langeund Lehmann beide einem ‚sanften Primitivismus‘ zu; vgl. Mecklenburg, Erzählte Provinz,S. 107.

45 Zu diesem Strukturmerkmal des Heimatromans vgl. auch Langes bewundernde Rezensionvon Stanislaw Reymonts Roman Die polnischen Bauern (1902–08; dt. Übers. 1912): Lange,Über „Die polnischen Bauern“ von Stanislaw Reymont, S. 43 f.

46 Klages definiert den kosmogonischen Eros im Anschluss an Nietzsches Deutung des dionysi-schen Rausches als Aufhebung der Individuation in einem allumfassenden Lebensstrom undzieht ebenso wie Lange den Vergleich mit einem physikalischen Kraftfeld: „Der Eros heißtelementar oder kosmisch, sofern das von ihm ergriffene Einzelwesen sich erlebt als durch-pulst und durchflutet von einem gleichsam magnetischen Strom, der ähnlich dem dinglichenMagnetismus unbekümmert um ihre Schranken einander fernste Seelen im verbindendenZug sich gegenseitig spüren läßt […], den Raum und die Zeit in das allgegenwärtige Elementeines tragenden und umspülenden Ozeans wandelt“ (Ludwig Klages, Vom kosmogonischenEros, München 1922, S. 40).

Schwarze Weide (1937), ein Heimatroman? 213

im Roman als Elektrizität bezeichnet, und zwar nicht im metaphorischenSinne, sondern im Sinne einer psychophysischen Naturkraft. Deren zerstö-rerische Wirkung wird zum einen dadurch anschaulich, dass das zentraleNaturereignis des ersten Teils, das Gewitter, Folge der Entladung elektri-scher Energien ist. Zum anderen wird der Mörder Smorczak als elektrischesMedium beschrieben: In die Enge getrieben, wird er durch eine „fremdeKraft“ „galvanisiert“, woraufhin seine Glieder „leise zu zucken“ beginnen,und die religiös-politisch fanatisierte Massenbewegung, die er an sich bin-det, halten „elektrische Kräfte“ zusammen.47 Aber nicht nur in diesen zer-störerischen Entladungen tritt die Elektrizität als wirkende Kraft hervor,sondern auch imWachstum der organischen Natur:

Eines Morgens also, nach den ersten lauen Nächten, die alle Verkapselungen lösenwürden, stand der Wald zitternd vor Erregung da, und der gelbliche Staub, der ausden Erlen rieselte, bezeugte eine unsägliche Zärtlichkeit; das Leben pflanzte sichfort, es war begierig, sich zu umschlingen, auch die trägsten kaltblütigen Tiere wur-den von der Wollust wie von galvanischen Strömen getroffen.48

Indem der Kern des biologischen Lebens mit dem Ursprung menschlicherVerbrechen identifiziert wird – beide auch explizit als ‚das Böse‘ bezeich-net49 –, konzipiert der Roman Natur in kulturpessimistischer Weise alspanerotischen Dämonismus.50 Ähnlich wie Freud in Das Unbehagen in derKultur (1930) geht Lange von der Vorstellung einer – in erster Linie imSexualtrieb begründeten – Destruktivität der menschlichen Natur aus, dieselbst Freud von der „unleugbare[n] Existenz des Bösen“ sprechen ließ.51

47 Lange, Schwarze Weide, S. 279 und 263.48 Ebd., S. 303.49 Das mit einem lang wirkenden Gift oder einem schlechten Keim verglichene Böse wird selbst

als Funktion des Biozyklus imaginiert und erhält dadurch eine geschichtliche Dimension.Die Dämonisierung des biologischen Lebensprinzips ist in den Empfindungen des Pro-tagonisten vom Beginn des Romans an präsent. Schon sein erstes intensives Naturerlebnis ineiner Baumkrone ist durch die instinktive Abwehr des Lebens-‚Stroms‘ und der in diesen ein-gebundenen eigenen Leiblichkeit charakterisiert: „Mit unbestimmten, flüchtigen Gedankenüberlegte ich mir, daß innen, durch meinen Leib, gleichwie in allem Lebendigen: in Bäumen,Gräsern und Früchten, die Säfte kreisen, die das Leben nähren. Ich kam mir selbst wie eineFrucht vor, und ich glaubte es zu spüren, wie mein Fleisch von Quellen, Strömen undGewässern benetzt wurde, süßen und salzigen, hellen und dunklen und vielleicht auch vonsolchen, die ätzend sein konnten wie Gift“ (S. 10).

50 Im Gegensatz dazu stehen die Naturschilderungen in der modernen Literatur der Jahrhun-dertwende ganz im Zeichen eines panerotischen Eudämonismus, bei dem noch die Dissozia-tion des Subjekts im Strom der sensuellen Eindrücke Lustgewinn verspricht. Diese Differenz,der eine veränderte Wertung und Haltung zum lebensphilosophischen Vitalismus entspricht,tritt schlagend hervor, wenn man das zitierte Frühlingsbild mit dem berühmten Monologdes Gianino aus Hofmannsthals Tod des Tizian vergleicht, den es in verdeckter Weise zitiert.

51 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: ders., Studienausgabe, Bd. IX:Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt a.M. 1974, S. 191–270, hierS. 248.

214 Horst Lange

2. b) Primitivismus und Moderne

Was der Roman Schwarze Weide als ‚Heimat‘ oder ‚Region‘ mit modernenStilmitteln in eindrucksvoller Weise in Szene setzt, erweist sich bei genauerBetrachtung als exemplarischer Fall einer von primitiv-heidnischer Mentali-tät geprägten Kultur. Langes Text partiziert damit an der Faszination für dasPrimitive, die durch die Ethnologie und Völkerkunde seit dem letzten Drit-tel des neunzehnten Jahrhunderts geweckt worden und durch die Populari-sierung ethnologischen Wissens nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschlandin verschiedene wissenschaftliche und ästhetische Diskurse eingeflossen war.Während die frühe ethnologische Forschung primitive und modern-euro-päische Denkform noch qualitativ unterschieden und mehr oder wenigerstark polarisiert hatte, setzte sich in den dreißiger Jahren sowohl in der eth-nologischen Feldforschung französischer Wissenschaftler als auch in sozio-logischen und kulturanthropologischen Arbeiten deutscher Autoren einewertneutrale, vergleichende Position durch. Hatte Lucien Lévy-Bruhl im‚prälogischen‘ Denken der Primitiven und dessen Einbindung in eine kol-lektive Bewusstseinsform noch das genaue Gegenteil zum neuzeitlichenIndividualismus gesehen, so entdeckte man unter dem Eindruck des krisen-haften Modernisierungsprozesses im ersten Drittel des zwanzigsten Jahr-hunderts in kulturkritischer Wendung die irrationalen und destruktivenStrukturen auf dem Grund der modernen Zivilisation. Die Moderne wurdenun ebenfalls ‚ethnologisch‘ betrachtet.

Der Roman Schwarze Weide folgt diesem anthropologisch-ethnologi-schen Diskurs, indem er der interpersonellen Handlung primitive Denkfor-men unterlegt. Dies betrifft den primitiven Seelenglauben (Animismus),die darauf basierenden Praktiken der Toten- und Dämonenbeschwörungund das zentrale Motiv des Reinigungsopfers (Lustration). Primitiver Men-talität entspricht schon die skizzierte Analogisierung von körperlich-see-lischen Regungen mit Erscheinungen der äußeren Natur. Im Gegensatzzum abendländischen und christlichen Verständnis der Seele kann das pri-mitive Denken Biologisches und Geistiges, Somatisches und Psychischesder Person nicht unterscheiden und sieht diese stets in übergeordnete kos-mische Konstellationen eingebunden.52 Demzufolge sind alle Vorgänge deräußeren und der menschlichen Natur in untergründiger Kausalität mit-einander verbunden und können auch durch magisch-rituelle Praktikenbeeinflusst werden. Als eine solch primitive Welt des Aberglaubens, als Sys-tem von „Freiheit und Zwang“ und zahllosen „ungeschriebenen Gesetzlich-keiten“, nimmt der Ich-Erzähler in Langes Roman die dörfliche Welt

52 Vgl. Marc Augé, Der Geist des Heidentums, aus dem Französischen von Michael von Kil-lisch-Horn, o.O. 1995 (franz. Erstveröffentlichung 1982), S. 171 und 195.

Schwarze Weide (1937), ein Heimatroman? 215

wahr.53 Ihre Bewohner sind von dem Glauben beherrscht, von bestimmtenPersonen oder Dingen, von Leichnamen oder Kranken gingen dämonischeEinflüsse aus, die das eigene Leben bedrohten.54 Als eine Fliege seinen Kopfumschwirrt und er sie töten will, erinnert sich der Ich-Erzähler unwillkür-lich an den diesbezüglichen Aberglauben seiner Mutter – „wenn du sietötest, wirst du Hunger leiden“ – und an all die anderen Ratschläge ihres„besorgten Herzen[s]“, „das die geheimnisvollen Beziehungen zwischendem menschlichen Leben und den namenlosen Kräften, die es umgebenund erhalten, gekannt hatte.“55 Die Ethnologie hat dieses primitive Natur-verständnis, das alle bewegte und unbewegte Materie als beseelt und inihren Bewegungen kausal verknüpft begreift, als animistisches, präanimisti-sches oder prälogisches Denken bezeichnet.56 Es kennzeichnet eine Kultur-stufe vor der Entwicklung komplexer Deutungs- und Verhaltenssysteme,wie sie Mythos und Kultus darstellen. Vorreligiös-archaischen Charakterhaben auch die im Roman beschriebenen Praktiken der Dämonenbeschwö-rung, insbesondere das für die Handlung zentrale Motiv der Lustration, des

53 Lange, Schwarze Weide, S. 390.54 So fürchtet der Protagonist bei seinem ersten Besuch des Bauern Starkloff, sich durch ein län-

geres Verweilen mit der in dessen Stimme mitschwingenden „Bosheit“ zu infizieren: „Daswäre dem Versucher, der in Starkloffs Schatten weilte und dessen Wortführer der Bauer dar-stellte, schon genug gewesen. Und da der Böse geduldiger ist als jedes andere Wesen,brauchte er vielleicht nur zehn Jahre zu warten, bis die Aussaat dieser wenigen MinutenFrucht für ihn getragen hätte“ (ebd., S. 40 f.). Ähnliche Wirkung geht von den MördernSmorczak und Smeddy aus.

55 Lange, Schwarze Weide, S. 390.56 Edward B. Tylor (Primitive culture, 1871) hatte den Begriff Animismus in die Ethnologie

eingeführt, den auch noch Wundt in einer – allerdings weit gefassten – Definition als „Glau-ben an die Allbeseelung der Dinge“ verwendete (Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie. EineUntersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte, Bd. 4: Mythos undReligion, 1. Teil, 2., bearbeitete Aufl., Leipzig 1910, S. 230). Lucien Lévy-Bruhl hat die spe-zifische Form der Kausalitätsherstellung bei den Primitiven dann als ‚prälogische Geistesart‘bezeichnet (Lucien Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, aus dem Französischen vonWilhelm Jerusalem, Wien/Leipzig 1921 [franz. Erstveröffentlichung Les Fonctions mentalesdans les sociétés inférieurs, 1910], S. 62 ff.). Nach Lévy-Bruhl sind im primitiven Denken„alle Dinge und Wesen […] in ein Netz von Partizipationen und geheimnisvollen Aus-geschlossenheiten einbezogen“ (Lucien Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven, ausdem Französischen von Margarethe Hamburger, München 1927 [franz. Erstveröffent-lichung: La Mentalité primitive, 1922], S. 17). Während für das logische Denken Ursacheund Wirkung in Zeit und Raum gegeben seien, stelle die primitive Mentalität kausale Ver-knüpfungen zwischen einer wahrgenommenen Erscheinung und einem unsichtbaren Wesenher. Die Ursache sei „außerräumlich und, mindestens unter einem gewissen Gesichtspunkt,außerzeitlich“ (ebd., S. 72). Freud versuchte später, eine enge Verwandtschaft zwischenmagisch-primitiver Kausalitätsvorstellung und den Denk- und Verhaltensweisen des Neuro-tikers aufzuzeigen und führte als Indizien dafür unter anderem die anfängliche „Unheils-erwartung“ und die „Sexualisierung aller Denkvorgänge“ bei Neurosen an (Sigmund Freud,Totem und Tabu [1912/13], in: ders., Studienausgabe, Bd. IX: Fragen der Gesellschaft.Ursprünge der Religion, Frankfurt a.M. 1974, S. 287–444, hier S. 375 und 378).

216 Horst Lange

Tier- und Menschenopfers.57 Gleich zu Beginn zeigt eine Szene, wie sichder junge Dimke von der „seltsame[n] Angst“ und den bösen „Ahnungen“,die ihn inmitten der Natur befallen, zu befreien versucht, indem er „einOpfer“ bringt, nämlich einer Spinne eine Fliege ins Netz setzt.58 Am Endewird dann der als „gemästete Kreuzspinne“59 beschriebene Mörder voneiner fanatisierten Menge in den Selbstmord getrieben, um so ein sich inverschiedenen natürlichen Zeichen andeutendes Unheil von der Regionabzuwenden. Es wird sich noch zeigen, dass auch andere Morde und Selbst-morde die Funktion eines Menschenopfers erfüllen. Als Reinigungshand-lung wirkt schließlich am Ende des Romans die große Flut, die die Men-schen und das Dorf von der Berührung mit den dämonischen Kräftenreinwäscht.60

Es gibt noch eine weitere Ebene, auf der primitive Mentalität das Den-ken und Handeln der Figuren bestimmt und dadurch eine strukturierendeFunktion für die gesamte Romanhandlung erhält, und dies ist der mehrfachthematisierte Umgang mit den Toten. Die Furcht vor Berührung mit Totenbzw. der Glaube an den negativen Zauber, den der ‚schlimme Tod‘ auf dieLebenden ausübt, sowie die Tabuisierung des Todes bilden einen Kernbe-zirk primitiver Lebensorganisation und Rituale.61 Auch in Schwarze Weidegeht von den Toten oder von Menschen, die mit dem Tod Berührung hat-ten, eine dämonische Kraft aus, die handlungsmotivierend wirkt. So ziehtes den Helden – genau wie er es sich einst ahnungsvoll vorhersagte – zehnJahre nach seiner Berührung mit Starkloff zurück in das Dorf. Gleichzeitigtreibt es auch Smeddy, den Helfer Smorczaks beim Mord am Bauern Star-kloff, aus dem Ausland nach Kaltwasser zurück, wobei Lange auch auf denmodernen Aberglauben von der Rückkehr des Mörders an den Ort seinerTat anspielt.62 Ganz konkret, körperlich wirken die Toten in den Handlun-

57 Zum Reinigungsopfer und seiner Verwurzelung im Dämonenglauben vgl. Wilhelm Wundt,Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos undSitte, Bd. 6: Mythos und Religion, 3. Teil, 2., bearbeitete Aufl., Leipzig 1915, S. 459–475.

58 Lange, Schwarze Weide, S. 11.59 Ebd., S. 266.60 Zur Reinigungszeremonie mit Wasser und dem Status des Wassers als „reales magisches Sym-

bol“ vgl. Wundt, Völkerpsychologie, Bd. 6, S. 476–477.61 Die Furcht vor dem ‚schlimmen Tod‘ beschreibt Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primiti-

ven, S. 254 ff. Demnach wird jeder nicht-natürliche Tod – und dies ist im primitiven Den-ken fast jeder Tod – als Zeichen für den „Zorn der unsichtbaren Mächte“ aufgefasst, und ausSorge, das Schicksal des Toten zu teilen, wird „jede Partizipation zwischen ihm und der sozia-len Gruppe“ abgebrochen (S. 255). Aus diesem Glauben leiten sich besondere Bestattungs-und Reinigungsrituale ab, aber auch die Ausstoßung von Kranken oder von Menschen, diesonstwie mit dem Tod in Berührung gekommen sind. In Schwarze Weide wird dieser Glaubevom Ich-Erzähler immer wieder reproduziert, beispielsweise führt er den Selbstmord Almasrückblickend auf den Schuss zurück, den ihr Mann einst in einem Eifersuchtsanfall auf sieabfeuerte und mit dem er „seiner Frau den Tod anhexte“ (Lange, Schwarze Weide, S. 251).

62 Oda Schaefer berichtet im ersten Band ihrer Autobiographie, dass die Idee zum Roman aufeine Notiz aus dem Berliner Tageblatt von 1933 zurückgeht, die von eben einem solchen Fall

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gen der Lebenden weiter, bis sich diese von der Berührung mit ihnen gerei-nigt haben. Der dämonische Zauberglaube begründet auch die zyklischeZeitstruktur der Romanhandlung, die Wiederkehr des Vergangenen bzw.die Rückkehr zum Ausgangspunkt: Dadurch, dass „Totes“ als „in dieGrundpfosten aller Häuser eingemauert“ oder in anderer Weise substantiali-siert gedacht wird, leisten „die Schatten einer ungesegneten Vergangenheitden Verdüsterungen der Zukunft Vorschub“.63

Vermittelt über die Macht der Toten leitet sich die gesamte Handlungdes Romans aus vergangenen Morden oder Selbstmorden her. Die ‚Ge-schichte‘ erscheint als endlose Kette dämonischer Beeinflussung (oder meta-physischer Verschuldung), in der jede einzelne Handlung selbst Folge ande-rer, längst vergangener Geschehnisse ist. So geht die Handlung des zweitenTeils auf den Mord an Starkloff zurück. Und die Gesamthandlung desRomans ist durch einen lange zurückliegenden Selbstmord motiviert: Einelängere Binnenerzählung berichtet von der tragischen Liebesgeschichtezwischen einem Junker, einem Vorfahren des Oberst, und dem Bauern-mädchen Christiane, an deren Ende das Mädchen ins Wasser ging. Diese‚Urgeschichte‘ wird als „Erdbebenzentrum“ unter den Verwerfungen derRomangegenwart und als Ausgangspunkt der Katastrophe benannt, mit derder Roman endet:

Von dort reichten die verworrenen Züge eines aus Schuld und Verhängnis gefloch-tenen Netzes nach oben, die Toten hingen wie schwere Bleigewichte in denMaschen und zogen sie immer enger zusammen, bis sie bei ihrem Fischzug dasganze Dorf ins Garn bekommen hatten.64

Am Ende treten die Toten dann in persona bei einem großen ‚Fischzug‘ ausden Gräbern hervor, denn die gewaltige Flut spült auch die Skelette ausdem Totenacker des Dorfes und bringt dabei die Knochen des ermordetenBauern ans Tageslicht.65

der Rückkehr des Täters zum Tatort berichtete und von Lange zuerst in einer, ebenfalls imBerliner Tageblatt publizierten, Kurzgeschichte verarbeitet wurde. Vgl. Oda Schaefer, Auchwenn Du träumst, gehen die Uhren. Lebenserinnerungen, München 1970, S. 277.

63 Lange, Schwarze Weide, S. 274.64 Ebd., S. 308.65 In der Sicht des Ich-Erzählers erscheinen die Gräber von Starkloff und Alma, die unter der

Erde nicht zur Ruhe kamen, als Ursprungsort der Überschwemmung: „Die Stelle, an derGotthold Stanislaus neben Alma sich ausgestreckt hatte, war so aufgewühlt, daß es schien, alshätte hier irgendein schrecklicher Kampf zwischen den beiden Toten stattgefunden, bei demder brutale Bauer endlich, kraft seines Einverständnisses mit den dunklen Mächten, welchedem Wasser der Schwarzen Weide innewohnten, die Oberhand gewinnen mußte. MochteAlma sich auch noch so sehr dagegen sträuben und an der Erde festklammern, mit der sieschon völlig eins geworden war – sie wurde losgerissen und entführt: ins Ungewisse, in dieZerstreuung, am Grunde der Glut, die das morsche Frauengerippe gänzlich zerstörte, indessie es fortwälzte und seine Teile unter Schlamm, Steinen und Kies da und dort versteckte“(ebd., S. 490 f.).

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Dass die Toten im Roman solche Macht über die Lebenden ausübenund die Menschen im primitiven Denken befangen bleiben, ist, struktura-listisch betrachtet, vor allem in den ungeklärten Verwandtschaftsbeziehun-gen begründet. Weisen schon die magischen Praktiken und das Fehlenmythisch-kultischer Elementen die Romanwelt als einen Zustand aus, derkulturhistorisch vor der Entstehung – oder, was noch zu diskutieren seinwird, nach der Zerstörung – kultureller Ordnung einzuordnen ist, so wirddiese Lesart durch das weitgehende Fehlen familiärer Ordnungen nochbestätigt. Aus der Ethnologie weiß man, welch wichtige Rolle die Kenntnisvon Verwandtschaftslinien und das darauf basierende komplexe Regelungs-system von Partnerwahl, Hierarchie und Erbfolge, insbesondere das Inzest-verbot, bei der Konstituierung und Stabilisierung primitiver Kulturenerfüllt. So beschreibt Freud in Totem und Tabu (1912/13) den archaischenZustand als unumschränkte Gewaltausübung einer familiär nicht fixiertenVäterhorde, der erst durch den exemplarischen Vatermord und die gleich-zeitige Installierung des Inzestverbots überwunden wurde.66

Von diesem kulturgeschichtlichen Modell unterscheidet sich die Ro-manhandlung auf den ersten Blick dadurch, dass die Familienbindungenhier zuerst zerstört worden sind. Allerdings ist dies eine Erkenntnis, die sichdem Leser erst nach sehr genauer Lektüre eröffnet. Denn nur allmählichund oft über verschlungene Andeutungsketten zeigt sich, dass ein Großteildes Personals in – ihm selbst zumeist nicht bewussten – verwandtschaftli-chen Beziehungen zueinander steht. Und erst mit Blick auf diese der Fabeleingeschriebene genealogische Makrostruktur erschließt sich dann dieeigentümliche Gesetzmäßigkeit in der Störung ‚natürlicher Erbfolge‘: Eshandelt sich um eine sich regelmäßig wiederholende Unterbrechung in derVerbindung zwischen Kindern, insbesondere Söhnen, und ihren Vätern.Dies trifft auf den Helden zu, der erst gegen Ende des Romans Hinweisedarauf erhält, dass der Bauer Starkloff sein leiblicher Vater ist, und er daherauch mit Alma blutsverwandt ist. Starkloff, dies offenbart eine weitere Bin-nenerzählung, ist, wie er selbst erst spät erfuhr, der uneheliche Sohn einesrussischen Gutsinspektors und zugleich ein Halbbruder Almas. AlmasTochter stammt aus der ehebrecherischen Verbindung ihrer Mutter mitdem Kaufmann Hartmann, wächst aber bei ihrem Stiefvater auf. Der Sohnvon Starkloffs Magd Sofie entstammt einem Verhältnis mit Smeddy undnicht ihrer ehelichen Verbindung mit dem Bauern Woitschach. Cora ent-stammt zwar einer legitimen Beziehung, kehrt aber erst in jugendlichemAlter zu ihrem Vater zurück. Auf diese Weise stimmen die Familienbezie-hungen nirgends mit der Blutverwandtschaft überein. Hieraus und aus derUnwissenheit um die eigene Herkunft erklärt sich einerseits die überall zubeobachtende Spannung oder Feindschaft im Verhältnis zwischen Kindern

66 Vgl. Freud, Totem und Tabu, S. 437.

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und Eltern bzw. Stiefeltern, andererseits auch die auffällige Unsicherheit desHelden in der Partnerwahl sowie seine Perhorreszierung der Sexualität. Diezahlreichen sexuellen Versuchungen, die Dimke im ersten wie im zweitenBuch begegnen, beinhalten prinzipiell die Gefahr einer inzestuösen Verbin-dung, was er instinktiv zu erkennen scheint, als er gerade die AnnäherungAlmas abwehrt. Eine eheähnliche Verbindung wird für ihn erst am Endemöglich, nachdem die realen Verwandtschaftsstrukturen aufgedeckt gewor-den sind.

Solche Regelmäßigkeiten in den Handlungs- und Verhaltensweisensind Teil des im Roman entworfenen primitiven Denksystems. Für die inihm befangenen Figuren sind die realen Verwandtschaftsbeziehungen aller-dings auf einer unter der Bewusstseinsschwelle liegenden Ebene instinktivenEmpfindens durchaus spürbar. Dies entspricht der primitiven Vorstellungvom substantiellen Erhalt und der genealogischen Addition körperlich-see-lischer Eigenschaften.67 So fühlt sich der junge Dimke schon bei seinem ers-ten Besuch Starkloffs unmittelbar bedroht. Dieses Gefühl steigert sich dannzur Ahnung eines unheilvollen, die ihm begegnenden Personen untereinan-der und die gegenwärtigen mit vergangenen Ereignissen verknüpfendenBlutszusammenhangs, in den ihn seine „seltsame[n] Begierden“ hineinzu-ziehen drohen:

Vielleicht war es die Summe sämtlicher unerfüllter Träume, welche je und je vonallen den vergessenen Bauern und Förstern, den Tagelöhnern, Dieben, Säufernund Lüstlingen und von all den Frauen: den keuschen Mädchen, den unzüchtigenGeliebten, den Schwangeren, den Unfruchtbaren, den Greisinnen und den Früh-verstorbenen, deren Blut in meins mündete, geträumt worden waren.68

Auch das Blut wird hier als dämonische Kraft aufgefasst oder, anders formu-liert: der (eigentlich moderne) Glaube an eine Determination durch dasBlut wird als ein primitiver Dämonenglaube dargestellt. Außerdem wird dieVorstellung dämonischer Beeinflussung vom Helden mit mathematischerBerechung assoziiert. Und zwar in dem Moment, als er sich kurz vor einererneuten Verführung bewusst wird, welche Konsequenzen ein Nachgebengegenüber der eigenen Triebnatur hätte:

Es schien mir, als hätten die Toten gerade diesen Ort und diese Minute bezeichnet,um sich an mir zu rächen. Gleich steuerlosen Wracks sah ich sie auf dem mitter-nächtlichen Ozean des Vergessens treiben, sie richteten ihre Sextanten auf dieausgeglühte Sonne und rechneten heimtückisch die Stellen aus, an denen dieLebenden in die nachträglichen Verstrickungen längst vergangener, unbeendeterSchicksale gerieten.69

An diesen Stellen, an denen Lange naturwissenschaftliches Denken mit pri-mitivem Dämonenglauben überblendet, wird deutlich, dass er die Welt der

67 Vgl. Augé, Der Geist des Heidentums, S. 179 f.68 Lange, Schwarze Weide, S. 390 f.69 Ebd., S. 343 f.

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Schwarzen Weide nicht als vormodernen Kulturzustand konzipiert. Viel-mehr beschreibt er in ihm die Moderne als Primitivismus. In diesem Sinnebezeichnet er das naturwissenschaftliche und geschichtliche Fortschrittsden-ken auch später in der bereits zitierten Passage des Kriegstagebuchs als „Pri-mitivität, Fetischismus“.70

Die radikal zivilisationskritische Perspektive des Romans muss in Rech-nung gestellt werden, wenn nach seiner zeitkritischen Dimension gefragtwird. In der Sekundärliteratur ist diese Frage zumeist in der Weise beant-wortet worden, dass Lange mit seiner Schilderung einer dem primitivenDämonenglauben verfallenen Gesellschaft ein chiffriertes Bild des ‚DrittenReichs‘ zeichnen wollte71 und der Roman deshalb als „Ausdruck von Oppo-sition“72 zu bewerten sei. Abgesehen davon, dass sich eine solche Autorin-tention im Text nicht nachweisen lässt, ist diese Deutung auch deshalb pro-blematisch, weil die allegorische Konzeption der gesamten Handlung mitihrer zwei- bzw. dreigeteilten Zeitstruktur offensichtlich eine ganz andere,epochale ‚subscriptio‘ hat.73 Diese wird sichtbar, wenn man die historischeSituierung des Geschehens betrachtet. Obwohl die primitive Welt von Kalt-wasser selbst weitgehend geschichtslos wirkt, wird sie von Lange doch einerbestimmten historisch-politischen Epoche zugeordnet. Die Handlung desersten Buches spielt im Sommer 1919, kurz nach dem Ersten Weltkriegwährend der alliierten Besatzung Oberschlesiens; Zwischenspiel und zweitesBuch setzen zehn Jahre später ein. Die Handlung spannt sich also von derkrisenhaften Anfangs- bis zur krisenhaften Endphase der Weimarer Repu-blik und umfasst damit die geschichtliche Epoche, die Lange in seinem Auf-

70 Lange, Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 153 (19. August 1944).71 Insbesondere wurden die Figur des Smorczak und die von ihm gegründete politisch-religiöse

Sekte als Allegorie Hitlers und seiner Anhänger gedeutet. Vgl. Lenz, Im Schatten der Kata-strophe, S. 140; Kirchner, Doppelbödige Wirklichkeit, S. 73; Hub Nijssen, Über die Wider-standskraft der Vernunft. Huchel, Eich und Lange, junge Autoren unter der Hitler-Diktatur,in: Wilhelm Haefs/Walter Schmitz (Hg.), Martin Raschke (1905–1943). Leben und Werk,Dresden 2002 (= Arbeiten zur Neueren deutschen Literatur, Bd. 11), S. 107–120, bes.S. 117. Diese Interpretation ist schon deshalb problematisch, weil die Motive der fanatisier-ten Sekte und des falschen Propheten ihren festen Platz in der Typologie des Heimatromanshaben, wie beispielsweise die Figur des Friedel Knoll in Peuckerts Apokalypse 1618 zeigt.Zudem ließe sich das im Roman gezeichnete Bild einer von primitivem Dämonenglaubengetriebenen Bewegung (vgl. Lange, Schwarze Weide, S. 280 und 348) auf ganz unterschiedli-che, mit politischen Heilsversprechungen auftretende Bewegungen der Weimarer Republikbeziehen.

72 Gerald Funk, In diesen dunkelsten Zeiten. Aspekte ästhetischer Opposition im Werk HorstLanges, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Deutsche Autoren als Gegner und Opfer des National-sozialismus. Beiträge zur Widerstandsproblematik, Berlin 2000 (= Literarische Landschaften,hg. im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bd. 3), S. 127–147, hierS. 147.

73 Die an barocken Vorbildern orientierte allegorische Verfahrensweise des Romans hatWojciech Kunicki in seiner Untersuchung der intertextuellen Bezüge zur Lyrik Johann Chris-tian Günthers aufgezeigt (vgl. Kunicki, Günther – Heym – Lange).

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satz über Landschaftliche Dichtung retrospektiv als das „demokratische Inter-regnum“ bezeichnet hatte.74 Eine historisierende Lektüre hatte bereits KarlKorn in seiner Rezension vorgeschlagen, in der er schrieb, es müsse erwogenwerden, dass es sich hier um einen „Zeitroman“ handele, „der das Anden-ken furchtbar düsterer Tage beschwört, da das Volk […] sich preisgab, sichvoller Lüste sog, weil es für den kommenden Tag das Letzte Gericht undden Untergang befürchtete“.75 In dieser Perspektive wird die Geschichtedes jungen Dimke als Generationserzählung lesbar, als Roman der vonLange im Aufsatz angesprochenen Nachkriegsgeneration, die die WeimarerRepublik als krisenhafte ‚Zwischenzeit‘ auffasste, auf die die grundlegendepolitisch-kulturelle ‚Erneuerung‘ folgen musste, die der Erste Weltkriegeinst versprochen hatte.76 Den Entwürfen einer ‚jungen Generation‘ korres-pondiert im Roman zum einen die doppelte Idiosynkrasie des Heldengegenüber der Provinz und der modernen Großstadt, zum anderen die The-matisierung der Vaterlosigkeit.77

Wenn man die Frage nach der politischen Dimension des Romansstellt, dann muss die Antwort hier, auf der Ebene des (kultur)anthropologi-schen Diskurses, im Umgang mit den im ‚Dritten Reich‘ hochgradig ideo-logisierten Konzepten von Heimat- und Blutsbindung gesucht werden.78

Sie lässt sich in einer signifikanten Abweichung vom völkischen Diskursausmachen. Zwar wird die in Kaltwasser herrschende Anarchie und Gewaltteilweise mit der durch den Krieg verursachten Abwesenheit der Väter undStörung der Familienbeziehungen begründet.79 Die Überwindung diesesZustands wird jedoch nicht im Sinne einer leiblichen und seelischen Reter-ritorialisierung und damit auch nicht als Erneuerung von Geschichte dar-gestellt. Dies ist schon deshalb ausgeschlossen, weil die Blutsbindungen imRoman, wie gesehen, in negativer Weise mit schicksalhafter Determination

74 Lange, Landschaftliche Dichtung, S. 23.75 Korn, Erstlinge, S. 413.76 „Die bürgerlich-materialistische Welt war nur ihrer äußerlichen Geltung nach durch den

Krieg liquidiert worden, von allen Seiten wurde ihr baldiger Untergang vorhergesagt, aberdie Frist dehnte sich […]“ (Lange, Landschaftliche Dichtung, S. 23).

77 Zur Thematisierung der Vaterlosigkeit in den programmatischen Schriften der ‚jungenGeneration‘ siehe Kap. II, 1.

78 Horst Denkler hat in seiner ungemein materialreichen Untersuchung zur Literatur der ‚jun-gen Generation‘ im ‚Dritten Reich‘ gezeigt, dass Heimat in dieser Zeit zum zentralen literari-schen Gegenstand wird und sich gerade an seiner unterschiedlichen Behandlung ein ideo-logisch und literarisch-konzeptionell differenziertes Profil der zwischen Heimatbindung undHeimatskepsis schwankenden ‚jungen Generation‘ erkennen lässt. Vgl. Horst Denkler,Werkruinen, Lebenstrümmer. Literarische Spuren der ‚verlorenen Generation‘ des DrittenReiches, Tübingen 2006 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 127),Kap. 6.

79 So wird das Scheitern der Ehe zwischen Alma und dem Gärtner Dimke damit begründet,dass dieser kurz nach der Hochzeit in den Krieg musste (vgl. Lange, Schwarze Weide,S. 132), und der Tod der Mutter des Helden wird mit der langen Abwesenheit des Vaterswährend des Krieges erklärt (vgl. ebd. S. 162 f.).

222 Horst Lange

und Unfreiheit konnotiert sind und der zu Grunde gelegte anthropologi-sche Dualismus eine Verknüpfung von Blut und Geist im Sinne der völki-schen Ideologie nicht zulässt.

2. c) Die Utopie der Vaterlosigkeit

Die Ambivalenz im Verhältnis der Kinder zu ihren Vätern bleibt bis zumEnde von Schwarze Weide bestehen. Im ersten Teil wird die Verhaltensun-sicherheit des Helden damit begründet, dass er sich in einen stammes-geschichtlichen Zusammenhang verstrickt sieht, den er selbst nicht zudurchschauen vermag. So wirkt die Gewalttätigkeit Starkloffs, in dem erinstinktiv das eigene Blut erkennt, für ihn als beständige Bedrohung. Erfürchtet, in einen sich ewig perpetuierenden Schuldzusammenhang hinein-gezogen zu werden, flieht seinen Vater daher und unternimmt auch nichts,um dessen Ermordung zu verhindern. Wie Ödipus wird er in Unkenntnisder natürlichen Verwandtschaft am Tod des eigenen Vaters schuldig.Gleichzeitig hat sein Schweigen über die Verschwörung gegen Starkloff aufdem Hintergrund des vorangegangenen instinktiven Erkennens der Ver-wandtschaftsbeziehung aber auch den Charakter einer latenten Tötungs-absicht. Und tatsächlich hat der Mord für den Helden die Funktion einesReinigungsopfers, da er so von den Zwängen des Blutes befreit zu werdenhofft. Der Tod des Vaters markiert hier also nicht die Zerstörung der kultu-rellen Ordnung, wie in den völkischen Weltkriegsdeutungen, sondern istumgekehrt gerade die Voraussetzung für die Überwindung des primitivenNaturzustands.

Von diesem radikalen Bruch mit der archaischen Väterwelt her erklärensich auch einige scheinbare Unstimmigkeiten des zweiten Romanteils. Sowird die Rückkehr des Helden nach Kaltwasser zwar mit den inneren undäußeren Zwängen, den das Erbe Starkloffs auf ihn ausübt, begründet. Trotz-dem übernimmt er am Ende aber nicht selbst dessen Hof, sondern verwaltetihn nur, um ihn eines Tages an Almas Tochter zu übergeben. Zudem for-muliert der Ich-Erzähler im Roman nie selbst die Erkenntnis, dass Starkloffsein Vater ist, obwohl die von ihm aufgefundenen Dokumente diesenSchluss zwingend nahelegen. Und auch bei zwei anderen Romanfigurenwird das Fehlen bzw. der Tod des Vaters als Bedingung für eine von alterSchuld befreite Existenz dargestellt. Es handelt sich um die Tochter Almasund den ältesten Sohn Sofies, in denen der Ich-Erzähler am Ende das uto-pische Bild einer neuen Generation aufscheinen sieht:

Diese beiden: der vaterlose Knabe, der ehrlos empfangen und geboren war, unddessen inwendige Ruhe von der Schweigsamkeit seiner Mutter abhing, und das ver-waiste Mädchen, das seine Lieblichkeit den Sünden Almas verdankte – sie schieneneiner neuen Menschenrasse anzugehören, welche diese Kinder wie eine geheime

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Vorhut in unsere verpesteten Gegenden ausgeschickt hatte, mit der noch unaus-gesprochenen Botschaft, daß es bald an der Zeit sein könnte, alles, was wir nicht zuvollbringen vermochten, den jüngeren und furchtloseren Herzen und Armen zuüberlassen, die sich nicht davor scheuen würden, unsere Versäumnisse anzupackenund von Grund auf umzubrechen wie brache, verunkrautete Ackerstücke, die end-lich Frucht und Ernte tragen sollten.80

Es ist die doppelte Eigenschaft, unehelich geboren zu sein und den wahrenVater nicht zu kennen, die beide Kinder in den Augen des Erzählers zu Hoff-nungsträgern macht. Deshalb stellt die mögliche Begegnung mit dem leibli-chen Vater auch eine beständige Gefahr für sie dar, die Dimke von ihnenabzuwenden sucht. Den Vater von Almas Tochter, den Kaufmann Hart-mann, der als vermeintlicher Mörder Starkloffs verurteilt wurde, lässt er imGefängnis, obwohl er ihn entlasten könnte. Und Smeddy, den Vater vonSofies Sohn, hindert er nicht am Selbstmord. Denn erst Smeddys Tod gibtihm die Sicherheit, dass dessen Sohn „auf immer unerkannt bleiben undsein Leben niemals mit der Kränke aller Irrtümer anstecken“ wird, die seinVater „als Krätze und Ungeziefer an Leib und Seele“mit sich herumtrug.81

Der Schluss der Schwarzen Weide ist von einer auffälligen Ambivalenz,die im wesentlichen daher rührt, dass die Überwindung des Primitivismusim Roman – den Konventionen des Heimatromans folgend – durch eineNaturkatastrophe, nämlich eine ‚Sintflut‘, herbeigeführt wird, die als Rei-nigungsopfer wirkt und eine Phase kultureller Erneuerung einleitet.82 Mankann an diesem Festhalten am natur- und kulturzyklischen Denkmodell dieschon am Aufsatz über Landschaftliche Dichtung beobachtete konzeptionelleUnsicherheit des Autors erkennen, der einerseits die Moderne als Pri-mitivierung kritisiert und andererseits eine ‚naturgebundene Dichtung‘ for-dert, die den Menschen als Teil der Natur und „der unabänderlichen Wie-derkehr des Gleichen“ zeigt.83 Das kulturzyklische Denkmodell konfligiertim Roman mit dem anthropologischen Dualismus, der Erneuerung undBeruhigung nur durch die Ablösung des Menschen von der Naturgeschichtedenken lässt. Eine solche Lösung wird im Roman nur angedeutet: in derEliminierung der Väter, der Idealisierung der unehelichen Kinder und derAusschaltung der Sexualität aus dem Geschlechterverhältnis im Fall Dimkes

80 Lange, Schwarze Weide, S. 452.81 Ebd., S. 493. Noch im Anblick der Leiche wirkt die dämonische Macht des Vaters über den

Sohn, und es kommt zu einer instinktiven Abwehrreaktion des Kindes. Als der Leichnamgefunden wird, „traktiert“ ihn Sofies Sohn „voller Abscheu“ und mit „unverhehltem Aus-druck von trotziger Überlegenheit“ so lange mit Fußtritten, bis er sich dreht und das Gesichtsichtbar wird: „Smeddys Kopf, der plötzlich eine seltsame Lebendigkeit erhielt, nickte demKinde zu, das erschrocken zurückwich und sich zur Flucht wandte“ (S. 494).

82 Beispielhaft zeigt sich dies am Wiedererstarken der Kirche, die nach der Überschwemmungplötzlich regen Zulauf erhält, und in der allgemein um sich greifenden Frömmigkeit (vgl.ebd., S. 510 f.).

83 Lange, Landschaftliche Dichtung, S. 23.

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und Coras. Sie gewinnt jedoch wenig Glaubwürdigkeit, da sie weder in derHandlungsmotivation noch in der Figurenpsychologie verankert ist.Schließlich beschreibt der Erzähler seine Zukunftshoffnung angesichts derbeiden Kinder in der zitierten Passage weiterhin in der Metaphorik organi-schen Wachstums und hält noch im Sieg über den toten Smeddy am Glau-ben an die körperliche Übertragbarkeit des Dämonischen fest. Und selbstdie Askese, die am Ende als Lösung ins Spiel gebracht wird, erfüllt im pri-mitiven Denken eine dem Reinigungsopfer vergleichbare Funktion.84

Allerdings deutet der Roman an einigen Stellen auch die Möglichkeiteiner Überwindung der naturalistischen und vitalistischen Determinationan. So wird erzählt, wie sich das Bewusstsein des Helden – zuerst währenddes Gewitters und dann noch einmal während der Überschwemmung – füreinen Augenblick zum leib-seelischen Komplex des eigenen Ich ablöst:

Alles, was ich dort unternahm, stand unter der Beobachtung eines gelassenen Zu-schauers, der genug Erfahrungen besaß, um auf jegliche Überraschung gefaßt zusein. Dieser andere, der kühl und überlegen geblieben war, hatte sich in derSekunde von mir losgelöst, wo er einsah, daß es gefährlich sein würde, wenn er sichin den Strudel der Verzweiflung mit hinabzerren ließe, und wo das Körperlicheund Empfindungsmäßige – das den Ängsten genauso willenlos unterworfen ist wiedie Tiere oder die götterlosen Menschen der Vorzeit – in mir überhandzunehmendrohte.85

Beim Anblick der Flutkatastrophe gelingt es dem Protagonisten einenMoment lang, eine Beobachterposition gegenüber dem äußeren Geschehenund gegenüber den eigenen Bewusstseinsakten zu gewinnen und deren engeVerflechtung zu durchschauen. Und diese Leistung des Bewusstseins wirdals Ablösung von der Natur beschrieben und mit dem Übergang von einervorzeitlichen zu einer mythischen Kulturstufe analogisiert.86 Diese phäno-menologische, auf eine Analyse der Bewusstseinsakte gerichtete Perspektive,in der sich eine Abkehr von der lebensphilosophischen Anthropologieandeutet, tritt in Langes zweitem Roman Ulanenpatrouille (1940) und inden KriegserzählungenDie Leuchtkugeln (1944) noch stärker in den Vorder-grund.

84 Vgl. Wundt, Völkerpsychologie, Bd. 4, S. 433. Ähnlich ambivalent ist die Wiedererrichtungeines am Anfang zerstörten Denkmals der Christiane zu sehen. Einerseits symbolisiert es dieÜberwindung der aus der Vergangenheit wirkenden dämonischen Kräfte und den Übergangin einen Kulturzustand, andererseits ist der Ahnenkult ein integraler Bestandteil niedererMythologien. Vgl. dazu Leo Frobenius, Die Weltanschauung der Naturvölker, Weimar1898, S. 394.

85 Lange, Schwarze Weide, S. 455. Vgl. a. ebd. S. 159.86 Zu den mythischen Anspielungen und der antithetischen Struktur von Mythologie und pri-

mitivem Dämonenglauben in Schwarze Weide und in Langes späteren Texten vgl. Funk, Indieser dunkelsten aller Zeiten, S. 143 f.

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3. Auf der Suche nach ‚Präsenznähe‘: Ulanenpatrouille (1940)

Mit dem Erfolg der Schwarzen Weide verglichen, fand Langes zweiter, 1940ebenfalls bei Goverts erschienener Roman damals wenig Beachtung. EinGrund dafür mag die durch eine indirekte Zensurmaßnahme des Propagan-daministeriums bewirkte geringe Verbreitung des Buches gewesen sein;87

nicht minder wichtig dürfte aber die stilistische Manieriertheit des Textesgewesen sein. Der Autor sprach in seinem Tagebuch selbst vom „allzuschö-nen Stil“, den er sich „hier erschrieben habe“, und bezog sich damit auf diein seiner Sicht zu breit und kompliziert geratene Schilderung einer „über-empfindlichen Psychologie“.88 Diese Besonderheit lässt sich auch als Effektder bewussten Adaption einer literarischen Vorlage erklären. Die Ulanen-patrouille erweist sich nämlich bei genauer Betrachtung als eine romanhafterweiterte und in eine andere Zeit transponierte Bearbeitung von Hof-mannsthals früher Novelle Reitergeschichte (1898).89 Erzählt wird dieGeschichte des jungen Leutnants Friedrich von G., der ein Jahr vor Aus-bruch des Ersten Weltkriegs, im September 1913, eine Abteilung österrei-chischer Ulanen bei einem Manöver in den östlichen Provinzen der k.u.k.Monarchie führt, dort seiner Jugendgeliebten und jetzigen Gutsherrin Bro-nislawa wieder begegnet, ihr erneut leidenschaftlich verfällt, darüber seinemilitärische Pflicht versäumt und am Ende umkommt. Wie bei Hofmanns-thal konzentriert sich die Darstellung auf die Erlebnisse und Empfindungenwährend eines langen Rittes, in dessen Verlauf die unterdrückten Erinne-rungen und Wünsche des Protagonisten – in einer Inversion der äußerenBewegung – immer deutlicher hervortreten und schließlich in Konflikt mitden Anforderungen des militärischen Reglements geraten.

Lange nahm also erneut auf die Literatur des Fin de siècle Bezug undgriff mit der Soldatengeschichte ein Genre auf, das auch andere Autoren amEnde der zwanziger und in den dreißiger Jahren neu zu beleben versuchten.So hatte schon Alexander Lernet-Holenia 1934 in seinem WeltkriegsromanDie Standarte mit Rilkes Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph

87 Der Roman brachte dem Autor bereits nach dem Vorabdruck in der Frankfurter Zeitung eineAnzeige wegen Verächtlichmachung des Offiziersstandes ein. Ein drohendes Verbot durchdas Propagandaministerium konnte nur durch eine Intervention Langes mit Unterstützungeines Beamten im Oberkommando des Heeres und den Hinweis auf die Historizität des dar-gestellten Manövers verhindert werden. Für eine zweite, über 29.000 Exemplare hinaus-gehende Auflage genehmigte das Propagandaministerium dann aber kein Papier mehr. Vgl.Lange, Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 22 (18. Mai 1940); und Schaefer, HorstLange. Ein Lebensbild, S. 279.

88 Lange, Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 16.89 Lange hat in einer späteren Tagebuchnotiz auf den „nicht unbeträchtlichen Einfluß“ von

Hofmannsthals Novelle auf die Entstehung der Ulanenpatrouille hingewiesen (Lange, Tage-bücher aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 151 [15. August 1944]).

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Rilke (1899) eine andere, 1914 bei der männlichen Jugend zu Kultstatusgelangte Erzählung der Jahrhundertwende literarisch adaptiert und auch inseiner im Ersten Weltkrieg spielenden Novelle Der Baron Bagge von 1936Motive von Rilke und Hofmannsthal verarbeitet.90 Alle diese Texte verbin-den die Schilderung des Krieges mit der einer Identitätskrise des Helden,einer Dissoziation des Ich im Strom von Empfindungen, Wahrnehmungenund Erinnerungen. Der Fokus liegt jeweils auf den Bewusstseinsvorgängenim Spannungsfeld zwischen Innen und Außen, zwischen den Einflüssen desUnbewussten und der Notwendigkeit situationsgerechten Verhaltens. Diesdeutet darauf hin, dass Langes Adaption der literarischen Tradition auch indiesem Fall von einem anthropologischen Interesse gesteuert war: Offen-sichtlich bot Hofmannsthals Erzählung ihm ein Modell für die Erörterungder Fragen nach Freiheit und Determination des menschlichen Handelnsund nach dem Zusammenwirken leiblicher und seelischer Prozesse.91

Langes enge Anlehnung an Hofmannsthal, von dem er das Grundmus-ter der Handlung, zahlreiche Motive und selbst stilistische Eigentümlichkei-ten übernimmt, macht es zunächst schwer, das Spezifische des Romans imKontext seiner eigenen Werkentwicklung und der anthropologischen Dis-kurse der dreißiger Jahre zu bestimmen. Mit dem tragischen Handlungsver-lauf nimmt er wiederum die aus der Jahrhundertwende stammende pessi-mistische Anthropologie auf, die die Dominanz der lebendigen Triebnaturgegenüber allen kulturellen und geistigen Formen annimmt. Ganz konkretgeht es dabei um die zerstörerische Macht des libidinösen Begehrens, demsich bei Hofmannsthal ein verschwisterter Todestrieb hinzugesellt. Eros undThanatos sind in der Reitergeschichte wie in der Ulanenpatrouille nicht nurdurch die Struktur der Handlung kausal verknüpft, sondern in ihrer das Ichentgrenzenden und auflösenden Wirkung auch miteinander identisch. DieMacht des unbewussten Begehrens manifestiert sich jeweils in libidinösbesetzten Bildern, die die bewusste und militärisch-planvolle Handlungs-

90 Lange berichtet 1944 in seinem Tagebuch über die Lektüre Lernet-Holenias, wobei er dieAktualität von dessen Weltkriegserzählung hervorhebt und die These aufstellt, dass „derganze Lernet-Holenia von einer einzigen, vollkommenen Erzählung herkommt, – nämlichvon der »Reiternovelle« von Hofmannsthal“ (Lange, Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg,S. 151 [15. August 1944]).

91 Aus ähnlichem Interesse hatte sich Arnold Gehlen 1925 in einem Vortrag mit Hofmanns-thals lyrischem Drama Die Frau im Fenster befasst, in dem er eine „ganz allgemeine undgrundsätzliche Auseinandersetzung über die Situation des Menschen in der Welt“ erkannte;vgl. Arnold Gehlen, Rede über Hofmannsthal (1925), in: ders., Philosophische Schriften I(1925–1933), hg. von Lothar Samson (= Arnold Gehlen Gesamtausgabe, Bd. 1), Frankfurta.M. 1978, S. 1–17, hier S. 10. Gehlen unterschied bei Hofmannsthal zwei wesentlich ver-schiedene Lösungsansätze: zum einen den heroisch-vitalistischen Weg der „Legitimierungder Leidenschaft als Lebensprinzip“, den der Autor in diesem Frühwerk vorführe, zum ande-ren den nihilistischen Weg des radikalen Verzichts auf Liebe und Befriedigung der eigenenLeidenschaft, den er in seinen späteren Werken beschritten habe (ebd., S. 9). – Gehlens Vor-trag erschien zuerst 1929 als Privatdruck.

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weise stören. Wirkt bei Hofmannsthal das im Vorüberreiten erhaschte Bilddes Zimmers der ehemaligen Geliebten wie „ein Splitter im Fleisch“ desWachtmeisters Anton Lerch, „um den alles von Wünschen und Begierdenschwärte“,92 so sind es bei Lange die durch vielfältige Sinnesassoziationen,etwa die Bewegung des Reitens, wachgerufenen „Bilder“ der früherenBegegnung mit Bronislawa, die dem Leutnant Friedrich von G. währendseines Rittes immer „farbiger, eindringlicher“ vor Augen treten und ihnschließlich ebenso wie den Wachtmeister zum Pflichtversäumnis und in denTod leiten.93 Infolge großer Müdigkeit, eingelullt von der fast selbsttätigenFortbewegung des Pferdes wird das Bewusstsein des jungen Leutnants all-mählich von den Erinnerungen an das vergangene Glück und von den langeunterdrückten Wünschen seiner eigenen Sinnesnatur übermannt, wodurcher bzw. sein Pferd, das hier wie bei Hofmannsthal als Agent unbewusstenTrieblebens fungiert,94 von der vorgeschriebenen Route ab- und ebensoüberraschend wie zwingend zum Haus der Geliebten gelangt.

Beide Autoren bringen in ihrem Stil die Körpergebundenheit der Erin-nerungs- und Wunschbilder zur Anschauung und lösen sowohl den Leib-Seele-Dualismus als auch die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objektin der Darstellung von Bewusstseinszuständen auf. Allerdings konzipiertder 1940 erschienene Roman die Funktionsweise der Wahrnehmung andersals Hofmannsthals Erzählung und rückt dabei die Frage der Zeitlichkeit inden Mittelpunkt des anthropologischen Interesses. Langes im Vergleichzum ersten Roman noch gesteigerte Aufmerksamkeit für Wahrnehmungs-vorgänge macht sich in der Ulanenpatrouille zunächst in der Schreibweisebemerkbar, die man in Abwandlung der Husserlschen Formel vom ‚phäno-menologischen Sehen‘ als ‚phänomenologisches Schreiben‘ bezeichnenkönnte. Deren Besonderheit erkannten schon die zeitgenössischen Rezen-senten des Romans, als sie lobend von einer „bannenden Minutiosität“ und„Zeitlupenpsychologie“95 oder kritisierend von einer ‚intellektualistischen‘

92 Hugo von Hofmannsthal, Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen (= Hugovon Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. von Bernd Schoeller),Frankfurt a.M. 1979, S. 125.

93 Horst Lange, Ulanenpatrouille, Hamburg 1940, S. 25.94 Mehrfach dient das Pferd bzw. die Verbindung von Pferd und Reiter im Roman zur Ver-

anschaulichung der triebhaften Determination des Handelns. Auf seiner „warmblütige[n],nervöse[n] Rappenstute“ sitzend, die „den Willen“ ihres Herren „gleichsam unmittelbar“ insich aufzunehmen scheint, vergleicht der Leutnant sich selbst mit den „sagenhaften Kentau-ren“ einer mythischen Vorzeit (S. 8 f.). Bezeichnenderweise vollzieht sich auch die leiden-schaftliche Begegnung mit Bronislawa zuerst als spannungsvolle Annäherung ihrer beidenPferde bei einer Jagd, wobei der archaische Charakter dieses Begehrens herausgestellt wird:„Die Pferde sind wie von Sinnen, und es fehlt nicht viel, daß sie […] aus der Jagd heraus-sprengen, ins Weite und Grenzenlose, über Gebirge, Ströme und Wälder hinweg, zu denSteppen zurück, wo sie einst miteinander gespielt, sich gebissen und besprungen haben“(S. 28).

95 Otto Karsten, Ulanenpatrouille, in: Die Literatur 42 (1939/40), S. 464–465, hier S. 464.

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Betrachtung der Dinge „wie durch eine Lupe“96 sprachen. Dieser Eindruckentsteht dadurch, dass sowohl die Gedanken und Empfindungen als auchdie interpersonale Realität des Romans ausschließlich als Wahrnehmungs-akt des Protagonisten dargestellt werden. Das hat Konsequenzen für dieZeit- und Raumstrukturen des Romans wie auch für das in ihm vermittelteKonzept von Realität. So wird der grundlegende Konflikt zwischen derDurchführung der militärischen Aktion und der Erfüllung des individuel-len Begehrens als Konkurrenz zweier verschiedener Wahrnehmungsweisenentwickelt, denen zwei grundverschiedene Mentalitäten oder, wie es imText heißt, „Denkart[en]“ entsprechen.97 Die soldatische Denkart, diedurch „Unterscheidungsvermögen“ und „sachliche Nüchternheit“ charakte-risiert ist,98 beruht auf einer Wahrnehmung, die alle Eindrücke in eine zeit-liche Reihe bringt und auf diese Weise planvolles Handeln ermöglicht. Diesbetrifft die persönliche Zukunftsplanung des jungen Offiziers, für den „diekünftigen Jahre“ schon früh „genau eingeteilt“ waren,99 und ebenso dieKoordination der „einzelnen Heeresteile nach einem allgemeingültigen undübergeordneten Zeitmaß“100 sowie die anhand des Sonnenstandes und Kar-tenmaterials vorgenommene Bestimmung von Position und Weg der Abtei-lung in der Landschaft und im Tagesverlauf, die im Roman immer wiederbeschrieben wird. Die Einteilung von Zeit nach einem festen Maß begrün-det hier die Vorstellung des gegliederten Raumes, die Verzeitlichung eineVerräumlichung, wodurch die soldatische Vorstellungswelt in der Ulanen-patrouille der Bewusstseinsform entspricht, die Bergson ‚temps‘ nennt.101

Diese ‚soldatische‘ Denkart wird unterbrochen und schließlich weit-gehend aufgelöst durch eine „unsoldatisch[e] und ziellos[e]“ Denkart,102 inder die Erinnerungs- und Wunschbilder einen Zustand sinnlicher Intensitäthervorrufen, der keine zeitlichen und räumlichen Einteilungen kennt undsich mit Bergson als ‚durée‘ bezeichnen ließe. Das Anschwellen der innerenBilder schlägt sich in der Erzählweise in der bereits von den Rezensenten

96 Terr-Nedden, Zerrbilder aus Schlesien, S. 81.97 Lange, Ulanenpatrouille, S. 52.98 Ebd., S. 37 und 41.99 Ebd., S. 62.

100 Ebd., S. 191.101 Bergson unterscheidet in grundsätzlicher Weise zwischen ‚temps‘ als einer äußerlich feststell-

baren, sukzessiv ablaufenden und starren Zeit, und ‚durée‘ als einer innerlichen, bewegtenund unfassbaren Dauer. Während ‚temps‘ als Medium, „worin unsre Bewußtseinszuständeso wohlunterschieden aufeinanderfolgen, daß man sie zählen kann,“ in seinen Augen „nichtsanderes ist als Raum“, beschreibt er ‚durée‘ als nicht-räumliche, qualitative Ausdehnung, dieentsteht, „wenn unser Ich sich dem Leben überläßt, wenn es sich dessen enthält, zwischendem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen“(Henri Bergson, Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseins-tatsachen, Jena 1911 [franz. Erstveröffentlichung: Sur les dornées immédiates de la cons-cience, 1889], S. 71 und 78).

102 Lange, Ulanenpatrouille, S. 52.

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vermerkten Verlangsamung nieder, da die Erzählzeit für die sich gleichzeitigvollziehenden inneren Erlebnisse die Zeit der äußeren Handlung weit über-trifft. Die verlangsamende und entgrenzende Wirkung des Wahrnehmungs-wechsels tritt besonders deutlich in solchen Passagen hervor, in denen derProtagonist seinen Blick auf die Landschaft und die vor ihm ausgebreitetenKarten wirft. So „schrumpft“ in seinen Augen „der weite Raum, den derAnblick der Karte vortäuscht“, zu einem sinnlosen Muster von Linienzusammen, nachdem seine unterdrückten Wünsche während einer Rast„neuerdings lebendig“ wurden.103 In solchen Situationen entwickelt er eineneue Empfänglichkeit für die gleichzeitig einströmenden Sinneseindrückeder Umgebung und nimmt dabei „auf eine seltsame Weise vor allem dasUnwichtige und Nebensächliche wahr“.104 Zeit wird in diesem Zustandnur als in sich bewegte Dauer erfahrbar, in der sich erinnerte und aktuelleEindrücke in einem ruhig-bewegten Strom verbinden, den der Erzähler –ebenso wie Bergson105 – mit einer Melodie vergleicht:

Die weite, mit Schatten, Dämmerung und Dunstschwaden versponnene Land-schaft, die der Nacht schon völlig anheimgefallen war, schien eine Art von gehei-mer Musik hervorzubringen. In langen Intervallen klang sie von einem Horizontzum anderen hin […] und als die Sonne am Untergehen war, und der ganze West-himmel sich mit einem starken Glanz überschmolz, klang es in einem einzigen Tonzusammen, tief und voll, – das singende Schweigen, […] der reife satte Abend, deralles besänftigte und zur Ruhe brachte, was ungebärdig, ziellos vor Hast und mitsich selbst zerfallen gewesen war. […]Die feuchte Luft, in der sich die Kühle der kommenden Nacht mit der Lauigkeitvermischte, die von der Mittagswärme her übriggeblieben war, wurde von diesemmelodiösen Schwingen so stark durchsetzt, daß der Lauscher die Vibration auf derHaut zu spüren vermeinte. Man konnte das, was da auf einen eindrang, mit nichtsvergleichen, es war ebenso unfaßbar wie selbstverständlich, und zuletzt ähnelte eseinem gewaltigen Chor, in dem sich alle lebendigen Laute, die je während der ver-gangenen Monate über diesem Bezirk erklungen waren, miteinander vereinigten[…].106

Langes Landschaftsschilderung bebildert in fast idealtypischer Weise daslebensphilosophische Konzept der ‚Stimmung‘.107 Alle Inhalte sind voneiner Gesamtbefindlichkeit einheitlich getönt, momentane und dauerhafteEindrücke miteinander verschmolzen und die Trennung zwischen psy-chischer Innensphäre und physischer Welt scheint überwunden. Daher istes kein Zufall, dass Otto Friedrich Bollnow unter anderen Langes Land-schaftsdarstellungen als Beleg für seine in dieser Zeit entwickelte Theorie

103 Ebd., S. 83.104 Ebd., S. 96.105 Vgl. Bergson, Zeit und Freiheit, S. 78.106 Lange, Ulanenpatrouille, S. 118 f.107 Zum lebensphilosophischen Stimmungsbegriff vgl. David E. Wellbery, Stimmung, in:

Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von KarlheinzBarck u. a., Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2003, S. 703–733, bes. S. 721.

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von der „welterschließende[n] Funktion der Stimmungen“ ins Feld führ-te.108 Die Eigentümlichkeit von Langes Text liegt allerdings darin, dass erdieses Stimmungskonzept weniger realisiert als vielmehr beschreibt. Diestimmungsvolle Befindlichkeit wird mit analytisch wirkender Distanz vor-gestellt und durch den konjunktivischen Modus als eine spezifische Be-wusstseinsleistung gekennzeichnet. Lange beschreibt immer wieder mitminutiöser Genauigkeit, wie sich von außen aufgenommene Eindrücke mitschon gespeicherten Bildern und Empfindungen verbinden, wie die Befind-lichkeit des Helden mit bestimmten Sinneseindrücken korrespondiert undwie bestimmte Erinnerungsbilder ihre Macht über ihn nur dann behauptenkönnen, wenn sie sich mit aktuellen Eindrücken verknüpfen.

Im Vergleich zur Literatur des Fin de siècle wird die antipsychologischeTendenz von Langes Text deutlich. Genauer müsste man von einer Verschie-bung des Fokus von der Psychologie auf die Erfassung von Bewusstseinsvor-gängen sprechen, die dem von Husserl entwickelten Verfahren der ‚phäno-menologischen Reduktion‘ ähnelt. Anstelle einer mit dem Konzept desunbewussten Willens operierende Psychologisierung findet sich in der Ula-nenpatrouille über weite Strecken eine fast formale Beschreibung intentiona-ler Bewusstseinsakte. Und wie bei Husserl ist diese Wendung hin zu denBewusstseinsvorgängen auch im Roman mit dem Ziel einer ‚Ausschaltungder Natur‘ verknüpft.109 Während die Phänomenologie den Antagonismusvon subjektiver Befindlichkeit und objektiver Welt in der Beschreibung vonBewusstseinsfunktionen aufhebt – und dabei das lebensphilosophische Kon-zept vom Bewusstseinstrom in modifizierter Weise beibehält – bleibt dieFrage nach der ‚Wirklichkeit‘ bzw. nach der Unterscheidung zwischen aktu-ellen Eindrücken und gefühlsgefärbten Erinnerungen in Langes Romanjedoch sowohl für den Erzähler als auch für den Protagonisten virulent. EineTextstelle lässt dies besonders deutlich werden. Hier wird geschildert, wieder Leutnant im Anblick der schattenhaften, im Osten liegenden Landschaftund unter dem Eindruck der feuchten Abendluft in einen Strom von affekti-ven Erinnerungen und Wünschen versinkt, bis ihn sein Untergebener ausdiesem Zustand aufschreckt: „Es kam ihm vor, als träfe er in dem Augen-blick, da er sich auf den Hacken rasch und entschlossen umwandte, einewichtige Entscheidung“.110 Mit einem Schlag werden seine Phantasie- und

108 Otto Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, 2., durchgesehene und erweiterteAufl., Frankfurt a.M. 1943 (1. Aufl. 1941), S. 25. Zu Bollnows Stimmungsbegriff vgl. auchKap. I, 6.

109 Die ‚phänomenologische Reduktion‘ bewirkt nach Husserl eine „Ausschaltung der Natur“und befreit den Menschen von seinem „animalische[n] Wesen“ dadurch, dass das Indivi-duum seine Aufmerksamkeit reflexiv auf die Bewusstseinsvorgänge richtet und den Erlebnis-strom in seiner formalen Prozesshaftigkeit begreift (Edmund Husserl, Ideen zu einer reinenPhänomenologie und phänomenologischen Forschung. 1. Buch: Allgemeine Einführung indie reine Phänomenologie, 2., unveränderte Aufl., Halle 1922 [1. Aufl. 1913], S. 108 f.)

110 Lange, Ulanenpatrouille, S. 121.

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Wunschbilder „wieder unwesentlich“ und verlieren „an Wirklichkeit“.111

Beim Blick nach Westen prägt sich ihm dann im Licht der untergehendenSonne ein Landschaftsbild „mit klaren Konturen und übersichtlichen, fes-ten Bildungen“ ein und trägt dazu bei, „ihn völlig auf die Wirklichkeitzurückzulenken.“112 Auf Handlungsebene wird diese Wirklichkeit durchdas Soldatenlager repräsentiert, dem sich Friedrich von G. nun wieder zu-wendet. Auf der Ebene der phänomenologischen Beschreibung vonBewusstseinsakten handelt es sich jedoch um einen durch seine spezifischeZeitlichkeit bestimmten Wahrnehmungsmodus, und zwar um denjenigen,der Nähe und Gegenwärtigkeit erzeugt: Der Wirklichkeitsgrad der wahr-genommenen Bilder bestimmt sich danach, in welchem Maße sie von zeit-räumlichen Vorstellungen abgelöst werden und das wahrnehmende Subjektan die Gegenwart binden.113

In der Grundtendenz und den implizierten Wertungen ähnelt LangesBehandlung phänomenologischer Fragestellungen der beim frühen ArnoldGehlen. Gehlen griff in seiner Ende der zwanziger Jahre verfassten Habilita-tionsschrift Husserls Theorie der intentionalen Struktur des Bewusstseinsauf, versah die verschiedenen Wahrnehmungsmodi aber mit handlungs-bezogenen Wertungen. Eine zentrale Funktion erfüllte dabei die terminolo-gische Unterscheidung von ‚Derealisierung‘ und ‚Präsenznähe‘. Eine derea-lisierende Wirkung sprach Gehlen den Erinnerungs- und Wunschbildernzu, dem ‚Psychismus‘, in dem Realität verzeitlicht und verräumlicht und sodie Verbindung zwischen „der Person und der Situation“ zertrennt wür-de.114 Schon im „Absinken“ der Bilder vom „Moment“ begänne ein „Phan-tastischwerden des Geistes, ein spezifisches Raumerlebnis“, ein „Schatten-haftwerden der wahrgenommenen Umgebung“ und damit „die Flucht indie falsche Zeit“.115 Realität dagegen entstünde nur als „besondere Sätti-gung der Situation“, in der „Präsenznähe“, wo innere und äußere Weltzusammenfielen.116 Lange, der Gehlens Schriften kaum gekannt habendürfte, beschreibt die verräumlichende Funktion der Vorstellungen teilweise

111 Ebd.112 Ebd., S. 121 f.113 So gesehen, ist der Osten in Langes Text immer auch Metapher für die verzeitlichende und

verräumlichende Funktion der Erinnerungs- und Wunschbilder, während der Westen für diezeit-räumliche Gliederung der rationalen Vernunft steht.

114 Arnold Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist. Eine philosophische Untersuchung inder Methode absoluter Phänomenologie, Leipzig 1931, S. 91. Gehlens Konzept der Präsenz-nähe als Zusammenfassung von Vergangenheit und Zukunft im gegenwärtigen Erleben hateine gewisse Ähnlichkeit mit der von Heidegger in Sein und Zeit entwickelten Vorstellungder ‚Zeitigung‘. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit. Erste Hälfte, 2. Aufl., Halle a. d.Saale 1929, S. 365. Heideggers Werk war Gehlen nach eigener Aussage beim Verfassen seinerHabilitationsschrift allerdings noch nicht bekannt (vgl. Gehlen, Wirklicher und unwirk-licher Geist, S. 84, Anm. 59).

115 Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, S. 90.116 Ebd., S. 89.

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mit denselben Metaphern wie dieser und verbindet damit implizit ebenfallseine negative Wertung. Sicherheit und dauerhaftes Wohlbefinden versprichtim Roman allein die unmittelbar gegenwartsbezogene Wahrnehmung, diesich für den Leutnant mit der Erfüllung seiner militärischen Aufgabe ver-bindet:

Nirgendwo draußen zeigte sich ein Licht. Das eigentliche Zentrum dieses Landesund der Pol, um den alles kreiste, und von dem es festgehalten wurde, obwohl esdavor zu fliehen versuchte und sich der neuen Herrschaft entziehen wollte, war derReisighaufen, dessen trockenes Holz knisternd und knackend verbrannte. Esstimmte den Leutnant vollends um, zu sehen, wie die Flammen hochschossen,zurückschlugen, neue Nahrung suchten […]; es gab ihm ein Gefühl von einfacherBefriedigung und machte ihn gutgelaunt, zu wissen, daß er während der Nachtdort unten und nirgendwo anders seinen Platz haben würde, auf einer Strohschüt-te, in den Mantel gewickelt […].117

Die hier geschilderte Konzentration auf die gegenwärtige Aufgabe ent-spricht wohl am ehesten dem, was der Autor unter „Realitätssinn“ bzw.„Sinn für Sachlichkeit“ verstand, dessen Mangel bei den Deutschen er inseinem Kriegstagebuch beklagte.118 Es handelt sich dabei nicht um einebestimmte intellektuelle Operation, sondern um eine antipsychische Wahr-nehmungs- und Denkform. ‚Sachlich‘ wäre demnach der Mensch, der seineleibliche Natur und seine seelische Bindung an die Vergangenheit oder dieZukunft auszuschalten vermag. Gleichzeitig schließt sich diese Sachlichkeitauch nach der Seite der planenden Zeiteinteilung, dem ‚temps‘, und damitnach der von Lange abgelehnten naturwissenschaftlichen Rationalität hinab. Die Vorstellung von Realität als ‚Präsenznähe‘ bildet so gesehen den uto-pischen Fluchtpunkt in Langes doppelter Frontstellung gegen die vitalisti-sche und die rationalistische Anthropologie. Sie bezeichnet den Punkt, andem die inneren und äußeren Zeitantriebe stillgestellt sind und dasBewusstsein die ‚Situation‘ realisiert.119

117 Lange, Ulanenpatrouille, S. 124.118 Lange, Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 153 (19. August 1944).119 Vom vergeblichen Versuch, die ‚Präsenznähe‘ zu erreichen und der in der eigenen Triebnatur

wurzelnden geschichtlichen Dynamik zu entkommen, handeln auch zwei Erzählungen Lan-ges, die kurz vor der Ulanenpatrouille in dem Band Auf dem östlichen Ufer (1939) im BerlinerFrundsberg-Verlag erschienen. Die erste, Der Sohn der Hauptmannswitwe, spielt wie der ersteRoman im Sommer 1919 an der Oder und erzählt, wie ein vaterloser Junge sich in den Wir-ren der Nachkriegszeit aus dem unartikulierten Wunsch heraus, „ins Schwarze dieser Zeit[zu] treffen, in das Zentrum aller unbegreiflichen Verfinsterungen“, einem Freikorpsanschließt und im Moment seines Einsatzes mit einem Maschinengewehr in den Fluss, „insLeere hinaus“, stürzt (Horst Lange, Auf dem östlichen Ufer, Berlin 1939, S. 24, 27 und 43).Die zweite Erzählung, Das Irrlicht, die 1942 bei Goverts in einer Einzelausgabe mit Zeich-nungen von Kubin noch einmal aufgelegt wurde, variiert das Motiv von der Unentrinnbar-keit der Vergangenheit und dem schicksalhaften Wiederholungszwang in der Triebnatur: EinMann versucht seiner Vergangenheit zu entkommen, indem er in einer einsamen Region dieStelle eines Wildhüters annimmt, kann jedoch seine einem „bösen Zwang“ gleichende Lei-denschaft nicht „bändigen“ (S. 79) und verstrickt sich in Liebesbeziehungen zu zwei Frauen,

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4. Krieg und ‚Sachlichkeit‘: Die Leuchtkugeln (1944)

Der Antagonismus von Derealisierung und Präsenznähe wird von Lange inseinen 1942 und 1943 geschriebenen Erzählungen Auf den Hügeln vor Mos-kau und Die Leuchtkugeln, in denen er seine Erfahrungen aus dem Russ-landfeldzug im Jahr 1941 verarbeitete, noch stärker akzentuiert. Ebensowenig wie in dem vorangegangenen Roman versucht Lange in diesen Erzäh-lungen eine realistische Darstellung des Krieges zu geben. Statt dessen pro-blematisiert er auf dem Hintergrund des Krieges das Zusammenspiel vonPsyche, Physis und Umwelt bzw. von Stimmung und Handlung und ver-handelt damit anthropologische Fragestellungen, die in derselben Zeit auchPhilosophen und Psychologen wie Gehlen, Hans Lipps oder Bollnow dis-kutieren.120

In Auf den Hügeln vor Moskau erinnert sich ein im Lazarett liegenderSoldat an die zurückliegenden Ereignisse, von der Verschanzung seinerAbteilung in einem Bauernhaus über den endlich angeordneten Abzug, dieZerstörung des Hauses durch russische Artillerie bis zu dem Moment, als erbeim Gang durch ein Minenfeld durch eine Explosion schwer verwundetwurde. Ihre eigentümliche Spannung bezieht diese Erzählung weniger ausden nur am Rande beschriebenen Kriegshandlungen als aus der Darstellungdes Bewusstseinszustandes des Erzählers in der Kriegssituation, der zwi-schen Derealisierung und Präsenznähe changiert. In dem abgeschlossenenRaum des Bauernhauses, in dem jede zeitliche Orientierung – „unsereUhren stimmten seit Tagen nicht mehr“ – verlorengegangen ist, sind die„Erinnerungen und Bilder“, die sich immer wieder ins Bewusstsein desErzählers drängen, selbst eine „feindliche Macht“, da eine Einschränkungder militärischen Aufmerksamkeit tödliche Folgen haben kann.121 Dahermuss die Präsenznähe immer wieder neu hergestellt werden, und zwardurch die bewusste oder zufällige Unterbrechung des Bilderstroms. Die Bil-der wirken derealisierend im Gehlenschen Sinn, da sie das Bewusstseins vonder Gegenwart ablenken und weil die mit ihnen verknüpften Gefühls-zustände, vor allem die Angst, ein situationsgerechtes Handeln unmöglichmachen. So wird die tödliche Verwundung des Soldaten in der Erzählung

die in exakter Wiederholung eines früheren Erlebnisses in einem tödlichen Drama enden.Auch hier ist es die derealisierende Wirkung von Erinnerungen und Wünschen, die den Hel-den an die Schicksalsmächte ausliefert: „Wenn er aufmerksamer und wacher gewesen wäre,hätte er das, was sich so unversehens und in einem Nu ereignete, vielleicht noch verhindernkönnen, so aber wurde er nur mitgerissen, willenlos und ohne jeden Widerstand, jetzt ineine neue Schuld und später in einen Taumel von böser Wollust“ (S. 110).

120 Siehe dazu Kap. I, 5 und I, 6.121 Horst Lange, Die Leuchtkugeln. Drei Erzählungen, Hamburg 1944, S. 53 und 49. Der bei

Goverts erschiene Band enthält neben den beiden genannten Kriegserzählungen auch dieältere Erzählung Der Sohn der Hauptmannswitwe.

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auch durch ein Abdriften in die Erinnerung ausgelöst, und zwar mittelseiner visuellen Assoziation, die ihm das Bild eines gefallenen Kameraden insBewusstsein ruft: Als der Erzähler im Bauernhaus ein Schild zur Warnungvor Minen malt, erkennt er in der roten Schrift auf hellem Holz plötzlich„blondes Haar verklebt mit Blut“.122 Obwohl er weiß, dass „solche Gedan-ken […] nicht gut“ sind, und er sich deshalb anstrengt, seine Aufmerksam-keit auf die ihm gestellte Aufgabe zu konzentrieren, kehren die Erinne-rungsbilder im Fortgang der Handlung immer wieder, bis er dann in einemMinenfeld dem Toten in persona zu begegnen meint und daraufhin ver-wundet wird. Auf dem Krankenlager überlässt er sich schließlich dem langeabgewehrten Vergessen: „Ich lasse mich fallen. Und schon im Augenblickdes Hinsinkens spüre ich, wie sich alles in mir löst und wie es nun doch wie-der zu strömen beginnt, – und mich langsam davonträgt.“123 Wie schon ander Ulanenpatrouille beobachtet, tritt auch hier der Bewusstseinsstrom inOpposition zur sachlichen Mentalität und erhält dabei eine ambivalenteBewertung, auf die noch näher einzugehen sein wird.

In leicht veränderter Form strukturiert der mentale Antagonismus vonPräsenznähe und Derealisierung auch die Handlung in Langes zweiter, sehrviel längerer Kriegserzählung Die Leuchtkugeln. Im Unterschied zum erstenText wird er hier auf zwei Hauptpersonen, den Ich-Erzähler Friedrich undden ehemaligen Organisten Hermes, übertragen, die sich in einer ähnlichenSituation zeit-räumlicher Orientierungslosigkeit und äußerer Gefahr befin-den wie der Held in Auf den Hügeln vor Moskau. Beide gehören zu derPioniereinheit einer deutschen Kompanie, die sich nach wechselnden,undurchschaubaren Befehlen und ohne Überblick über die militärischeGesamtlage vom Spätsommer bis zum Winter durch die russische Land-schaft bewegt und am Ende plötzlich ins Gefecht gerät. Während die Wahr-nehmung des Ich-Erzählers stets auf die ihn umgebende Landschaft undseine Truppe gerichtet bleibt, ohne Retention und Protention gezeichnet istund der Leser daher auch nichts über seine Herkunft und Psyche erfährt, istder musisch veranlagte Hermes in schicksalhafter Weise mit einer unbewäl-tigten Vergangenheit verknüpft. Seine Reden sind von pessimistischenAhnungen durchsetzt, er spekuliert über Tod und Unsterblichkeit underzählt Friedrich bei einem gemeinsamen Kurierritt in einem russischenDorf von einer tragischen Liebesgeschichte, die ihn immer noch verfolgt.Am Ende opfert er sich für seine Abteilung. Im Kontrast dazu steht die sach-liche Bewusstseinshaltung des Ich-Erzählers:

Es kam nicht darauf an, wieviel Stunden vorüber waren. Die Zeit nützte nur denen,welche eine Zukunft hatten. Ich lebte in dieser Minute, mitten im stiebenden,knisternden Schnee, und von meiner Zukunft wußte ich nur so viel zu sagen, daß

122 Ebd., S. 55.123 Ebd., S. 76.

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es unbedingt notwendig war, hier irgendwo auf unsern Zug zu stoßen. Das waralles, was ich von der Zukunft wußte, meine eigene Vergangenheit hatte ich längsteingebüßt, ich hatte sie von mir getan wie einen überflüssigen Ballast, der einen zuschwer und unbeweglich macht.124

Die Erzählung entwickelt keine kausale Ereignisfolge, sondern reiht ledig-lich mit unbestimmten Zeitangaben versehene und sich ähnelnde Stim-mungsbilder aneinander.125 Mit der genauen Zeitbestimmung geht auchdie räumliche Orientierung verloren. Statt in einem gegliederten und mess-baren Raum agiert die Abteilung größtenteils in einem undurchdringlichenDunst oder in blendender Helle. Wie in der Ulanenpatrouille wird dieAußenwelt in Sinneseindrücke aufgelöst, als Farbe, Lichtintensität, Ge-räusch oder Temperatur wahrgenommen. Anders als im Roman werdendiese Wahrnehmungen hier aber nicht mit individuellen Erinnerungen undWünschen verknüpft, sondern haben rein ästhetischen Charakter.126 EinSpannungsmoment bezieht der Text aus der Konfrontation dieses phäno-menologisch reduzierten Bewusstseins mit der stets präsenten äußerenGefahr und der Anforderung, auf plötzlich auftretende Angriffe sofort han-delnd reagieren zu können. Dabei korrespondiert die phänomenologischeWahrnehmung in eigentümlicher Weise mit der Kriegssituation. Denn wiejene sich ganz auf die Gegenwart konzentriert, so erfordert dieser vom ein-zelnen Soldaten ein situationsadäquates Handeln, das durch weiterrei-chende Reflexionen nur gestört würde. Aus eben diesem Grund hatte Jas-pers Anfang der dreißiger Jahre in seiner phänomenologisch geschultenExistenzanalyse den Krieg bzw. Kampf auch zur existentiellen Situation parexcellence erklärt: weil man „den Kampf nur im Kampfe planen“ könneund das einzelne Subjekt nur dort erfahre, dass die Welt „nicht nur ist, wasich planend will, sondern auch jeweilige Situation ist“.127

Tatsächlich weist Langes Text nicht nur in der existentiellen Stilisierungdes Krieges Parallelen zur Existenzphilosophie auf. Beide wollen den fragi-len Zustand des nur an momentanen Phänomenen hängenden Bewusstseinsdurch eine Vertiefung und Transzendierung des Augenblicks stabilisieren.

124 Ebd., S. 204.125 Neue Abschnitte beginnen mit Formulierungen wie: „Der nächste Tag war still und sonnig“

(ebd., S. 107); „Gegen Abend lichtete sich der Dunst“ (S. 144); „Einmal gab es noch Tau-wetter, einen Tag lang“ (S. 161); „Am Nachmittag, als die leichte Bläue, die immerzu in derLuft gehangen hatte, sich schon verdichtete und dunkler wurde, entdeckten wir […]“(S. 177).

126 Vgl. beispielsweise folgende Passagen: „Der Staub, den der Wind vordem aufgewirbelt hatte,schien noch immer in der Luft zu hängen, – eine dünne, pudrige Schicht, die unterm Him-mel schwebte, und das Licht nicht durchließ. Blaue Schatten, mitten in die Helligkeit einge-schmolzen, und eine drückende Wärme, die gegen Mittag immer mehr zunahm“ (Lange,Die Leuchtkugeln, S. 107); „Die Sonne schwamm in einem Meer von grauem Dunst, alleswar still und gedämpft, schattenlos und unklar, als sähe man durch beschlagenes Glas“(S. 193).

127 Karl Jaspers, Philosophie, 3 Bde., Berlin 1932, Bd. 2, S. 374 f.

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Dazu gehören eine pathetische Betonung der Einsamkeit des einzelnen Sub-jekts und die besondere Akzentuierung der ‚Situation‘.128 In Langes Erzäh-lung wird die Transzendierung des Augenblicks als ästhetische Erfahrungbeschrieben: Bei dem Organisten Hermes löst der ins Endlose gedehnteAugenblick eine innere Musik aus; die leere weiße Landschaft erfährt er alsPartitur, auf der er den „kristallenen Grundton […], der alle Melodienzusammenhält wie eine zentrale Kraft“ wieder findet, den er in seinem frü-heren Leben verloren hatte, als sich seine Kunst durch die Vermischung mitindividuellen Gefühlen und Leidenschaften zu einer „fleischliche[n] Musik“verformt hatte.129 Hermes’ Tod wird vom Erzähler als Übergang in einenZustand rhythmischer Dauer beschrieben: „Aber zuletzt löste sich alles ineiner großen, tragenden Musik, die mich mit ihren strengen Rhythmenerfaßte […], nicht nur streng und unerbittlich, sondern auch mild undversöhnlich, – ein Zeugnis für die ewige Ordnung“.130 Auch der Erzählerfindet in der Konzentration auf den Augenblick und in der Überwindungnatürlichen Empfindens durch ästhetische Wahrnehmung einen innerenHalt, bedient sich dazu allerdings bildlicher Mittel: In seinem Blick verwan-deln sich die räumlichen Zeichen der Militärkarte zu einer „Parabel derEwigkeit“ und die ihn umgebende Landschaft wird ihm zu einer abstraktenund flächigen Anordnung von Farben und dadurch zum Zeichen ewig gül-tiger Gesetze.131

Das gemeinsame Merkmal dieser Wahrnehmungsformen liegt darin,dass sie aus dem Augenblick die Erfahrung der Ewigkeit gewinnen, oder

128 Wie in der Philosophie Jaspers’ ist auch in der Erzählung Langes die Einsamkeit des Subjektsdie Bedingung dafür, dass dieses eine neue Orientierung aus dem eigenen Bewusstsein herausgewinnt. Zur Veranschaulichung dieses Gedankens greift Jaspers übrigens auf ähnliche Meta-phern zurück wie Lange, so auf das in den Leuchtkugeln mehrfach verwendete Bild des Oze-ans: „So erobere ich mir eigenes Sein in der absoluten Einsamkeit, wo ich bei der Fragwür-digkeit des in der Welt Vorkommenden, im Versinken von allem und auch meines eigenenDaseins, außer der Welt doch noch vor mir stehe, als wäre ich eine sichere Insel im Ozean,von der aus ich ohne Ziel in die Welt blicke wie in eine wogende Atmosphäre, die sich insGrenzenlose verliert“ (Jaspers, Philosophie, Bd. 2, S. 204 f.).

129 Lange, Die Leuchtkugeln, S. 189 f. – Eine ähnliche Verbindung von Musik und Kriegserfah-rung findet sich in der 1938 begonnenen Geschichte Glückliche Tage in Brudzewo, die nachdem Krieg im Kurt Desch-Verlag als Romanfragment unter dem TitelDas Lied des Pirols ver-öffentlicht wurde. In dieser während des Ersten Weltkriegs spielenden Erzählung verliebtsich der Unteroffizier Urban beim gemeinsamen Musizieren in die Frau seines Vorgesetzten,entsagt dieser Leidenschaft dann aber in einer Art Rückbesinnung auf die abstrakten Grund-prinzipien der Kunst: „Die unerbittlichen Regeln der Musik gaben ihm bald die Einsicht,daß es unmöglich für ihn wäre, noch länger auf seinem einsamen Platz zu verharren, sie wie-sen ihn den natürlichen Ordnungen – jenen des Krieges und seiner Handhabungen – zu, dieer, indem er sich ihnen fügte, unwiderruflich anerkannte. Er verzichtete bei vollem Bewußt-sein und völliger Freiheit auf das, was anderen unersetzlich gewesen wäre, und worum siesich lange gegrämt hätten“ (Horst Lange, Das Lied des Pirols. Ein Roman-Fragment, mitFederzeichnungen von Alfred Lichter, München 1946, S. 23).

130 Lange, Die Leuchtkugeln, S. 250.131 Ebd., S. 169.

Krieg und ‚Sachlichkeit‘ 237

ihn, in den Worten Jaspers’, „zur ewigen Gegenwart“ vertiefen.132 DerKrieg erhält dadurch den Status einer ‚Grenzsituation‘, die alles kausale undZweck-Denken außer Kraft setzt und den Übergang zu einem innerlichberuhigten Dasein ermöglicht. Mehrfach wird in den Leuchtkugelnbeschrieben, wie sich der ‚ins Nichts gestellte‘ Soldat plötzlich als Teil einerewigen Ordnung begreift. Meistens sind es nur kurze Momente, in denensich der Schleier aus Dunst oder Schnee auflöst und einen klaren Blick aufdie Sterne oder andere, scheinbar außerhalb des Raum-Zeit-Kontinuumsliegende Fixpunkte eröffnet, die gleichzeitig innere und äußere Sicherheitvermitteln. Insbesondere die den Titel gebenden Leuchtkugeln – „Leucht-feuer“ im „Ozean“,133 in der dunklen „Polarnacht“134 – reißen den Ich-Er-zähler in mehreren Situation aus dem Gefühl der Verlorenheit heraus undbewirken eine kurzzeitige ‚Existenzerhellung‘ (Jaspers).135

Es ist kein Zufall, dass Lange das Konzept einer Desillusionierung desBewusstseins gerade in seinen Kriegserzählungen am weitesten entwickelthat.136 Denn auf die Fronterfahrung bezogen gewann dieses eine existen-tielle Bedeutung. Langes Kriegstagebuch zeigt, dass der Autor den Kriegauch persönlich als eine Schule der Desillusionierung begriff.137 Darin stili-siert er seinen Einsatz als Pionier an der Ostfront 1941 als Chance, im eige-nen Leben „Orientierung“ zu finden.138 Der Krieg verändere „die Hal-tung“,139 er befreie von „Reflexionen“140 und vom „dumpfen Druck“,141

indem er zu Selbstdisziplin und handlungsbezogenem Denken erziehe. Die

132 Jaspers, Philosophie, Bd. 2, S. 126.133 Lange, Die Leuchtkugeln, S. 104.134 Ebd., S. 211.135 Für Jaspers bewirkt die Grenzsituation eine ‚Existenzerhellung‘. In der Grenzsituation wan-

delt sich das „empirische Bewußtsein zum »absoluten Bewußtsein«“ (Jaspers, Philosophie,Bd. 2, S. 18), wobei die Kausalgesetzte außer Kraft treten und alle Bewusstseinsvorgänge aufden Augenblick konzentriert werden. Dadurch gewinnt der Mensch Geschichtlichkeit imSinne von ‚erfüllter Zeit‘, ein Bewusstsein, das im Gegenwärtigen das ‚Vergehen‘ und das‚ewige Sein‘ mit einschließt: „Nicht der anfangs- und endlose Ablauf der Zeit und ihrerEreignisse ist geschichtlich, sondern die erfüllte Zeit, die als Erscheinung zur Rundung undGegenwart bringt, was in sich ist durch Beziehung auf seine Transzendenz“ (S. 129).

136 Horst Denkler hat die Desillusionierung als besondere Qualität von Langes Kriegserzählun-gen hervorgehoben, sie dabei aber als Zeichen einer realistischen Wiedergabe des Kriegs-erlebnisses aufgefasst. Mit seiner „schnörkellose[n]“ Sprache sei es Lange gelungen, „die ele-mentare Erlebniswirklichkeit des einfachen Frontsoldaten […] zu bannen“; vgl. HorstDenkler, Was war und was bleibt? Versuch einer Bestandsaufnahme der erzählenden Litera-tur aus dem ‚Dritten Reich‘, in: Zeitschrift für Germanistik, NF 2 (1999), S. 279–293, hierS. 291. Vgl. auch Denkler, Werkruinen, Lebenstrümmer, S. 200 f.

137 Im Tagebuch konstatiert Lange schon 1940 eine grundlegende Veränderung seiner Einstel-lung zum Krieg, die er als „Desillusionierung“ bezeichnet (Lange, Tagebücher aus dem Zwei-ten Weltkrieg, S. 20 [12. Mai 1940]).

138 Ebd., S. 32 (14. September 1941).139 Ebd. S. 34 (14. September 1941).140 Ebd., S. 41 (17. September 1941).141 Ebd., S. 60 (4. Oktober 1941).

238 Horst Lange

Sehnsucht nach Präsenznähe – „Einmal im vollen Licht leben und ohneSchatten, die immerzu von fernher mitkommen!“ – verbindet Lange dabeimit der Hoffnung, eine innerlich wie äußerlich „stabile Ordnung“ zu schaf-fen, in der man nie „vom Unvorhergesehenen überrascht“ werde und alles„seinen Platz, seinen Sinn und seine Notwendigkeit“ habe.142 Jenseits vonmoralischen, politischen oder geschichtlichen Bewertungen des Kriegeserscheint die bewusstseinsverändernde Kriegserfahrung hier als Vorausset-zung einer grundlegenden kulturellen Neuordnung.143 Wie Gehlen in sei-

142 Ebd.143 An einer Stelle seines Kriegstagebuchs beklagt er, dass „kein einziger machtvoller und erlö-

sender Gedankengang“ zu erkennen sei, „der noch einmal die auseinanderfallenden Kräftedieser Zeit zusammenfassen und zur Einheit bündeln könnte“ (Lange, Tagebücher aus demZweiten Weltkrieg, S. 152 [19. August 1944]). An anderer Stelle nennt er den Krieg dann„das große, formlose Grauen, aus dem sich das Neue gebären wird“ (S. 157 [20. August1944]). Zumindest in der Anfangszeit verband er mit dem Krieg noch die Vorstellung voneiner territorial-politischen und geistigen Neuordnung des Kontinents. Wenn er schreibt,man müsse sich „aller überkommenen Vorstellungen und Maßstäbe entledigen und „dieZukunft im Auge haben“, wo es „viel zu gewinnen“ gebe, „nicht nur mit den Waffen“ (S. 21[12. Mai 1940]), oder von der schweren „Aufgabe“ spricht, Russland „zu kultivieren“ (S. 78[25. Oktober 1941]), dann lässt sich daraus keine prinzipielle Ablehnung des deutschenEroberungskrieges herauslesen. Aus diesem Grund muss die Behauptung, Langes Tagebuchbezeuge eine oppositionelle Einstellung zur Diktatur, die Oda Schaefer in ihrem apologeti-schen Lebensbild aufstellt (vgl. Schaefer, Horst Lange, S. 280), deutlich relativiert werden.Kritik übte Lange vor allem in der letzten Kriegsphase, zum einen am „Romantizismus“ dernazistischen Kriegspropaganda (Lange, Tagebücher aus dem zweiten Weltkrieg, S. 168[19. Oktober 1944]), der seiner Meinung nach zu Fehlern bei der Kriegsführung führte, undzum anderen an dem von ihm als barbarisch bewerteten Plan einer „Versklavung“ des russi-schen Volkes, wie ihn Himmler propagierte (ebd. S. 205 [5. März 1945]). Bei der Lektüreder Tagebücher ist zudem zu beachten, dass Lange seit dem Frühjahr 1941 für die Propagan-daabteilung des Obersten Heereskommandos arbeitete. Und als er Anfang September 1941als Pionier-Gefreiter zum Stab nach Mittelrussland versetzt wurde, geschah dies mit demAuftrag, Stimmungsberichte über das Leben an der Front und Portraits einzelner Pioniere zuverfassen (vgl. Schäfer, Horst Langes Tagebücher 1939–1945, S. 316). Er selbst bezeichnetediese Arbeiten als „militärische Pionier-Propaganda-Dichtung“ (ebd., S. 143). Nach OdaSchaefers Angabe erschien eines dieser Portraits unter dem Titel Der Junge im Jahresring (vgl.Schaefer, Horst Lange, S. 280). Außerdem wurden Ausschnitte des Tagebuchs und eigeneZeichnungen Langes unter dem Titel Vorspiel zur Apokalypse 1942 in der Zeitschrift DieDame und in der Süddeutschen Zeitschrift publiziert (vgl. Schäfer, Horst Langes Tagebücher1939–1945, S. 309). Anfang 1942 machte Lange seinem Verleger Eugen Claassen auch denVorschlag, seine Tagebuchaufzeichnungen aus dem Russlandfeldzug als eigenes Buch zupublizieren, als ein „farbiges, humanes und sehr lebendiges Kriegsbuch ohne jeden Herois-mus“ (Brief von Horst Lange an Eugen Claassen vom 18. Januar 1942, in: Eugen Claassen,In Büchern denken. Briefwechsel mit Autoren und Übersetzern, ausgewählt und hg. vonHilde Claassen, Hamburg/Düsseldorf 1970, S. 290). Aus all dem wird zum einen ersichtlich,dass das Russlandtagebuch zumindest zu Beginn auch in Hinblick auf eine literarische Ver-wertung geführt wurde. Zum anderen, dass Langes Kriegserzählungen nicht getrennt von sei-nen Wehrmachtsaufgaben betrachtet werden können. Das gilt auch für die Erzählung DieLeuchtkugeln, in der der Autor Oda Schaefer zufolge mehrere seiner für das Oberkommandodes Heeres verfassten Pionierportraits verarbeitete und über deren Verfilmung er nochunmittelbar vor dem Zusammenbruch einen Vertrag mit der UFA abschloss (vgl. Langes

Krieg und ‚Sachlichkeit‘ 239

nem frühen, ebenfalls im Krieg erschienenen Hauptwerk Der Mensch(1940) betrachtet Lange ‚den Menschen‘ in einer dezidiert antipsychologi-schen und antihistorischen Perspektive und bewertet die Vorstellungsleis-tungen des Bewusstseins überwiegend negativ.144 Daher erkennt er in der‚Haltung‘ als einer Innen und Außen verbindenden Formung des psy-chischen Apparats ebenso wie Gehlen ein positives Gegenmodell zurSchicksalsabhängigkeit des innengelenkten Menschen. Zur ‚Versachlichung‘gehört auch, dass er die Beschreibung des Krieges in Metaphern wie „Jüngs-te[r] Tag“ oder „Sintflut“ ablehnt.145 Alle religiösen, geschichtsphilosophi-schen und heroischen Sinngebungen und selbst Begriffe wie Sieg oder Nie-derlage verfallen bei ihm dem Verdikt der Illusion bzw. der ‚Romantik‘.

5. Langes ambivalentes Verhältnis zur literarischen Moderne

Die Leuchtkugeln bilden den Höhepunkt von Langes Bemühen um eine‚Versachlichung‘ der eigenen Schreibweise. Dies zeigt sich am weitgehendenVerzicht auf Psychologisierung und an der Entschlackung des Stils von sym-bolistischer, romantischer und expressiver Metaphorik. Schon unmittelbarnach Erscheinen der Ulanenpatrouille hatte der Autor ja das allzu Stilisierteund Psychologisch-Komplizierte an seinem ersten Roman kritisiert und denVorsatz gefasst, „simpler zu werden.“146 Diese Vorgabe lösten die Leucht-kugeln offensichtlich ein und scheinen so die literaturgeschichtliche TheseVolker Wehdekings zu bestätigen, dass mit der Schlacht um Stalingrad unddem Beginn der Massenbombardierung deutscher Städte im Jahr 1942 inder deutschen Literatur eine „Periode des versuchten Verismus“ eingesetzthabe.147 Allerdings zeigt ihr Beispiel auch, dass sachliche Stilmerkmalenicht zwangsläufig mit einem realistischen Literaturprogramm oder gardem Konzept einer „poésie engagée“148 verknüpft sind. Denn von ‚Sach-lichkeit‘ kann im Falle von Langes Schreibweise nur in einem sehr speziellenSinne gesprochen werden: nicht im Sinne rationaler Wirklichkeitskonstruk-tion, sondern dem einer genauen Beschreibung von Bewusstseinsvorgängen

Brief an Eugen Claassen vom 27. März 1945, in: Claassen, In Büchern denken, S. 295; undLange, Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 215 [6. April 1945]).

144 Zu Gehlen siehe Kap. I, 5.145 Lange, Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 21 (12. Mai 1940).146 Ebd., S. 16 (9. Februar 1940). In einer späteren Notiz bezeichnete er seinen Roman als „ge-

fühlsmäßige[s] Rokoko“ (ebd., S. 182 [8. Januar 1945]).147 Volker Wehdeking, Engagiertes Schreiben im besetzten Deutschland (1945–1949), in:

Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Bestandsaufnahme Gegenwartsliteratur, München 1988(= Sonderheft Text + Kritik), S. 13–26, hier S. 16. Wehdeking bezieht sich vor allem aufHans Erich Nossack und Felix Hartlaub.

148 Ebd.

240 Horst Lange

und von zeitlicher Desillusionierung. Langes Kriegserzählungen stehendamit in der Tradition des Sachlichkeitskonzepts der ‚jungen Generation‘vom Beginn der dreißiger Jahre, die sich das Nüchternheitspostulat derNeuen Sachlichkeit zu eigen gemacht, es zugleich aber auch von allen ‚ratio-nalistischen‘ und ‚liberalistischen‘ Implikationen gereinigt hatte.149

Lange selbst versuchte sich mit dieser ästhetischen Konzeption sowohlvom modernen Roman im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts alsauch vom literarischen Traditionalismus, den im ‚Dritten Reich‘ Autorenwie Werner Bergengruen pflegten, abzugrenzen. Wenn Helmut Heißenbüt-tel nach der Lektüre von Langes Kriegstagebüchern zum Urteil gelangte,der Verfasser sei „Traditionalist, ja in mancher Hinsicht, politisch wie ästhe-tisch, ein Reaktionär“ gewesen,150 dann konnte er sich dabei vor allem aufLanges scharfe Kritik an avantgardistischer und modernistischer Kunstberufen, die sich in Wortwahl und Wertungsmaßstab oft kaum von der offi-ziellen Propaganda gegen ‚entartete Kunst‘ unterschied. So beschimpfteLange Joyces Ulysses in seinem Tagebuch als „konsequente Brutalität“ und„verschnörkelte Barbarei“, die nichts als „Gosse, Fäkalien, Pissoir“ zeige,151

nannte Thomas Manns Lotte in Weimar eine „manierierte“ und „vollkom-men impotente Arbeit“,152 kritisierte die Stücke Georg Kaisers als „kalteund gehirnliche Mache“153 und bezeichnete Kafkas In der Strafkolonie als„das exkrementäre Produkt einer kranken Phantasie“.154 Trotzdem lässtsich der Autor Lange selbst bei ausschließlicher Betrachtung seiner literatur-kritischen Reflexionen nicht als Traditionalist einstufen. Denn zum einenstehen den zitierten Verdikten im Tagebuch positive Bemerkungen überChagall, Feininger, Kubin oder Hemingway gegenüber. Zum anderen zeugtdie intensive Beschäftigung mit der literarischen Moderne von einer ambi-valenten Faszination, die diese auf ihn ausübte. So schwingt unüberhörbarBewunderung mit, wenn er von der „hauchdünnen Abstraktion“ und „uner-bittlichen Konsequenz“ in Kafkas Prosa spricht, auch wenn ihm diese „völ-lig konträr“ sei.155 Hält man seine Stellungnahmen zu unterschiedlichenSchriftstellern und Künstlern nebeneinander, wird eine ambivalente Ein-stellung zur ästhetischen Moderne erkennbar, die an die literaturkritischenAussagen aus dem Kreis der ‚jungen Generation‘ erinnert, der insbesonderedie expressionistische Avantgarde als Exempel eines überbewerteten Moder-

149 Siehe dazu Kap. II, 1.150 Helmut Heißenbüttel, 1945 ist heute. Ein persönlicher Bericht, in: Literaturmagazin 7:

Nachkriegsliteratur, hg. von Nicolas Born und Jürgen Manthey, Reinbek 1977, S. 232–236,hier S. 233.

151 Lange, Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 143 (2. Juni 1944).152 Ebd., S. 150 (15. August 1944).153 Ebd., S. 174 (23. November 1944).154 Ebd., S. 201 (16. Februar 1945).155 Ebd., S. 194 (4. Februar 1945).

Langes ambivalentes Verhältnis zur literarischen Moderne 241

nismus galt.156 Während Lange einerseits die Präzision und Abstraktion inder modernen Kunst als Gegenmittel zu aller künstlerischen und mentalen‚Romantik‘ schätzt – nicht zufällig hatte er Anfang der zwanziger Jahrevorübergehend den Plan verfolgt, am Weimarer Bauhaus Malerei zustudieren157 –, konnotiert er alles Analytische und Experimentelle anderer-seits idiosynkratisch mit gesellschaftlicher und anthropologischer Formauf-lösung. Expressionismus, Futurismus und Formalismus deutet er im Tage-buch als Erscheinungsformen der allgemeinen, auch im wissenschaftlichenund politischen Denken wirksamen Tendenz „zur Auflösung der Formenund der Grenzen“.158 Am Ulysses stört ihn insbesondere die Tendenz zum„Grenzenlosen und Uneingedämmten“, die „von der Methode“ herrüh-re.159 In der experimentellen Kunst erkennt er denselben Konnex vonRationalisierung und Primitivierung, den er auch in den sozialen und poli-tischen Umbrüchen des zwanzigsten Jahrhunderts ausmacht: eine Befreiungder im Unbewussten eingeschlossenen archaischen Triebnatur.

Den ‚zersetzenden Rationalismus‘ der Moderne macht Lange in seinenAufzeichnungen auch für die primitivistischen Tendenzen im ‚DrittenReich‘ verantwortlich, zu denen er insbesondere die Rassenideologie zählt.Er gebraucht damit bereits die Argumentationsfigur der Nihilismuskritik,die in der Nachkriegszeit zahlreiche retrospektive Deutungen des National-sozialismus bestimmt. Der „Rationalismus“ werde dann am „furchtbarsten“,wenn er sich „mit den ihm entgegengesetzten Kräften des Blutes und derTriebe“ verbinde, schreibt er in dem bereits mehrfach zitierten Tagebuchein-trag vom 19. August 1944.160 Schon in seinem Aufsatz über LandschaftlicheDichtung hatte er die Bauernromane Richard Billingers als einen sich letztenEndes aus dem Expressionismus herleitenden Primitivismus kritisiert. Aufgleiche Weise interpretiert er in privaten Äußerungen ab dem Ende der drei-ßiger Jahre dann auch die völkische Geschichts- und Rassenmythologie alseinen vom ‚Intellektualismus‘ provozierten „Rückfall ins Barbarische“.161 Ineinem Brief an den Freund Ernst Kreuder bewertet er Gottfrieds Benns frü-

156 Vgl. auch Langes früher entstandenes Portrait von Georg Heym, in dem er dessen lyrischeFormstrenge den „vorsätzlichen und verkrampften Ausdrucksversuchen“ der späterenExpressionisten entgegenhält (Horst Lange, Bildnis des Dichters Georg Heym, in: DasInnere Reich 2 [1935], 1. Halbjahresbd., S. 209–220, hier S. 215).

157 Vgl. dazu Schaefer, Horst Lange, S. 270.158 Lange, Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 140 (9. April 1944). – Dieselbe Tendenz

zeigen seine literaturkritischen Bemerkungen im Briefwechsel mit Ernst Kreuder; vgl.Dorota Cygan, „Man darf den Banausen nicht Wasser auf ihre Mühlen geben…“. HorstLange an Ernst Kreuder – Briefe aus dem „Zwischenreich“, in: Walter Delabar/Horst Denk-ler/Erhard Schütz (Hg.), Spielräume des einzelnen. Deutsche Literatur in der WeimarerRepublik und im Dritten Reich, Berlin 1999, S. 31–54, bes. S. 37.

159 Lange, Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 139 (26. März 1944).160 Ebd., S. 154 (19. August 1944).161 Brief von Horst Lange an Ernst Kreuder vom 29. Mai 1939, zitiert nach: Cygan, „Man darf

den Banausen nicht Wasser auf ihre Mühlen geben…“, S. 36.

242 Horst Lange

hen EssayDas moderne Ich (1920) in diesem Sinne rückblickend als sympto-matischen Text. Darin habe der Dichter, der selbst ein „Mitteltyp zwischeneinem von der Wissenschaft herkommenden Kritiker und einem blutsmäs-sigen Mythomanen“ sei, lange „bevor die Bolschewikinger kamen“ bereitsdie „Sehnsucht nach dem Untergang im Anonymen“ und den „Mythenzau-ber zwischen Thule und Palau“ zum Ausdruck gebracht.162 Es war diesenegative oder, mit Heißenbüttel, reaktionäre Auffassung des Experimentel-len als naturferner, unschöpferischer ‚Intellektualismus‘ und Primitivismus,die Lange trotz seiner offensichtlichen Faszination auf gelegentlich neuro-tisch anmutende Weise immer wieder zur Distanzierung von modernisti-schen Tendenzen in Literatur und Kunst zwang. Sie erklärt auch, warumsich bei ihm trotz seiner unmissverständlichen Ablehnung der ‚Bolschewi-kinger‘ durchaus ideologische und mentale Affinitäten zum Nationalsozia-lismus beobachten lassen. Schließlich hatte dieser den Kampf gegen intellek-tualistische Formauflösung und Seelenzergliederung auf seine Fahnengeschrieben und propagierte zum Teil ein ganz ähnliches, durch Disziplin,Einfachheit und Illusionslosigkeit gekennzeichnetes Ethos der ‚Sachlich-keit‘, wie Lange es in seinem Tagebuch für sich entwarf.

Langes intensive Beschäftigung mit dem modernen, insbesondere demanglo-amerikanischen Roman im Kriegstagebuch zeigt, dass der Autor sichin seinem Bemühen um eine Simplifizierung der eigenen Schreibweise nichtan vormodernen Mustern, sondern durchaus an der Gegenwartsliteraturorientierte. Daher überrascht es auch nicht, dass er sich in der erstenNachkriegszeit – als neben Gustav René Hocke einziger Vertreter der älterenGeneration – vorübergehend der um die Zeitschrift Der Ruf versammeltenneuen ‚jungen Generation‘ von Autoren annäherte, die sich von der ‚Kal-ligraphie‘ der ‚Inneren Emigration‘ abzugrenzen versuchten. Unter demTitel Bücher nach dem Krieg veröffentlichte er am 1. Januar 1947 in derZeitschrift einen programmatischen Artikel, in dem auch er in scharferForm mit den im ‚Dritten Reich‘ erfolgreichen „Schönschreiber[n]“ von„idyllische[n] Seelenlandschaften“ und „geschmackvollem Klassizismus“abrechnete, die das ‚innere Reich‘ nach dem Krieg zur ‚inneren Emigration‘umdeklariert hätten.163 Gleichzeitig forderte er einen radikalen literarischenNeubeginn: Wie schon einmal im Jahr 1918 komme es jetzt darauf an, sichvon der Tradition zu befreien und „unvoreingenommen und unnachsichtig“der Realität gegenüberzutreten.164 Aus Eklektizismus und Epigonentum,

162 Ebd.163 Horst Lange, Bücher nach dem Kriege. Eine kritische Betrachtung, in: Der Ruf. Unabhän-

gige Blätter der jungen Generation, 1. Jg., H. 10, 1. Januar 1947, S. 9 f., hier S. 9. – Langehatte in dem Blatt zuvor bereits eine kurze Kriegserinnerung mit dem TitelWas ich nie verges-sen werde… veröffentlicht (in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation, 1. Jg.,H. 4, 1. Oktober 1946, S. 2).

164 Lange, Bücher nach dem Krieg, S. 9.

Langes ambivalentes Verhältnis zur literarischen Moderne 243

„Zeitferne und Traumverlorenheit“ müsse die Literatur jetzt zu einer neuenWahrhaftigkeit finden.165 Wahrheit definierte er dabei im Sinne eines radi-kalen geschichtlichen und anthropologischen Skeptizismus: Im Zentrumaller Neuorientierungsversuche stehe die „Frage nach dem Menschen“,„nach seinem wahren Wert, nach seiner Bestimmung, nach seiner Positionin der Welt“.166 Dabei müsse die Erfahrung vom „Niedergang des Men-schen“, vom „Verlust seiner Freiheit, seiner Würde, seiner Menschlichkeit“berücksichtigt werden.167 Die „ideelle Gutgläubigkeit“, mit der man imErsten Weltkrieg einem pazifistischen Buch den Titel Der Mensch ist guthätte geben können, sei überholt.168

Lange stand mit seinem anthropologisch und antigeschichtlich gepräg-ten Realismusbegriff im Kreis der um den Ruf versammelten Autoren kei-neswegs allein. Vielmehr kann man in der Ablehnung einer mimetischenRealismuskonzeption einen Grundzug der Programmschriften der jungenGeneration erkennen. Als wichtigste Aufgabe der neuen Literatur sah manes in diesem Kreis an, eine neue Bewusstseinslage der Nachkriegsgenerationund damit ein neues Realitätsverhältnis stilistisch umzusetzen, wobei mansich vor allem an der amerikanischen und französischen Gegenwartsliteraturorientierte. In diesem Sinne wandte sich Gustav René Hocke in seinem pro-grammatischen Artikel Deutsche Kalligraphie (1946) im Ruf sowohl gegeneinen leeren Formalismus als auch gegen einen als kleinbürgerlich empfun-denen Naturalismus und gab als Zielrichtung eine ästhetisierende Beschrei-bung vor, in der sich die Distanz des Subjekts von der Realität und damitseine „geistige Freiheit“ manifestiere.169 Ganz ähnlich setzte sich auch HansWerner Richter für einen Stil jenseits vom „Ästhetizismus“ der ‚InnerenEmigration‘ und von dem von den Exilautoren gepflegten „Realismus […]ein[es] vergangenen Jahrhundert[s]“ ein; für einen Realismus, der durch dieErfahrung der „Fragwürdigkeit“ der „geistigen Existenz“ aus der „bloßen

165 Ebd.166 Ebd.167 Ebd.168 Ebd.169 [Gustav René Hocke], Deutsche Kalligraphie oder Glanz und Elend der modernen Literatur,

in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation 1. Jg., Nr. 7, 15. November1946,S. 9 f., hier S. 10. Zu Hockes ambivalenter Bewertung der ‚Kalligraphie‘ vgl. Volker Wehde-king/Günter Blamberger, Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit (1945–1952), München1990, die den Essay als erste „Annäherung des realistischen Lagers an metaphysisch-medita-tive Positionen ehemaliger ‚Kolonne‘-Autoren“ deuten (S. 51). Auf deutliche Parallelen zwi-schen der Literaturprogrammatik der ‚jungen Generation‘ der frühen Nachkriegszeit und derKritik an der Neuen Sachlichkeit in den um 1930 entstandenen Programmschriften derdamaligen ‚jungen Generation‘ verweist bereits Frank Trommler, Emigration und Nach-kriegsliteratur. Zum Problem der geschichtlichen Kontinuität, in: Reinhold Grimm/JostHermand (Hg.), Exil und innere Emigration, Frankfurt a.M. 1972, S. 173–197, bes.S. 196.

244 Horst Lange

Wahrnehmung des Objektiven ins Magische“ erhoben werde.170 UndAlfred Andersch forderte in seinem Ende 1947 für das zweite Treffen derGruppe 47 verfassten Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung (1948)einen „reine[n] Realismus“, jenseits von Romantik und politischer Tendenz,der der Erkenntnis Rechnung trage, dass nach der Erfahrung der „Brüchig-keit aller sich uns anbietenden objektiven Wertsysteme […] nichts bleibt alsdie schlechthinige Existenz des Menschen“.171

Mit seinen in der frühen Nachkriegszeit publizierten szenischen undnarrativen Texten entsprach Lange durchaus dem von Hocke und Richterskizzierten Programm eines ästhetisch-existentiell überhöhten Realismus,auch wenn, oder gerade weil er darin verstärkt mit mythischen Anspielungenund Handlungsmustern operierte. Lange entwickelte in dieser Zeit – ähn-lich wie Egon Vietta – eine antiillusionistische Ästhetik, die sowohl Berüh-rungen mit der symbolistischen Moderne der Jahrhundertwende als auchmit der nach dem Krieg auf deutschen Bühnen viel gespielten surrealisti-schen Dramatik von Anouihl, Cocteau oder Giraudoux aufweist – und sichdeshalb kaum mit der Position eines „volkstümlichen Klassizismus“ verein-

170 Hans Werner Richter, Literatur im Interregnum, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jun-gen Generation, 1. Jg., Nr. 15, 15. März 1947, S. 10–11. Weiter heißt es dort: „Realismus –das bedeutet Bekenntnis zum Echten, zum Wahren und zur Wirklichkeit des Erlebten […].Das Ziel einer solchen Revolution aber kann immer nur der Mensch sein, der Mensch unse-rer Zeit, der aus der Verlorenheit seiner zertrümmerten Welt nach neuen Bindungen strebt.[…] Die Aufgabe einer neuen Literatur wird es sein, in der unmittelbaren realistischen Aus-sage dennoch hinter der Wirklichkeit das Unwirkliche, hinter der Realität das Irrationale,hinter dem großen gesellschaftlichen Wandlungsprozeß die Wandlung des Menschen sicht-bar werden zu lassen. […] Das mag man vielleicht noch als Realismus oder aber als magi-schen Realismus oder als Objektivismus bezeichnen – es ist dennoch nichts anderes als derWeg aus dem Vakuum unserer Zeit zu einer neuen Wirklichkeit.“ (S. 11) Ganz ähnlicheAnsichten vertrat der mit Lange befreundete Ernst Kreuder, der in derselben Zeitschriftgegen die Blindheit der „Tatsachenliteratur“ polemisierte und von den Schriftstellern die„Ueberwindung der Realität“, die „Sprengung der sogenannten Wirklichkeit“ forderte (ErnstKreuder, Waldemars Ansichten über Literatur, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungenGeneration, 1. Jg., Nr. 13, 15. Februar 1947, S. 13). In seinen Briefen an Horst Lange wurdeKreuder noch deutlicher und grenzte sich vor allem gegenüber dem „literatenhaften Nihilis-mus“ der Weimarer Republik ab, mit dem „kein Blumentopf mehr […] zu gewinnen“ sei(Brief an Horst Lange vom 14. November 1945, in: Ernst Kreuder, „Man schreibt nichtmehr wie früher“. Briefe an Horst Lange, in: Literaturmagazin 7: Nachkriegsliteratur, hg.von Nicolas Born und Jürgen Manthey, Reinbek 1977, S. 209–231, hier S. 216). Die deut-sche Dichtung der Nachkriegszeit sollte seiner Meinung nach daher eine Rückkehr zu einemmetaphysischen Weltbild befördern: „Der Rationalismus, die Aufklärung der Enzyklopädis-ten, Technik, Naturwissenschaft, Sozialismus, historischer Materialismus haben im Sinneeines Weltbildes endgültig Bankrott gemacht. Eine tastende metaphysische Orientierung hatbegonnen, eine grosse Unsicherheit, ein Ahnen, dass es Dinge zwischen Himmel und Erdegibt, die uns weder die Astronomie noch die Physik auch nur deuten können. Das Christen-tum hat versagt. Die weisse Rasse hat Konkurs gemacht“ (Brief an Horst Lange vom 10. Fe-bruar 1946, ebd., S. 221 f.).

171 Alfred Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der litera-rischen Situation, Karlsruhe 1948, S. 20.

Langes ambivalentes Verhältnis zur literarischen Moderne 245

baren lässt, die Schäfer Lange für die Nachkriegszeit zuschreibt.172 Er wolleaus den „Konventionen“ heraus und dem Theater „neue Möglichkeiten zei-gen“, jedoch nicht „experimentieren“, notierte Lange Anfang 1945, als ersein altes Komödienfragment Kephalos und Prokris wieder vornahm.173

6. Versuche mit Mysterienspiel und mythologischer Komödiein der frühen Nachkriegszeit

Noch vor der überarbeiteten Fassung der Komödie erschien 1946 im Kurt-Desch-Verlag Langes Theaterstück Der Traum von Wassilikowa,174 dasFranz Lennartz als das „erste deutsche Kriegsschauspiel nach 1945“ einstuf-te.175 Obwohl Lange das Stück unmittelbar nach Kriegsende ausarbeitete,ist diese Einschätzung irreführend. Denn der Entwurf dazu entstand bereitsim Juli 1944, als Lange für die Propagandaabteilung an seinen Pionier-Por-traits und der Filmfassung der Leuchtkugeln arbeitete.176 Ebenso wie die1944 erschienenen Kriegserzählungen verarbeitet das Stück Motive desRusslandkrieges.177 Eine Gruppe von sechs versprengten deutschen Sol-daten nimmt für eine Nacht in einem verlassenen und, von einigen an denWänden hängenden Bildern abgesehen, vollkommen leeren russischen Bau-ernhaus Quartier, begegnet dort einem verstörten Bauern, der mit Verstor-benen spricht, und einem Bettler, der sie später an die russischen Partisanenverrät. Am Ende kommt es zu einem Feuergefecht, bei dem der Angriff derPartisanen abgewehrt wird, die eigentlichen Helden, die beiden ‚Lyriker‘ inder Gruppe, Ernst und Eduard, aber fallen. Ebenso wie die Leuchtkugelnweist das Theaterstück allenfalls an der Oberfläche, etwa in der von denSoldaten verwendeten Umgangssprache, Ähnlichkeiten mit realistischenKriegsschilderungen auf. Dominant sind die Techniken der Ästhetisierung.So ist in die Handlung ein längeres Traumspiel eingefügt, mit dem der Dra-matiker auf Vorbilder des barocken Welttheaters, des Totentanzes und dersymbolistischen Dramatik zurückgreift: In der Nacht werden vor Ernst undEduard die auf den Bildern dargestellten Verstorbenen lebendig, ordnensich unter Anleitung des Bettlers zu einer Gruppe und treten einzeln mit

172 Schäfer, Horst Langes Tagebücher 1939–1945, S. 308.173 Lange, Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, S. 182 (8. Januar 1945).174 Horst Lange, Der Traum von Wassilikowa. Ein Theaterstück, als Typoskript für Bühnen ver-

vielfältigt, München o. J. [1946].175 Franz Lennartz, Deutsche Dichter und Schriftsteller unserer Zeit. Einzeldarstellungen zur

Schönen Literatur in deutscher Sprache, 8., erweiterte Aufl., Stuttgart 1959 (1. Aufl. 1939),S. 419.

176 Vgl. Lange, Tagebücher aus dem zweiten Weltkrieg, S. 148 (31. Juli 1944).177 Die Grundidee des Stückes ging auf ein im Tagebuch beschriebenes Kriegserlebnis aus dem

Jahr 1941 zurück; vgl. ebd., S. 79 f. (26. Oktober 1941).

246 Horst Lange

längeren, in Versen gefassten Monologen hervor. Dem Gattungsmuster ent-sprechend sind Figuren und Vortrag dabei einer zugleich typisierenden undmoralisierenden Stilisierung unterworfen; sie repräsentieren zeitlos gültigeErscheinungsformen der menschlichen Existenz: die Bauerntochter Wassi-lissa den in der weiblichen Natur liegenden Hang zur Wollust, der Bauern-sohn Jewgeny das Soldatentum und die Trunksucht. Als den irdischen Tor-heiten und Sünden Heilige als Ankläger entgegentreten, wandelt sich derToten-Reigen dann zumWeltgericht, bei dem der ‚gute Zar‘ als Richter auf-tritt, Hurerei, Kriegstreiberei und Trunksucht verurteilt und dadurch auchdie beiden Zuschauer, Ernst und Eduard, von dem Bann der verführer-ischen Bilder befreit.

Unschwer lässt sich hier ein aus Langes Kriegserzählungen vertrautesMuster wiedererkennen. Denn durch die Verschränkung der beiden Hand-lungsebenen beim Spiel im Spiel werden nicht Wirklichkeit und Traumeinander entgegengesetzt, sondern verschiedene Bewusstseinsformen vor-geführt. Der soldatischen Wahrnehmung steht die musische Empfindungder Helden gegenüber, der Präsenznähe die derealisierende Wirkung derEinbildungen, wobei letztere mit einer lebensphilosophisch konnotiertenVorstellung von Dauer verknüpft sind. In der Erweckung der Bilder zumLeben wird bei den beiden Helden zugleich der Strom affektbesetzter Erin-nerungs- und Wunschbilder freigesetzt. Ernst formuliert diese Erkenntnisim Stück mit den Worten: „In den Bildern wohnt Leben genug. Ein anderesLeben als das, was sich um uns bewegt. Es ist nur zu halten und zu deuten,wenn man es in ein Bild fasst. Dann bekommt es seine Wahrheit und seineDauer.“178 Wie bei der Figur des Hermes aus den Leuchtkugeln ist dieDerealisierung auch bei den beiden Dramenfiguren mit dem Tod, genauermit dem Motiv des Opfertodes verknüpft: Infolge ihres Traums entdeckensie die herannahenden Partisanen und retten ihre Kameraden, werden dabeiaber selbst erschossen. Der Gegensatz von sachlicher und romantischer Ein-stellung wird in dem Theaterstück ebenso wenig überwunden wie in derErzählung und in beiden Fällen als anthropologischer Dualismus behan-delt. Aus diesem Grund kann auch das Opfermotiv im Stück nicht als reli-giös inspirierte Sinnstiftung des Krieges gedeutet werden, wie in den fünf-ziger Jahren geschehen.179 Vielmehr wird das Opfer hier mit der schon fürdie Schwarze Weide konstatierten kulturanthropologischen Bedeutung ver-

178 Lange, Der Traum von Wassilikowa, S. 13.179 Vgl. Inge Meidinger-Geise, Welterlebnis in deutscher Gegenwartsdichtung, Nürnberg o. J.

[1956]. Meidinger-Geise nennt Langes Stück „ein Kriegsstück zugleich Mysterienspiel desSeins und seiner Erlösungsmöglichkeiten“, mit dem der Autor „einen im ganzen gelungenenBeitrag“ liefere „zum Sinn des anscheinend sinnlosen Todes im sinnraubenden Krieg“(S. 547 f.). Auch Lubos spricht von einer „metaphysische[n] Sinngebung“, die in der „natur-gesetzliche[n] Verneinung des Behaustseins“ liege, erkennt darin aber ein vom Kriegserlebnisunabhängiges Grundthema des Langeschen Werkes (Lubos, Horst Lange, S. 32).

Versuche mit Mysterienspiel und mythologischer Komödie in der frühen Nachkriegszeit 247

sehen, nach der die Sicherung der kulturellen Ordnung eine exemplarischeReinigung von chthonischen Schicksalsmächten erfordert. Diese Adaptiondes Reinigungsgedankens an die Kriegs- und Nachkriegssituation wird inder Untersuchung der Erzählung Am kimmerischen Strand (1948) nochdeutlicher werden.

Die Konfrontation zweier verschiedener Bewusstseinszustände mittelsder Spiel-im-Spiel-Technik hatte Lange ursprünglich auch für sein noch frü-her konzipiertes Stück Kephalos und Prokris vorgesehen, das wegen der Ein-berufung des Autors im Sommer 1940 aber Fragment blieb und erst 1948mit dem Untertitel „Eine Dichtung“ erschien.180 Nach dem ursprünglichenPlan sollten ein Vor-, ein Zwischen- und ein Nachspiel die drei in derAntike angesiedelten Akte einrahmen bzw. unterbrechen und den antikenVorwurf in die Gegenwart transponieren. Dem tragischen Ausgang, den dieLiebe zwischen Kephalos und Prokris im antiken Mythos nimmt, sollte inder „moderne[n] Handlung“ eine betont sachliche Lösung gegenüberge-stellt werden.181 Diese Parallelhandlung ist in der Fragment gebliebenenFassung nicht enthalten, allerdings stellt sich in ihr auch die antike Hand-lung anders dar, als der Autor es seiner eigenen Aussage nach zunächstgeplant hatte. Denn in dem Stück verhindert die kalte Sachlichkeit der gött-lichen Ordnung Tragik. Dies zeigt sich daran, dass die Göttin Eos – „meinHerz bleibt kalt“182 – den von ihr entführten Kephalos nicht aus Eifersuchtzurückhält, sondern gehen lässt, als dieser zu Prokris zurückkehren will.Dann wiederum, als die von Kephalos verlassene Prokris, nachdem sie dieErzählung von Narziß und Echo gehört hat – „O kühle Lüfte, haucht mirKlarheit/in‘s Angesicht, in’s rasche Herz“183 –, der Versuchung widersteht,sich einem dionysischen Kult der Lüste und des Vergessens hinzugeben,wodurch der Ehebruch und ein tragisches Ende ausgeschlossen werden. Andie Stelle der ursprünglich konzipierten Polarität von antik-tragischer undmodern-sachlicher Sphäre tritt also die von menschlicher Naturverfallenheitund apollinischer Ordnung. Stellvertretend für alle Götter verkündet Eos:

Wir atmen Kühle, geh’n in goldner Hoheit,/gepanzert wir Heroen, unverwund-bar,/und Ewigkeit beschwert uns jede Stunde,/was ihr uns neidet, wird uns oft zurLast –/die heil’gen Pflichten und die große Ordnung,/die wir bewahren müssen,daß die Welt/den dunklen Mächten in den Schoß nicht fällt.184

180 Horst Lange, Kephalos und Prokris. Eine Dichtung, München 1948.181 „Während die im Mythischen spielende Handlung einen tragischen Schluß hat, sollte die

moderne Handlung ein sehr gleichgültiges Ende finden: der Kephalos unserer Zeit nämlichbringt seine Prokris nicht um, sie gehen auseinander, um sich andere Partner zu suchen, es istheutzutage nicht mehr üblich, an unglücklicher Liebe zu sterben“ (ebd., S. 90).

182 Ebd., S. 83.183 Ebd., S. 63.184 Ebd., S. 76.

248 Horst Lange

Auch für die Götter impliziert die Teilhabe an einer zeitlosen Ordnung dasAnhalten der inneren psychischen Dynamik. An die Stelle von Leidenschaftund Begehren treten Pflicht, Entsagung und Gesetzmäßigkeit.185

Eine ähnliche Konzeption lag dem Einakter Die Frau, die sich Helenawähnte zugrunde, der am 22. Oktober 1946 an den Kammerspielen Wup-pertal uraufgeführt wurde.186 Auch hier dient die mythologische Folie dazu,den Krieg in eine kulturanthropologische Perspektive zu rücken. Anders alsin Kephalos und Prokris hat Lange die Form des Spiels im Spiel in diesemStück aber realisiert, wobei er sich offenbar am Vorbild der symbolistischenDramatik – möglicherweise an Schnitzlers Einakter Die Frau mit demDolche – und an den Antikeadaptionen in der modernen französischen Dra-matik von Giraudoux oder Cocteau orientierte.187 Dadurch gelingt ihmhier, was im Fragment unterblieb: die intendierte Überblendung derGegenwart mit einer mythischen Vergangenheit, genauer gesagt, des Zwei-ten Weltkriegs mit dem Trojanischen Krieg. Der Handlungsverlauf bestehtin Kürze darin, dass eine des gesellschaftlichen Lebens und ihrer wechseln-den Affären überdrüssige moderne Frau nach einem Gespräch mit einemihr fremden Fronturlauber, der zu ihr von der Gegenwärtigkeit mythischerFiguren spricht, einschläft und daraufhin als Helena erwacht. In dieser Rollewird sie mit dem Protest des erzürnten Stadtvolks und mit den RedenOdysseus’ konfrontiert und muss sich in einem langen Monolog mit der

185 Lange behandelte das Thema ‚Ewigkeit‘ auch in zwei kurzen Kriegserzählungen, die 1947 indem bei Claassen und Goverts erschienenen ErzählungsbandWindsbraut veröffentlicht wur-den. In Das nie betretene Haus reflektiert ein Soldat beim Blick aus dem Zugfenster die ihmverbliebene Möglichkeit zeitlicher Orientierung: „Wenn man hier, im Zug, sich am Bleiben-den und Beständigen halten wollte, mußte man den Himmel betrachten. Der Himmel warklar und unwandelbar, – ein Tag verging, eine Nacht kam, ein neuer Tag würde sich entfal-ten. Es war im voraus bestimmt. Das Ewige hat ein stetes Gleichmaß voller Beruhigung undTrost.“ (Horst Lange, Windsbraut. Erzählungen, Hamburg 1947, S. 36 f.) In Die Eisblumenwerden einem Soldaten Bäume zu Anhaltspunkten einer verloren gegangenen Zeitordnung:„die Gesetze, nach denen sie wuchsen, sind aus ihren Formen ablesbar. Hier also wären dieSignaturen des Ewigen zu erkennen“ (ebd. S. 49).

186 Horst Lange, Die Frau, die sich Helena wähnte. Ein Monolog, München o. J. [Bühnen-manuskript 1946].

187 Giraudoux, Cocteau und Anouilh nutzten antike Vorlagen in ähnlicher Weise wie Lange,um archetypische Konstellationen vorzustellen. Giraudoux etwa verwendete in La guerre detroie n’aura pas lieu (1935; deutsche Übersetzung: Kein Krieg in Troja, 1936) ebenfalls die inder Ilias erzählte Geschichte vom Raub Helenas als Prätext. Dass Lange Giraudoux schätzte,zeigt eine Tagebuchnotiz, in der er dessen Stück Ondine (1939; deutsche Übersetzung: Undi-ne, 1948) als „Mittelding zwischen einem Märchen und einer ironischen Fabel“ charakteri-siert und wegen seiner „große[n] Helligkeit“ lobt (Lange, Tagebücher aus dem Zweiten Welt-krieg, S. 144 [10. Juni 1944]). Auch Cocteaus Stücke hat Lange gekannt und geschätzt. OdaSchaefer berichtet im zweiten Band ihrer Lebenserinnerungen von dem – letzlichgescheiterten – Plan des Dramaturgen Kurt Hirschfeld, Langes Monolog Die Frau, die sichHelena wähnte am Zürcher Schauspielhaus 1946 in einer Doppelvorstellung zusammen mitCocteaus Monolog La voix humaine aufzuführen (vgl. Oda Schaefer, Die leuchtenden Festeüber der Trauer. Erinnerungen aus der Nachkriegszeit, München 1972, S. 66).

Versuche mit Mysterienspiel und mythologischer Komödie in der frühen Nachkriegszeit 249

Frage nach ihrer Schuld am Krieg auseinandersetzen. Die Begegnung derRahmenhandlung wird also in der Begegnung Helenas mit Odysseusgespiegelt, während zugleich die Frage nach der Ursache des Krieges ineinen Diskurs über die Destruktivität der menschlichen Triebnatur über-führt wird. In ihrer monologischen Verteidigungsrede stellt sich Helenaeinerseits als die selbst innerlich unbeteiligte Auslöserin der kriegerischenLeidenschaften dar,188 die einer schicksalhaften Eigengesetzlichkeit folgen:

Das Schicksal will es so, und Zeus hat es bestimmt,/Dass dieser blut’ge Krieg nichteher wird beendet,/Als bis des Haders Vorrat endlich aufgebraucht,/Als bisErschöpfung alle endlich niederzwingt,/Und Ilion endlich brennt ein HaufenSchutt und/Trümmer.189

Andererseits präsentiert sie sich als eine Rächerin, die die Männer grausamstraft, die sie zum Objekt ihrer politischen und ökonomischen Interessenmachten:

Ihr wollt mich von euch tun, wie man ein fühllos Ding,/Das man nicht längerbraucht und des’ man überdrüssig ist,/Zuletzt beiseitelegt und seiner nicht mehrachtet./[…]/Die soviel Männer schon im Blute schwimmen sah,/Die Tag um Tagin dunklen Lachen sich gespiegelt,/Sie will auch euer Blut zuletzt noch fliessensehn …190

Die destruktive Entfesselung der Triebnatur stellt sich in dieser zivilisations-kritischen Perspektive als Folge der Verdinglichung der Geschlechterbezie-hungen, also als ein Effekt der Rationalisierung dar. Dieses Konzept wirdvon Lange dann in seinen beiden Romanen aus den fünfziger Jahren, vorallem in Ein Schwert zwischen uns, weiter entwickelt.

7. Mythos vs. Heimat: Am kimmerischen Strand (1948)

In den Erzählungen des 1948 bei R. Piper erschienenen Bandes Am kimme-rischen Strand behandelte Lange erstmals die Nachkriegsgegenwart.191 Mitder Titelerzählung griff er das Genre der Heimkehrergeschichte auf, behan-delte das Thema aber so, dass die Begriffe von Heimkehr und Heimatgrundsätzlich problematisiert wurden. Erzählt wird, wie ein Soldat aufeinem fremden Bahnhof aussteigt, anhand einer brieflichen Beschreibungden Weg zum Haus eines Kriegskameraden sucht, der ihn zu sich einge-

188 „Da kämpften sie. Worum? Ich wusst’ es nicht zu sagen./Um mich vielleicht? Wozu? Ichunterschied sie beide/Nicht mehr, Wo war denn Paris? Wo der Menelaos?/Ein einz’ger Kör-per schien’s, der ganz in wehen Krämpfen/Sich wand und zuckte, der sich selber hasste“ (Lan-ge, Die Frau, die sich Helena wähnte, S. 12).

189 Ebd., S. 15.190 Ebd., S. 18.191 Horst Lange, Am kimmerischen Strand. Erzählungen, München 1948.

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laden hat, und am Ende dort eintrifft. Nach dem aus anderen Texten Langeswie auch anderer Nachkriegsautoren bekannten Muster wird die Handlungauch hier durch eine längere Sequenz traumhaft-visionären Erlebens unter-brochen, die Gegenwart und Vorzeit, Nachkriegsrealität und Mythos mit-einander in Beziehung setzt:192 Der aus dem Zweiten Weltkrieg heimkeh-rende Soldat begegnet dem aus dem Trojanischen Krieg heimkehrendenOdysseus und befragt diesen in einem imaginären Gespräch nach seinenErfahrungen. Im Zentrum steht dabei der im elften Gesang der Odysseegeschilderte Besuch im Totenreich, in dem der antike Held Weissagungüber sein Schicksal und seine Rückkehr nach Ithaka zu erhalten hofft, sowiedas diesem Besuch vorangegangene Opferritual. Trotz Odysseus’ Warnung,sich nicht dem Anblick der Toten auszusetzen, steigt der namenlose Soldatin Langes Erzählung zu den Toten hinab, begegnet dort seiner ehemaligenGeliebten und seinen gefallenen Kriegskameraden und findet danach denWeg zurück.

Lange deutet die antike Dichtung, die in vielen Heimkehrergeschichtendieser Zeit als literarische Folie benutzt wird,193 als Parabel existentiellerUnbehaustheit. Das zeigt bereits die kleine, aber bedeutungsvolle Verände-rung in der Begründung der Totenbefragung. Während Homers Odysseusvon den Toten erfahren will, wann und wie er heimkehren wird, bewegtLanges Soldaten die Frage, „wohin“ er „heimkehren könnte“.194 Nicht derWeg oder Zeitpunkt der Heimkehr, sondern die ontologische Bestimmungvon Heimat soll in der Begegnung mit den Toten ermittelt werden. DieFunktion der Szene liegt daher nicht in der Mitteilung verborgenen Wis-sens, in der Zukunftsvorhersage, sondern in der existentiellen Erschütterungdurch die Konfrontation mit der chthonischen Welt. Dabei erneuert derSoldat im Abstieg zu den Toten die Grenzerfahrung des Krieges. Und wie inden Leuchtkugeln besteht die Herausforderung für den Helden auch hierdarin, sich gegen das Andringen unbewusster Bilder und Kräfte zu behaup-ten. In dem Maße, in dem er sich seinen Erinnerungen und Empfindungenüberlässt, quellen immer mehr „Schatten“ aus der Erde hervor, was sich biszur angstbesetzten Vision einer „Wendung“ steigert, in der „die Welt desAbgeschiedenen […] die Welt des Lebendigen“ überwindet.195

192 Die Formen des Traumspiels und Totengesprächs finden sich beispielsweise auch in Wolf-gang Borcherts Draußen vor der Tür (1947) oder Ilse Langners Heimkehr. Ein Berliner Trüm-merstück (1949).

193 Vgl. dazu Manfred Karnick, Formen der Fremdheit und Wandlungen der Odysseus-Rezep-tion in der frühen deutschen Nachkriegsliteratur, in: Eijiro Iwasaki (Hg.), Begegnung mitdem ‚Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, München 1991 (= Akten des VIII.Internationalen Germanistenkongresses, Tokyo 1990, Bd. 9), S. 422–432.

194 Lange, Am kimmererischen Strand, S. 15.195 Ebd., S. 9.

Mythos vs. Heimat 251

Ähnlich wie in den existentialistisch geprägten NachkriegserzählungenHans Erich Nossacks – etwa Nossacks thematisch verwandter ErzählungNekyia (1947), die ein Jahr vor dem Band Am kimmerischen Stranderschien – wird Heimat in Langes Texten in negativer Weise mit chtho-nischen Kräften konnotiert. Heimat meint hier im anthropologischen Sinnedas Archaische der menschlichen Natur, das die Existenz in der Gegenwartbedroht und von der sich Langes Held durch den Abstieg ins Totenreich zubefreien versucht. In diesem Sinne deutet Lange auch das Opfermotiv ausder Odyssee neu aus. Denn sein Held opfert nicht, um die Heimat zurück-zuerhalten, sondern bringt vielmehr die Heimat selbst zum Opfer: StattBlut opfert er den Toten sein „Gedächtnis“, seine „Erinnerungen“ und seine„Vergangenheit, die auch die ihre ist“.196 Und dieses Opfer wird nicht vordem Abstieg dargebracht, sondern während der Begegnung mit den Toten,in der ihm der illusorische Charakter, „das Täuschende“ seiner Erinnerungs-bilder bewusst wird.197 Anders als Horkheimer und Adorno in ihrer kurzzuvor erschienenen Dialektik der Aufklärung (1947) interpretiert er dieNekyia also nicht als Sieg der instrumentellen Vernunft über die chtho-nischen Gottheiten.198 Der aus dem Totenreich zurückkehrende Soldat inseiner Erzählung hat sich sowohl von den Zwängen der Natur als auch vonder Illusion des Fortschritts befreit und tritt nun in eine Sphäre mythischerZeitlosigkeit ein.199 Ihm selbst wird dies am Ende bewusst, als er im Hausseines Kriegskameraden anlangt und in dessen Tochter, die denselben

196 Ebd., S. 16.197 Ebd., S. 34.198 Vgl. den Exkurs „Odysseus oder Mythos und Aufklärung“ in der Dialektik der Aufklärung

(1947). Im Rahmen ihrer Gesamtdeutung des Epos als Urgeschichte der modernen Zivilisa-tion interpretieren Adorno und Horkheimer Odysseus’ Standhalten gegenüber den Totenbei der ersten Nekyia als Überwindung von „archaische[m] Bilderreich“ und „Gewalt desMythos“ durch das mit sich selbst identische Subjekt (Max Horkheimer/Theodor W. Ador-no, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, S. 83 f.).Das bei Homer in vielfacher Variation auftauchende Opfermotiv verstehen sie als Tauschund listige Überwindung der Naturgottheiten, wobei die Rationalität die „Archaik desOpfers“ durchdringe (ebd., S. 57). Auch wenn die Odysseus-Figur bei Lange nicht als Expo-nent zweckrationalen Denkens, das Opfer nicht als List und der Mythos nicht als archaischeGewalt konzipiert sind, stimmt seine Adaption des Stoffes mit der Deutung in der Dialektikder Aufklärung in einigen wesentlichen Punkten doch überein. Dazu zählen die Verknüpfungvon archaischer und moderner Gewaltsamkeit und Schicksalhaftigkeit und die Idee, dass imOpfer eine Aufgabe des ‚Lustprinzips‘, des Archaischen in der eigenen, menschlichen Naturstattfinde, dass es also „Entsagung“ (ebd., S. 62) bedeute.

199 Die Figur des Odysseus steht bei Lange somit weder für eine „vertikale“ noch für eine „hori-zontale“ Grenzüberschreitung, weder für eine Vertiefung des Wissens vom eigenen Selbstnoch für eine Erweiterung der Welterkenntnis, die Aleida Assmann als die beiden Haupt-linien in der literarischen Adaption des Stoffes herausgearbeitet hat; vgl. Aleida Assmann,Odysseus und der Mythos der Moderne. Heroisches Selbstbehauptungs-Wissen und weis-heitliches Selbstbegrenzungs-Wissen, in: Gotthard Fuchs (Hg.), Lange Irrfahrt – GroßeHeimkehr. Odysseus als Archetyp – zur Aktualität des Mythos, Frankfurt a.M. 1994,S. 103–122, hier S. 111 f. Denn in der Grenzerfahrung des Todes distanziert sich Langes

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Namen führt wie seine ehemalige Geliebte, das alterslose Bild einer „mythi-schen Figur“ erkennt, woraufhin er sich zu „bleiben“ entschließt.200

Auch in anderen Erzählungen des Bandes Am kimmerischen Strand wirdder Einbruch des Mythischen als Entzeitlichung und Desillusionierung vonBewusstsein wirksam. Seltsames Nachspiel etwa erzählt, wie sich die Besuchereines Kinos nach Ende der Vorstellung durch die Trümmerlandschaft einerStadt bewegen und ein junger Soldat und seine Freundin in einen Streitüber Wesen und Möglichkeit der Liebe geraten. Anders als man vermutenkönnte, werden Film und Trümmerlandschaft dabei nicht als ‚Illusion‘ und‚Realität‘ unterschieden. Vielmehr wird der filmischen Realitätsillusion eineMythisierung der realen Trümmerwelt entgegengesetzt:

Die Menge verlief sich, schnell ernüchtert, mißmutig, mit schleppenden Füßen.Der Nebel schwelte gleich den letzten Schwaden des Rauchs, der in den Tagen derVerwüstung über der Stadt gelegen hatte. Es war ein wohltätiger Nebel, er ver-wischte die Umrisse der müden Menschen und deckte den Verfall zu. Drüben, imwohlfeilen Arkadien, hätte ein solcher Nebel sich niemals ausbreiten können, weildie dünne, elysische Luft ihm keinen Halt bot, – zu uns aber gehörte er, denn jederSchritt, den wir taten, führte ohnedies ins Ungewisse.201

Der „schattenlose Traum-Kontinent“ des Films wird durch Nebel ersetzt,das „mythenlose, vordergründige Jenseits“ durch ein hintergründiges Dies-seits.202 Wie Romantik und Sachlichkeit unterscheidet Lange hier Film undMythos an ihrem Zeitmodus. Vordergründig und verlogen ist der Liebes-film, den das Paar angesehen hatte, nicht deshalb, weil sein Happy-End derErfahrung der Protagonisten widerspricht, sondern wegen seiner Ausrich-tung am Zeitstrahl. Er zwingt das Denken und Fühlen seiner Zuschauer indie Spannung von Trennung und Vereinigung, von verhindertem Glückund erfüllter Sehnsucht, und macht es ihnen so unmöglich, zu einer tieferenErkenntnis der Existenz zu gelangen, der Erkenntnis nämlich, dass der Wegdes Menschen im Ungewissen verlaufe. Die ‚hintergründige‘ Betrachtungder Existenz hat ihren Fixpunkt nicht in einem zukünftigen Glück, sondern

Held zugleich von der eigenen Vergangenheit und von einem allgemeinen Fortschrittsopti-mismus.

200 Lange, Am kimmerischen Strand, S. 36 f. – Dass Lange die Erinnerung an die Heimat durchein mythisches Bewusstsein ersetzt, steht auf den ersten Blick in direktem Gegensatz zu derin der Dialektik der Aufklärung entwickelten Deutung, der zufolge die Heimkehr des Odys-seus die Ablösung des Mythos durch den Roman indiziere und in der Gegensätzlichkeit vonHeimat und Mythos „die innerste Paradoxie der Epopöe“ beschlossen sei (Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 85). Dieser Widerspruch verliert jedoch dann anSchärfe, wenn man berücksichtigt, dass Lange dabei nicht die Aspekte archaischer Gewalt-samkeit und Schicksalsabhängigkeit im Auge hat, die Horkheimer und Adorno mit Blick aufdie nationalsozialistische Funktionalisierung vonMythen hervorheben, sondern mit der anti-ken Mythologie in erster Linie die Vorstellung von Zeitlosigkeit verbindet.

201 Lange, Am kimmerischen Strand, S. 53.202 Ebd.

Mythos vs. Heimat 253

im immer präsenten Tod.203 Es ist offensichtlich, dass Lange sein eigenesErzählen in diesem Sinne als Gegenmodell zum ‚romantischen‘ Film ver-standen hat. Der Tod tritt bei ihm in persona auf, als geisterhafter Dialog-partner des Ich-Erzählers, mit dem zusammen er den Streit des Liebespaaresund dessen Chancen erörtert. Ebenso präsent ist er in den Anspielungen aufmythische Konstellationen, etwa wenn der Gang über ein Trümmergrund-stück zum Weg durch die „Unterwelt“ wird.204 Als Gegenmodell zum Lie-besfilm erweist sich die Erzählung aber vor allem in ihrer Unabgeschlossen-heit. Am Ende verliert sich das streitende Liebespaar in der Nacht, wodurchseine Zukunft für den Leser offen bleibt.

8. Kolportage und Eschatologie in den späten Romanen:Ein Schwert zwischen uns (1952) und Verlöschende Feuer (1956)

Langes Annäherung an die um den Ruf gruppierte junge Autorengenerationwar nicht von Dauer. Trotz gemeinsamer Forderungen nach einer Überwin-dung der ‚Kalligraphie‘ und obwohl viele Autoren sich in die Richtung einesexistentialistisch und mythisch überformten Realismus bewegten, die Langebereits mit den Leuchtkugeln eingeschlagen hatte, zog er sich bereits Endeder vierziger Jahre weitgehend aus dem literarischen Betrieb der Nach-kriegszeit zurück. Ein Grund dafür war seine schwere Augenverletzung, dieseine Arbeitsfähigkeit bis an sein Lebensende stark einschränkte. Nichtweniger wichtig war aber wohl das Gefühl einer zunehmenden politisch-ideologischen und literarischen Isolierung. Denn zum einen kam eine sozia-listische Orientierung, wie sie etwa sein Freund Huchel in der Nachkriegs-zeit verfolgte, für den politisch rechts stehenden Autor nicht in Frage, undzum anderen lehnte er auch den Radikalismus der westdeutschen ‚Kahl-schlag-Literatur‘ schroff ab.205 Damit mag es zusammenhängen, dass er sich

203 Eine ähnliche Funktion kommt dem Tod bekanntlich auch in Heideggers Existenzialanalytikzu. Das Dasein konstituiert sich Heidegger zufolge im Bewusstsein des stets präsenten Endes:„So wie das Dasein […] ständig, solange es ist, schon sein Noch-nicht ist, so ist es auch schonimmer sein Ende. […] Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, solange esist“ (Heidegger, Sein und Zeit, S. 245; Hervorhebungen im Text).

204 Lange, Am kimmerischen Strand, S. 54.205 So schlug Lange nach Oda Schaefers Angabe das durch Peter Huchel unterbreitete Angebot

sowjetischer Kulturfunktionäre aus, nach Ostdeutschland überzusiedeln. Er selbst notierte inseinem Tagebuch am 29. Dezember 49: „Immer wieder wirbt der Osten um mich. Jetzthaben sie mich wissen lassen, daß ich, wenn ich in die »ostzonale« Dichterakademie eintrete,einen monatlichen »Ehrensold« von DM 800,- (west!) erhielte. Ich habe abgewinkt. VorWeihnachten wählten sie mich in den redaktionellen Beirat der SED-Zeitschrift Aufbau. Ichhabe äußerst diplomatisch auf diese große Ehre verzichtet!“ (zitiert nach Schaefer, Die leuch-tenden Feste über der Trauer, S. 79 f.). Gleichzeitig war für Lange auch der Weg in dieGruppe 47 versperrt, die bewusst Schriftsteller ausschloss, die schon vor 1933 publiziert hat-ten oder im ‚Dritten Reich‘ bekannt gewesen waren. Nach Aussage Joachim Kaisers fiel auch

254 Horst Lange

auch in seinem eigenen Schreiben bald wieder von der Tendenz zur ‚Ver-sachlichung‘ abkehrte, die er in der Kriegs- und frühen Nachkriegszeiterprobt hatte.

Langes erster Nachkriegsroman Ein Schwert zwischen uns von 1952stieß bei der damaligen Kritik auf einhellige Ablehnung und ist heute –ebenso wie der zweite, 1956 erschienene Roman Verlöschende Feuer – nichteinmal mehr in Literaturgeschichten verzeichnet. Ganz offensichtlich istdiese Rezeptionshaltung in den sowohl trivialen als auch reaktionärenZügen beider Romane begründet. Zu einer Zeit, als sich aus den realisti-schen Anfängen der unmittelbaren Nachkriegszeit eine experimentell-mo-derne Richtung in der westdeutschen Literatur herauszubilden begann,griff Lange wieder auf die Ausdrucksmittel seiner Anfänge zurück: aufeinen naturhaften Symbolismus und eine ausschweifende Schilderung dermenschlichen Naturverfallenheit. Der Roman, in dem der Autor Erlebnisseseines Zürich-Aufenthalts von 1947/48 verarbeitete,206 spielt in der Nach-kriegszeit im Kreis einer Boheme, deren Figuren in einem undurchsichti-gen Netz von sexuellen und kriminellen Abhängigkeiten und Intrigen ver-fangen sind. Im Mittelpunkt stehen die Beziehungen des Ich-Erzählers zudrei Frauen: zu der verwöhnten und drogensüchtigen Lucile, der er keinenHalt zu geben vermag, zu dem slawisch-nymphomanen Mädchen Marion,die sich Hilfe suchend an ihn klammert und der er leidenschaftlich verfällt,und zu Esther, der durch Erfahrung gereiften Frau, zu der er ein kamerad-schaftliches Verhältnis entwickelt. Als sein Gegenspieler agiert der Gewalt-mensch und Verbrecher Bertuch, der wie Marion, Esther und der Erzählerselbst aus Ungarn stammt, sich die beiden Frauen dort bereits mit dämo-nischer Macht unterworfen hatte und nun auch den Erzähler in seinenBann zieht. Alle Handlungsstränge laufen in der Vergangenheit zusammenund lassen die dramatischen Geschehnisse der Romangegenwart als schick-salhafte Konsequenz früherer Ereignisse erscheinen. Das eigentliche Themades Romans ist die Unmöglichkeit, der Vergangenheit und der eigenen

Horst Lange unter diese Kategorie (vgl. Heute fehlt sie. Interview mit Joachim Kaiser am21.6.1988, geführt von Jürgen Schutte, in: Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und diedeutsche Nachkriegsliteratur. Katalog der Ausstellung der Akademie der Künste vom28. Oktober bis 7. Dezember 1988, Berlin 1988, S. 8–21, hier S. 10). Oda Schaefer sprichtdagegen in ihrer Autobiographie von einer bewussten Entscheidung gegen die Gruppe 47,die sie und Lange wegen persönlicher Feindschaften, aber auch aus programmatischen Grün-den getroffen hätten: „Wir wußten, was wir mit unserer Arbeit sagen wollten. Unsicherhei-ten lagen längst hinter uns, wir brauchten nicht mehr die Urteile anderer. Außerdem wareine literarische Seuche ausgebrochen, die man »Kahlschlag-Theorie« nannte. Die deutscheProsa sollte radikal ausgeholzt werden, man warf alles über Bord, was überflüssig schien,nicht nur Adjektive und Attribute“ (Schaefer, Die leuchtenden Feste über der Trauer,S. 148 f.).

206 Vgl. Schaefer, Die leuchtenden Feste über der Trauer, S. 94 ff.

Kolportage und Eschatologie in den späten Romanen 255

Natur zu entrinnen, ein Verhängnis, das sich an der Verführbarkeit allerFiguren zeigt.

Oda Schaefer hat den Misserfolg von Langes erstem Nachkriegsromanmit einem Missverständnis der Kritik zu erklären versucht: „Zum erstenmalversuchte er das Mittel einer gewissen Kolportage einzusetzen, um durchdie krassen Geschehnisse die Unmöglichkeit der Liebe nach dem Kriegeschildern zu können. Er wurde gründlich mißverstanden. Das Buch fiel derKritik zum Opfer.“207 Diese Bemerkung verschleiert allerdings mehr, alsdass sie aufklärt. So richtig Schaefers Hinweis auf die konzeptionellenGründe bei der Wahl der Stilmittel ist, so irreführend ist ihre Unterstel-lung, Lange habe dabei neue Wege beschritten, um der besonderen Situa-tion der Nachkriegszeit gerecht zu werden. Denn tatsächlich finden sichdie von ihr erwähnten kolportagehaften Züge bereits im ersten Roman, wieüberhaupt viele zentrale Motive und Strukturelemente der Schwarzen Weidein Ein Schwert zwischen uns wieder aufgegriffen werden. Schon dort wurdendie dramatischen Verwicklungen der Romangegenwart aus einer unbewäl-tigten Vergangenheit hergeleitet, und schon dort sollte die Schilderung vonAlkoholismus, Ehebruch, Intrige und Mord einen Zustand fortgeschritte-ner Primitivierung des Menschen illustrieren. Die Parallelen werden ins-besondere in der Darstellung der zerstörerischen Gewalt des Sexus und imstereotypen Frauenbild sichtbar: in der Figur der Esther, die erzählt, wie sie„nach ihrem Vergewaltiger verlangte, wie alles in ihr sich bereit machte,erniedrigt und in den Schmutz gezerrt zu werden“,208 oder in LucilesDrang, sich jedem, auch einem Mörder hinzugeben, in dem „die dumpfe,tierische Tiefe“ wirksam ist, „die in jeder Frau – wie in jedem Mann –schläft“.209 Ebenso wie in Schwarze Weide dient der Osten, aus dem alleHauptfiguren stammen, hier als Metapher einer unbeherrschbaren Kreatür-lichkeit. Er steht für eine Welt voller schicksalhafter Abhängigkeit, Demüti-gung, Hinfälligkeit und Gewalt.

An den strukturellen und motivischen Parallelen zum ersten Roman istzu erkennen, dass Lange die Nachkriegszeit der späten vierziger Jahreebenso wie die zwanziger Jahre als anarchische ‚Zwischenzeit‘ konzipiert, inder die zerstörerische Natur des Menschen durch keine inneren oder äuße-ren Grenzen eingedämmt wird.210 Schon in Landschaftliche Dichtung hatteer die Weimarer Republik ja als ein „demokratische[s] Interregnum“beschrieben, das die Frist für den Untergang der „bürgerlich-materialisti-sche[n] Welt“ nur hinausgeschoben und die „Zersetzung“ noch gesteigert

207 Ebd., S. 94.208 Horst Lange, Ein Schwert zwischen uns, Stuttgart/Hamburg 1952, S. 183. – Beide Nach-

kriegsromane Langes erschienen bei Scherz & Goverts.209 Ebd., S. 51.210 Zur Denkfigur der Zwischenzeit siehe auch Kap. I, 2 d.

256 Horst Lange

habe.211 Und auch in Schwarze Weide wurde die Weimarer Republik alsanarchischer Endzustand einer Periode forcierter Primitivierung dargestellt,die notwendigerweise in die Katastrophe führen musste. Im Zweiten Welt-krieg verschob Lange die eschatologische Erwartung eines Endes der ‚Zwi-schenzeit‘ dann auf das Kriegsende.212 Nach Erreichen dieses Zeitpunktessetzte sich bei ihm aber offensichtlich die Erkenntnis durch, dass dieerhoffte Wendung ausgeblieben war.213 An Ein Schwert zwischen uns fälltbesonders auf, dass hier nicht der Krieg, sondern erst die Zeit danach alsbarbarischer Naturzustand dargestellt wird. Denn nicht der deutsche Erobe-rungskrieg im Osten und der mit ihm einhergehende Terror an der Zivilbe-völkerung bilden die Urszene der im Roman geschilderten Verstörungen.Diese gehen vielmehr auf die Ereignisse nach dem deutschen Zusammen-bruch zurück. Wenn sich die Protagonisten an ihre traumatischen Er-fahrungen – Vertreibung, Vergewaltigung, „Lager“ und „Baracken“214 –erinnern, dann bezieht sich dies allein auf den ‚roten Terror‘ nach dem Ein-marsch der Roten Armee:

Mauern, Hügel und Berge von verwesenden, fauligen, zu Jauche zerlaufenden Kör-pern, die sich im Stadium ihrer Auflösung allesamt glichen und nichts weiterbewiesen als die Hinfälligkeit der menschlichen Erscheinung; ich spürte mit mei-nem eigenen Fleisch die vielfältigen Schmerzen der Mißhandlungen, des Hungers,der Angst und der Verzweiflung, die all die Ungezählten hatten erdulden müssen,welche ahnungslos und ohne eigene Schuld in das Chaos geraten waren, das sichzwischen zwei Zeitaltern erstreckte.“215

Krieg und Nachkrieg werden von Lange in der Kontinuität eines das ganzezwanzigste Jahrhundert kennzeichnenden ‚Zersetzungs‘-Prozesses eingestellt,der mit Primitivismus, Sozialismus und Rationalismus konnotiert ist.216

211 Lange, Landschaftliche Dichtung, S. 23.212 An der russischen Front notierte er im Oktober 1942: „Eine Epoche hört auf, eine neue

beginnt. Die Vorzeichen der untergehenden kennen wir einigermaßen, die der kommendensind uns gänzlich unbekannt. Am schlimmsten sind die Zwischenzeiten, in denen sich beidesvermischt, und wo die Ordnung aufgehoben ist, welche die Menschen brauchen, um inWahrheit zu leben und nicht bloß, wie eben jetzt, zu vegetieren“ (Lange, Tagebücher aus demZweiten Weltkrieg, S. 116 [29. Juli 1943; Hervorhebung im Text]).

213 Vgl. Lange, Bücher nach dem Kriege, S. 9: „[D]ie Erde bebte nicht, die Sterne fielen nichtvom Himmel, kein Komet hatte es angekündigt, die Natur verhielt sich ruhig, nirgendwogeschahen Zeichen und Wunder, – am wenigsten dort, wo der Frieden so sehnlich erharrtworden war: in der Brust des Menschen. Es endet genau so, wie es begonnen hatte: ganzgewöhnlich – die apokalyptischen Signaturen betrafen nicht das Ganze –, es begann mitHysterie und uneingestandener Angst, und es ging mit Erschöpfung und offenbar geworde-ner Angst zu Ende.“

214 Lange, Ein Schwert zwischen uns, S. 11.215 Ebd., S. 114.216 Vgl. dazu auch folgende Erzählerreflexion aus dem zweiten Nachkriegsroman: „Eigentlich

wurde der Krieg gar nicht mit Kanonen, mit Maschinengewehren, Panzern, Handgranatenund Minen, sondern mit Zahlen geführt, die das, was beim ersten Anblick völlig chaotisch zusein schien, dadurch ordneten, daß sie es mit Nennern versahen. In der Zahl verbarg sich der

Kolportage und Eschatologie in den späten Romanen 257

Dies lässt sich auch an dem 1956 veröffentlichten Roman VerlöschendeFeuer beobachten, der im Berlin des Jahres 1943 während der alliiertenBombenangriffe spielt – und damit zu den wenigen Werken der deutschenLiteratur gehört, die den Bombenkrieg thematisieren.217 Allerdings bildenBombenangriffe und Krieg nur die Kulisse einer traditionell erzählten tragi-schen Liebesgeschichte.218 Auch dieser Roman weist kolportagehafte Zügeauf. Im Mittelpunkt stehen der junge Soldat Hans, der mit einer Augenver-letzung von der Front nach Berlin auf Krankenurlaub gekommen ist, unddie Studentin Blanche. Inmitten der äußeren Zerstörungen entwickelt sichein privates Glück, bis ein desertierter Freund von Hans auftaucht, sich inder Wohnung von dessen Mutter versteckt, dort verraten, entdeckt underschossen wird. Beide fürchten daraufhin, dass Hans als Mitwisser verdäch-tigt und verurteilt werden wird. Als eine Militärpatrouille vor BlanchesHaus erscheint, stürzt sich Blanche aus dem Fenster in den Tod, wohinHans ihr folgt, indem er sich auf der Flucht erschießen lässt.

Wie so oft bei Lange, fällt die Zukunft den Schatten der Vergangenheitzum Opfer; sein Held vermag dem Krieg nicht zu entkommen. Die beidenspäten Romane unterscheiden sich jedoch von den früheren Erzählungendadurch, dass sie der Schicksalsverfallenheit der menschlichen Natur nichtmehr die Alternative einer ‚sachlichen‘ oder ‚mythischen‘ Bewusstseinsformentgegensetzen. Während Lange die Überwindung von Natur und Zeit inAm kimmerischen Strand noch durch mythische Stilisierung glaubhaft zumachen versuchte, bebildert er nun nur noch die Allmacht dämonischerNaturkräfte.219 Die Figur des Opfers wird in Verlöschende Feuer daher auch

Haß, der die Völker dazu brachte, sich zu zerfleischen […]“ (Horst Lange, Verlöschende Feu-er, Stuttgart 1956, S. 116 [Hervorhebung im Text]).

217 Vgl. dazu W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, München/Wien 1999, der Langes Romanallerdings nicht kannte. Über Langes Schreibintention berichtete Oda Schaefer, ihr Mannhätte schon während ihres Zürich-Aufenthalts 1947/48 den Plan zu einem „BerlinerRoman“ entwickelt, in dem er „den grauenvollen Angriff auf Berlin vom 22. November1943“ schildern wollte (Schaefer, Die leuchtenden Feste über der Trauer, S. 137 und 147).

218 In den zeitgenössischen Rezensionen wurde die Verknüpfung von Kriegsdarstellung und Lie-besgeschichte unterschiedlich bewertet. Während Roland H.Wiegenstein Lange ein klischee-haftes Vorgehen attestierte, bei dem der Krieg mythologisiert und die Liebe sentimental als„letztes Refugium des Sinns“ vorgestellt werde (Roland H. Wiegenstein: o.T. [Rezension], In:Frankfurter Hefte 12 [1957], S. 63 f., hier S. 63), beurteilte Franz Schonauer die Integrationder Liebesgeschichte in den Kriegsroman als „bemerkenswerte[n] Vorstoß gegen die Ideologievon der Souveränität des Krieges über das Individuelle, Menschliche“, der den Roman trotzliterarischer Schwächen positiv von der sonstigen Kriegsliteratur abhebe (Franz Schonauer,Zu neuen Kriegsbüchern, in: Neue deutsche Hefte 3 [1956/57], S. 591–595, hier S. 595).

219 Vgl. beispielsweise folgende Passage, in der der Held erzählt, wie sich die Frauen ermordeterrussischer Bauern unmittelbar nach demMassaker unter den an Bäumen hängenden Leichenihrer Männer deren Mördern hingaben: „Oben aber, in den Ästen, hingen riesige schwarze,klumpige Früchte, noch waren sie nicht reif, aber eines Tages, im spätesten Herbst unseresZeitalters, würden sie aufplatzen und ihre entsetzliche Saat über den ganzen Erdball ver-streuen …“ (Lange, Verlöschende Feuer, S. 153).

258 Horst Lange

nicht mehr in der Bedeutung eines Übergangs zur Existenz, sondern imSinne einer Erlösung vom Leben verwandt.220 Diese Erlösung fällt amEnde des Romans mit dem Tod zusammen:

Wie aus weiter Ferne hörte er, daß sie ihn riefen. Als er, zugleich mit den Ab-schüssen, die beiden starken Schläge spürte, vermeinte er, mit seiner allerletztenErinnerung das Wort ERLÖSUNG zu sehen, zu vernehmen, zu schmecken, zuempfinden.221

Man kann feststellen, dass Lange seine dualistische Anthropologie in denTexten aus den fünfziger Jahren ähnlich wie schon im ersten Roman engmit eschatologischen und gnostischen Denkfiguren verknüpft.222 Dadurchrückt die Vorstellung der Naturverfallenheit des Menschen in eine kosmolo-gische Dimension. So zitiert der Autor in Ein Schwert zwischen uns dengnostischen Menschheitsmythos von der unvollendeten Schöpfung undbeschreibt den Menschen als ein zwischen Licht und Dunkel, Geist undMaterie hängendes Zwitterwesen: „alles war in den Schöpfungstagen ge-glückt, nur dem Menschen haftete etwas an, das nicht vollendet wordenwar…“.223 In Langes Romanen bringen Krieg und Gewaltherrschaft diesenursprünglich gegebenen Mangel in der conditio humana nur besonders klarzum Ausdruck – und sind insofern sinnvoll, als sie damit auch die Erlö-sungsbedürftigkeit des Menschen offenbar werden lassen:

Der Mensch muß wohl seiner Natur nach ein Sklave sein – nicht nur der Menschdieser Gegenwart, sondern auch der aller vergangenen Zeiten […]. Er ruft durchseine Unzulänglichkeit und durch seine schlechten Eigenschaften die Brutalitätjener Machthaber hervor, die ihn seit jeher immer gepeinigt haben, er kniet vorihnen, er vergottet sie […]. In der Tyrannei offenbart sich die unerlöste Natur desMenschen am schamlosesten […].224

220 Den Opfergedanken bringt Lange durch ein dem Roman leitmotivisch vorangestelltes Zitataus Goethes Die Braut von Korinth ins Spiel: „Opfer fallen hier,/Weder Lamm nochStier,/Aber Menschenopfer unerhört“ (Lange, Verlöschende Feuer, o.S.).

221 Ebd., S. 254 (Hervorhebung im Text).222 Der Bezug auf die Eschatologie wird schon an dem nach Angabe Oda Schaefers von Lange

für Verlöschende Feuer ursprünglich vorgesehenen Romantitel „Und der Mond ward wieBlut“ deutlich, einem Zitat aus der Offenbarung des Johannes, das schon Ernst Bloch in sei-ner Geschichtseschatologie Geist der Utopie (1918/1923) aufgriff und mit einer gnostischenBedeutung versah: „wenn uns Luft und Boden entzogen werden, die Sonne wird schwarz wieein härener Sack und der Mond wie Blut, wenn uns Unfertigen, Zufluchtlosen dermaßenalle Weltzeit, das Weltgesicht erlischt, in den rasenden, vom Teufel selber angeführten Gewit-terstürmen der Weltmitternachtszeit, im unermeßlichen Zusammenbruch aller Grundvestenund Firmamente […], herrscht Satans apokalyptischer Zeitpunkt“ (Ernst Bloch, Geist derUtopie, bearbeitete Neuauflage der zweiten Fassung von 1923, Frankfurt a.M. 1964 [= ErnstBloch, Gesamtausgabe, Bd. 3], S. 338 f.).

223 Lange, Ein Schwert zwischen uns, S. 205.224 Lange, Verlöschende Feuer, S. 182.

Kolportage und Eschatologie in den späten Romanen 259

Die gesamte Menschheitsgeschichte erweist sich in dieser Perspektive als einunter der Herrschaft der Natur stehender Abfall vom göttlichen Geist.Daher ist auch die Vorstellung, diesen Prozess durch Eindämmung dermenschlichen Natur aufhalten oder überwinden zu können, bloße Illusion.Erlösung ist allein als Zerstörung der Natur denkbar.

260 Horst Lange

VI. Egon Vietta

1. Der „wirkliche Jahrgang 1902“

In der Zeitschrift Querschnitt, dem publizistischen Flaggschiff der NeuenSachlichkeit, erschien im Dezember 1929 eine Verlagsanzeige, mit der mandie Aufmerksamkeit geschickt auf einen neuen Roman zu lenken versuchte:„Berlin – letzte literarische Entdeckung. Fünfzig Autoren schreiben vereintüber Berlin, Döblins großes Romanwerk ist in aller Munde. Noch einermeldet sich, der junge, unbekannte Autor Egon Vietta mit seinem Engel imDiesseits. Ein schmales Buch, das erfüllt ist von dem nächtlichen Glitzernder schwimmenden Atmosphäre dieser Riesenstadt.“1 Literaturgeschicht-lich signifikant an der Werbeanzeige ist vor allem die Art und Weise, wie sieden neuen Autor im literarischen Feld um 1930 positioniert. Wird nämlichViettas Roman zu Beginn des Anzeigentextes noch in den Kontext neusach-licher Großstadtliteratur gestellt und mit Filmtechnik und Montage inZusammenhang gebracht, so erscheint er am Ende als erstes Zeichen für diekommende Überwindung eben dieser Richtung: „Hier bricht die neueGeneration durch, der rasende Unglaube an die bis dato selig machendeSachlichkeit. Nur die kommende Generation, der wirkliche Jahrgang 1902,vermag so zu schreiben.“2 Die polemische Abgrenzung vom ‚Jahrgang1902‘ weist die – von Vietta selbst verfasste? – Annonce als eine frühe Mani-festation des Diskurses einer nicht-mehr-sachlichen ‚jungen Generation‘aus.3 Dass der Autor diesem Diskurs folgte, zeigt unter anderem sein bereitsan früherer Stelle zitierter Aufsatz über Martin Heidegger und die Situationder Jugend aus dem Jahr 1931, in dem er mit der neusachlichen ‚Jugend‘abrechnete, die mit der „Arroganz des Gestrigen“ auftrete, in ihrer Literaturnur eine „primitiv verstandene Realität“ konstruiere und kein Organ für die„philosophischen Grundströmungen der Zeit“ habe.4

Egon Fritz, der sich als Autor Egon Vietta nannte,5 gehörte zu derGruppe von jungen, durch Phänomenologie, Existenzphilosophie und Phi-

1 [Anzeige], in: Der Querschnitt 9 (1929), H. 12, S. 876.2 Ebd.3 Zum Generationsdiskurs um 1930 siehe Kap. II, 1.4 Egon Vietta, Martin Heidegger und die Situation der Jugend, in: Die Neue Rundschau 42

(1931), 2. Teilbd., S. 501–511, hier S. 510.5 Egon Vietta (1903–1959) wurde als Karl Egon Fritz in Bühl geboren, studierte Rechtswis-

senschaft und Philosophie in Berlin und Freiburg, u. a. bei Husserl und Heidegger. 1929

losophische Anthropologie geprägten Intellektuellen, die um 1930 publizis-tisch hervortrat und sich für eine kulturelle Erneuerung auf Grundlage desneuen, ‚philosophischen‘ Menschenbildes einsetzte – dabei aber zu geringeprogrammatische Zielstrebigkeit und literarische Wirksamkeit entfaltete,um als einheitliche Bewegung wahrgenommen zu werden. Dies mag mitein Grund dafür sein, dass es zu Vietta bisher keine Forschungsarbeitengibt. Hinzu kommt, dass sich seine literarische Tätigkeit, wie die vieleranderer Autoren seiner Generation, nicht in erster Linie auf dem Gebiet fik-tionaler Literatur entfaltete, sondern schwerpunktmäßig in der Essayistikund im essayistischen Reisebericht. Nach dem Engel im Diesseits (1929)erschien mit Corydon (1943) nur noch ein weiterer Roman.

Wie bereits am Beispiel Gerhard Nebels deutlich wurde, ist diese Präfe-renz für essayistisches Schreiben nicht als ein durch die Literaturpolitik im‚Dritten Reich‘ erzwungenes Ausweichen in vermeintlich unverfänglicheTextsorten zu verstehen. Sie ergibt sich vielmehr aus dem primär philoso-phischen Interesse dieser Autoren; und aus ihrer Überzeugung, dass sich dieWissens- und Kulturkrise der zwanziger Jahre allein durch eine Rückbin-dung des Denkens an das ‚Sein‘ oder, mit einem Ausdruck des auch fürVietta einflussreichen Ortega y Gasset, durch eine ‚vitale Perspektive‘ über-winden lasse.6 Der Maßstab, der „die flüchtigen Strömungen des Wissens“überdauere und „dem Wissen selbst Rückhalt“ gebe, sei „der Mensch“,schrieb Vietta Mitte der dreißiger Jahre, und: „der Schriftsteller, der sich derBezogenheit des Wissens auf das persönliche Sein am tiefsten bewußt“ blei-be, werde „zum Essayisten“.7 Die Essayistik, in der persönliches Erlebenund objektive Beobachtung ineinander verwoben sind, begriff er als Alter-nativmodell zur „Entpersönlichung des Denkens“ in den modernen Natur-wissenschaften, die allein das „experimentell belegbare Ergebnis der wissen-

machte er das Assessorexamen und war ab 1932 als Regierungsrat im Staatsdienst. MitBeginn seiner literarischen Tätigkeit am Ende der zwanziger Jahre nahm Fritz den Mädchen-namen seiner Mutter als Künstlernamen an und publizierte nach dem ersten Roman DerEngel im Diesseits und dem als selbständige Broschüre erschienenen Essay Die Kollektivisten(1930) am Beginn der dreißiger Jahre einige literatur- und zeitkritische Essays in der Literari-schen Welt, der Literatur und der Neuen Rundschau. Im ‚Dritten Reich‘ blieb Vietta im Staats-dienst und wurde im Mai 1937 Mitglied der NSDAP. (Vgl. die NSDAP-Ortsgruppenkarteiim Bundesarchiv Berlin, OK F0010.) Er schrieb in dieser Zeit für verschiedene Zeitschriftenund Zeitungen, unter anderem für Die Tat, Die Literatur, die Deutsche Zukunft bzw. DasReich und das Berliner Tageblatt. 1942–44 war er Hauptschriftleiter der Monatsschrift derDeutsch-Italienischen Gesellschaft Italien. 1944 kehrte er von einer Dienstreise nach Italiennicht nach Deutschland zurück und erlebte das Kriegsende in Italien. In der Nachkriegszeit,in der er als Dramaturg und freier Schriftsteller tätig war, veröffentlichte er einige dramati-sche Texte, zahlreiche Aufsätze zur modernen Literatur und Philosophie und machte sich vorallem als Theaterkritiker einen Namen.

6 Zur Rezeption Ortegas vgl. Egon Vietta, Ortega y Gasset, in: Die Literatur 33 (1930/31), H.9, Juni 1931, S. 494 f.

7 Egon Vietta, Der Essay, in: Die Literatur 37 (1934/35), H. 10, Juli 1934, S. 484–486, hierS. 484.

262 Egon Vietta

schaftlichen In- oder Deduktion“ als Wahrheit anerkennen würden.8 Dieauf andere Weise ebenfalls experimentelle, nämlich auf Objektivierung despersönlichen Erlebens zielende Verfahrensweise der Essayistik begründetein seinen Augen zugleich aber auch ihr „Eigenrecht“ gegenüber einem reindichterischen Wirklichkeitszugang.9

Die in den dreißiger und vierziger Jahren entstandenen Essays Viettaszur modernen Literatur, Philosophie und zum Tanz und vor allem seineessayistischen Reisebücher, in denen kulturgeschichtliches, ethnologisches,soziologisches und geographisches Wissen fast unmerklich in die Reflexionder ästhetischen Landschafts- und Naturwahrnehmung einfließt, können indiesem Zusammenhang als Versuche zur Umsetzung des um 1930 formu-lierten und mit dem Schlagwort von der ‚jungen Generation‘ verknüpftenProgramms kultureller Erneuerung betrachtet werden. Das Werk Viettaslohnt aber auch deshalb eine genauere Untersuchung, weil sich an ihm dieKontinuität dieses Programms bzw. dieser intellektuellen Haltung vomEnde der zwanziger Jahre bis in die fünfziger Jahre der Bundesrepublik ver-folgen lässt. Ähnlich wie im Fall Benns handelt es sich hierbei um die wenigbekannte Geschichte des Diskurses einer ‚anderen‘, nicht-liberalen ästheti-schen Moderne, mit der die Hoffnung auf eine Überwindung des neuzeitli-chen Rationalismus verknüpft ist. Die Ambivalenz vom Bekenntnis zurkünstlerischen Moderne einerseits und von fundamentaler Kritik desModernisierungsprozesses andererseits fand in Viettas Nachkriegspublizis-tik, etwa in seinen großen Essays über Eliot und Sartre, ihre deutlichste Aus-prägung. Sie lässt sich aber bereits an seinen Aufsätzen vom Anfang der drei-ßiger Jahre ablesen und kennzeichnet auch die ästhetische und gedanklicheKonzeption seines ersten Romans.

2. Ein ‚unsachlicher‘ Großstadtroman:Der Engel im Diesseits (1929)

Viettas erster Roman Der Engel im Diesseits erschien 1929 in dem kleinen,mehr kunst- und kulturgeschichtlich als literarisch ausgerichteten Freibur-ger Urban-Verlag – im selben Jahr wie Berlin Alexanderplatz. Interessanter-weise verbinden ihn mehr als das gemeinsame Erscheinungsdatum und diezeittypische Thematisierung der Metropole Berlin mit Döblins Großstadt-und Menschheitsepos. So operiert Vietta in seinem ambitionierten Erstlingmit allen Mitteln der modernen Romanästhetik, mit Wechseln zwischen

8 Ebd., S. 485 und 484.9 Ebd., S. 486. Als zeitgenössische Muster nannte Vietta die „kühnen Experimente Gottfried

Benns“ und die „suggestive Essayistik Ortega y Gassets“ (ebd.).

Ein ‚unsachlicher‘ Großstadtroman 263

auktorialer und interner Fokalisierung, einem sich teilweise dem Bewusst-seinsstrom annähernden Erzählmodus, mit episodischer Reihungsstrukturund angedeuteter Parallelmontage, mit expressiver und naturalistisch-mi-lieuhafter Sprachgestaltung. Zudem überhöht er die Großstadt ähnlich wieDöblin zum Raum mystischer Erfahrung und gestaltet die Geschichte sei-nes Helden als eine exemplarische Initiation.

Viettas Roman, dessen Handlung in den Revolutionswirren nach demErsten Weltkrieg einsetzt und dann in die Mitte der zwanziger Jahre springt,ist als kritische Diagnose der krisenhaften Bewusstseinslage der WeimarerRepublik angelegt. Dem dient schon die episodische Erzählstruktur, dieverschiedene, recht schematisch als Vertreter bestimmter sozialer und ideo-logischer Milieus charakterisierte Figuren nebeneinander stellt: den aske-tisch-zweckrationalen Aktivisten John Sachmann, der sich vom kommunis-tischen Revolutionär zum sozialdemokratischen Reichstagsabgeordnetenwandelt; den Proletarier Schulz, der auf der Suche nach Arbeit und einerwarmen Mahlzeit durch Berlin und das Umland wandert; den reichen Ban-kier und Lebemann Salomon; das richtungslose Mädchen Lilly (im Klap-pentext als ‚Garçonne‘ bezeichnet), das am Anfang mit dem RevolutionärSachmann zusammenlebt und später ins Großbürgertum einzuheiraten ver-sucht; und schließlich den Helden und Ich-Erzähler Vincent, der dasGeschehen beobachtet und reflektiert. Im Zentrum des Plots steht aber dieFigur des ‚Engels‘, Frau St. Ange, die sich nicht nur einer sozialen und ideo-logischen Klassifikation, sondern auch einer eindeutigen Verortung in der‚Realität‘ entzieht. Die Rätselhafte, die zu Beginn des Romans während derSpartakistenkämpfe auf mysteriöse Weise in Vincents Wohnung erscheint,sich später St. Ange nennt, zur Prostituierten und am Ende als Mörderinverhaftet wird, verknüpft die unterschiedlichen Handlungsstränge, da sie zuverschiedenen Zeiten mit allen anderen Figuren in Beziehung tritt. Sie bil-det aber auch deshalb das Zentrum der Handlung, weil ihre überirdisch-ir-dische Existenz das Denken und Handeln aller anderen Figuren entschei-dend motiviert. Indem diese immer neue Spekulationen über ihre wahreNatur anstellen und sich ihr auf die eine oder andere Weise zu nähernsuchen, stehen sie alle in ihrem Bann bzw. im Bann ihres eigenen Erkennt-nistriebes.

Die Funktion des Engels im Roman lässt sich daher am ehesten als dieeines Indikators beschreiben, der die geistige Konstitution der verschiede-nen Figuren und – dies die offenkundige Intention des Autors – die derEpoche insgesamt sichtbar macht: Im Umgang mit der im Engel verkörper-ten nicht-rationalisierbaren Erfahrung offenbaren die Romanfiguren dieintellektuelle Disposition der entzauberten Moderne. Die Extrempositionder rationalistischen Verkennung des Wunders überträgt Vietta dabei zweiFiguren, die gegensätzliche ‚Weltanschauungen‘ vertreten. Als entschiedenerLeugner des Engels tritt auf der einen Seite John Sachmann auf, den Vietta

264 Egon Vietta

nicht nur durch seinen Namen als prototypischen Vertreter des technisch-ökonomischen Fortschrittsglaubens und als eigentlichen Repräsentantendes Sachlichkeitsprinzips charakterisiert. Sachmann, der den Sozialismus als„Rechenexempel“ begreift und in seinem Denken allein „geradlinige Sach-lichkeit, orientiert an den wirklichen, nicht hypothetischen Vorgängen“zulässt, vermag in dem Engel nur eine Kokotte wie viele andere zu erbli-cken.10 Ebenso ignorant erweist sich auf der anderen Seite der nahezu alsantisemitische Karikatur gezeichnete Bankier Salomon, der zwar einemanderen Milieu, dem liberalen Großbürgertum, angehört, aber genau wieSachmann allein die Gesetze naturwissenschaftlicher Empirie und Kausali-tät gelten lässt. In der Mitte des Romans verwickelt Salomon Vincent aufeiner Cocktailparty zwischen Eiscreme, Zigarren, Jazz und Tango in einGespräch über Gott, in dessen Verlauf er Vincents ‚Engelshypothese‘ mate-rialistisch zu widerlegen sucht:

»Sagen Sie einmal allen Ernstes: wie stellen Sie sich überhaupt die leibliche Konfek-tion Ihres Engels vor? […] Soll er Flügel oder Schwimmflossen oder einen Schup-penleib haben? Geht er auf den Händen spazieren, schwebt er durch die Fenster insHaus, verkehrt er nachts in Wolken mit Gott und seinen Kollegen, was treibt ertagsüber, welche Unterwäsche zieht er an, wo besorgt er seine Geschäfte […].Wenn Sie jemand ins irdische Milieu versetzen, muß er den Betrieb mitmachen,wie alle anderen auch. Was man so Kausalgesetz nennt.«11

Während der sozialistische Funktionär Sachmann und der jüdische BankierSalomon zwei Spielarten des ‚modernenMenschen‘ repräsentieren, der jedermetaphysischen Erfahrung unzugänglich ist, zeigt sich allein Vincent emp-fänglich für das ‚Unwahrscheinliche‘.12Wie die Helden in den Romanen desvon Vietta verehrten Dostojewskij ist er eine zwischen Glaubenswunsch undZweifel zerrissene Figur, die sich lange dagegen wehrt, die in der ursprüng-lichen Erscheinung unmittelbar erfahrene, aber nicht rationalisierbare Exis-tenz des Engels zu akzeptieren. Die Geschichte des Helden wird so zum Pro-zess einer schmerzhaften und angstbegleiteten Loslösung von der rationalen,in den Kategorien raum-zeitlicher Kausalität begründeten Realitätskons-truktion.Mit dem „unnatürliche[n] Zorn, den wir gegen das Unwahrschein-liche empfinden“, dem „Haß gegen die Phantastik des inneren Jenseits“lehnt er sich gegen seine Erfahrung auf, erleidet einen Wahnsinnsanfall, indem er schweißgebadet und „gepeinigt von den heulenden Schatten“ durchseine Wohnung rast, bekennt sich schließlich in einer Art Widerrufsbrief anJohn Sachmann zu dessen Programm einer „klare[n], dingfeste[n] Sachlich-keit“ und kündigt an, von nun an „die Erledigung irgendeiner tatsächlichenArbeit betreiben“ und die „Pläne einer besseren Zukunft unterstützen“ zuwollen, „in der erlösenden Erkenntnis, für diese Erde und nichts anderes

10 Egon Vietta, Der Engel im Diesseits, Freiburg i. Br. 1929, S. 25 und 27.11 Ebd., S. 94 f.12 Ebd., S. 114.

Ein ‚unsachlicher‘ Großstadtroman 265

bestimmt zu sein“.13 Erst die erneute Begegnung mit dem inzwischen zurStraßendirne herabgesunkenen Engel und der Anblick seines von Armutund Laster verwüsteten Körpers widerlegt diese Auffassung: „Ich empfandmehr und mehr die Geringfügigkeit, die gottfeindliche Gesundheit, die Läs-terung, die sich in der Welt der Tatsachen dokumentiert.“14 In einer christo-logisch figurierten Wendung wird Vincent durch die Passion des irdischenEngels, der sich schließlich nochmit einemMordgeständnis der Justiz auslie-fert, von seinem Zweifel geheilt. Am Ende wiederholt sich die Epiphanie desBeginns, die nun nicht mehr zweifelnd abgewehrt, sondern zur überwälti-genden Gewissheit wird. Der Erzähler wechselt dabei vom prosaischenBerichtsstil zur Redeform religiöser Prophetie:

Endlich kam ich daheim an. Die Schlüssel gingen schwer aus der Hand. Wie totließ ich mich ins Zimmer treiben. Auf meinem Sofa flammte die Sonne unbegreif-lich hell. Wann habe ich die Sonne je so strahlend hell, wann habe ich den Rauschder Strahlen je so fanatisch wild gesehen? Ich suchte es auf die Fensterspiegelungenzurückzuführen und wollte den Vorhang ein wenig zuziehen. Darum warf ichschnell den Mantel ab, umkreiste den Tisch und schritt eilig auf die starke Hellig-keit zu.Und sie schrie, wie ein Hahn den Morgen ausschreit. Herrliche Funken splitterte sie ab.Jetzt drehte sie den Kopf. Wir sahen uns in die Augen. Der Engel dehnte die Flügel unddas seidige Licht floß unaufhörlich von seiner Schulter in die Sandale. Er schenkte mirsein Antlitz wie eine Urkunde, in der Gott die Liebe zu den Menschen verbrieft. Er istmir erschienen wie dem Knaben Tobias. Stumm brach ich zu Boden.15

Die mystische Lichtmetaphorik und die Anspielung auf die Offenbarungdes Johannes dürfen nicht in der Weise verstanden werden, als würde Viettain seinem Roman auf die christliche Heilslehre rekurrieren. Die Differenzzur christlichen Sichtweise lässt sich gerade an der Figur des Engels fest-machen, der – in diesem Zusammenhang wird auch die programmatischeBedeutung des Titels erkennbar – nicht das jenseitige Gottesreich repräsen-tiert, sondern ganz dem ‚Diesseits‘ angehört. Anders als der dem jungenTobias erscheinende Erzengel Raphael, von dem das Buch Tobias im AltenTestament berichtet, ist der Engel St. Ange an seine leiblich-dingliche Exis-tenz gebunden. Und Vincent wandelt sich – so die Pointe des Roman-schlusses – nicht, weil er durch den Engel eine göttliche Offenbarung erhal-ten hat, sondern weil es ihm gelingt, das Göttliche in der gegenständlichenWelt wahrzunehmen und so die ausschließlich rationale Wirklichkeitskons-truktion zu durchbrechen.

Diese Konzeption von Transzendenz wird noch klarer, wenn man denintertextuellen Bezügen von Viettas Engel nachgeht, die zu Rilkes DuineserElegien führen – und erst über diese vermittelt zum Buch Tobias. Die von

13 Ebd., S. 114, 116 und 179 f.14 Ebd., S. 198.15 Ebd., S. 202 f. (Hervorhebung im Text).

266 Egon Vietta

Rilke mehrfach variierte Klage über die Abwesenheit der Engel – „Wer,wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel/Ordnungen?“, oder: „Wo-hin sind die Tage Tobiae,/da der Strahlendsten einer stand an der einfachenHaustür“ – bezeichnet exakt den Einsatzpunkt von Viettas Roman.16 Undsein Plot wirkt wie eine fiktionale Versuchsandordnung zu dem in der zwei-ten Elegie formulierten Gedanken: „Träte der Erzengel jetzt, der gefährliche,hinter den Sternen/eines Schrittes nur nieder und herwärts: hochauf-/schla-gend erschlüg uns das eigene Herz. Wer seid ihr?“17 In seinem wichtigen,zuerst 1936 publizierten Essay Über die Duineser Elegien, der sich strecken-weise wie eine nachgereichte Programmschrift zu dem frühen Roman liest,hat Vietta Rilkes Engel als Bild diesseitiger Transzendenzerfahrung bzw.‚Seinserfahrung‘ gedeutet. Die Gestalt des Engels in den Elegien sei „mittenim gegenständlichen Sein beortet“ und gehöre „nicht in die Welt der Wun-der“.18 Der Engel symbolisiere „die höchste und furchtbarste Leuchtkraftdes Seins“, den „Schmelzpunkt, in dem das Gegenständlich-Sichtbareumschlägt ins Sichtbare“.19 Vietta interpretiert Rilke hierbei im Licht derHeideggerschen Philosophie, die auch die zentrale philosophische Referenz-ebene seines ersten Romans ist. In diesem Zusammenhang setzt er das„Seinserlebnis, das in den Elegien aufbricht“, explizit der christlichen Erlö-sungstheologie entgegen, die „anthropozentrisch“ sei, da sie allein auf dieRechtfertigung des einzelnen Menschen ziele und Natur und Kosmos aus-klammere.20 Erst die Existenzphilosophie, angefangen bei Kierkegaard,habe sich von der „anthropozentrischen Wertung“ gelöst und den Men-schen „in einen seinsgeschichtlichen Kosmos“ gestellt.21

Auf diesem Hintergrund lässt sich die kulturkritische Perspektive, ausder der Roman das Berlin der zwanziger Jahre in den Blick nimmt, genauerbestimmen, und zwar als eine existenzphilosophisch geprägte Fundamental-kritik der modernen Zivilisation als Zustand der Seinsverlassen- und Seins-vergessenheit. So werden nicht nur die durch Sachmann und Salomonrepräsentierten Weltanschauungen des Marxismus und Liberalismus als ver-wandte Methoden rationalistischer Seinsverkennung präsentiert. Darüberhinaus scheint das hektische und ziellose Handeln aller Akteure im Grundevon dem einen Antrieb bestimmt zu sein, sich der gefürchteten Konfronta-tion mit dem ‚Undeutbaren‘ zu entziehen, die den Zusammenbruch ihrer

16 Rainer Maria Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, hg. v. Manfred Engel,Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl, Frankfurt a.M./Leipzig 1996, Bd. 1, S. 201und 205.

17 Ebd., S. 205.18 Egon Vietta, Über die Duineser Elegien, Hamburg 1939 (= Das Gedicht. Blätter für die

Dichtung, 5. Jg., Folge 5), S. 12. (Eine erste, kürzere Fassung des Aufsatzes erschien in: DieNeue Rundschau 47 [1936], 2. Teilbd., S. 1306–1318.)

19 Ebd.20 Ebd., S. 5 f.21 Ebd., S. 6 und 10.

Ein ‚unsachlicher‘ Großstadtroman 267

Realitätsvorstellung bedeuteten würde. Durch diese in der Figur des Engelsverkörperte Gefahr verleiht der Kulturkritik im Roman eine untergründigeeschatologische Dimension. Denn wenn die herrschende ‚Realität‘ nur derEffekt einer rationalistischen Denkform ist, dann vermag eine Veränderungdes Bewusstseins sie mit einem Schlag aufzuheben. Diese in der phänome-nologischen und existenzphilosophischen Kulturdiagnostik der zwanzigerJahre häufig anzutreffende Denkfigur findet sich auch in Viettas Aufsätzenaus den dreißiger Jahren. So heißt es im Essay über die Duineser Elegien:„Die kopernikanische Wendung unseres Seinsgefühls – ist selbst eine Ver-änderung des Seins.“22 Und im Heidegger-Aufsatz spricht er davon, dassdie fraglos hingenommene „Fiktion“ der „Realität“ im Vollzug der Existenzihre Macht verliere, wodurch es zu einer durchgreifenden „Erneuerung“ desMenschen komme.23 Eben diese Erneuerung durch einen Umschlag desDenkens und der Wahrnehmung gestaltet auch die Schlussszene des Engelsim Diesseits, in der der Held die konventionelle Realitätswahrnehmung hin-ter sich lässt und den Sprung in den „elementare[n] Abgrund“ wagt, vordem er sich bis dahin gefürchtet hat, weil er, wie ihm ein Geistlicher ineinem früheren Gespräch vor Augen führte, „die Mathematik nicht in Stü-cke schlagen“ und „nicht gegen den Sinn denken“ wollte.24

Auch wenn Vietta die ‚Erneuerung‘ im Sinne eines philosophischenRadikalismus bestimmt und den Bewusstseinswandel des Einzelnen denpolitischen ‚Ideologien‘ entgegensetzt, zeigt sein Roman doch deutlich, dassdiese Form seinsphilosophischer Zivilisationskritik in der Krisensituationder Weimarer Republik um 1930 alles andere als unpolitisch war. PolitischeBedeutung hat nicht allein die negative Parallelisierung von Liberalismusund Marxismus im Roman, in der er sich mit der zeitgenössischen deutsch-nationalen und nationalsozialistischen Propaganda gegen die WeimarerRepublik trifft, sondern vor allem die radikale Ablehnung alles ‚Politischen‘,die von Vietta später im Heidegger-Aufsatz expliziert wird. Anknüpfend anDostojewskijs Kritik am Westlertum polemisiert er dort gegen den für diemoderne Zivilisation repräsentativen „aufklärerische[n], positivistische[n],»politische[n]« Typ“, der das „Da-sein als eine Selbstverständlichkeit“nimmt und „alle Aktionsfreiheit auf die empirische Tatsachenwelt“, auf die„Änderung seiner Lebensbedingungen“ konzentriert; mit dem Begriff desPolitischen assoziiert er dabei eine Haltung von zweckgerichteter „Interes-siertheit“ bei gleichzeitiger philosophischer Verschlossenheit.25 Nach demMuster romantischer Modernekritik wird das moderne, technologischeWirtschaftssysteme allgemein kennzeichnende Prinzip funktionaler Diffe-renzierung und zweckrationaler Organisation als Erscheinungsform eines

22 Ebd., S. 12.23 Vietta, Martin Heidegger und die Situation der Jugend, S. 510 und 504.24 Vietta, Der Engel im Diesseits, S. 137.25 Vietta, Martin Heidegger und die Situation der Jugend, S. 502 und 504 f.

268 Egon Vietta

seinsfernen ‚Rationalismus‘ negiert. Gleichzeitig deutet der Text die Mög-lichkeit einer revolutionären Veränderung im Sinne der existentiellen ‚Ent-scheidung‘ an: Die „formalpolitische Aufgeschlossenheit“ kann durch die„Ingangsetzung des ganzen Menschen“, in „revolutionärem Schöpfertum“aufgehoben werden.26 Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird sich zei-gen, dass Vietta diese politisch-anthropologische und revolutionäre Akzen-tuierung der existenzphilosophischen Kulturkritik später als Deutungsmus-ter für den „nationale[n] Durchbruch“ des Jahres 1933 verwendete.27

3. Abkehr von der Neuen Sachlichkeit:Die Kollektivisten (1930)

Vietta hat die mit dem ersten Roman verknüpften zeitkritischen und litera-turprogrammatischen Ziele amAnfang der dreißiger Jahre in einer Reihe vonAufsätzen ausformuliert, mit denen er sich im politisch-literarischen Spek-trum der ‚jungen Generation‘ positionierte. Als programmatische Schrift istneben dem Heidegger-Aufsatz vor allem der längere Essay Die Kollektivisten(1930) anzusehen, der ein Jahr nach dem Engel im Diesseits als eigenständigeBroschüre ebenfalls im Freiburger Urban-Verlag erschien. Mit dem Aus-druck ‚Kollektivisten‘ bezeichnet Vietta darin zunächst die sowjetischenSchriftsteller, deren Arbeit vollständig zur Durchsetzung staatlicher Aufbau-programme in Dienst genommen und vom „Zweckgedanken unterjocht“wird.28 Er weitet das Bedeutungsfeld des Begriffs dann aber schnell aus undbezieht ihn auf eine sachlich-realistische, an ‚Tatsachen‘ orientierte Schreib-weise. Als „Kollektivismus“ gilt ihm „der gesamte moderne Wille zumBericht“, der den „versachlichten Stil popularisiert“ bzw. den „berichtmäßi-gen Stil“ durch den „Bericht“ ersetzt habe.29 Aus der Kritik an der sowjeti-schen Agitationsdichtung wird so eine grundsätzliche Auseinandersetzung

26 Ebd., S. 505 und 510. – Am Ende des Heidegger-Aufsatzes verbindet Vietta die Vorstellungeiner philosophischen Wende mit der Idee der Eliteherrschaft, die er zugleich gegen die Kri-tik in Schutz nimmt, politisch reaktionär zu sein: „Auch jener übel beleumdete Begriff derReaktion verliert jeden Sinn, wenn der Einzelne sich in lückenloser Gegenwärtigkeit zumEinsatz bringt. Denn Reaktion bedeutet Sinngebung der Gegenwart aus der Vergangenheit.Nur dort, wo der Mensch wesentliche Kräfte seines Selbst zum Erlahmen verurteilt unddamit seiner Verfügungsmacht entzieht, ist überhaupt Reaktion möglich (also beispielsweisein der einseitig politischen Position). Wo die Gegenwart in ihrer Fülle ausgeschöpft wird,kann alle Sinngebung, auch die des Vergangenen, nur aus dem Gegenwärtigen resultieren“(ebd., S. 511).

27 Egon Vietta, Die Bannmeile des Schöpferischen, in: Die Literatur 36 (1933/34), H. 2,November 1933, S. 69–72, hier S. 69.

28 Egon Vietta, Die Kollektivisten, Freiburg i. Br. 1930, S. 6.29 Ebd., S. 9.

Abkehr von der Neuen Sachlichkeit 269

mit den ästhetischen und intellektuellen Tendenzen, die in den zwanzigerJahren mit dem Schlagwort der ‚Neuen Sachlichkeit‘ belegt wurden.

Bezeichnend für Viettas Argumentation ist, dass er ein politisches Phä-nomen mit einem ästhetischen, eine politische Funktionalisierung mit einerästhetischen Orientierung identifiziert. Vordergründig dient dies dazu, einebestimmte literarische Richtung – er bezieht sich insbesondere auf Brecht –als Tendenzliteratur zu diskreditieren. Genau besehen entspricht dieseGleichsetzung aber einer phänomenologischen Betrachtungsweise, die allekulturellen Erscheinungen auf eine bestimmte Wahrnehmungsform oder,in Heideggers Terminologie: auf ein bestimmtes ‚Seinsverhältnis‘ zurück-führt. Die politische Funktionalisierung von Literatur und die Versachli-chung des Stils erscheinen in dieser ebenso radikalen wie unscharfen Per-spektive als Ausdruck derselben zweckhaft-empirischen Wahrnehmung, diedie Welt nur als Tatsache oder, so der von Vietta benutzte Ausdruck, als‚Tatbestand‘ begreift. Der „Tatbestand“ ist „unter einem gewissen Blick-punkt auserlesenes und derart ‚gebrandmarktes‘ Material“, schreibt er.30

Worte wie ‚Sachlichkeit‘ oder ‚Kollektivismus‘ bezeichnen bei ihm in einemspeziellen Sinne die Privilegierung eines sekundären, uneigentlichen Seins-modus, wodurch ein ‚primäres Seinsverhältnis‘ verhindert wird.31

Damit ist bereits der Fluchtpunkt bezeichnet, den Viettas fundamentaleKritik an der liberalen Weimarer Kultur anpeilt: Das uneigentliche Seins-verhältnis ist allein durch einen radikalen Wandel der Wahrnehmung,durch den Schritt aus der Alltäglichkeit in die Existenz zu überwinden,wofür Vietta den Begriff der ‚anderen Wirklichkeit‘ einsetzt: „Die ‚andereWirklichkeit‘ ist das Entscheidende schlechthin, vor ihr verblassen Kollektivis-mus und Individualismus wie das gesamte öffentliche Dasein zu vagenSchemen.“32 Anders als die „pure Tatsachenwelt“ sei sie keine „Ideologie“,schreibt Vietta; sie stehe „außerhalb aller Begriffe dieser Welt“ und sei „dochnicht ein übernatürliches Jenseits“, allerdings „das absolute ‚Jenseits‘ der his-torisch und soziologisch faßbaren Ereigniskreise“.33 Hier operiert er wie-derum mit der Denkfigur des Umschlags bzw. der Entscheidung, der Vor-stellung, „durch einen ‚Federstrich‘ die soziologisch bestimmte Wirklichkeitzu vernichten“.34 Und markiert zugleich die Differenz zwischen demNicht-Rationalisierbaren – oder ‚Arationalen‘, wie er es an späterer Stellenennt,35 – und dem Irrationalen, die schon an der Konzeption des Engels

30 Ebd., S. 8.31 Vietta bezieht sich hierbei auf Heideggers Kritik des ‚Man‘. Vgl. Martin Heidegger, Sein und

Zeit. Erste Hälfte, 2. Aufl., Halle a. d. S. 1929, S. 126–130.32 Vietta, Die Kollektivisten, S. 13 (Hervorhebung im Text).33 Ebd., S. 14 und 30.34 Ebd., S. 30.35 Vgl. Egon Vietta, Hermann Broch, in: Die Neue Rundschau 45 (1934), 1. Teilbd.,

S. 575–585, hier S. 575.

270 Egon Vietta

zu Roman beobachten war. Das Spezifikum der ‚anderen Wirklichkeit‘ liegtdarin, dass sie nicht positiv, etwa im Sinne einer religiösen oder politischenIdee, sondern nur negativ zu bestimmen ist. Die ‚andere Wirklichkeit‘ ent-steht, so Viettas entfernt an Husserls Verfahren der phänomenologischenReduktion erinnernder Gedankengang, durch „Entwirklichung“, durcheine Einstellung des Bewusstseins, bei der in der Wahrnehmung der Dingevon allen zeitlich-kausalen Bezügen abstrahiert wird.36

Mit den Kollektivisten und den anderen in diesem Zeitraum entstande-nen Aufsätzen versucht der Essayist, die neue ‚philosophische Wesenslehre‘,insbesondere die Heideggersche Variante der Existenzphilosophie, in dieliterarische und kulturpolitische Auseinandersetzung während der Krisen-zeit um 1930 hineinzutragen und programmatisch zu funktionalisieren.Seine „philosophisch fundierte Radikalität“ richtet sich dabei in erster Liniegegen den in seinen Augen hegemonialen, an ‚Fortschrittlichkeit‘ und ‚Ak-tualität‘ ausgerichteten Diskurs der linksliberalen Intelligenz, als dessenwichtigstes Organ er dieWeltbühne attackiert.37 Besonders auffällig ist, dassVietta der dem rechten Lager verhassten und nach der ‚Machtergreifung‘sofort verbotenen Zeitschrift Tucholskys und Ossietzkys außer ihrer ver-meintlichen Ignoranz gegenüber ‚philosophischen‘ Fragestellungen auchvorwirft, eine ästhetisch reaktionäre Haltung einzunehmen. Die Weltbühne

36 Vietta, Die Kollektivisten, S. 30.37 Ebd., S. 26. – Während Vietta sich mit seinem Roman aus dem Jahr 1929 und mit seinen

Beiträgen in der Literarischen Welt und der Neuen Rundschau vom Anfang der dreißiger Jahrenoch innerhalb, wenn auch am rechten Rand des liberalen kulturellen Spektrums bewegte,positionierte er sich erstmals mit der Kollektivisten-Broschüre und dann vor allem mit seinenab 1933 in der Literatur veröffentlichten Beiträgen deutlich erkennbar im rechten Lager. Inseinem Antrag auf Mitgliedschaft im Reichsverband Deutscher Schriftsteller vom 23. Juli1933 bemüht er sich, einen möglichen Zweifel, der sich an seiner früheren Mitgliedschaft inder SPD entzünden könnte, mit dem Hinweis auf seine schon vor der ‚Machtergreifung‘vollzogene Rechtswende zu entkräften: „Meine letzten wissenschaftl. Arbeiten wurden vonden demokrat. Zeitschriften wegen Rechtsorientierung abgelehnt, (1931, 1932!) trotzdem esAuftragsarbeiten waren“ (Bundesarchiv Berlin, RK B0049). In einem später für die Reichs-schrifttumskammer verfassten Lebenslauf führt er die Kollektivisten-Schrift als Beleg für seinefrühe antikommunistische Orientierung an und versucht gleichzeitig, seinen ersten Romanzu bagatellisieren: „Die Beschäftigung mit der Philosophie Heideggers wurde für meine lite-rarische Arbeit richtunggebend. Das erste Ergebnis dieser Auseinandersetzung war eine Bro-schüre gegen die »Kollektivisten« (1931 erschienen), in der ich die unhaltbaren und zerstöre-rischen Thesen Brechts und seiner Ideologie nachzuweisen suchte. Die kurze und sehrkonzentrierte Schrift […] ging schliesslich zur eigenständigen, geschichtsphilosophischenFragestellung über. Hiervon ausgehend baute ich meine Arbeit über die antirationalistischenStrömungen in Europa mehr und mehr aus. […] Während diese mehr wissenschaftlicheTätigkeit dem geistigen Kampf gegen den Kommunismus als Spielart des europäischenRationalismus galt, habe ich in Erzählungen und unveröffentlichten Romanen – äussereGründe haben den Druck der teilweise schon angenommenen und gesicherten Arbeitenverhindert – eine irrationale und metaphysische Welt einzufangen versucht. Ein künstlerischvöllig unbedeutender Roman ist 1929 erschienen, aber vergriffen“ (Bundesarchiv Berlin, RKB0049).

Abkehr von der Neuen Sachlichkeit 271

zeige eine „Hilflosigkeit gegenüber dem leitenden geistigen Prozeß derZeit“, die ‚reaktionär‘ sei: „Sie versagt gegenüber der modernen Musik, derPhänomenologie, unserer wesentlichsten Literatur“.38 Der Autor kritisiertden ‚fortschrittlichen‘ bzw. ‚sachlichen‘ Diskurs also nicht von einem kul-turkonservativen Standpunkt aus, sondern beruft sich auf die künstlerischeModerne. Neben Rilke führt er in seiner Schrift Kafka und Proust ins Feld,die „gerade nicht die soziologisch oder wirtschaftlich bestimmte Wirklich-keit zum Thema“machten, sich gleichwohl aber mit der „alltäglichen Reali-tät“ befassten.39 Proust nennt er sogar einen der „größten Fanatiker derWirklichkeitsschau“, dessen Darstellung des Alltäglichen „in eine andereWirklichkeit tief hineinreicht“.40

Solche Passagen, in denen die ‚seinsphilosophische Wende‘ mit Ten-denzen der ästhetischen Moderne parallelisiert wird, operieren mit einerOpposition von ästhetischer Modernität und modernem Rationalisierungs-prozess, die die kulturkritische und kunstprogrammatische Argumentationvieler Vertreter der ‚jungen Generation‘ bestimmt und die noch in denZeitdiagnosen der frühen fünfziger Jahre virulent ist.41 Die Kritik anBrecht oder am Reportageroman zeigt allerdings, dass sich Vietta dabei nurauf bestimmte Tendenzen der ästhetischen Moderne bezieht: Es ist ins-besondere die antinaturalistische Kunst und Literatur, die in seinen Augendie rationalistische Realitätskonstruktion durchbricht und die ‚andereWirklichkeit‘ erfahrbar macht. Daraus ergibt sich seine Ablehnung des‚Tatsachenromans‘ einerseits und seine Anerkennung der experimentellenRomanästhetik von Joyce und Proust andererseits.42 Diese Auffassungerklärt auch die Verwendung avantgardistischer Elemente in seinem eige-nen ersten Roman, dessen Sprache expressionistische Züge aufweist unddessen Bewusstseinsdarstellung in einigen Passagen von Joyce inspiriert zusein scheint.43

38 Vietta, Die Kollektivisten, S. 26.39 Ebd., S. 18.40 Ebd.41 Siehe hierzu Kap. VIII.42 Als ‚Tatsachenroman‘ bezeichnet Vietta sowohl den neusachlichen Reportageroman als auch

den psychologisch-realistischen Roman des 19. Jahrhunderts. Vgl. Egon Vietta, Zum Tatsa-chenroman, in: Die Literatur 36 (1933/34), H. 8, Mai 1934, S. 453–454.

43 Von Viettas Bestreben, sich in seiner Schreibweise an ausgewählten Mustern der literarischenModerne zu orientieren, zeugen auch drei kurze, in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre ver-öffentlichte Erzählungen: In der Novelle Revolution in Kaff (in: Die literarische Welt 6[1930], Nr. 10, 7. März 1930, S. 3 f., Nr. 11, 14. März 1930, S. 4, Nr. 13, 28. März 1930,S. 7 f. und Nr. 14, 4. April 1930, S. 7) erzählt er im Stil der grotesk-satirischen Novellen desExpressionismus, etwa von Döblin oder von Ehrenstein, die Geschichte einer bürokratischverordneten Revolution in einem Provinznest. Als thematisch verwandt, in der Schreibweiseaber eher dem Berichtsstil Kafkas verpflichtet erweist sich die NovelleDer Registrator (in: DieNeue Rundschau 43 [1932], 2. Teilbd., S. 493–513), in der ein von der Idee eines perfektenarchivalischen Ordnungssystems besessener Beamter allmählich dem Wahnsinn verfällt.

272 Egon Vietta

4. Von den ‚Tatsachen‘ zur ‚Totalität‘.Vietta und die künstlerische Moderne

Viettas Ambivalenz gegenüber ‚der Moderne‘ kennzeichnet seine Positioninnerhalb der kulturellen Auseinandersetzung am Ende der WeimarerRepublik ebenso wie – unter veränderten politischen und diskurspolitischenRahmenbedingungen – in der Anfangszeit des ‚Dritten Reichs‘. Nachdemdie von ihm bekämpfte Richtung ‚aufklärererisch-rationalistischen‘ Den-kens durch Verbot und Verfolgung weitgehend aus dem kulturellen Systemausgeschlossen worden war, veränderte sich die Zielrichtung seiner Kritik.Nun bemüht er sich in seinen Zeitschriftenartikeln darum, der ‚philoso-phisch fundierten Radikalität‘ und der mit ihr verknüpften Ästhetik Ein-fluss im ‚Dritten Reich‘ zu verschaffen. Ähnlich wie Gottfried Benn vertei-digte Vietta die „formalen Durchbrechungsversuche“ der Avantgarde, etwadie „Ästhetik des »Ulysses«“, in der kulturpolitischen Übergangsphase derJahre 1933/34 gegen die „weltanschaulichen Vorbehalte“ – gemeint war dienaturalistische Geschmacksdisposition – des breiten Publikums mit demArgument der größeren Seinsnähe.44

Im Broch-Essay erklärt er die Krise des Romans als „bedingt durch dieKrise des positivistisch-naturwissenschaftlichen Weltbildes“.45 Und dieDurchbrechung der psychologisch oder sozial realistischen Darstellungbeschreibt er als Weg zu einem ‚arationalen‘ Weltverhältnis bzw. zur Über-windung des Anthropozentrismus. Insbesondere im Rilke-Essay entwickelter eine existenzphilosophische Ausdeutung der antinaturalistischen Ästhe-tik, die für sein Verhältnis zur literarischen Moderne bis in die Nachkriegs-zeit bestimmend bleiben wird. Die Duineser Elegien vermitteln seiner Mei-nung nach ein spezifisch modernes Seinserlebnis, das anders als das antikenicht mehr „ins bildliche Sein drängt“ und an „Sichtbarkeit“ gebunden ist,sondern sich „zum Unsichtbaren hin bildet“.46 Er parallelisiert die dinglicheMystik Rilkes dabei mit aktuellen Abstraktionstendenzen in den Naturwis-senschaften, insbesondere in der modernen Physik. Die „Entdinglichung

Offensichtlich nach dem Vorbild von Thomas Manns Tod in Venedig gearbeitet ist dagegendie Novelle Barcarole (in: Die Neue Rundschau 45 [1934], 1. Teilbd., S. 163–178), in derder Chemiker Torsten während einer nächtlichen Fahrt durch Venedig in die Abgründe hin-ter der bürgerlichen Alltagswelt blickt.

44 Vietta, Hermann Broch, S. 577. Zu Benn und der kulturpolitischen Situation 1933/34 vgl.Kap. VII, 5.

45 Vietta, Hermann Broch, S. 578.46 Vietta, Über die Duineser Elegien, S. 5. Vgl. dazu auch Uta Beiküfner, Naturauffassung und

Geschichtlichkeit im Kontext der Zeitschrift ‚Das Gedicht. Blätter für die Dichtung‘(1934–1944), in: Walter Delabar/Horst Denkler/Erhard Schütz (Hg.), Banalität mit Stil.Zur Widersprüchlichkeit der Literaturproduktion im Nationalsozialismus, Bern u. a. 1999(= Zeitschrift für Germanistik, NF, Beiheft 1), S. 199–216, hier S. 213 f.

Von den ‚Tatsachen‘ zur ‚Totalität‘ 273

des Seins“ in Rilkes Lyrik, so sein an ähnliche Aussagen Benns erinnernderGedanke, sei gerade der modernen Physik vertraut, die „die gegenstands-durchformte Welt“ ebenfalls in immer „ungegenständlichere Bezüge“auflöse.47 Damit wird einerseits die moderne Physik als eine Art Seins-beschwörung gedeutet, andererseits wird dem Dichter selbst eine quasi„wissenschaftliche Arbeitsweise“ attestiert.48 Sein Werk müsse „in die geis-tesgeschichtlichen Experimentalerlebnisse eingereiht werden, die mit Leo-nardo da Vinci“ einsetzten und „gerade in den jüngsten Jahrzehnten Trium-phe“ feierten.49

Wenn Vietta sich in dieser Weise für die künstlerische Moderne ein-setzt, dann bezieht er sich auf die Diagnose der Kulturkrise als Wissenskrise,die ihm unter anderen aus den Schriften Ortegas, Schelers, Jaspers’ undBrochs vertraut war. Wie viele Intellektuelle seiner Generation möchte erdie Zersplitterung der Wissens- und Wertsphären durch eine integrierendephilosophische Betrachtungsweise überwinden – bzw. durch eine neue„Wissensgebarung“,50 für die er Beispiele in der neueren Literatur und Phi-losophie, bei Rilke und Joyce, Scheler und Heidegger findet. In seinem län-geren Essay überHermann Broch (1934) referiert er dessen wissenschaftskri-tische Theorie vom ‚Zerfall der Werte‘ und bescheinigt diesem Autor „eineheftigere und andersartige Wendung zur Totalität, als sie das letzte Jahrhun-dert“ gekannt habe:51

An die Stelle des enzyklopädischen Wissens, der Wissenskartothek tritt die Fragenach der beherrschenden Mitte, aus der die einzelnen Wissenszweige entziffert wer-den müssen. Es kommt nicht auf universale Ausweitung des Wissensumfangs an,[…] sondern auf seine Intensivierung. Hinter dieser durchdringenden Sucht nachder Wurzel, demWesensgrund, aus dem heraus die Entscheidung über die Wissens-gebarung getroffen werden soll, steht ein fanatischer, neuartiger Radikalismus.52

Der Essayist teilt hier Brochs geschichtsphilosophisch dimensionierte Ana-lyse des Wissens- und Werterelativismus und zitiert zustimmend dessenFeststellung, dass die Kosmogonie „nicht mehr auf Gott“ ruhe, sondern„auf der ewigen Fortsetzbarkeit der Frage, auf dem Bewußtsein, daß nir-gends ein Ruhepunkt gegeben ist, […] daß jede Lösung bloß als Zwischen-lösung gilt und daß nichts übrigbleibt als der Akt des Fragens als solcher“.53

Einheit oder ‚Totalität‘ kann, so sein im folgenden vor allem Heidegger

47 Vietta, Über die Duineser Elegien, S. 9. (Die Bemerkung zur modernen Physik ist in der ers-ten Fassung des Essays von 1936 noch nicht enthalten.)

48 Ebd., S. 12 und 19.49 Ebd., S. 19.50 Vietta, Hermann Broch, S. 576.51 Ebd., S. 575.52 Ebd., S. 575 f.53 Ebd., S. 576. Vietta zitiert hier aus dem Exkurs über den ‚Zerfall der Werte‘ in Huguenau

oder die Sachlichkeit.

274 Egon Vietta

referierender Argumentationsgang, aber nicht durch die Einnahme einerbestimmten Wissens- oder Wertperspektive erreicht werden, sondern nurdurch den (in der Haltung der „Entschlossenheit“ vollzogenen) Rückgangauf ein vortheoretisches Sein.54

Diese seinsphilosophische Konzeption von Wissenstotalität hebt dieerkenntnistheoretische Differenz zwischen Wissenschaft und Kunst auf. Essei kein Zufall, schreibt Vietta, dass Heidegger, der „den absoluten Tren-nungsstrich“, den der Erkenntnistheoretiker zwischen Dichtung und wis-senschaftlicher Erkenntnis ziehe, nicht mehr kenne und in seinem eigenenPhilosophieren „die Grenzen zur Dichtung“ überschreite, „ohne die begriff-liche Arbeit des Philosophen gefährden zu wollen“.55 Auf gleiche Weisedeutet er die dekompositorische Technik der modernen Literatur: So wieHeidegger die philosophische Schreibweise der dichterischen annähere, soöffne sich diese der Philosophie. Die ästhetische Auflösung der „gegen-standsdurchformte[n] Welt“ in „ungegenständlichere Bezüge“ in den Dui-neser Elegien ist in dieser Perspektive nur der Reflex einer philosophischenTranszendierung.56

Mit seinem Plädoyer für eine antinaturalistische Ästhetik begab sichVietta auf das Feld der kulturpolitischen Auseinandersetzungen in derAnfangszeit des ‚Dritten Reichs‘. In seinen Aufsätzen griff er das Vokabularauf, mit dem die völkische Kulturkritik die künstlerische Moderne und ins-besondere die Avantgarde bekämpfte, veränderte aber die Referenzebene.Wenn er etwa im Broch-Essay von „vollkommene[r] Wertzertrümmerung“,„ungehemmte[m] Auflösungswillen“, „Desorganisation des Geistes“ undeiner „progressive[n] Paralyse des abendländischen Denkens“ sprach, dannbezog er sich nicht auf die Avantgarde, sondern vor allem auf die naturalisti-sche Kunstauffassung, die er ganz vom Geist des neuzeitlichen Rationalis-

54 Ebd., S. 576. Vgl. auch Viettas Erläuterungen zu Ortegas Methode des Perspektivismus:„Denn das »Ordnungsschema« der vielfältigen Perspektiven muß von einer Mitte ausbeherrscht sein, deren tiefe philosophische Verwurzelung besser als tragender Untergrunddenn als ausdrückliches Thema der Untersuchung verstanden wird.“ (Vietta, Ortega y Gas-set, S. 495)

55 Vietta, Hermann Broch, S. 576.56 Vietta, Über die Duineser Elegien, S. 9. – Im Broch-Essay erklärt Vietta die Lyrik Rilkes

direkt zum Medium existentiellen Philosophierens: „Es ist schließlich die Frage, ob dieseneuerweckten philosophischen Gehalte nicht der Dichtung geradezu bedürfen, im strengenWiderspruch zu der exakten Wissenschaft, welche solche Grenzverschiebungen als unwissen-schaftlich und dilettantisch verpönt.“ (Vietta, Hermann Broch, S. 576) Möglicherweisenahm der Essayist damit einen Hinweis von Heidegger selbst auf, der erklärt haben soll, dassRilke in dichterischer Sprache dieselben Gedanken ausgedrückt habe wie er in seinen phi-losophischen Werken. (Heideggers Bemerkung wird von J. F. Angelloz, Rainer Maria Rilke,Paris 1936, und im Anschluss daran von Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie, in:Nicolai Hartmann [Hg.], Systematische Philosophie, Stuttgart/Berlin 1942, S. 313–430,hier S. 322, kolportiert.)

Von den ‚Tatsachen‘ zur ‚Totalität‘ 275

mus beherrscht sah.57 Umgekehrt verteidigte er die künstlerische Modernevon einem antibürgerlichen und antirationalistischen Standpunkt aus, vondem aus auch der völkische Affekt gegen die Avantgarde als Ausdruck natur-wissenschaftlicher Seinsverleugnung erscheinen musste.58 Unausgesprochentransportierte sein Aufsatz die Mahnung an die Kulturpolitik des ‚DrittenReiches‘, dass mit einem Festhalten am naturalistischen Kunsturteil die„Isolierung des Individuums“, die „Spezialisierung des Wissens“ und die„rationale Verödung der Lebensbezüge“ nicht überwunden werden könn-ten.59 Eine ähnliche Tendenz zeigt sich in seinem bald nach der ‚Macht-ergreifung‘ publizierten Aufsatz Die Bannmeile des Schöpferischen (1933).Hierin ordnete er die Auffassung, „man könne »schöpferische« Leistungenkommandieren oder erziehen“, einer „rationalistischen“ und „historisch-materialistischen“ Weltanschauung zu und schrieb, wohl mehr fordernd alskonstatierend: „Der totale Staat erkennt das Schöpferische an.“60 DieseArgumentation erinnert nicht von ungefähr an Benn, der in seinen Redenund Aufsätzen aus den Jahren 1933 und 1934 die ‚nationale Revolution‘ alsantirationalistische Kulturrevolution zu deuten versuchte und der für Viettain dieser Zeit eine Leitfigur war. In einer Besprechung des AufsatzbandesKunst und Macht (1934) lobte er nicht nur die „expressive Ausdrucksweise“und die assoziative Gedankenentwicklung Benns, sondern übernahm auchdessen positive Bewertung der avantgardistischen Kunst.61 Benns Bekennt-

57 Vietta, Hermann Broch, S. 580 f.58 Literaturgeschichten im ‚Dritten Reich‘ stellten die völkische bzw. ‚volkhafte Dichtung‘ der

Gegenwart vor allem in die Tradition der realistischen und naturalistischen Literatur aus derzweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Paul Fechter etwa beschrieb sie als einen‚neuen Naturalismus‘, der sich in der Überwindung von Expressionismus und ‚Sachlichkeit‘herausgebildet habe. Vgl. Paul Fechter, Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfän-gen bis zur Gegenwart, Berlin 1941, bes. S. 696–698. Während die propagierte gegenständ-lich-realistische oder ‚echt-sachliche‘ Ästhetik als Ausdruck einer auf ‚Vernunft‘ und ‚Natur-gesetzlichkeit‘ gegründeten Weltanschauung verstanden wurde, galt der Expressionismus dervölkischen Kunst- und Literaturbetrachtung nicht nur als Ausdruck von ‚Artistik‘ und ‚Intel-lektualismus‘, sondern auch von Irrationalismus. Eine Kapitelüberschrift in Wolfgang Will-richs ‚kunstpolitischer Kampfschrift‘ Säuberung des Kulturtempels (1937), die auch eineerneute Kontroverse um Gottfried Benn auslöste, formulierte dies in der Parole: „Mit Besin-nung und Vernunft gegen Kunstintellektualismus“ (Wolfgang Willrich, Säuberung desKunsttempels. Eine kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geistenordischer Art, 2. Aufl., München/Berlin 1938 [1. Aufl. 1937], S. 105). Die erzieherischeAufgabe einer ‚deutschen‘ Kunst bestand in völkischer Sicht darin, den ‚naturwissenschaft-lich‘ bestimmten Rassetypus in idealer, und das hieß auch: anschaulich-körperlicher Gestaltzur Darstellung zu bringen. Vgl. hierzu auch die Anmerkungen zu Rosenberg in Kap. VII, 5.

59 Vietta, Hermann Broch, S. 581.60 Vietta, Die Bannmeile des Schöpferischen, S. 70 f.61 Egon Vietta, Auseinandersetzung mit Benn, in: Die Literatur 37 (1934/35), H. 2, November

1934, S. 70–72, hier S. 70. Vietta stand mit diesem positiven Urteil über Benn in derAnfangszeit des ‚Dritten Reichs‘ keineswegs isoliert da, wie die teilweise euphorischen Rezen-sionen der beiden Essaybänden Der neue Staat und die Intellektuellen (1933) und Kunst undMacht (1934) von Friedrich Eisenlohr, Rudolf Müller, Frank Maraun (i.e. Erwin Goelz),

276 Egon Vietta

nis zum Expressionismus bezeichnete er als „geniale[s] Brevier der neuestenKunstströmungen“, und mit offenkundiger Sympathie vermerkte er die Sei-tenhiebe gegen die „Kulturspießer“ im Lebensweg eines Intellektualisten.62

Mit seinen Äußerungen über Benn, Joyce, Picasso und andere Pro-tagonisten der künstlerischen Avantgarde näherte sich Vietta der kunstpoli-tischen Opposition, die in der Anfangsphase des ‚Dritten Reichs‘ noch hoff-te, einen (‚arischen‘) Modernismus im NS-Staat durchsetzen zu können.63

Aus Viettas Äußerungen lassen sich allerdings auch deutliche Vorbehaltegegenüber der Avantgarde herauslesen. Zum einen verteidigt er den Expres-sionismus, Kubismus und Futurismus hauptsächlich mit dem Argumentihrer historischen Funktion im Zusammenhang der Kultur- und Wissens-krise im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Formzerstörung und Primiti-vismus bei Benn, Picasso oder Marinetti werden von ihm als Übergangs-erscheinung gerechtfertigt: Der „Rücksprung auf die primitive Situation“erfolge, „weil die Zeit nicht mehr erfüllungsträchtig“ und „die Werte zerfal-len“ seien; es handele sich um eine „erlebte Verneinung aller bürgerlichenSicherungen“.64 Zum anderen rückt Vietta die von ihm verteidigtenExpressionisten in einen neuen Deutungshorizont. So schreibt er anlässlichdes Erscheinens der Ausgewählten Gedichte (1936), Benns letzter, von völki-scher Seite scharf attackierter Buchpublikation im ‚Dritten Reich‘: „BennsGedichte sind lange mit expressionistischen Ekstasen und Dynamismenverwechselt worden. Die Verwandtschaft ist nur äußerlich. Ist doch ihr alo-gisches Bildgefüge nicht Ausdruck inneren Überschwangs, […] sondern dieZeichensprache einer mythischen Schau.“65 Nicht die gedankliche und for-male Destruktion tradierter Repräsentationsmodelle bildet in dieser Sichtden Kern der Bennschen Poetik, sondern seine Lyrik wird vielmehr als Ver-bildlichung eines intensiven schöpferischen Erlebnisses gedeutet. Bennwürde den „absoluten Kunstwert der Kunst“ negieren, schreibt Vietta ananderer Stelle, und zwar zugunsten „einer universalen biologischen Schau

Julius Lothar Schücking undMax Bense zeigen. (Zusammen mit Viettas Besprechung wiederabgedruckt in: Hohendahl [Hg.], Benn – Wirkung wider Willen.)

62 Ebd., S. 70 f. – Vietta stellt vorrangig die antivitalistische Semantik von Benns Formbegriff,seine Entgegensetzung von künstlerischer Formung und biologischem Leben heraus, wie sieinsbesondere in Dorische Welt zum Ausdruck kommt: „Die Form wird zur abendländischenSchicksalsfrage, die aus der nihilistischen Senke, der biologischen Auflösung herausreißt.“(ebd. S. 71)

63 Vgl. hierzu auch den Abschnitt zum ‚formalen Absolutismus‘ Benns in Kap. VII, 5.64 Vietta, Auseinandersetzung mit Benn, S. 71. Die experimentelle Strömung in der Kunst

wird von Vietta grundsätzlich ambivalent bewertet, da sie einerseits selbst ein Effekt derRationalisierung und Liberalisierung ist, andererseits aber nach einer neuen Form strebt.Vgl. auch Vietta, Die Bannmeile des Schöpferischen, S. 70.

65 Egon Vietta, Die Gedichte Gottfried Benns, in: Die Literatur 38 (1935/36), H. 8, Mai 1936,S. 371–372, hier S. 371 (Hervorhebung im Text). Ganz ähnlich äußert er sich über BennsEssays, die in seinen Augen „gedankliche Energie“ mit „mythische[r] Schau“ verbinden (Vi-etta, Auseinandersetzung mit Benn, S. 70).

Von den ‚Tatsachen‘ zur ‚Totalität‘ 277

allen Seins“.66 Ganz ähnlich argumentiert er in einem 1941 in der NeuenRundschau veröffentlichen Aufsatz über Franz Marc, in dem er dessen Bild-sprache in die Tradition der deutschen Mystik stellt. „Es wäre ein Irrtum“,heißt es dort, „dieses urreligiöse Erlebnis, das an beste deutsche religiöseÜberlieferung anknüpft, als rationalistische Entwurzelung anzusprechen.“67

Wonach Marc gestrebt habe, sei „ein neuer Glaube“ gewesen, „die saubere,von allen Schlacken gereinigte Wesensform, die biologische Lauterkeit derRasse“.68 Mit Äußerungen wie dieser versucht der Essayist den völkischenVorwurf des ‚Intellektualismus‘ zu entkräften, artikuliert gleichzeitig aberauch sein eigenes Unbehagen am Formalismus der Avantgarde.69

Die Umwertung der avantgardistischen Formexperimente zeigt sichauch an Viettas Verteidigung der modernen Romanpoetik, welche in seinerDarstellung eher dem romantischen Programm einer Universalpoesiegleicht. So rechtfertigt er die Auflösung der geschlossenen Form und dieÜberschreitung der Gattungsgrenzen hin zum ‚philosophischen Essay‘ inseinen Aufsätzen über Hermann Broch und über den ‚Tatsachenroman‘ mitdem Hinweis auf Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und bezeichnet denmodernen Roman Joyces und Brochs als „transzendentalen Roman“.70

Wenn er anerkennend von den ‚formalen Durchbrechungsversuchen‘ dieserRomane spricht, dann meint er damit in einem sehr speziellen Sinn dieUnterbrechung und tendenzielle Aufhebung der Narration durch philoso-phische Reflexion. Letzten Endes beschränkt sich Viettas Verteidigung derÄsthetik des Ulysses auf den einen Punkt, dass „lyrische und dramatischePartien“ sowie die „philosophierende Ausdeutung in den Rahmen derErzählung eingebaut“ seien.71 Und seine anerkennenden Worte für Hugue-

66 Egon Vietta, Nicolai Berdjajews Prophetie, in: Deutsche Zukunft, 4. Jg., 27. September1936, S. 7 f., hier S. 8 (Hervorhebung im Text).

67 Egon Vietta, Das Unromantische in der Kunst, in: Die Neue Rundschau 52 (1941),S. 421 f., hier S. 422.

68 Ebd.69 Dies wird vor allem dann deutlich, wenn man die kritische Stoßrichtung des Marc-Aufsatzes

beachtet. Denn Vietta reagierte damit auf einen kurz zuvor in derselben Zeitschrift ausAnlass des 50. Todestages des Malers erschienen Aufsatz von Paul Appel, in dem Marc als einvon einem „tiefen, spekulativen Drang nach Verwirklichung einer absoluten Malerei“ erfüll-ter Künstler gewürdigt worden war, dessen Schaffen schließlich „ins Stadium einer abstraktenKunstauffassung übergegangen“ sei (Paul Appel, Der Romantiker Franz Marc, in: Die NeueRundschau 52 [1941], S. 230–237, hier S. 230 und 232).

70 Vietta, Zum Tatsachenroman, S. 454. Viettas Bemühen, dieser romantisch-existenzphiloso-phischen Deutung der modernen Romanästhetik Anerkennung im ‚Dritten Reich‘ zu ver-schaffen, zeigt sich u. a. daran, dass er zu den Vertretern des ‚transzendentalen Romans‘neben Joyce und Broch auch den von der offiziösen ‚Literaturbetrachtung‘ im ‚Dritten Reich‘zu dieser Zeit noch hochgeschätzten Ernst Wiechert zählt.

71 Vietta, Hermann Broch, S. 577. Vietta präsentiert den Ulysses als einen philosophischenRoman, der ganz von der Geschichtsphilosophie Vicos erfüllt sei (vgl. ebd., S. 583; zu ViettasVico-Rezeption vgl. auch Egon Vietta, Giambattista Vico, in: Die Literatur 37 [1934/35], H.1, Oktober 1934, S. 22–24). Auf ganz andere Weise verteidigte Anfang der dreißiger Jahre

278 Egon Vietta

nau oder die Sachlichkeit, den dritten, 1932 erschienenen Teil der Broch-schen Schlafwandler-Trilogie, gelten in erster Linie den eingestreuten phi-losophischen Exkursen, die er als die eigentlichen „Sinnträger des Werks“ansieht72 – und die er noch nach dem Krieg zu den „fundamentalen Deu-tungsversuchen der abendländischen Krise“ zählt.73 Brochs letzten RomanDie unbekannte Größe (1933) lobt er schließlich gerade dafür, dass er „aufdie Lockerung der Form“ verzichtet, das „auflösende, verwirrungstiftendeElement gleichsam ausklammert“, und dadurch „mit dem inneren Wissender kommenden Generation“ eins werde.74 Spätestens hier wird deutlich,dass Vietta sich in den dreißiger Jahren zunehmend von der avantgardis-tischen Ästhetik entfernte.

Tatsächlich orientierte sich der Autor Mitte der dreißiger Jahre an ganzanderen ästhetischen Mustern, nämlich an der Malerei des magischen bzw.metaphysischen Realismus. Das zeigt sich erstmals deutlich in seiner Wür-digung der beiden zeitgenössischen Maler Carlo Carrà und Edgar Ende inder Anfang 1936 publizierten Betrachtung Über das Wunderbare. Darinstellt er diese beiden Künstler in eine von Jakob Böhme über Pascal, dieRomantiker und Dostojewski bis zu Nietzsche reichende Tradition ‚außer-rationaler Kräfte‘, die der ‚zivilisatorischen Expansion‘ eine nicht-rationalis-tische, metaphysische Weltbetrachtung und ein Bewusstsein für die schöpfe-rischen Urgründe entgegensetzen. Die entscheidende Differenz zurexpressionistischen und futuristischen Avantgarde liegt für ihn darin, dassdiese Maler sich in ihrer gegenwärtigen Kunst einer Formensprache bedie-nen, die zwar nicht naturalistisch, aber auch nicht abstrakt ist. Carrà habe„die Klarheit der Anschauung in eine völlig irrationale Atmosphäre ge-bannt“, erklärt Vietta.75 Und auch Ende sei kein Formzerstörer: „Es sindnicht die Formen, die sich vor dem Blick dieses deutschen Malers auflösen,er ordnet sie vielmehr unangetastet in eine befremdende Irrationalität. Erunterwirft die Ordnung der Dinge, die Mathematik des Daseins seiner

der Schweizer Psychologe C.G. Jung den Ulysses und mit ihm die avantgardistische Ästhetikgegen die in der völkischen Publizistik betriebene Pathologisierung. Joyces „im tiefsten Sinne»kubistisch[en]«“ Roman bewertete er als ein ‚document humain‘ der Gegenwart, weil er die„universale Umschichtung des modernen Menschen“, die für die moderne Psyche charakte-ristische „Entpersönlichung der Persönlichkeit“, durch die Assoziationstechnik und das weit-gehende Zurücktreten des Erzählers literarisch umgesetzt habe (C.G. Jung, Ulysses einMonolog, in: ders., Wirklichkeit der Seele. Anwendungen und Fortschritte der neueren Psy-chologie, Zürich/Leipzig/Stuttgart 1934, S. 132–169, hier S. 145, 149 und 158; die Unter-suchung erschien zuerst im September 1932 in der Europäischen Revue).

72 Vietta, Hermann Broch, S. 580.73 Vgl. Egon Vietta, Hermann Broch (gest. 30. Mai 1951), in: Der Monat 3 (1951), H. 36,

S. 616–629, hier S. 622.74 Vietta, Hermann Broch, S. 584.75 Egon Vietta, Über das Wunderbare, in: Die Literatur 38 (1935/36), H. 4, Januar 1936,

S. 166–169, hier S. 169.

Von den ‚Tatsachen‘ zur ‚Totalität‘ 279

Traumoffenbarung“.76 Indirekt richtet sich das gegen die künstlerische Abs-traktion, in der Vietta allenfalls den Ausdruck der „Grundlagenkrisis derWissenschaft“, aber nicht deren Überwindung zu erblicken vermag.77 Dievon Carrà repräsentierte ‚pittura metafisica‘ ist für ihn dagegen deshalb vor-bildlich, weil sie weder naturalistisch noch formauflösend ist, sondern dieGegenstände durch Stilisierung aus ihren ‚natürlichen‘ Zusammenhängenherauslöst. Ihre Techniken der Irrealisierung bzw. „Dematerialisierung“deutet er als ästhetische Entsprechung einerseits zu metaphysischen Tenden-zen in der modernen Wissenschaft und andererseits zu der insbesonderedurch die Existenzphilosophie beförderten Einsicht, „daß die letzten undwesentlichsten Fragen trotz aller schrittweisen Aufhellung und Wissens-ansammlung unbeantwortbar bleiben“.78 Wie die Philosophie des Seins, sogibt die metaphysisch-realistische Malerei in seinen Augen „der scheinbarso gesicherten Erfahrungswelt ihre ursprüngliche Unsicherheit zurück“.79

Ab Mitte der dreißiger Jahre, spätestens aber ab dem Jahr 1937, in demmit der Propagandaausstellung ‚Entartete Kunst‘ und den sie begleitenden‚Säuberungsaktionen‘ die moderne Kunst endgültig aus dem ‚Dritten Reich‘verbannt wurde,80 konnte Vietta auf keine künstlerischen Beispiele dieserRichtung aus dem deutschen Umfeld mehr Bezug nehmen. Eine Möglich-keit, um im ‚Dritten Reich‘ weiterhin für eine nicht-naturalistische Ästhetikzu werben, bot jedoch die Berichterstattung über die italienische Gegen-wartskunst und -literatur, in der, schon aufgrund der historischen Allianzvon Futurismus und Faschismus, modernistische Tendenzen stark vertretenwaren. Vietta tat dies in den Rezensionen und Essays, die er Anfang dervierziger Jahre in der von ihm redigierten Monatsschrift der ‚Deutsch-Italie-nischen Gesellschaft‘, Italien, veröffentlichte.81 An seinen Beiträgen zu

76 Ebd. – Als Illustrationen dieser Stiltendenz werden im Artikel zwei Gemälde kleinformatigreproduziert: zum einen Das Meer von Carrá und zum anderen Endes (1933 entstandenes)Bild Die Männer in den Zelten (Die Zelte). Endes Werk, das stark von der ‚pittura metafisica‘beeinflusst war, wurde von den Nationalsozialisten 1937 als entartet eingestuft.

77 Ebd., S. 167.78 Ebd., S. 168. Der Hinweis auf antideterministische Tendenzen in der neuesten Wissenschaft

stützt sich auf Max Benses Essaysammlung Der Aufstand des Geistes, die die neuesten Ent-wicklungstendenzen der modernen Mathematik und Physik vorstellte. Vietta schreibt dazu:„Die mathematischen Gesetze werden gleichsam aus ihrem festen Werteverband gelöst undin einen irrationalen Leerraum gestellt, der selbst mathematisch nicht bestimmbar ist.“(Ebd.)

79 Ebd.80 Zur kulturpolitischen Radikalisierung 1936/37 vgl. Reinhard Merker, Die bildenden Künste

im Nationalsozialismus. Kulturideologie, Kulturpolitik, Kulturproduktion, Köln 1983,S. 140–156.

81 Vietta war Hauptschriftleiter dieser zwischen 1942 und 1944 in Hamburg erscheinendenZeitschrift, die zunächst von Werner von Schulenburg und dann von Albert Prinzing heraus-gegeben wurde. Die Monatsschrift war von den Nationalsozialisten als Propagandainstru-ment der deutsch-italienischen ‚Kulturachse‘ gegründet worden, entwickelte sich aber unterdem Einfluss Viettas im ‚Dritten Reich‘ zum wichtigsten Forum für die moderne italienische

280 Egon Vietta

Dino Buzzati, Carlo Carrà, Emilio Cecchi, Giorgio de Chirico oder ElioVittorini wird erkennbar, dass er die einem modernen Klassizismus ver-pflichtete italienische Gegenwartskunst und -literatur als Paradigma für dievon ihm bereits Anfang der dreißiger Jahre geforderte formale und philoso-phische Transformation der Avantgarde ansah – und wohl auch als Exempelfür die Möglichkeit einer (gemäßigten) ästhetischen Moderne im totalitärenStaat, die die nationalsozialistische Kulturpolitik in Deutschland verhinderthatte. Beispielhaft hierfür ist sein Aufsatz über den mit ihm befreundetenMaler Carrà, der neben de Chirico der wichtigste Vertreter der ‚pitturametafisica‘ war. Darin hebt Vietta die neue Qualität des italienischen ‚surr-realismo‘ gegenüber der impressionistischen und futuristischen Modernehervor: Carrà sei zwar durch den Futurismus geprägt worden, doch sei die-ser für ihn nur ein Durchgangsstadium gewesen, eine „Periode der Experi-mente“ mit der Sinneswahrnehmung, der noch die „Metaphysik“ und der„Glauben“ gefehlt hätten.82 Im Studium Giottos hätte der Maler diese

Gegenwartskunst und -literatur in Deutschland. Diese wurde nicht nur in Berichten undEssays vorgestellt, sondern auch in zahlreichen Originalbeiträgen von Autoren wie MassimoBontempelli, Dino Buzzati, Emilio Cecchi, Luigi Pirandello oder Giuseppe Ungaretti. ZurGeschichte und kulturpolitischen Stellung dieser Zeitschrift im Kontext der angespanntendeutsch-italienischen Beziehungen siehe Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Gedanken-schmuggel – die literarische Moderne Italiens im nationalsozialistischen Deutschland, in:Rudolf Lill (Hg.), Deutschland – Italien 1943–1945. Aspekte einer Entzweiung, Tübingen1992, S. 139–150, bes. S. 142–147; und Andrea Hoffend, Zwischen Kultur-Achse und Kul-turkampf. Die Beziehungen zwischen ‚Drittem Reich‘ und faschistischem Italien in denBereichen Medien, Kunst, Wissenschaft und Rassenfragen, Frankfurt a.M. u. a. 1998 (= Ita-lien in Geschichte und Gegenwart, Bd. 10), S. 143–145. Zur Geschichte der ‚Deutsch-Ita-lienischen Gesellschaft‘, die 1931 mit Mussolinis Unterstützung in Berlin gegründet wordenwar und in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahren und der Kriegszeit von den Nationalsozia-listen zu propagandistischen Zwecken ausgebaut wurde, siehe Hoffend, Zwischen Kultur-Achse und Kulturkampf, S. 93–98 und S. 138–145.

82 Egon Vietta, Carlo Carrà, in: Italien. Monatsschrift der Deutsch-Italienischen Gesellschaft 2(1943/44), S. 161–163, hier S. 162. – Ganz ähnlich hatte Vietta sich über Carrà und die ita-lienische ‚pittura metafisica‘ schon in einem 1936 in der Wochenzeitung Deutsche Zukunftpublizierten Bericht über die Biennale in Venedig geäußert. Vgl. Egon Vietta, Die Biennalein Venedig, in: Deutsche Zukunft, 4. Jg., 30. August 1936, S. 7 f. (1. Teil), und 13. Septem-ber 1936, S. 7 f. (2. Teil): „Carlo Carrà erweist sich nach wie vor als die stärkste malerischeKraft Italiens. […] Der »magische Realismus« der valori plastici besitzt in der Tat einGeheimnis […]: Es liegt in einer eigentümlichen, unfixierten Lichtwirkung, die das Bildgleichsam von innen her anleuchtet und dabei erlaubt, die Gestalten und Formen plastischherauszuarbeiten“ (2. Teil, S. 7, Hervorhebung im Text). Vietta hebt diese Kunstrichtungpositiv von der „ungegenständlichen oder lediglich von formalen Werten beherrschtenKunstübung“ der italienischen Futuristen ab (1. Teil, S. 7). Seine Bemerkung, dass geradedie „eigenwüchsigen Künstler ihr völkisches Sein, ganz ungewollt und ungerufen, verleben-digen“ (ebd.), lässt sich ebenso wie sein Hinweis auf die „sehr freimütige und unbeeinfluß-bare italienische Kunstkritik“ (ebd., S. 8) als ein indirektes Plädoyer für eine offenere Kunst-politik im nationalsozialistischen Deutschland lesen. Der deutsche Pavillon wird von ihmzudem auffällig distanziert beschrieben: „Das Gesamtergebnis bleibt gerade gegenüber demumfangreichen Grundstock der Ausstellung von typisch nordischen seelischen Ausdrucks-werten bestimmt“ (2. Teil, S. 8).

Von den ‚Tatsachen‘ zur ‚Totalität‘ 281

Phase dann überwunden und das „metaphysische Geheimnis“ des „atmo-sphärelosen“ Raums und des idealisierten Körpers entdeckt.83 Seine Körper,schreibt er, „weisen auf einen kommenden Mythus. Es sind Idealgestalteneines göttergleichen Geschlechts […]. Manet war noch vom psychologischinteressanten Fall beeindruckt, Carrà entpersönlicht das Individuumzugunsten der monumentalen Wirkung der Gattung.“84 Die für die ‚pitturametafisica‘ charakteristische Technik, die dinglichen Gegenstände durchihre Anordnung im leeren Raum und eine besondere plastische Stilisierungmit der Aura der Zeitlosigkeit zu versehen, fasst Vietta hier mit dem schonin früheren Aufsätzen entwickelten Konzept der Verzauberung – und deutetsie damit als ästhetische Gegenbewegung zur rationalistischen Entzaube-rung der Welt. Über de Chirico bemerkt er, dieser habe „im impressionis-tisch-aufklärerischen Europa das gegenrevolutionäre Element verstärkt“,85

indem er statt der „Gedankenmalerei“ eine „Art metaphysischer Träumerei“entwickelt habe.86 Aus demselben Grund lobt er Carràs „Sinn für das irra-tionale, gleichsam im Nichts entspringende Licht“87 und schätzt an denessayistischen Texten Massimo Bontempellis „eine eigene Verzauberung derRatio, […] eine Verwegenheit, die den Gedanken in der freien Schwebezwischen dem Allzuwirklichen und Unwirklichen“ hält.88

5. Vietta und der ‚dritte Humanismus‘

Die Analyse von Viettas literatur- und kunstkritischen Essays hat gezeigt,wie eng sein ästhetisches Urteil an die Reflexion der Wissenskrise gekoppeltist: Die avantgardistischen Formexperimente werden als eine durch dieKrise des naturwissenschaftlichen Weltbildes provozierte Suche nach einernur vortheoretisch erfahrbaren Totalität gerechtfertigt; und die nicht-natu-ralistische, aber gegenständliche Malerei des magischen bzw. metaphysi-schen Realismus der dreißiger Jahre erscheint als künstlerische Manifes-tation einer neuen, metaphysisch fundierten ‚Wissensgebarung‘. Dieser

83 Vietta, Carlo Carrà, S. 162 f.84 Ebd., S. 163.85 Egon Vietta, Giorgio de Chirico, in: Italien. Monatsschrift der Deutsch-Italienischen Gesell-

schaft 1 (1942/43), S. 214–215, hier S. 214.86 Egon Vietta, Funi und de Chirico, in: Italien. Monatsschrift der Deutsch-Italienischen

Gesellschaft 2 (1943/44), S. 108.87 Egon Vietta, Carrà und Colacicchi, in: Italien. Monatsschrift der Deutsch-Italienischen

Gesellschaft 2 (1943/44), S. 79.88 Egon Vietta, Massimo Bontempelli, in: Italien. Monatsschrift der Deutsch-Italienischen

Gesellschaft 2 (1943/44), S. 77–78, hier S. 77. Vietta hat sich in seiner Einleitung zu einem1943 im Goverts-Verlag erschienenen Band mit Reden Bontempellis noch eingehender zudessen Schreibweise geäußert. Vgl. Egon Vietta, Bemerkungen zum Essayisten MassimoBontempelli, in: Massimo Bontempelli, Italienische Profile. Acht Reden, übertragen vonHanns Studniczka, mit einer Einleitung von Egon Vietta, Hamburg 1943, S. 7–13.

282 Egon Vietta

Rekurs auf das Konzept eines fundamentalen Wissens- bzw. Anschauungs-wandels kennzeichnet auch Viettas Stellungnahmen zur nationalsozialisti-schen ‚Machtergreifung‘. Denn diese wird von ihm nicht nur aufgrund sei-ner schon früher bekundeten Ablehnung der Weimarer Demokratiebegrüßt. Vielmehr setzt er den politischen Umbruch mit dem ‚geistes-geschichtlichen Umbruch‘, mit der Abkehr vom ‚rational-naturwissen-schaftlichen Weltbild‘ in Beziehung, der sich in seinen Augen seit demEnde der zwanziger Jahr immer deutlicher in den Wissenschaften manifes-tiert. Im Broch-Essay beispielsweise verbindet er die Beschreibung des wis-senschaftlich-künstlerischen Denkformwandels mit Allusionen auf die ‚na-tionale Revolution‘: „Es ist das Geheimnis unserer Zeit, daß sich nicht nurim nationaldeutschen, sondern im dereinstigen bestimmenden abendlän-dischen Weltbild ein geisteswissenschaftlicher Durchbruch von wahrhaftrevolutionärer Wucht vollzieht.“89

Noch deutlicher wird Vietta in einem in der Tat unter seinem bürgerli-chen Namen veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel Was ist uns die heutigePhilosophie? vom August 1934, wo er von einem „beispielgebenden ge-schichtlichen Augenblick“ spricht: Dadurch, dass dem Individuum die „De-cke der bürgerlichen Wohlgeborgenheit“ weggerissen worden sei und sichein Bewusstsein für die „Zusammenhänge […] politischer, wirtschaftlicher,geistiger“ und „rassemäßiger Natur“ durchgesetzt habe, sei es „aus der indi-vidualistischen Überspitzung in den geistigen und heimatlich-menschlichenMutterboden wieder eingekehrt.“90 Die politische Ausschaltung von ‚Indi-vidualismus‘ und ‚Liberalismus‘ hat in der Sicht des Verfassers zwar demRationalismus – dessen diskursive Hegemonie in der Weimarer Republikdie Kollektivisten-Schrift angeprangert hatte – endgültig den Boden entzo-gen, bislang jedoch noch keine andere, ‚philosophische‘ Geisteshaltung her-vorgebracht.

Damit sind Ausgangspunkt und kulturpolitische Dimension von Viet-tas Reflexion der ‚geistigen Situation‘ nach 1933 markiert. Denn vorrangiggeht es ihm darum, der neuesten Philosophie, insbesondere der Heideggers,Anerkennung und Einfluss im ‚Dritten Reich‘ zu verschaffen. Dazu be-

89 Vietta, Hermann Broch, S. 582.90 Egon Fritz, Was ist uns die heutige Philosophie?, in: Die Tat 26 (1934/35), H. 5, August

1934, S. 375–385, hier S. 375. Vgl. auch den wenig später in derselben Zeitschrift erschie-nenen Aufsatz über Naturrechte und Seinsbedingungen, in dem Vietta das ‚Dritte Reich‘ zueiner Epochenwende in der abendländischen Geistesgeschichte erklärt: „Ein Jahrhundertlang war das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft Problem. Nun ist die Entscheidunggefallen: die volk- und gemeinschaftbildenden Kräfte haben in einem schöpferischen Durch-bruch die liberalistischen Konstruktionen überrannt und den Strom der Zeit in ein anderesBett gelenkt. Damit ist eine lange Entwicklung abgeschlossen worden, die bis in den Beginnder Neuzeit zurückreicht. […] Wir kennen diesen Ablauf […] unter dem Namen des Indivi-dualismus, politisch des Liberalismus“ (Egon Fritz, Naturrechte und Seinsbedingungen, in:Die Tat 26 [1934/35], H. 11, Februar 1935, S. 852–856, hier S. 852).

Vietta und der ‚dritte Humanismus‘ 283

schreibt er zunächst rückblickend noch einmal die „Krise der Wissenschaf-ten“ im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts, in der eine einseitigrationalistische Konzeption wissenschaftlicher Erkenntnis, die durch den‚Liberalismus‘ begünstigt worden sei, zu einer so weitgehenden Spezialisie-rung und Pluralisierung geführt habe, dass schließlich die „Unzulänglich-keit der Wissenschaft, dem gesamtmenschlichen Problem gerecht zu wer-den,“ immer deutlicher geworden sei.91 Von „ihrem Fundament losgelöst“,seien die Einzelwissenschaften nicht mehr in der Lage gewesen, „den totalenLebensproblemen“ beizukommen.92 In einzelnen Disziplinen habe sicheine antiaufklärerische „Revolutionsstimmung“ verbreitet, die sich beispiel-haft im „Anschauungswandel“ in den Naturwissenschaften und der Medi-zin zeige.93

Viettas Argumentation parallelisiert die wissenschaftliche und philoso-phische Wendung zur ‚Totalität‘ mit der politischen. Dabei richtet sich seinAufsatz indirekt auch gegen radikal wissenschaftsfeindliche Tendenzeninnerhalb des ‚Dritten Reichs‘ sowie gegen eine einseitige Orientierung ambiologistischen Lebensbegriff. Wirft der Autor einerseits dem von Descartesund Kant begründeten erkenntnistheoretischen Rationalismus vor, denMenschen nur als Vernunftwesen, „also nicht de[n] ganze[n], auch außerra-tionale[n] Mensch“ in den Blick zu nehmen, so kritisiert er andererseits,wenn auch nur andeutungsweise, eine anthropologische Betrachtungsweise,die den Menschen allein mit dem Begriff des ‚Lebens‘ erfasst.94 Zwar sei dervon Nietzsche, Dilthey und George unter dem Banner des ‚Lebens‘ geführteKampf gegen die etablierten Wissenschaften eine „gesunde Flucht“ unddurch das Ziel gerechtfertigt gewesen, „die Vorherrschaft […] der Ratio zubrechen“, problematisch sei es aber, daraus eine Negation des „Geistige[n]insgesamt“ abzuleiten.95 Denn der „Begriff des Lebens umfaßt […] nureinen Teil jenes untrennbaren Ganzen, das wir nie und nimmer in seinerTotalität auf demWege der Einzelwissenschaften erfahren können: Nämlichdes Menschen.“96 Ebensowenig wie der Verstand könne „das Leben allein“die „Totalität“ des menschlichen Seins erschöpfen.97 Vietta argumentiertdamit ähnlich wie die Philosophische Anthropologie und die Existenzphi-losophie und wirbt im Fortgang seines Aufsatzes dafür, den Begriff der‚Existenz‘ ins Zentrum einer philosophischen Neuorientierung zu rücken.Gerade die Philosophie von Heidegger und von Jaspers, den er ebenfalls

91 Fritz, Was ist uns die heutige Philosophie?, S. 376. Vietta bezieht sich auf Husserls Beschrei-bung der Wissenschaftskrise in Formale und transzendentale Logik (1929). Siehe hierzu auchKap. I, 1.

92 Fritz, Was ist uns die heutige Philosophie?, S. 376 f.93 Ebd., S. 377.94 Ebd., S. 376.95 Ebd., S. 377 f.96 Ebd., S. 379.97 Ebd., S. 379.

284 Egon Vietta

ausführlich referiert, trage der Erkenntnis Rechnung, dass menschlichesSein „nicht nur Physis, sondern mehr als dies – Meta-physis“ sei, und legedamit das Fundament für „echte Wissenschaft“.98 Dabei geht es Viettanicht darum, die Philosophie zu einer wissenschaftlichen Leitdisziplin zumachen, und primär nicht einmal um eine Veränderung der Wissenschaftenselbst. Vielmehr zielt er auf eine ‚philosophische Haltung‘, die in einemindividuellen Erlebnis wurzelt und deren Erzeugung eher eine Aufgabe derErziehung als der Wissensvermittlung ist.

Vietta knüpfte mit diesenÜberlegungen an die seit den zwanziger Jahrenandauernde, unter wissenschaftlichen, kulturphilosophischen und bildungs-politischen Vorzeichen geführte Diskussion um die Zukunft des Huma-nismus an,99 die sich in den frühen dreißiger Jahren vor allem mit demSchlagwort des ‚dritten Humanismus‘ verband. Um seine Position genauerbestimmen zu können, soll dieser Kontext hier kurz skizziert werden.

Schon in den zwanziger Jahren war heftig darüber gestritten worden, obdie humanistische Bildung angesichts des wissenschaftlichen Historismusund neuartiger Qualifikationsanforderungen noch ein erzieherisches Leit-bild sein könne. So hatte Scheler, der Wissen als ein „Seinsverhältnis“begriff, bereits 1925 für eine religiöse Fundierung des Wissens plädiert,dem sich „auch die »humanistische« Idee des Bildungswesens […] nochunterordnen“müsse.100 Die Untersuchung des Diskurses der ‚jungen Gene-ration‘ hat gezeigt, dass die Diskussion der Bildungsfrage in der Krisensitua-tion um 1930 zunehmend politisch wurde und sich Vertreter der ‚jungenGeneration‘ mit der Forderung nach einer Vitalisierung des Geistes sowohlvom liberalen Humanismus als auch von der revolutionären Bildungsfeind-schaft abgrenzten. Diese doppelte Frontstellung kennzeichnet auch den‚dritten‘ oder ‚erneuerten Humanismus‘, den in den dreißiger Jahren vorallem der Altphilologe Werner Jaeger und der von den pädagogischen IdeenGeorges geprägte Publizist Wolfgang Frommel, der spätere Mitbegründerdes Castrum Peregrini, propagierten. In Abgrenzung vom wissenschaftlichenHistorismus und einer nur auf intellektuelle Fähigkeiten zielenden Pädago-gik betonte der ‚dritte Humanismus‘ die ethische und erzieherische Funk-tion einer Beschäftigung mit der Antike. Der Humanismus erhält hier, wieHorst Rüdiger bereits 1937 feststellte, eine „Wertbetontheit“ und wird zueiner „Willens- und Charakterfrage“.101

98 Ebd., S. 382.99 Vgl. hierzu den Überblick bei Walter Müller-Seidel, Krisenjahre des Humanismus. Wissen-

schaften und Literatur in der Weimarer Republik, in: Jahrbuch der Akademie der Wissen-schaften zu Göttingen (1998), S. 73–134, bes. S. 76–89.

100 Max Scheler, Die Formen des Wissens und der Bildung, Bonn 1925, S. 30 und 39 (wiederabgedruckt in: ders., Philosophische Weltanschauung, Bonn 1929, S. 84–123).

101 Horst Rüdiger, Wesen und Wandlung des Humanismus, Hamburg 1937, S. 282.

Vietta und der ‚dritte Humanismus‘ 285

Vor allem Werner Jaeger hoffte dabei, die nationalsozialistische Schul-und Bildungspolitik in diesem Sinne beeinflussen zu können. Dies lässt sichunter anderem an seinem Aufsatz über Die Erziehung des politischen Men-schen und die Antike ablesen, der 1933 in der von Ernst Krieck herausgege-benen kulturpolitischen Zeitschrift Volk im Werden erschien. Darin fordertder Altphilologe, im Rahmen des durch die „nationale Umwälzung“ einge-leiteten „Neubaues der deutschen Erziehung“ neben den „Quellen unsereseigenen Volkstums“ und der „Überlieferung des Christentums“ auch der„Formmacht der Antike“ einen festen Platz einzuräumen.102 Dem zu erwar-tenden Vorwurf, dass er damit an einer überholten Bildungsidee festhalte,begegnet er mit einer Unterscheidung zwischen ‚altem‘ und ‚neuem‘ Huma-nismus. Die nationalsozialistischen Angriffe hätten sich stets gegen denHumanismus als eine „in dem rationalistischen Kultursystem der westeuro-päischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts“ wurzelnde „Ideologie“ gerichtet,die schließlich zu einer „allgemeinen liberalen Bildungsreligion“ gewordensei.103 Dieser ‚antikische Idealismus‘ wird auch von Jaeger als formalisti-sches und individualistisches Bildungskonzept verworfen. Eben aus der Kri-tik an diesem Bildungskonzept wie auch am geisteswissenschaftlichen His-torismus, so fährt er dann fort, sei aber der von einem „erzieherischenWollen“ erfüllte ‚dritte Humanismus‘ entstanden: „Gerade aus der Erzie-hungsnot der eigenen Zeit wurde der neue Humanismus sich der vorbild-haften Größe des Erziehergeistes der Antike unmittelbar bewußt.“104 ImZentrum dieses Erziehungskonzeptes steht der Gedanke einer „ethisch-poli-tische[n] Geistesbildung“, die den einzelnen zur Übernahme von Aufgaben

102 Werner Jaeger, Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike, in: Volk imWerden1 (1933), H. 3, S. 43–49, hier S. 43. Die Forderung, die Antike als „erzieherische Form“ fürdie Herausbildung einer den Individualismus der Moderne überwindenden ‚objektiven‘ und‚nationalen‘ Kultur zu nutzen, hatte Jaeger bereits 1925 in seinem Vortrag Antike und Huma-nismus erhoben (Werner Jaeger, Antike und Humanismus [1925], in: Hans Oppermann[Hg.], Humanismus, Darmstadt 1970 [= Wege der Forschung, Bd. XVII], S. 18–32, hierS. 31.) – Zu Werner Jaegers Programm des ‚dritten Humanismus‘ siehe Cornelia Wegeler,„…wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik“. Altertumswissenschaft und Natio-nalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921–1962, Wien/Köln/Weimar1996, S. 55–59. Wegeler meint, dass der ‚dritte Humanismus‘ trotz seiner späteren Kritikdurch nationalsozialistische Kulturpolitiker „entscheidend eine gerade an den Universitätenverbreitete Einstellung“ prägte, „die der nationalsozialistischen Machtergreifung in vielerHinsicht positive Aspekte abgewinnen konnte“ (S. 58). Zur Entstehung von Jaegers Konzepteines neuen Humanismus in der Krisensituation der Weimarer Republik siehe Klaus-DieterEichler, Politischer Humanismus und die Krise der Weimarer Republik. Bemerkungen zuW. Jaegers Programm der Erneuerung des Humanismus, in: Wolfgang Bialas/Georg G.Iggers (Hg.), Intellektuelle in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. u. a. 1996 (= Schriftenzur politischen Kultur der Weimarer Republik, Bd. 1), S. 271–292.

103 Jaeger, Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike, S. 43.104 Ebd., S. 44.

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in Staat und Gemeinschaft befähigt.105 Auch wenn Jaeger die Beschäftigungmit den ethischen Normen der Antike als Bestandteil einer ‚nationalpoliti-schen Erziehung‘ im ‚Dritten Reich‘ präsentiert, ist in der Ausrichtung aufden ‚politischen Menschen‘ doch schon die Differenz zum völkischen Bil-dungskonzept angelegt, das die Verwurzelung im rassisch-geschichtlichen‚Lebensgrund‘ in den Mittelpunkt stellt.106 Nach seiner im ersten Band derPaideia (1934) noch ausführlicher entwickelten Konzeption vollzieht sichdie Formung des Individuums und seine Einordnung in die Gemeinschaftdurch die „Entdeckung objektiver Normen und Gesetze“ und nicht durchdie einer rassischen Verbundenheit.107

Dieselbe Distanz lässt sich an Wolfgang Frommels Vision eines ‚drittenHumanismus‘ feststellen, obwohl diese in ihrer pseudoreligiösen Rhetorik,in ihrer Rede von ‚Schicksalhaftigkeit‘ und ‚Blutkräften‘ auf den ersten Blickstärkere Berührungen mit dem völkischen Diskurs zu haben scheint als Jae-gers Paideia-Konzept. Frommels unter dem Pseudonym Lothar Helbingveröffentlichte Schrift Der dritte Humanismus erschien erstmals 1932 undwurde 1935 in einer überarbeiteten Fassung neu aufgelegt. Frommel betontdarin ebenfalls die „völlig andere“Ausrichtung des neuen Humanismus, dernichts mit der „gesättigte[n] Behäbigkeit“ und dem „geistige[n] Rentner-tum“ humanistischer Bildung gemein habe, von allen „aufklärerischen undliberalen Gedankengängen“ befreit sei und endlich wieder „das Staatliche

105 Ebd., S. 47. Jaeger denkt dabei an die Einrichtung von Elitehochschulen, in denen im Sinneder altgriechischen ‚Adelszucht‘ die politische Führerschaft der Nation herangezogen werdensoll. Als Beispiel nennt er die Universitäten Oxford und Cambridge in England. Dabei wirddas Politische von ihm eher im Sinne von Ethos und Haltung, denn als ein bestimmtes Han-deln verstanden, weshalb ihm Bruno Snell später vorwarf, das Politische ästhetisiert zuhaben: „Dies ‚Politische‘ kennnt kein Engagement, keine Verpflichtung, sondern bleibt aka-demische Attitude. So wurde es denn in der Zeit des beginnenden Nationalsozialismusbesonders gefährlich“ (Bruno Snell, Politischer Humanismus [1962], in: Hans Oppermann[Hg.], Humanismus, Darmstadt 1970 [= Wege der Forschung, Bd. XVII], S. 542–548, hierS. 542).

106 Diese Differenz wird noch deutlicher, wenn man Jaegers Argumentation mit Ernst KriecksAufsatz über Völkische Bildung vergleicht, mit dem dieser die von ihm herausgegebene Zeit-schrift eröffnete. Denn dort grenzt Krieck die von ihm propagierte ‚völkisch-realistische Bil-dung‘ scharf von einer nur nationalen Erziehung ab: „»Nation« ist, wie das 19. Jahrhundertgezeigt hat, mit Liberalismus und Individualismus durchaus vereinbar. Mit dem Wort »völ-kisch« dagegen zielen wir hin auf die gemeinsame Lebenssubstanz, auf den natürlichenLebensgrund und Lebensraum. »National« ist eine geistige Angelegenheit, »völkisch« bedeu-tet dagegen eine elementare Tatsache, eine bluthaft-seelische Notwendigkeit, eine räumlich-geschichtliche Wirklichkeit in einer verbindenden und verpflichtenden Lebensganzheit“(Ernst Krieck, Völkische Bildung, in: Volk imWerden 1 [1933], H. 1, S. 2–12, hier S. 4).

107 Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. Erster Band, Berlin/Leip-zig 1934, S. 9. Jaegers Distanz zur Rassenideologie konstatiert auch Beat Näf, Werner Jaegers„Paideia“: Entstehung, kulturpolitische Absichten und Rezeption, in: William M. Calder III(ed.), Werner Jaeger Reconsidered, Atlanta 1992 (= Illinois Studies in the History of Classi-cal Scholarship, Vol. 2), S. 125–146, hier S. 134.

Vietta und der ‚dritte Humanismus‘ 287

der Antike“ ins Auge fasse.108 Obwohl der Verfasser von einer durch den‚dritten Humanismus‘ bewirkten „Bindung an die in unserem Blut wirken-den göttlichen Kräfte“ spricht, wird schnell deutlich, dass er nicht an eineAktivierung natürlicher Lebenskräfte denkt.109 Statt dessen zielt sein Erzie-hungsgedanke auf die Kontrolle der Triebnatur durch den Geist: „Huma-nismus aber […] ist Erziehung zur Herrschaft über sich und die Welt, istFähigkeit zur Prägung, zur Ordnung des andrängenden Chaos, ist Strengeder Auswahl, Härte der Skepsis.“110 Ähnlich wie Benn verwendet Frommeldie Formel „Zucht und Züchtung“ in dem antivitalistischen Sinn von geis-tiger Prägung und Formung der menschlichen Natur.111

Das Programm des ‚dritten Humanismus‘ deckte sich zwar in wesentli-chen Punkten – wie der Kritik am wissenschaftlichen Spezialistentum oderam humanistischen Idealismus – mit erziehungspolitischen Zielsetzungender Nationalsozialisten. Dennoch konnte es im ‚Dritten Reich‘ nicht demVorwurf entgehen, an der Autonomie des Geistes festzuhalten und imneuen Gewand alte individualistische und kosmopolitische Ideen zu pro-pagieren.112 Und der ‚dritte Humanismus‘ wurde nicht allein von Anhän-gern eines biologistischen Rassebegriffs abgelehnt. Auch die ‚politische

108 Lothar Helbing [i.e. Wolfgang Frommel], Der dritte Humanismus, 3., veränderte Aufl. Ber-lin 1935 (1. Aufl. 1932), S. 11, 19 und 24. Die politische Dimension des Konzepts wird inder überarbeiteten Fassung von 1935 noch stärker herausgearbeitet. Der seit dem erstenErscheinen „offenbar gewordene nationale Umschwung und seine Folgen“, schreibt From-mel in deren Vorwort, hätte „die Wirklichkeitsnähe“ seiner Fragestellung bestätigt (S. 7).

109 Ebd., S. 18.110 Ebd., S. 20.111 Ebd., S. 88. Mit Blick auf die völkische Rassenideologie schreibt er: „Die rein-nordische Ras-

senabkunft ist dabei wohl weniger entscheidend als die Frage, ob ein Mensch überhauptnoch jene ungebrochenen Blutskräfte besitzt, die unter neuer Zucht eine gültige geistige Prä-gung ermöglichen. Die Kraft der Deutschen ist ihre Gemischtheit aus Nord und Süd, Westund Ost“ (S. 87 f.). Aussagen wie diese dürften der Grund dafür gewesen sein, dass das Buch1936 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Frommel selbst emigrierte 1937. Baldnach dem Kriegsende nahm Frommel Kontakt mit Ernst Jünger auf und gab 1947 (unterdem Pseudonym R. van Rossum) die erste Buchausgabe von dessen umstrittener ‚Frie-dens‘-Schrift im Amsterdamer Verlag ‚Die Argonauten‘ heraus. (Vgl. Ernst Jünger/GerhardNebel, Briefe 1938–1974, hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Ulrich Fröschleund Michael Neumann, Stuttgart 2003, S. 115, 200 und 611.) – Zu Benns Züchtungs-begriff siehe Kap. VII, 4.

112 Vgl. Hans Drexler, Der dritte Humanismus. Ein kritischer Epilog, 2., durchgesehene Aufl.,Frankfurt a.M. 1942 (= Auf dem Wege zum nationalpolitischen Gymnasium, H. 10), S. 57und 68. Drexler warnt in seiner ‚Streitschrift‘, die sich insbesondere gegen Jaeger richtet, vordem „verhängnisvolle[n] Irrtum zu glauben, der dritte Humanismus sei mit Stumpf und Stilausgetilgt“ worden (S. 10). Trotz der nationalsozialistischen Kontrolle der Hochschulen seidie „tiefe Verwurzelung“ dieser Strömung „in unserem gesamten geistigen Leben“ noch nichtüberwunden (S. 11). Besonders interessant ist, dass Drexler den ‚dritten Humanismus‘ vomStandpunkt wissenschaftlicher Objektivität aus als „unwissenschaftlich“ kritisiert: im Grundehandle es sich um einen „Glauben“, der „sich allein aus der spontanen inneren Ergriffenheitdes Empfangenden“ rechtfertige, aber nie „Allgemeingültigkeit und Wahrheit“ beanspruchenkönne (S. 108). Er sei eine „okkulte Ideologie“ (S. 10).

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Pädagogik‘, wie sie Alfred Baeumler vertrat, ging von anderen anthropolo-gischen Prämissen aus. Baeumlers ‚Pädagogik‘ zielte ebenfalls auf den ‚gan-zen‘ Menschen und wandte sich so gegen eine materialistische und eineidealistische Anthropologie. Doch während Frommel den Lehren, die „ein-seitig Leib, Seele oder Geist erhöh[en]“, eine auf die „»existentiellen«Grundlagen unseres Seins“ gerichtete Betrachtungsweise entgegensetzte,113

berief sich Baeumler auf eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Verhal-tensforschung, die den Menschen als psycho-physische Einheit beschrieb.Gegen ontologische Bestimmungsversuche gerichtet, dekretierte er, derMensch sei „nicht vom Sein her zu verstehen“, sondern „eher das Sein vomMenschen her“.114 Der ‚wirkliche Mensch‘ sei zu definieren „als eineatmende und sich bewegende rhythmische Einheit, als ein Zentrum vonAktionen und Reaktionen von bestimmter Haltung“.115 ImHorizont dieseranthropologischen Theorie musste eine Erziehung, die vermittelst derLektüre antiker Texte eine ethische Haltung erzeugen wollte, als intellektua-listisch gelten. Baeumlers eigene Vorschläge für eine Reform des Schul-unterrichts gingen denn auch in die Richtung einer rhythmischen Sprech-gymnastik.116

Auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum der ‚dritte Huma-nismus‘ gerade für die Gruppe der zwar national und antidemokratisch,aber nicht völkisch eingestellten Intellektuellen im ‚Dritten Reich‘ beson-ders attraktiv war. Diese verbanden mit ihm das Bedürfnis nach einer ein-heitlichen Wissens- und Werteordnung und die Vision von geistiger Füh-rerschaft im totalitären Staat. So argumentiert auch Vietta, wenn er diepolitische ‚Umwälzung‘ des Jahres 1933 mit dem antideterministischen undantihumanistischen „geistesgeschichtlichen Umbruch“ in den Wissenschaf-ten korreliert.117 Nach der „Agonie der bürgerlichen Bildungswelt“ sei manin das „Jahrzehnt der Entscheidung“ eingetreten, schreibt er in einem imMai 1936 erschienenen Aufsatz mit dem Titel Das Ende des Humanitätside-als.118 Als Beleg für seine These dient ihm die „aktuellste Auseinanderset-zung mit dem Humanismus“, in der sich aus seiner Sicht die allgemeineAbkehr vom idealistischen und aufklärerischen Humanismus manifes-

113 Helbing, Der dritte Humanismus, S. 10.114 Alfred Baeumler, Bildung und Gemeinschaft, Berlin 1942, S. 64.115 Ebd., S. 66. Obwohl Baeumler den Namen Gehlens nicht erwähnt, lässt sich eine große

Ähnlichkeit zwischen seiner ‚philosophischen Menschenkunde‘ und dessen Anthropologiefeststellen.

116 „Die Atmung, die rhythmische Bewegung, das rhythmische Sprechen, auch das rhythmischeSprechen im Chor […], alles das sind Dinge, in denen der Mensch als ein sich in Unmittel-barkeit gestaltend äußerndes rassisches Wesen in Erscheinung tritt.“ (Ebd., S. 70; Hervor-hebung im Text)

117 Egon Vietta, Das Ende des Humanitätsideals, in: Die Literatur 38 (1935/36), H. 8, Mai1936, S. 355–358, hier, S. 358.

118 Ebd., S. 356.

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tiert.119 Versuche zur Rettung des Humanitätsideals, wie den von MaxKommerell, der die Jugend noch 1931 davor gewarnt hatte, die klassischeBildung zu verwerfen, weil man glaube, „daß niemand hinderlicher sei alsGoethe dabei, daß der Deutsche sich wieder in die blutstarke und blutgie-rige blonde Bestie zurückverwandle“,120 bewertet Vietta rückblickend alsidealistische Verkennung der Tatsache, dass sich die (sozialen wie wissen-schaftlichen) „Bildungsmächte des Humanismus“ aufgelöst hätten.121 Dieantivitalistische Tendenz Kommerells wird von ihm allerdings durchausgutgeheißen. Nur geht es seiner Überzeugung nach in der gegenwärtigenkulturellen Situation nicht mehr um eine Entscheidung zwischen Vernunftund Leben, sondern um eine Entscheidung innerhalb des Feldes der nicht-rationalistischen Anthropologie: Das durch die andrängenden „schöpferi-schen Kräfte“ virulent gewordene „menschliche Problem“ kann demnachentweder im Bereich des „modernen Vitalismus“ mit seiner „Sehnsuchtnach dem unreflektierten Sein“ gelöst werden oder aber im „metaphysischenBereich“.122

Obwohl Vietta sich die Formel vom ‚dritten Humanismus‘ nicht zueigen macht, bezieht er sich in seinen kulturkritischen und kulturpoliti-schen Aufsätzen im ‚Dritten Reich‘ mehrfach auf diese Denkrichtung. Undzwar noch und gerade in den Beiträgen, die er 1942/43 in der ZeitschriftItalien publizierte – zu einer Zeit, als die NS-Kulturpolitik den ‚drittenHumanismus‘ unmissverständlich zurückgewiesen hatte. Das Programmdes ‚dritten Humanismus‘ wird hier gewissermaßen durch die Hintertür derdeutsch-italienischen ‚Kulturachse‘ erneut vor die Öffentlichkeit gebracht.Gleich in einem der ersten Hefte der Zeitschrift bespricht er die Rede Vertei-digung des Humanismus des italienischen Erziehungs- und KultusministersGiuseppe Bottai, die Ernesto Grassi 1941 dem deutschen Publikum zu-gänglich gemacht hatte. Bottai, der Anfang der zwanziger Jahre den Futuris-ten nahe stand und innerhalb der faschistischen Bewegung einer der wich-tigsten Förderer des künstlerischen Modernismus war, skizzierte darin seinim Erziehungsdekret ‚carta della scuola‘ niedergelegtes Programm einer anklassisch-antiken Werten ausgerichteten Schulbildung.123 In seiner staats-politischen und nationalpädagogischen Orientierung ähnelte dieses Pro-gramm dem Jaegerschen Paideia-Konzept. Denn Bottai begriff Humanis-mus als eine durch die Beschäftigung mit der Antike zu erlernende

119 Ebd. – Vietta bezieht sich unter anderem auf Frommel.120 Max Kommerell, Jugend ohne Goethe, Frankfurt a.M. o. J. [1931], S. 37.121 Vietta, Das Ende des Humanitätsideals, S. 357.122 Ebd., S. 358 (Hervorhebung im Text). Die Formulierung ‚metaphysischer Bereich‘ bezieht

sich auf die seinsphilosophische Totalitätskonzeption, die Vietta bereits im Aufsatz Was istuns die heutige Philosophie? dem vitalistischen Denken gegenüberstellte.

123 Giuseppe Bottai, Verteidigung des Humanismus. Die geistigen Grundlagen der neuen Stu-dien in Italien, mit einer Einführung von Ernesto Grassi, Berlin 1941 (= Schriften für diegeistige Überlieferung, Bd. 3).

290 Egon Vietta

Methode geistiger Selbstdisziplinierung, die formale intellektuelle Fähigkei-ten mit „sittlicher Kraft“ verbindet.124 Vietta schreibt in seiner Rezension,damit sei es dem Faschismus gelungen, „den Humanismus ins moderneWirklichkeitsbild“ einzugliedern.125 In diesem Zusammenhang referiert erden von Faschisten und Nationalsozialisten gegen den ‚alten‘ liberalenHumanismus erhobenen Vorwurf vom „Mangel an Vitalität“, betont abergleichzeitig mit Bottai, dass die „Wurzeln des Humanismus“ im Geistigenlägen.126 Den Minister zitierend, schreibt er:

Die Wendung zum Humanismus ist also gleichbedeutend mit der »Wiederherstel-lung der Herrschaft des Geistigen«. Denn wir leiden noch an »der Entfesselung dervitalistischen Triebe«, worunter auch der neugierige Vorstoß ins Unbewußtegerechnet wird.127

Deutlich erkennbar ist hier eine doppelte Abgrenzung von dem Humanis-mus bürgerlich-liberaler Prägung auf der einen und einer vitalistischenGeistfeindschaft auf der anderen Seite sowie die Suche nach einem drittenWeg jenseits von ‚existenzloser Vernunft‘ und ‚vernunftloser Existenz‘ (Jas-pers),128 die schon an Viettas kulturkritischen Zeitdiagnosen aus der Zeitum 1930 auffiel und die bei ihm nun eine ambivalente Haltung gegenüberder nationalsozialistischen Kulturpolitik begründet.129

Die positive Besprechung der Schrift des von Rosenberg bekämpftenitalienischen Erziehungsministers kann als indirekte Kritik an der völki-schen Rassenideologie gewertet werden. Deshalb handelte es sich aber nicht

124 Ebd., S. 41.125 Egon Vietta, Zu Giuseppe Bottais: „Verteidigung des Humanismus“, in: Italien. Monats-

schrift der Deutsch-Italienischen Gesellschaft 1 (1942/43), S. 26.126 Ebd.127 Ebd.128 Vgl. Karl Jaspers, Vernunft und Existenz, Groningen 1935, S. 42: „Existenzlose Vernunft

gerät in das bei allem möglichen Reichtum zuletzt doch beliebige Denken einer blos nochintellektuellen Bewegung des Bewußtseins überhaupt oder der Dialektik des Geistes. […]Vernunftlose Existenz, die sich auf Gefühl, Erlebnis, fraglose Triebhaftigkeit, Instinkt undWillkür stützt, gerät in blinde Gewaltsamkeit, aber damit in das empirisch Allgemeine dieserDaseinsmächte.“ Vietta bezieht sich in seinem Aufsatz über Das Ende des Humanitätsidealspositiv auf Jaspers’ Buch.

129 In grundsätzlicher Weise äußert sich Vietta zum Verhältnis von Bildung und (totalitärem)Staat an einer versteckten Stelle, nämlich in einer Betrachtung über Vergil. Dort heißt es:„Wir leben in einer Zeit, der das echte Verhältnis zur Bildung zu entgleiten droht. Seitdemalle schöpferische Kraft in einem vitalen urwüchsigen Vermögen beheimatet wird, ist die Bil-dung in den Verruf geraten, die Substanz zu schwächen. Sie ist im Zeitalter des schöpferi-schen, biologisch fundierten Lebensgefühls zu einer Art Ursünde geworden. Was für ein dia-bolisches Paradox! Denn echte Bildung schwächt niemals die Substanz, sondern schafftSubstanz. Bildung vermittelt das aktive, staatspolitische Verhältnis zum Geist. Darum setztVergils Bildungsbegriff einen ethischen, staatsbewußten Willensakt voraus. Er zielt auf eineVerwirklichung des Geistigen im Staate und nicht gegen den Staat oder jenseits vom Staat.“(Egon Vietta, Das goldene Zeitalter. Eine Betrachtung zum dichterischen Genius des Vergil,in: Italien. Monatsschrift der Deutsch-Italienischen Gesellschaft 2 [1943/44], S. 188–197,hier S. 196)

Vietta und der ‚dritte Humanismus‘ 291

notwendigerweise um eine Parteinahme für den ‚modernen‘ italienischenFaschismus, zumal der eher formalistische Geistbegriff Bottais Viettasromantischer Auffassung im Grunde widersprach.130 Vietta unterstütztemit seiner Rezension, in der er Bottais Forderung nach einer ‚Herrschaft derGeistigen‘ in den Mittelpunkt stellte, zwar die antivölkische Tendenz der‚carta della scuola‘. Anders als der italienische Erziehungsminister verbander mit dem ‚verjüngten Humanismus‘ aber weniger eine antikisierendeReform des Schulunterrichts als die Hoffnung auf eine Verlebendigung derWissenschaften, insbesondere der Geisteswissenschaften im Sinne der His-torismus- und Positivismuskritik der zwanziger Jahre. Darin stand er demPhilosophen Ernesto Grassi nahe, der, gleichaltrig mit Vietta und ebenfallsvon Heidegger geprägt, um 1940 mit seinen im Helmuth Küpper Verlagverlegten ‚Schriften für die geistige Überlieferung‘ und mit dem von ihmgemeinsam mit Walter F. Otto und Karl Reinhardt herausgegebenen Jahr-buch Geistige Überlieferung zum wichtigsten Vermittler der wissenschafts-reformerischen Ideen des verjüngten Humanismus’ wurde.131 In seinemeinleitenden Beitrag zum ersten Jahrbuch konstatierte Grassi, dass die „Kri-sis der Wissenschaft […] nur wissenschaftlich überwunden werden“ könneund man sich daher „nicht von außerwissenschaftlichen Verführungen irre-machen“ lassen dürfe.132 Allerdings könne das wissenschaftliche Denken

130 Bottai war einer der wichtigsten Protagonisten der italienischen Kulturpropaganda, die dieTradition des römischen Imperiums und des Humanismus ins Zentrum stellte und darauseinen kulturellen Führungsanspruch des faschistischen Italiens innerhalb Europas ableitete.Die Publikation seiner Humanismus-Schrift im Jahr 1941 muss ebenso wie die von ihm mitUnterstützung Grassis betriebene Gründung des Berliner Kulturinstituts ‚Studia Humanita-tis‘ im Jahr 1942 als Teil der Strategie bewertet werden, den Primat der Romanität und Lati-nität auch und gerade in Deutschland, also in direkter weltanschaulicher Konkurrenz mitder germanisch-nordischen Rassenmythologie, zu vertreten. Rosenberg sprach sich daherauch scharf gegen diese Schrift aus. Zur Geschichte und Aufgabe des ‚Studia Humanita-tis‘-Instituts und den ideologischen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit seinerGründung siehe die detaillierte Darstellung bei Hoffend, Zwischen Kulturachse und Kultur-kampf, S. 419–425. Zum von Bottai unterstützten Kult der ‚romanità‘ siehe Romke Visser,Fascist Doctrine and the cult of the Romanità, in: Journal of Contemporary History 27(1992), S. 5–21.

131 Vgl. Geistige Überlieferung. Ein Jahrbuch, in Verbindung mit Walter F. Otto und Karl Rein-hardt hg. von Ernesto Grassi, Berlin 1940; Geistige Überlieferung. Das zweite Jahrbuch, inVerbindung mit Walter F. Otto und Karl Reinhardt hg. von Ernesto Grassi, Berlin 1942. –Das Jahrbuch enthielt neben Beiträgen von Grassi, Otto, Reinhardt, Hugo Friedrich, Giu-seppe Bottai, Thure von Uexküll auch Heideggers Aufsatz Platons Lehre von der Wahrheit,der von der nationalsozialistischen Zensur beanstandet wurde. Das Erscheinen des Bandeswurde vom Propagandaministerium nur mit der Auflage genehmigt, dass Heideggers Beitragin den Besprechungen nicht erwähnt werden durfte. Vgl. dazu Hugo Ott, Martin Heidegger.Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt a.M./New York 1988, S. 268 f.

132 Ernesto Grassi/Walter F. Otto, Die Frage der geistigen Überlieferung. Zwei Briefe zurBestimmung der Aufgabe, in: Geistige Überlieferung. Ein Jahrbuch, S. 7–35, hier S. 9. –Grassi, der seit 1938 Honorarprofessor in Berlin war und 1948 eine Professur für Philoso-phie in München erhielt (und vor allem als Herausgeber von ‚rowohlts deutscher enzyklopä-die‘ bekannt wurde), hat das Programm einer Vitalisierung der humanistischen Überliefe-

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auch nicht in der alten, disziplinär spezialisierten und positivistischen,Form fortgesetzt werden. So müsse man etwa in der Auseinandersetzungmit der Antike den antiquarischen Zugang durch die Hinwendung zum‚Ursprung‘ und zu den ‚Quellen‘ überwinden.133 Dieses Programm stellteVietta in einer Besprechung des ersten Jahrbuchs auf affirmative Weise vor.Hier wird nochmals die doppelte Frontstellung der Verfechter des ‚verjüng-ten Humanismus‘ deutlich, die auf der einen Seite das an Empirie und Kau-salität orientierte wissenschaftliche Denken bekämpften, auf der anderenSeite aber die kulturelle Orientierungsfunktion der Wissenschaften gegendie im Nationalsozialismus stark vertretene Wissenschaftsfeindschaft zu ver-teidigen suchten. Das „Eigentümliche“ der augenblicklichen Krise bestehedarin, heißt es dort, dass als Reaktion auf die Grundlagenkrise der Wissen-schaft nun der „Wert der Wissenschaft selber“ in Frage gestellt und „dieAktion, das unbedenkliche Handeln gegen die denkerische Bemühung aus-gespielt“ werde.134 Um dieser Gefahr zu entgehen, müsse die Wissenschaft

rung in der Nachkriegzeit unmittelbar weitergeführt. Vgl. Thure von Uexküll/Ernesto Gras-si, Wirklichkeit als Geheimnis und Auftrag. Die Exaktheit der Naturwissenschaften und diephilosophische Erfahrung, Freiburg i. Br. 1948 (Erstveröffentlichung Bern 1945) (= Samm-lung Überlieferung und Auftrag, in Verbindung mit Wilhelm Szilasi hg. von Ernesto Grassi,Reihe Schriften, Bd. 1); Ernesto Grassi/Thure von Uexküll, Von Ursprung und Grenzen derGeisteswissenschaften und Naturwissenschaften, München o. J. (Erstveröffentlichung Bern1950) (= Sammlung Überlieferung und Auftrag, in Verbindung mit Wilhelm Szilasi hg. vonErnesto Grassi, Reihe Studia Humanitatis, Bd. 1). Zur Kontinuität des Diskurses der Wis-senskrise vgl. Kap. VIII.

133 Die Nähe, in der Grassis durch die italienische Regierung geförderte Unternehmung zu Bot-tais Programm eines ‚gegenwärtigen Humanismus‘ stand, ist im ‚Dritten Reich‘ durchausbemerkt und diskutiert worden, wie die Beiträge zum Italien-Sonderheft der von Rosenbergherausgegebenen Nationalsozialistischen Monatshefte vom November 1941 zeigen. NebenBeiträgen von Bottai und Grassi findet sich darin ein Aufsatz von Wilhelm Brachmann, derdie grundlegenden Differenzen zwischen dem von Bottai und Grassi vertretenen ‚gegenwärti-gen Humanismus‘ auf der einen und dem von völkischen Kreisen vertretenen Konzept eines‚politischen Humanismus‘ auf der anderen Seite herausarbeitet. Brachmann gelangt zu demErgebnis, dass der ‚gegenwärtige Humanismus‘ aufgrund seiner philosophischen und euro-päischen Ausrichtung mit dem völkischen Humanismusbegriff unvereinbar sei: „Wo dergegenwärtige Humanismus »Wort« sagt, sagt der politische Humanismus »Blut« oder auch»Volk«. Infolgedessen fragt jener in erster Linie nach der Literatur und damit nach der Religi-on, der Dichtkunst, der Philosophie, dieser aber nach den Menschen und ihrer politischenGeschichte. […] Daraus folgt nun aber wohl, daß die Rede vom »Humanismus« der Redevon der »indogermanischen Geistesgeschichte« wird weichen müssen. Bringt sie doch klarerals jene andere Rede das spezifische Anliegen des deutschen politischen Humanismus zumAusdruck. Er steht auf der Wacht für das blutbedingte Geisteserbe des Indogermanentumsüberhaupt, damit auch und gewiß sogar in erster Linie für das Erbe des klassischen Alter-tums“ (Wilhelm Brachmann, Antike und Gegenwart. Ein Beitrag zum Problem des gegen-wärtigen Humanismus in Deutschland, in: Nationalsozialistische Monatshefte 12 [1941],S. 926–932, hier S. 932).

134 Vgl. Egon Vietta, Geistige Überlieferung, in: Italien. Monatsschrift der Deutsch-Italie-nischen Gesellschaft 1 (1942/43), S. 114 f., hier S. 114. Auch der zweite Band des Jahrbuchswurde von Vietta in der Zeitschrift angezeigt; vgl. Egon Vietta, Bücherkatalog, in: Italien.Monatsschrift der Deutsch-Italienischen Gesellschaft 1 (1942/43), S. 369–371.

Vietta und der ‚dritte Humanismus‘ 293

selbst „in einem entschlossenen Verlebendigungsprozeß die Aktivität ansich reißen“.135

6. Zwischen geschichtslosem Seinund faschistischer Modernität: Ritt durch den Fezzan (1939)

und Romantische Cyrenaika (1941)

Vietta hat den Gedanken einer kulturellen Verjüngung durch Hinwendungzum ‚Ursprung‘ vor allem in seinen essayistischen Reisebeschreibungen ent-faltet. Und er hat mit diesem Genre zugleich das ästhetische Programmeiner Annäherung von Dichtung und Philosophie zu realisieren versucht.Die Bücher Geheimnisvolles Libyen (1939) und Romantische Cyrenaika(1941), in denen er seine am Ende der dreißiger Jahre unternommenen Rei-sen durch das italienisch besetzte Libyen beschreibt, können als direkterGegenentwurf zu einem antiquarischen Umgang mit der Antike angesehenwerden.136 Aber auch die früher entstandene Empfindsame Reise nach Lapp-land (1937), der Erlebnisse einer Reise aus dem Jahr 1929 zugrundeliegen,thematisiert die Frage einer Revitalisierung der modernen Zivilisation.137

Das Lappland-Reisebuch erschien 1937, seine Diktion und Thematikweisen jedoch auf eine Entstehungszeit um 1930 hin.138 Sachlich wie for-mal gehört es in den Kontext von Viettas Auseinandersetzung mit derNeuen Sachlichkeit, wie er sie auch in der Kollektivisten-Schrift oder imAufsatz über Martin Heidegger und die Situation der Jugend führt. Formalknüpft der Autor an das neusachliche Genre der Reisereportage an. Mit sei-ner präsentischen und anschaulichen Erzählweise folgt er den Konventionender Reisereportagen der zwanziger Jahre, reduziert jedoch den Anteil desTatsachenberichts zugunsten selbstreflexiver Betrachtungen. Dies ganz ent-sprechend der Erkenntnis des Ich-Erzählers, dass es „etwas anderes“ sei, ob

135 Vietta, Geistige Überlieferung, S. 114.136 Egon Vietta, Geheimnisvolles Libyen. Ritt durch den Fezzan, mit Zeichnungen von Hans

Kuhn, Frankfurt a.M. 1939; Egon Vietta, Romantische Cyrenaika. Dichtung einer Reise,Hamburg 1941.

137 Egon Vietta, Empfindsame Reise nach Lappland, mit Zeichnungen von Hans Kuhn, Frank-furt a.M. 1937.

138 Dies bestätigt auch der Vergleich mit dem bereits 1931 erschienenen Zeitschriftenbeitrag:Egon Vietta, Fahrten in Lappland, in: Die Neue Rundschau 42 (1931), 1. Halbbd.,S. 664–685, bei dem es sich offensichtlich um eine Zusammenstellung ausgewählter Aus-schnitte aus dem bereits fertigen Manuskript handelt. Die Buchfassung von 1937 weist inden parallelen Passagen nur geringfügige, zeitbedingte Änderungen auf. Beispielsweise sindeinige radikal technik- und kapitalismuskritische Formulierungen getilgt, und der NameThomas Manns wird nicht mehr erwähnt.

294 Egon Vietta

man „ein Land geographisch oder […] seelisch erschließe“, und dass nichtdie Information, sondern erst der „seelische Einbruch […] das Fremdlandin unser ureigenstes Blickfeld“ reiße.139 Sachlich führt er dabei die Kritik ander rationalistischen Seinsentfremdung fort, die, wie es im Text heißt,gerade durch eine neue, von Seinsvertrauen und „Glauben“ geprägte Jugendüberwunden werde.140 Das philosophisch-politische Programm der Reise-beschreibung zielt darauf, ein Bewusstsein für die ‚andere Wirklichkeit‘ zuwecken, die nach der Überzeugung des Autors im ‚alten‘ Europa verloren-gegangen ist. Die Reise in die zivilisatorisch weitgehend unberührte Land-schaft des Nordens wird daher nicht allein als Erlebnis individueller Ver-wandlung und „Verzauberung“ dargestellt,141 sondern dient zugleich alsMetapher einer kulturellen Verjüngung: „Unser Kontinent ist längst in irdi-scher Mühsal ergraut, aber dort oben, in der nordischen Heimat, lebt eineandere, unberührte Welt fort“.142

Als Suche nach dem Ursprung beschreibt Vietta auch die Reisen, die ervor dem Zweiten Weltkrieg nach Tripolitanien, in den Fezzan – den west-lichen Teil der libyschen Sahara – und in die nordöstlich gelegene Kyrenaikaunternahm. Im Vergleich zum Lappland-Buch fallen an diesen Reise-beschreibungen allerdings zwei wichtige Unterschiede auf: Zum einen wirddie Frage nach dem Ursprung hier vor allem in Konfrontation mit der anti-ken und der primitiven Kultur verhandelt. Und zum anderen wird die kul-turelle Verjüngung nun nicht mehr nur als zivilisationskritische Forderungin den Raum gestellt. Vielmehr gerät mit der faschistischen Kolonialherr-schaft in Libyen ein Modell ihrer vermeintlichen Realisierung in den Blick.Dies macht schon die Schilderung des ersten Eindrucks von Tripolis deut-lich, die das Geheimnisvolle Libyen einleitet:

Es ist eine jugendliche, wie aus dem Nichts gestampfte Stadt, die rhythmischeHäuserfuge von Tripolis. Schon vibriert das Brio des italienischen Temperamentsin ihren Straßen. Wer durch die Kolonnaden des Corso Vittorio Emanuele oderCorso Sicilia schlendert, der weiß, daß hier ein Wunder geschehen ist. Denn ausafrikanischem Boden ist über Nacht italienische Erde geworden. Ueber Nacht:Diese Boulevards sind in atemraubendem Tempo in die Wüste hineingezielt, undwenn ich nach San Francesco d’Assisi hinauspilgere, dann ist es nicht anders, alspilgerte ich durch die Straßen einer Città des Mutterlandes, freilich durch einegelöstere und unbeschwertere Città. Zum ersten Male spüre ich das unbeschreibli-

139 Vietta, Empfindsame Reise nach Lappland, S. 15.140 Ebd., S. 18.141 Ebd., S. 186.142 Ebd., S. 14. – Dass Vietta Deutschland implizit dem zivilisationsmüden Europa zurechnet,

kann ebenso wie die nationalrevolutionär gefärbte antibürgerliche Rhetorik vieler Passagenals weiteres Indiz für eine Entstehung des Textes um 1930 bewertet werden. Der Autor weistzudem in einer Anmerkung auf der letzten Seite ausdrücklich darauf hin, dass das Buch aufeine im Jahr 1929 unternommene Reise zurückgeht.

Zwischen geschichtslosem Sein und faschistischer Modernität 295

che Glück einer Stadt, aller Geschichte enthoben zu sein und mit ihrer eigenstenGeschichte zu beginnen.143

In dieser Vision einer mittels Rhythmus und Bewegung aus dem ‚Nichts‘geschaffenen Stadt erscheint die italienische Kolonisierung als eine durchdie Berührung mit dem Ursprung, dem „nichtrationalen schöpferischenUrgrund“, ausgelöste Wiedergeburt.144 Nicht zufällig schildert Viettaunmittelbar im Anschluss an die zitierte Passage den Besuch einer Kirche,deren Wände eben von Vertretern der Ferrareser Malerschule um AchilleFuni, die der ebenfalls aus Ferrara stammende Gouverneur Italo Balbo nachLibyen geholt hatte, „in der alten Technik Giottos“ mit Fresken im neoklas-sizistischen Stil ausgemalt werden.145 Der Verfasser bewertet diesen Stil alsAusdruck einer „ursprüngliche[n] Schau“ und als ästhetische Entsprechungzur wirtschaftlichen und militärischen Kolonisierung des afrikanischen Lan-des: „die Schau einer unverderbten, massiven Klassik, die den Fuß auf unbe-rührtes Land setzt – so wie diese Stadt ihre Kräfte aus der ewigen Italianitàund ihre Vitalität aus der jungfräulichen italienischen Erde saugt.“146

Die einleitenden Passagen verweisen auf den politischen und ideo-logisch-propagandistischen Kontext der Reisebeschreibung und auch derReise selbst. Seit Beginn der dreißiger Jahre hatte die faschistische Regie-rung nicht nur die wirtschaftliche und soziale Kolonisierung der von Italienbereits 1911/12 besetzten Gebiete vorangetrieben, sondern sie gleichzeitigimmer stärker propagandistisch verwertet. So sollten die Überlegenheit deritalienischen Zivilisation demonstriert und die Expansion im Sinne des vonMussolini proklamierten ‚Imperiums‘ gerechtfertigt werden. Das zentraleElement dieser Legitimationsstrategie bildete die Parallelisierung dermodernen italienischen mit der vorgeblichen römischen Kolonisation.Ihrer Visualisierung dienten zum einen der repräsentative Ausbau von Tri-polis oder der Bau der ‚Litoranea‘, der „grandiose[n] Küstenstraße desFaschismus“,147 die 1937 von Mussolini persönlich eingeweiht wurde, zumanderen archäologische Projekte, wie die ‚Rekonstruktion‘ der römischenSiedlungen von Lepcis Magna und Sabratha, die unter dem Regime Balbosund des für die Ausgrabungen zuständigen Superintendenten Giacomo

143 Vietta, Geheimnisvolles Libyen, S. 5. – Viettas Libyenbuch erschien außer in der hier zitier-ten Hardcover-Dünndruck-Ausgabe im selben Jahr und im selben Verlag auch in einer texti-dentischen, aufgrund des großzügigeren Satzes von der Seitenzahl her aber umfangreicherenLeinenausgabe mit dem Titel Ritt durch den Fezzan. Geheimnisvolles Libyen.

144 Vietta, Geheimnisvolles Libyen, S. 6. – Siehe hierzu auch Gregor Streim, Erfahrung deranderen Moderne. Deutsche Reiseberichte in den 30er Jahren (Hanns Johst, Heinrich Hau-ser, Lothar-Günther Buchheim, Egon Vietta), in: Walter Fähnders/Nils Plath/HendrikWeber/Inka Zahn (Hg.), Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und die Metropolen, Bielefeld2005 (= Reisen – Texte – Metropolen, Bd. 1), S. 135–152, hier S. 149–152.

145 Vietta, Geheimnisvolles Libyen, S. 5.146 Ebd., S. 6.147 Ebd., S. 17.

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Caputo propagandistisch funktionalisiert wurden.148 Unter Propaganda-Gesichtspunkten wurde auch die Entwicklung eines ‚turismo archeologico‘gefördert.149

Vietta besuchte auf seinen Reisen nicht nur die Zentren des ‚turismoarcheologico‘ – Lepcis Magna und Sabratha in Tripolitanien sowie Kyreneund Ptolemaïs in der Kyrenaika –, sondern bemühte sich auch, den Gedan-ken der imperialen Erneuerung in seiner Reisebeschreibung mit sinnfälligenBildern zu veranschaulichen. So schildert eine Szene, wie bei einem Besuchdes Ruinenfeldes von Lepcis der Sand plötzlich eine antike Statue freigibt:„Arbeiter richten eine Säule auf. Eine Inschrift wird zusammengesetzt –Block an Block, und die klare römische Schrift flammt in der afrikanischenHitze, als habe sie der römische Steinmetz erst gestern eingeritzt. […] Wiralle schweigen, wie wir den Namen des Augustus lesen.“150 Die apologeti-sche Darstellung der vom Kult der ‚romanità‘ geprägten italienischen Kolo-nialarchäologie und insbesondere der Leistungen Caputos kann jedochnicht verdecken, dass das Hauptaugenmerk des Reisenden nicht der römi-schen Antike und ihrer rekonstruktiven Vergegenwärtigung galt. Diesbemerkte schon Hans Paeschke, der in einer Rezension von GeheimnisvollesLibyen schrieb, es sei „nicht das Libyen der Küsten und Vorsteppen, dasLibyen der weißen Kolonisation“, das darin geschildert werde, sondern „daszeitlose Libyen der Wüste“.151 Tatsächlich war das eigentliche Ziel vonViettas 1938 unternommener Reise nicht die tripolitanische Küstenregion,sondern der im Süden gelegene Fezzan, die westliche Sahara. Diese geogra-phische Ausrichtung entsprach der Konzentration seines Interesses auf dievor- und urgeschichtliche Vergangenheit Nordafrikas oder, noch allgemei-ner: auf die Vorgeschichte ‚des Menschen‘.152 Der Fezzan sei das „Land, indem der Mythos der menschlichen Urtage Wirklichkeit ist, in dem sich dieGewalten der Natur das grandioseste Monument gesetzt haben, in dem der

148 Vgl. hierzu die instruktive Studie von Stefan Altekamp, Rückkehr nach Afrika. ItalienischeKolonialarchäologie in Libyen 1911–1943, Köln/Weimar/Wien 2000. Altekamp weist anverschiedenen Beispielen nach, wie die faschistische Kolonialarchäologie die wissenschaftli-chen Maßstäbe, die für die klassische Archäologie verpflichtend waren, aufgab und dieArchäologie eine wichtige Rolle „für die Ausformung einer faschistischen Ideologie“ über-nahm (S. 241).

149 Zur Verbindung von Archäologie und staatlicher Tourismusplanung vgl. ebd., S. 230–233.150 Vietta, Geheimnisvolles Libyen, S. 10 f.151 Hans Paeschke, Das Herz Nordafrikas [Rezension], in: Deutsche Zukunft, 7. Jg., 3. Dezem-

ber 1939, S. 16.152 Der Fezzan fungiert bei Vietta als Bild für die „Vorgeschichte schlechthin“, für „das

Geschichtslose“; und die verschiedenen kulturgeschichtlichen Schichten Libyens dienen ihmals Metapher einer „Weltgeschichte des menschlichen Bewußtseins“, wie er in einem ande-ren, im Zusammenhang mit dem Reisebuch entstandenen Text formuliert; vgl. Egon Vietta,Libyscher Existenzial. Natur als Schicksal, in: Werner Benndorf (Hg.), Das Mittelmeerbuch,Leipzig 1940, S. 429–457, hier S. 433 f.

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vorgeschichtliche Mensch in Tausenden von Felsvisionen vorübergeistert“,heißt es am Anfang des Buches.153

Der Blick des Autors ist dabei allerdings nicht mehr historisch oder völ-kerkundlich, wie noch bei den deutschen Afrikareisenden des 19. Jahrhun-derts, sondern kulturpsychologisch und -physiologisch geschult. Er selbstweist darauf hin, dass sich der wissenschaftliche Forschertrieb inzwischen„verfeinert“ habe und „im Verhältnis zum primitiven Menschen“ in derGegenwart „gerade das seelische Ausdrucksgut in den Vordergrund“ tre-te.154 Indirekt bezieht er sich dabei auf die Afrikastudien von Leo Frobeni-us, der mit einer neuen ‚intuitiven‘ Betrachtungsweise das Kultur- und See-lenleben, das ‚Paideuma‘, der primitiven Völker zu erfassen versucht undKultur als ein „die Menschen innerlich formendes Wesen“ definiert hat-te.155 Nach Frobenius kam es bei der Betrachtung fremder Kulturen daraufan, sich in einer phänomenologischen Bewegung den „fließenden Ergriffen-heiten“, aus denen Kultur bestehe, anzunähern.156 Diese Haltung lässt sichvor allem an Viettas faszinierter Beschreibung der ekstatischen nubischenund arabischen Tänze beobachten, in denen sich die unterschiedlichen Kul-turkreise und -stufen spiegeln, die er auf seinem Weg in den Süden durch-

153 Vietta, Geheimnisvolles Libyen, S. 6. – Vietta stellte seine Unternehmung damit in den wis-senschaftsgeschichtlichen Kontext der (nach)romantischen Mythen- und Altertumsfor-schung, deren Aktualität er schon in seinem Aufsatz über Das Ende des Humanitätsideals ausdem Jahr 1936 hervorgehoben hatte. Demnach hatten Wissenschaftler und Dichter wieDilthey, Bachofen, Spengler, Frobenius und Benn durch „die Ausweitung des geschichtlichenHorizonts“ hin zu den vorgeschichtlichen Kulturkreisen maßgelblichen Anteil daran, dass inDeutschland die „kulturellen Sicherungen“ der Klassik überwunden worden seien und „dasIdeal der Mitte gründlich relativiert“ worden sei (Vietta, Das Ende des Humanitätsideals,S. 355 und 357). Man beginne eben, so hatte er damals hinzugefügt, „nach dem Ursprungder antiken Bildungswerte zu forschen oder die menschliche Situation vor der Bildung dieserWerte wiederherzustellen“ (ebd., S. 357; Hervorhebung im Text). Man überspringe „dieantike Bewußtseinswelt“ hin „zu jenem Dämmerreich, das die prähistorische Wissenschaftals vorgeschichtliche Urerinnerung in unser Bewußtsein heraufgeholt hat“ (ebd.). Auch inseiner im selben Zeitraum entstandenen Abhandlung über den Tanz verweist er auf den „An-schauungswechsel“ in der Altertumswissenschaft, durch den „die schöpferische Kraft derurzeitlichen Kultur ins Bewußtsein gerückt“ worden sei und sich „die wissenschaftlicheErforschung der »Primitiven«, der Reste von Urkulturen […] fieberhaft entwickelt“ habe;vgl. Egon Vietta, Der Tanz. Eine kleine Metaphysik, mit Zeichnungen von Alfredo Bortoluz-zi, Frankfurt a.M. 1938, S. 61 f..

154 Vietta, Geheimnisvolles Libyen, S. 236.155 Leo Frobenius, Vom Völkerstudium zur Philosophie. Der neue Blick. Das Paideuma, 2.,

erweiterte Aufl. Frankfurt a.M. 1925 (= Erlebte Erdteile. Ergebnisse eines deutschen For-scherlebens, Bd. IV), S. 38. Vietta verweist an einer anderen Stelle seines Buches auf Frobeni-us, der ihn bei der Planung seiner Reise beraten hatte. Zu Frobenius’ eigener, für Vietta inmehrfacher Hinsicht vorbildhafter Fezzan-Expedition vgl. Leo Frobenius, Monumenta Afri-cana. Der Geist eines Erdteils, Frankfurt a.M. 1929 (= Erlebte Erdteile. Ergebnisse einesdeutschen Forscherlebens, Bd. VI). Spuren von Viettas Frobenius-Rezeption finden sichauch in Vietta, Giambattista Vico, S. 23.

156 Frobenius, Monumenta Africana, S. 26.

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quert.157 So findet der (spät)arabische Fezzan für ihn seinen tänzerischenAusdruck darin, dass die „Dämonie“ und „Gräßlichkeit des nackten Lebens[…] ungehemmt zutage“ bricht:

Nichts vom Heroismus, der kämpferischen Entschlossenheit der Tuareg, nichtsvom gefesteten Lebenskreis der Tebu, nichts von der intelligenten Bewußtheit derKüste. Nur ein dämmeriges Sichverliegen in der saharanischen Hitze, wie eine trägeSchlange, die sich unerwartet aufreckt und in dumpfer Lebenstrunkenheit hin undher schwingt, tanzt und tanzt.158

Auf intuitiv-einfühlende Weise werden Formen und Bewegungen des Tan-zes mit psycho-physischen Zuständen assoziiert. Die Beschreibung ähnelthier der lebensphilosophisch geprägten Kulturmorphologie, die alle kultu-rellen Phänomene als Manifestationen vitaler Kräfte begreift. Dominierendist in Viettas Reisebuch aber eine andere Tendenz, nämlich die einer forma-len, nicht-psychologisierenden Ästhetisierung, mit der gerade die Distanzzwischen dem wahrnehmenden Ich und dem dämonischen ‚Leben‘ betontwird. Sie zeigt sich insbesondere in den Schilderungen der anorganischenFels- und Wüstenformationen und zielt auf eine Transzendierung der äuße-ren und inneren Natur:

Ueber den Felsen lagert ein gelblicher Farbschleier, und die Sonne, die keinenWiderstand, kein Grün, keinen Baum trifft, scheint das vage Gelände in eine ein-zige, schillernde und millionenfach vibrierende Atmosphäre aufzulösen – nichtshaftet, nichts stellt sich, alles schwindet in diesem flirrenden Licht.159

Wie hier auf das physikalische Phänomen des Lichts, so rekurriert der Autoran anderen Stellen auf kosmologische oder mathematisch-geometrischeBegriffe und Bilder, um das Erlebnis der Wüste als existentielle Grenzerfah-rung darzustellen. Etwa, wenn die Spur des Autos im Sand zur Vision einerÜberwindung der raum-zeitlichen Realität wird: „Doch die unermeßlicheBahn hält sich in der Schwebe – wir kreuzen zwischen zwei Unendlichkeiten[…]. Wir bewegen uns im vollkommensten Kreis, auf der vollkommensten

157 Das ausgeprägte Interesse am Tanz der ‚Primitiven‘ steht in engem Zusammenhang mit denAusführungen in Viettas ein Jahr zuvor erschienener Monographie über den Tanz. Schondort öffnet der ekstatisch-entrückte Tanz der ‚Primitiven‘ dem Autor den Zugang zum meta-physischen Wesen des Tanzes und damit des Menschen selbst: „Er gehört zu jenem unbe-greiflichen Leben, das mehr als Leben ist; darin liegt seine metaphysische Tiefe. Er ist eineexistentielle Lebensäußerung, Ausdruck unserer geistigen Existenz, nicht unserer physischenBeschaffenheit. Darum ist er auch noch in seiner ärmlichsten Gestalt dem Geist und nichtder Physis verpflichtet“ (Vietta, Der Tanz, S. 36). Vietta führt diesen Gedanken in seinen1945 in Italien entstandenen Briefen über den Tanz fort. Sich auf die Philosophie Kierke-gaards und Schelers berufend, deutet er den Tanz dort als Transzendierung bzw. ‚Verklärung‘der physischen Natur des Menschen: „das Wirkliche wird hier überbejaht – und in dieserVergöttlichung des fleischlichsten Tuns erscheint plötzlich ein übernatürliches – als sei unserirdisches Gewand nur ein […] ‚Schleier‘, unter dem etwas viel Wirklicheres geschieht“ (vgl.Egon Vietta, Briefe über den Tanz, o.O. und o. J. [Hamburg 1948], S. 46).

158 Vietta, Geheimnisvolles Libyen, S. 205.159 Ebd., S. 25.

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Geraden.“160 Nicht als Eintauchen in das vegetative Sein erlebt der Rei-sende die Wüste, sondern als Abenteuer einer „grandiosen geistigenAnspannung“; die Wüste wird zu einer „Schule der Entschiedenheit“.161

Die Opposition von geschichtslosem, vegetativem Sein und gesteigerterBewusstheit strukturiert diese Schilderungen der archaischen Natur undKultur, bildet zugleich aber auch den konzeptionellen Rahmen, in dem diefaschistische Kolonisation reflektiert wird. Diese stellt Vietta als ein gegendie Natur gerichtetes, heroisches Unternehmen geistig-technischer Raum-beherrschung vor. Etwa, wenn er das am Rande der Wüste gelegene Militär-kommando Hun, die „Etappe für den unermüdlichen, entschlossenenAngriff auf die Natur“, mit ihren streng geordneten, großzügigen Anlagenals eine „ganz aus den Möglichkeiten der Fläche“ gedachte „europäischeSiedlung“ feiert und die Beherrschung der südlichen Militärzone durchFlugzeuge und Forts als Fortführung der „altrömischen Tradition“rühmt.162 Als das „überzeugendste Symbol“ faschistischer Herrschaft be-zeichnet er den Flug des Gouverneurs und Kampffliegers Italo Balbo, „derden gewaltigen Raum in einem einzigen Tag durchjagt und wie eine Herdezusammengetrieben hat: in die Hand des Impero romano“.163 Das italie-nische ‚Imperium‘ erscheint in solch futuristisch getönten Bildern als eineaus dem Zusammenspiel von Willenskraft und Technik hervorgegangeneSchöpfung. Wenn es an anderer Stelle aber heißt, dieser Zivilisationsprozesssei „auch ein Prozeß – gegen das dämmrige, vegetative Sein“, in dessen Voll-zug „die träumerische Romantik ewig verloren“ gehen müsse, dann istdamit angedeutet, dass auch das faschistische Kolonisationsmodell dieGefahr der Seinsentfremdung in sich birgt.164

Die Bewahrung der ‚träumerischen Romantik‘ tritt in der zwei Jahrespäter erschienenen Romantischen Cyrenaika als Viettas zentrales Anliegenin den Vordergrund. Anders als im Geheimnisvollen Libyen richtet sich seinBlick in dieser Beschreibung einer Reise, die er kurz vor Beginn des ZweitenWeltkriegs durch die Kyrenaika bis nach Ägypten unternahm, nicht auf dieVorgeschichte und die römische Antike, sondern auf die islamische Weltund die griechische bzw. griechisch-römische Antike. Auch formal unter-scheidet sich Viettas zweites Libyenbuch, das im Hamburger Broschek-Verlag, dem Verlag der Monatsschrift Italien, erschien, deutlich von demvorangegangenen Band. Während der mit zahlreichen Fotos illustrierteEssay über die Fezzan-Reise ebenso wie der über die Lappland-Reise, diebeide im Frankfurter Societäts-Verlag erschienen waren, in vielen Aspektennoch den Genrekonventionen der neusachlichen Reisereportage entsprach,

160 Ebd., S. 36.161 Ebd., S. 62.162 Ebd., S. 31 und 30.163 Ebd., S. 30.164 Ebd., S. 11.

300 Egon Vietta

ist das Kyrenaika-Buch, wie bereits im Untertitel annonciert, als ‚Dichtungeiner Reise‘ konzipiert.

Der ‚dichterische‘ Charakter zeigt sich an der Verwendung der präteri-talen Erinnerungsform, vor allem aber an der Tendenz zur Fiktionalisie-rung. Genauer betrachtet, handelt es sich bei diesem Text um eine Misch-gattung aus Reisebericht, fiktionaler Erzählung und philosophischem Essay.Denn die Erzählung folgt zwar den Stationen von Viettas Reise, löst in derSchilderung der Orte und Begegnungen aber die Grenzen zwischen äußerenEindrücken, visionärer Vergegenwärtigung und allgemeiner Reflexion aufund wird zudem immer wieder von einmontierten fiktionalen Dokumentenund Dialogen unterbrochen. Beispielsweise geht der Bericht über denBesuch des Flusses Lethe unversehens in die Vision einer mythischenHadesfahrt über.165 Auch werden viele der dem Ich-Erzähler begegnendenPersonen als moderne Wiedergänger antiker Dichter und Gelehrter – Aris-tipp, Kallimachos, Eratosthenes oder Synesios – dargestellt. Dabei wird dieDifferenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart jedoch nicht aufgeho-ben, vielmehr bleiben beide in Form eines romantisch-ironischen Vexier-spiels von Schein und Sein nebeneinander bestehen. Mit den Stimmen derantiken Dichter bzw. Gelehrten inszeniert Vietta ein die Zeiten überbrü-ckendes Gespräch über die Frage, ob das Göttliche nur im Geist oder auchin der diesseitigen Welt zu finden sei, das implizit auf die geistige Situationder Gegenwart bezogen ist.166

Offensichtlich versuchte Vietta mit diesem ästhetischen Verfahren dasProgramm der Entrealisierung, der Durchbrechung der auf ‚Tatsachen‘gegründeten Wirklichkeitskonzeption umzusetzen, das er in seiner roman-tischen Ausdeutung der modernen Poetik skizziert und schon in seinemersten Roman illustriert hatte. „Wenn der Gang der Handlung, dieBeschreibung der Ruinen“, so heißt es in einer selbstreflexiven Passage desKyrenaika-Buchs, „wieder und wieder durch Gedanken zerrissen, durch

165 Viktor Otto hat das Hadesfahrtmotiv als zeittypische Verschlüsselung von Homoerotik inter-pretiert; vgl. Viktor Otto, Ganymed in der Unterwelt. Hadesfahrt und Homoerotik: Tho-mas Mann, Egon Vietta, Gustav René Hocke, in: studi germanici, n.s., 28 (2000),S. 475–495, bes. S. 480–484. Parallel dazu hat Christian Klein Viettas frühe Erzählung Bar-carole als homoerotischen Text charakterisiert, ohne für diese Bewertung jedoch mehrGründe anzuführen als die enge Anlehnung an Thomas Manns Tod in Venedig; vgl. ChristianKlein, Schreiben im Schatten. Homoerotische Literatur im Nationalsozialismus, mit einemVorwort von Gert Mattenklott, Hamburg 2000, S. 117–122.

166 Besonders deutlich wird dies in dem aus fiktiven Gesprächen, Reden und Dokumenten arran-gierten Disput des Neuplatonikers Synesios mit dem hellenistischen Dichter Kallimachosund dem modernen Archäologen di Cavalli. Synesios wirft dem Archäologen vor, einen„Tempel ohne Götter“ (Vietta, Romantische Cyrenaika, S. 192) zu errichten, und an denDichtungen Kallimachos’ kritisiert er den Manierismus, der den Klang „vergötzen“ und „dasHeilige“ verfehlen würde (ebd., S. 204). Kallimachos hält dem entgegen, Synesios würde„Gott imGeiste allein“ suchen (ebd. S. 210). Am Ende des Buches fügt Vietta dann eine deut-sche Übersetzung der Hymnen des (in Kyrene geborenen) Kallimachos mit Kommentar an.

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Götter, Menschen und sonderbare Erscheinungen unterbrochen“ werde,dann entspringe dies „dem geheimnisvollen Unglauben an die Wirklich-keit“, der schon mit Kallimachos eingesetzt habe.167 Der Gegensatz vonwissenschaftlicher Empirie und dichterischer Epiphanie, von Faktenglaubenund Wirklichkeitszweifel wird in der Erzählung insbesondere im Umgangmit den Zeugnissen der Antike thematisiert. So wirft der Ich-Erzählereinem seiner Begleiter, dem Archäologen Eratosthenes, vor, mit seinen„Messungen“ die „geheimste und verschwiegenste Musik“ der Ruinen, das„Unwirkliche“ zwangsläufig zu verfehlen.168 Dagegen gelingt es ihm selbstimmer wieder, sich die Antike visionär zu vergegenwärtigen, etwa wennbeim Besuch der Ausgrabungen in Kyrene der Apolltempel für ihn einenAugenblick „wie eine Vision von Licht im Raum“ erscheint.169

Anders als die Messungen des Eratosthenes wird die auf Vergegenwärti-gung der Antike gerichtete faschistische Kolonialarchäologie im Text nichtals ein empirisch-wissenschaftliches, sondern als ein von visionärem Willenerfülltes Unternehmen präsentiert. Sie wird mit der Gestalt des seit 1935für die Ausgrabungen in ganz Libyen, also auch in der Kyrenaika, zuständi-gen Superintendenten Giacomo Caputo identifiziert, dem Vietta dasBuch – „als ein Zeichen der Freundschaft und Verehrung für die wunder-baren geistigen und politischen Leistungen seiner Nation“ – widmete undder ihm offensichtlich als Modell für die Figur des Archäologen Giorgio diCavalli, des Freundes und wichtigsten Begleiters des Ich-Erzählers, dien-te.170 In Giorgio di Cavalli verbinden sich Charakterzüge des Machtmen-schen, Technikers und Visionärs:

Er entriß Landschaften, Kulturen, Tempel und Gräberfelder dem Boden, aber eswar kein Leben, keine Wirklichkeit mehr in dem geöffneten Boden, er hatte nichtdie Kraft, wie der Gouverneur, Städte mit Leben zu erfüllen, Alltag, Gegenwart zuschaffen. Alles, was für ihn wirklich war, lebte in seinem Kopf: Eine Wirklichkeit,mit der er spielen, die er aufrichten und zerstören konnte, und die einzigen Urkun-den, mit denen er seine Wirklichkeit belegte, waren die Schemen der verlorenenZeit: die Ruinen.171

Di Cavallis Ausgrabungen erscheinen als ein heroischer und zugleich ver-geblicher Versuch, die Ruinen mit neuem Leben zu erfüllen. Denn letztenEndes befördert die archäologische Rekonstruktion nur die Vergänglichkeit:„Er hatte die Ruinen mühsam zusammengestückt, aber auch gebrechlicher,empfindlicher, brüchiger gemacht.“172 In die unüberhörbare Bewunderungfür die Leistungen di Cavallis bzw. Caputos mischt sich der Zweifel, ob das

167 Ebd., S. 110.168 Ebd., S. 110.169 Ebd., S. 98.170 Ebd., Vorsatzblatt.171 Ebd., S. 60.172 Ebd., S. 172 f.

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Wesen der vergangenen Kultur auf diese Weise erfahrbar gemacht werdenkann. Di Cavalli oder ‚Zeus‘, wie ihn der Ich-Erzähler auch nennt, erscheintim Text als Vertreter eines neuen Glaubens, der das in der chthonischenSphäre der Gräber und der Erde eingeschlossene Leben mit Willenskraftund Technik der hellen Welt des neuen Imperiums einzuverleiben sucht,am Ende aber die Hybris dieses Unterfangens erkennen muss. Er begreift,dass „der Wiederaufbau des Vergangenen […] den Keim zum unwiderrufli-chen Ende, zum Untergang“ in sich trägt und „niemand weiß, wohin diegeheimen Kräfte der Wiedergeburt wandern.“173 Dieser tragische Zug derFigur wird von Vietta dadurch verstärkt, dass di Cavalli – anders als der his-torische Caputo – symbolträchtig bei einem Sturz in eine seiner Ausgra-bungsstätten umkommt.

An der Charakterisierung des Archäologen lässt sich ablesen, dass Viettain seiner Darstellung Libyens nicht die Deutung der faschistischen Koloni-alpropaganda übernahm, sondern sich dem Land eher aus der Perspektiveromantischer Kulturphilosophie näherte. So wie der ‚imperiale‘, auf dieGegenwart zielende Zeichencharakter der italienischen Kolonialarchäologiein der Romantischen Cyrenaika weitgehend ausgeblendet ist, so bleibt auchdie politische, wirtschaftliche und militärische Kolonisierung auffälligunterrepräsentiert im Verhältnis zu dem, was der Klappentext als „dieGeschichte und geistige Wesenheit der Cyrenaika“ bezeichnet. Dazu gehö-ren die Stimmen der antiken Dichter und Gelehrten, die Vietta wachruft,ebenso wie der religiöse Volksglaube der arabisch-islamischen Einwohner,der den Reisenden in seinen Bann zieht. In der Konzeption seiner Erzäh-lung repräsentiert dieser Glaube eine ‚andere‘, der ‚imperialen‘ gegenüber-stehende Wirklichkeit und bietet den Anlass zu einer Reflexion über dasWesen totalitärer Herrschaft.

Dies wird spätestens am dramatischen Höhepunkt der Erzählung offen-kundig: in der Begegnung mit dem Präfekten von Derna, vor dem derErzähler sich für seinen Umgang mit einer mystischen islamischen Sekterechtfertigen muss, der ihn den italienischen Kolonialbehörden verdächtiggemacht hat. Das Gespräch, in dem der Erzähler sich erfolgreich für dieSekte einsetzt, entwickelt sich schnell zu einem grundsätzlichen politisch-philosophischen Dialog über ‚die Wirklichkeit‘. Während der als cäsarischeFührergestalt nach dem Muster Balbos gezeichnete Präfekt nur eine Wirk-lichkeit gelten lassen will, die „Realität unseres Daseins[,] Ordnung,Zucht“, die „Wirklichkeit, die wir selber setzen“, wirbt der Ich-Erzählerdafür, auch eine zweite, ‚andere‘ Wirklichkeit anzuerkennen:174

173 Ebd., S. 173.174 Ebd., S. 257 (Hervorhebung im Text). – Der besondere Stellenwert, den Vietta und die

Herausgeber der Neuen Rundschau diesem Gespräch beimaßen, wird daran deutlich, dass esdort vorab veröffentlicht wurde; vgl. Egon Vietta, Der Präfekt, in: Die Neue Rundschau 51(1940), S. 602–607.

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»Exzellenz«, sagte ich entschlossen, »es ist etwas anderes, ob ich nur mit einer odermit beiden Wirklichkeiten rechne. Die Welt, die nur mit einer Wirklichkeitgerechnet hat, der physikalischen, geht in Trümmer, und wir sind dabei, eine neue,wirklichere, absolute Achse durch Europa zu legen. Bomben können eine Weltstadtin Schutt und Asche brennen. Aber ein Wort kann Jahrhunderte aus den Angelnheben. Die gigantische Eruptivkraft der inneren Welt, das was die westlerischenRationalisten nie begriffen haben. […].«175

Man kann diese Rede als Plädoyer für eine metaphysische Fundierung tota-litärer Herrschaft in Europa lesen. Die faschistische Ordnung hat in denAugen des Sprechers im Gegensatz zum rationalistischen ‚Liberalismus‘durchaus die Qualität einer „neuen Wirklichkeit“, da sie unmittelbar ausWillenskraft neue Formen schaffe:176 Es sei der „neue Tempel von Kyrene“,in dem ein „bewußterer, euklidischer Apoll“ regiere, „der geniale Techniker,der Baumeister der Menschenmassen, der den tollkühnen Brückenschlag indie Zukunft wagt“.177 Ebenso wirklich sei aber die „eruptive Kraft desGeistes“, und zwar des Geistes, der nicht „frei, schwebend, wurzellos“ sei,sondern der „in der Wirklichkeit eines Volkes ankert und wie ein Keim, einSchößling die Decke zerreißt“.178 Der technischen Zivilisation wird hierein organisches Kulturverständnis entgegengesetzt und dem Kult der ‚ro-manità‘ die romantische Volksgeistidee, auf die sich Vietta bereits in seinemAufsatz über Die Bannmeile des Schöpferischen berief.179 Dabei unterlegt erseiner Darstellung des Gegensatzes von Kolonialherrschaft und autochtho-ner Kultur das aus der romantischen Mythen- und Altertumsforschungbekannte dichotomische Modell von olympischer und chthonischer Religi-on. Denn ebenso wie der Archäologe di Cavalli ist auch der Präfekt alsRepräsentant einer neuen, männlich-apollinischen Götterherrschaft ge-zeichnet, die den alten Glauben an die Schicksals- und Erdgottheiten ver-drängen möchte, als dessen Anwalt der Ich-Erzähler auftritt.180 Auf diesem

175 Vietta, Romantische Cyrenaika, S. 259.176 Ebd., S. 258.177 Ebd.178 Ebd., S. 260.179 Daher kann Vietta m. E. nicht als Repräsentant des nationalrevolutionären Technikdiskur-

ses eingestuft werden, wie es Carl Wege vorschlägt. Vgl. Carl Wege, Buchstabe und Maschi-ne. Beschreibung einer Allianz, Frankfurt a.M. 2000, S. 88. Eine strikte ideologiegeschicht-liche oder diskursanalytische Unterscheidung von völkischen ‚Romantikern‘ und modernen‚Nationalrevolutionären‘ erscheint auch grundsätzlich problematisch. Zumindest für denText Viettas ist gerade die Verbindung von organischen und technischen Denkfiguren cha-rakteristisch.

180 Vietta war die Dichotomie von olympischer und chthonischer Sphäre aus BachofensMutter-recht (1861) vertraut, wie frühere Bemerkungen zeigen (vgl. u. a. Egon Vietta, Äschylus unddie Sendung des Abendlandes, in: Die Literatur 40 [1937/38], H. 7, April 1938,S. 396–399, hier S. 396). Hier scheint er aber in erster Linie der popularisierenden Darstel-lung Alfred Baeumlers zu folgen, auf dessen „ausgezeichnete und grundlegende Abhandlung“er schon in seiner Schrift über den Tanz rekurrierte (vgl. Vietta, Der Tanz, S. 62). Baeumlerentwickelt den Gegensatz von olympischer Götterwelt und chthonischer Religiosität am Bei-

304 Egon Vietta

Hintergrund lässt sich die bei Vietta schon mehrfach konstatierte Ambiva-lenz gegenüber dem italienischen Faschismus genauer bestimmen: Zwarhandelt es sich dabei in seiner Sicht um einen Glauben, also keine Spielartdes Rationalismus; dieser steht jedoch in Gefahr, in technischen Dynamis-mus abzugleiten, wenn er die Verbindung zur Sphäre kosmischen Lebensverliert. Viettas Vorbehalt gegenüber dem italienischen Totalitarismusentspricht damit seiner Kritik am Formalismus der futuristischen Kunst.Im Unterschied zu manchen (ehemaligen) Avantgardisten präsentiert erden Faschismus daher auch nicht als ‚moderne‘ Alternative zum National-sozialismus. Während er die italienische Kulturpolitik im Kontext derAuseinandersetzungen um die moderne Kunst und um den ‚erneuertenHumanismus‘ im ‚Dritten Reich‘ indirekt der nationalsozialistischen Geist-feindschaft entgegensetzt, nähert er sich hier wiederum der völkischen Kri-tik am faschistischen Modernismus an.

7. Jenseits von Mutterrecht und Vaterrecht:Corydon (1943)

Noch 1943 erschien im Societäts-Verlag Viettas zweite längere ErzählungCorydon. Im Vergleich mit dem Ende der zwanziger Jahre publizierten Engelim Diesseits fällt eine zeittypische Veränderung der Schreibweise ins Auge.Hatte Vietta im ersten Roman noch mit avantgardistischen Mitteln experi-mentiert, so pflegt er jetzt einen poetisch-realistischen Erzählstil. Und stattim Berlin der zwanziger Jahre spielt die Handlung nun in der ohne konkreteZeitbezüge gezeichneten Gegenwart einer norddeutschen Kleinstadt.Erzählt wird die Geschichte des Knaben Corydon, des Kindes eines deut-schen Malers (Gil) und einer Griechin (Aegle), der anfangs in Griechen-land, infolge der Trennung der Eltern später jedoch bei seinem Vater inNorddeutschland aufwächst und nach dessen psychischem Zusammen-bruch und einem dramatischen Streit der Eltern um das Kind schließlichvom Ich-Erzähler (Eduard) adoptiert wird. Das Verständnis dieser Ge-

spiel der homerischen Epen: „Auf dem höchsten Gipfel der homerischen Mythologie findenwir den Gegensatz wieder […]: neben Zeus waltet die Moira – eine unpersönliche, dunkle,gänzlich unolympische Macht. In dieser Vorstellung eines über den olympischen Götternthronenden Schicksals stoßen wir wieder auf das, was die Rationalisten das »Mystische«nannten und aus allem echt hellenischen Glauben auszuschließen beflissen waren. Wir habengelegentlich das Wort dämonisch dafür eingesetzt; hier könnten wir kosmisch sagen. […]Überall da, wo man in kosmischen Zusammenhängen denkt, steht das Leben imMittelpunktdes Fühlens und Sinnens“ (Alfred Baeumler, Bachofen der Mythologe der Romantik, in: J[o-hann] J[akob] Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident. Eine Metaphysik der altenWelt, mit einer Einleitung von Alfred Baeumler, hg. von Manfred Schroeter, München1926, S. XXV-CCXCIV, hier S. XLI [Hervorhebungen im Text]).

Jenseits von Mutterrecht und Vaterrecht 305

schichte ergibt sich aus ihrer Erzählung im Rückblick, nämlich als ein vieleJahre nach diesem Ereignis von Eduard für Corydon verfasster Bericht, dener, so die im Vorspann entworfene Fiktion, am Vortag von dessen fünfzehn-tem Geburtstag vollendet. In diese Aufzeichnung sind Erinnerungen Gils inForm einer Binnenerzählung und eines Auszugs aus seinem Diarium ein-montiert, die Einblick in die Gründe seiner traumatischen Verstörunggeben. Die eigentliche Erzählung umfasst also allein die ‚mythische‘ Vor-und Urgeschichte der gegenwärtigen Situation. Die im Vorspann durch dasPräsens des Erzählens markierte Jetztzeit erscheint demgegenüber als Nach-Geschichte und als Nullpunkt eines Neubeginns.

Im Unterschied zur nationalrevolutionär gefärbten Zeitkritik des erstenRomans ist die in der zweiten Kriegshälfte erschienene Erzählung von einereher melancholischen und philosophisch-therapeutischen Sichtweise ge-prägt, deren zentrale Lehre vom Erzähler gleich zu Beginn formuliert wird:„Wir Menschen sind erst reif zu unserem Leben, wenn uns die Enttäu-schung gemaßregelt und die Hoffnung betrogen hat“.181 Die ‚Geschichteeines Knaben‘ ist in diesem Sinne auch als Geschichte einer ethischen Erzie-hung konzipiert – einer Erziehung, die dem Programm des ‚verjüngtenHumanismus‘ entsprechend in erster Linie nicht auf die Entwicklung intel-lektueller Fähigkeiten oder idealistischer Wertorientierungen, sondern aufdie Ausbildung einer sachlich-männlichen Lebenshaltung Wert legt. „WennAegle in diesen Raum träte“, so sinniert im Vorspann der Erzähler beimAnblick des in eine handwerkliche Arbeit vertieften, herangewachsenenJungen, „wie einstmals vor ihren Mann, wenn sie noch einmal Rechenschaftforderte, dann streckte ihr Corydon die Hand entgegen, und er würde aufihre Frage mit demselben sachlichen Anstand erwidern, den er in dieseArbeit hineinlegt.“182 Corydon hätte demnach gelernt, was sein Vater indem lange zurückliegenden Kampf mit Aegle allein nicht vermochte: näm-lich dem Anspruch der Mutter selbstbewusst entgegenzutreten. Undgehörte deshalb zu der Gruppe von „ritterlichen, stolzen, wissensdurstigenKnaben, die als ein neues Jahrhundert von der Woge der Jugend herauf-geführt werden“.183

Mit diesen dem Erzähler in den Mund gelegten Worten ruft der Autorerneut die Utopie der kulturellen Verjüngung auf, die von einer ‚kommen-den Generation‘ ausgeht. Und auch in diesem Fall entspringt die Erneue-rung einer Berührung mit dem griechischen Ursprung. Corydon ist imwörtlichen Sinne die Frucht der Begegnung eines Deutschen mit Griechen-land; er ist es aber auch im übertragenen, geistigen Sinne. Denn das Grie-chenland, das der deutsche Künstler Gil sucht und findet, ist weder das reale

181 Egon Vietta, Corydon. Geschichte eines Knaben, mit Zeichnungen von Hans Kuhn, Frank-furt a.M. 1943, S. 8.

182 Ebd., S. 10.183 Ebd.

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noch das ideale, das die Bildungsreisenden in den antiken Ruinen suchen,sondern es ist ein arkadisches Sein im Einklang mit der göttlich beseeltenNatur,184 wie es (mit anderer geographischer Verortung) Vergils Bucolicabeschwören, aus denen Vietta auch die Namen Corydon und Aegle ent-lehnte.185 Als eine verwilderte Satyrgestalt, die unter Ölbäumen schläft unddie Stimmen der Natur hört, tritt Gil dem Ich-Erzähler bei ihrer erstenBegegnung am Golf von Korinth entgegen und wird ihm, indem er ihn vonden Touristenwegen fortlockt und ihm die Augen für die „Wirklichkeit“öffnet, ein Führer „zum ewigen Hellas“.186 Als der Erzähler Gil dann nachvielen Jahren zufällig in Norddeutschland wieder trifft, ist der Künstlerjedoch verdüstert und in quälende Erinnerungen verstrickt. Die Vision des‚goldenen Zeitalters‘ scheint dem Erzähler – in einer wohl durch die 4.Ekloge der Bucolica inspirierten Szene – nun aber in Gils Sohn auf, den erzuerst als ein scheinbar niemandem gehörendes Kind im Uferschilf einesSees entdeckt. Gil gegenüber preist er den Knaben dann als ein „Geschenk“und eine „schöne Hoffnung, die du uns aus Hellas gebracht hast“.187 SeinCorydon sei „ein zweites, ein schöneres Delphi“.188

Der Hauptteil des Romans handelt davon, wie der Erzähler das vomKnaben verkörperte Heilsversprechen zu bewahren und ihn vor der Gefahrzu retten versucht, durch die Anfälle seines dämonengepeinigten Vaters undden unversöhnlichen Streit seiner Eltern beschädigt zu werden. Er erreichtsein Ziel, indem er das Kind schließlich zu sich nimmt und die höhere Legi-timation des Erziehers gegen die Ansprüche der Eltern durchsetzt. ZumVater sagt er: „Er gehört seinem Erzieher. Die Kinder gehören nicht denEltern, sie gehören uns allen, dem ganzen Volk … denn wir sind ja nurgroß, wenn wir über uns hinaufsteigen“.189 In gleicher Weise – nicht mehrin der „Ichform“, sondern im Namen einer „höhere[n]“ Instanz sprechend –weist er auch die Forderung der Mutter zurück: „das Kind ist Ihnen, das

184 Zu ähnlichen literarischen Anverwandlungen Griechenlands bei anderen Autoren dieser Zeitvgl. den Überblick von Horst Denkler, Hellas als Spiegel deutscher Gegenwart in der Litera-tur des ‚Dritten Reiches‘, in: Walter Delabar/Horst Denkler/Erhard Schütz (Hg.), Banalitätmit Stil. Zur Widersprüchlichkeit der Literaturproduktion im Nationalsozialismus, Bernu. a. 1999 (= Zeitschrift für Germanistik, NF, Beiheft 1), S. 11–27, bes. S. 22 f.

185 Bei Vergil gehören die Namen einem Hirten und einer Nymphe. Ob Vietta André Gides(erstmals 1924 unter dem Namen des Autors publiziertes und 1932 ins Deutsche übersetz-tes) Buch Corydon. Quatre dialogues socratiques, in dem eine mit dem Hirtennamen bezeich-nete Figur die Natürlichkeit der Homosexualität mit dem Hinweis auf die griechische Antikerechtfertigt, kannte und darauf anspielen wollte, lässt sich an der Erzählung nicht feststellen.Als ein Indiz dafür könnte gewertet werden, dass Viettas Erzähler denselben Beruf, nämlichden des Arztes, ausübt wie Gides Corydon.

186 Vietta, Corydon, S. 53.187 Ebd., S. 49.188 Ebd., S. 52.189 Ebd., S. 118.

Jenseits von Mutterrecht und Vaterrecht 307

Kind ist Gil längst genommen…“190 Am Ende verspricht er Gil, den Jun-gen in eine neue Zeit zu führen:

Er soll in eine bessere Welt hineinerzogen werden, wo Eltern nicht, nicht Völkersich bekämpfen und jeder sein privates Haus dem Großen opfert, das über allemwaltet. Die Alten nannten’s Zeus.191

Vietta rekurriert in dem Roman auf das mythologische Deutungsmuster,mit dem er auch in der Romantischen Cyrenaika operiert, und gibt derGeschichte damit eine kulturphilosophische und menschheitsgeschichtlicheTiefendimension. Im Grunde des dargestellten Konflikts wird auch hier derWiderstreit von apollinischer und chthonischer Welt, von Zeus und Moiraerkennbar. Dies betrifft zum einen die räumliche und zeitliche Oppositionzwischen der lichten griechischen Landschaft und der dunklen Atmosphäreder norddeutschen Kleinstadt, zum anderen die Geschichte Gils, deranfangs in Griechenland noch mit dem „delphischen Apoll“ eins zu seinscheint, dann aber von den Schatten in die „Unterwelt“ gezogen wird.192

Das Chthonische konnotiert hierbei eine Sphäre, in der menschliche Trieb-natur und Rechtsverhältnisse auf eigentümliche Weise verquickt sind, undwird dabei deutlich negativer bewertet als in der Romantischen Cyrenaika.Die leidenschaftlichen Besitzansprüche, mit denen Gil und Aegle ihrenKampf um das Kind führen und mit denen auch der Apotheker Faißt, einVertreter der kleinstädtischen Bürgerwelt, Gil das Kind entziehen lassenwill, resultieren jeweils aus gescheiterten Familienbeziehungen bzw. aus derUnmöglichkeit, eine dauerhafte Ordnung auf vitalen Trieben zu errichten.„Ich war ein Bock, ein närrischer Faun – aber kein Mensch in der verwilder-ten Natur“, bekennt Gil später gegenüber Eduard.193 Seine Verbindung mitAegle scheiterte in erster Linie an seiner mangelnden Triebkontrolle. UndFaißt verfolgt Gil, wie sich im Verlauf der Erzählung herausstellt, vor allemdeshalb, weil dieser ein Halbbruder von ihm ist, der einer außerehelichenLiebesbeziehung ihres Vaters entsprang.

Auf diesem Hintergrund gewinnen die zu Beginn formulierte Verzichts-lehre und der Erziehungsgedanke ihre anthropologische und kulturphiloso-phische Rechtfertigung: als Therapie zur Heilung der Schäden, die diedurch die Individualisierung des Eros entstandenen Leidenschaften ver-ursacht haben, und als Richtlinie für die Erziehung einer hiervon unbelaste-ten Generation. Es ist kein Zufall, dass der Ich-Erzähler einerseits Arzt undandererseits unverheiratet ist. Gerade sein bewusster Verzicht auf die Bezie-hung zu einer Frau qualifiziert ihn, der selbst allein von seinem Vater auf-gezogen wurde, zum Erzieher und verleiht ihm die Kraft, den mutterrecht-

190 Ebd., S. 177 f.191 Ebd., S. 203.192 Ebd., S. 78.193 Ebd., S. 129.

308 Egon Vietta

lichen, in der Blutsverwandtschaft begründeten Anspruch im Namen dergöttlichen Ordnung zurückzuweisen. Die besondere Wendung, in der Viet-tas Erzählung vom mythologischen Modell der romantischen Kulturphi-losophie abweicht, besteht darin, dass in ihr in gleicher Weise auch derAnspruch des Vaters negiert und das neue Recht des olympischen Zeusanders als bei Bachofen nicht mit dem Vaterrecht bzw. Eherecht gleichge-setzt wird.194 Das geistige Prinzip, das hier am Ende über das stofflichesiegt, ist das einer rein männlichen Paideia.

8. Die Nachkriegspublizistik

Es kann nicht überraschen, dass Corydon bald nach Kriegsende, 1948, imBadischen Verlag in Freiburg nachgedruckt wurde. Denn seine antivitalisti-sche Entsagungslehre fügte sich passgenau einem in der Nachkriegszeitdominanten Krisendiskurs ein, der die Orientierung an Werten bzw. Hal-tungen wie Bescheidenheit, Ehrfurcht oder ‚einfacher Sittlichkeit‘ (Boll-now) empfahl.195 Und seine parabolische Fabel, in der eine Zeit des Kultur-und Geschlechterkampfes nach einer kathartischen Auseinandersetzungüberwunden und der Beginn einer neuen Epoche in Aussicht gestellt wird,ließ sich problemlos als zeitgeschichtliches Deutungsmodell aktualisieren.

Eher überrascht die vollkommene Kontinuität, in der der Autor selbstin der Nachkriegszeit an seine zu Beginn der dreißiger Jahre ausformulierteModernekritik anknüpfte und sie auf die gegenwärtige Situation übertrug.Viettas zwischen Kriegsende und Anfang der fünfziger Jahre veröffentlichteEssays über Trakl, Eliot, Broch oder Sartre gleichen den früheren Aufsätzenüber die ‚Kollektivisten‘ oder Rilkes Duineser Elegien nicht nur in ihrerArgumentation und in ihren zentralen Thesen, sondern zeigen auch densel-ben Anspruch, von einer überlegenen philosophischen Warte aus eine gül-tige Deutung der ‚geistigen Situation‘ der Zeit zu geben. Und dabeibemühte er sich erneut, Heidegger den Status einer geistigen Leitfigur zuverschaffen,196 den eines „Warners“,197 bei dem das Denken wieder den„Rang des antiken oder alttestamentarischen Sehens“ erreiche.198 Die Kon-

194 Zum Gegensatz von Mutterrecht und Vaterrecht vgl. u. a. Bachofens Interpretation derOrestie des Aischylos in: Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. 149–158.

195 Vgl. dazu Kap. I, 6.196 Vgl. dazu auch Gregor Streim, Der Auftritt der Triarier. Radikalkonservative Zeitkritik im

Zeichen Jüngers und Heideggers, am Beispiel von Gerhard Nebel und Egon Vietta, in:Erhard Schütz/Peter Uwe Hohendahl (Hg.), Solitäre und Netzwerker. Kulturkonservatismusnach 1945, Essen 2008 [im Erscheinen].

197 Egon Vietta, Martin Heidegger: Was heißt denken/Vorträge und Aufsätze [Rezension], in:Universitas 10 (1955), S. 747–749, hier S. 749.

198 Egon Vietta, Heilsame Herausforderung des Abendlandes. Prophetie und Ahnung imLebenswerk René Guénons, in: Universitas 6 (1951), S. 1125–1129, hier S. 1129.

Die Nachkriegspublizistik 309

tinuität des kulturkritischen Diskurses wird insbesondere in dem als Nach-ruf veröffentlichten Aufsatz Hermann Broch (1951) augenfällig, in demVietta den Faden des Broch-Essays aus dem Jahr 1934 wieder aufnimmtund die dort formulierte Diagnose der Kulturkrise bis in die Gegenwarthinein fortschreibt. Wie damals der Erste, so erscheint nun auch der ZweiteWeltkrieg als Konsequenz der „positivistischen Werteauflösung“.199 Erneutberuft er sich auf die philosophischen Exkurse der Schlafwandler als einender wichtigsten „Deutungsversuche der abendländischen Krise“ und nimmtBrochs Theorie des Wertezerfalls für seine fundamentale Zivilisationskritikin Anspruch.200 So spricht er von der „Selbstzerstörung des Abendlandes“oder der „metaphysische[n] Korruption des Zivilisationsbetriebes“.201 Inengster Anlehnung an Heidegger beschreibt er die gegenwärtige Situationals krisenhafte Endphase des neuzeitlichen Säkularisierungsprozesses bzw.der neuzeitlichen ‚Metaphysik‘ sowie als ‚Vollendung des Nihilismus‘.202

In diesem Zusammenhang wird der Nationalsozialismus als eine Ideo-logie gedeutet, die den Rationalismus zum Religionsersatz erhoben hat.Vietta unterstellt, dass es sich bei Nationalismus und Rassismus – dem „pri-mitiv-materialistische[n] Biologizismus“203 – um Phänomene forcierterRationalisierung handelt. Im Broch-Aufsatz beschreibt er beide scheinbarsoziologisch als Effekte einer Verabsolutierung des zweckrationalen Prin-zips: Himmler habe seine „Rassegegner“ mit „derselben Sachlichkeit“ ver-folgt, wie die Figur Huguenau in Brochs Roman ihre wirtschaftlichen Inte-ressen.204 Tatsächlich argumentiert Vietta jedoch keineswegs auf Grundlagedes analytischen Ansatzes von Broch, sondern integriert die von diesem ver-wendeten soziologischen Theoreme, wie das des Wertezerfalls und das der

199 Vietta, Hermann Broch (gest. 30. Mai 1951), S. 623.200 Ebd., S. 622.201 Ebd., S. 616 f. – Vgl. auch Egon Vietta, Die Selbstbehauptung des Abendlandes im Werk

von T. S. Eliot, Hamburg 1948, S. 16 f.202 Die Ansicht, dass die abendländische Geschichte, d. h. der Nihilismus, „jetzt“ in die Phase

der „Vollendung“ trete, hatte Heidegger schon 1940 in seiner Nietzsche-Vorlesung aus-gesprochen (vgl. Martin Heidegger, Der europäische Nihilismus [1940], in: ders., Nietzsche,2. Bd., hg. von Brigitte Schillbach [= Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 6/2], Frankfurta.M. 1997, S. 23–229, hier S. 51). Den Begriff Säkularisierung wollte Heidegger in diesemZusammenhang allerdings nur mit Vorsicht verwendet sehen. Da die Geschichte des neuzeit-lichen Menschen „mittelbar durch den auf die Heilsgewißheit abgestellten christlichen Men-schen vorbereitet“ worden sei, könne man zwar „einzelne Erscheinungen der Neuzeit“ alsSäkularisierung beschreiben, im Grunde führe der Begriff aber in die Irre, da zur ‚Säkularisie-rung‘ schon eine Welt gehöre, „auf die zu und in die hinein verweltlicht wird“ (S. 129). Hei-degger hat die in seinen Nietzsche-Vorlesungen entwickelten Gedanken zur Vollendung undÜberwindung des Nihilismus dann in dem erstmals 1950 publizierten Aufsatz NietzschesWort „Gott ist tot“ zusammengefasst; in: Martin Heidegger, Holzwege, 4. Aufl., Frankfurta.M. 1963 (1. Aufl. 1950), S. 193–247.

203 Vietta, Die Selbstbehauptung des Abendlandes imWerk von T. S. Eliot, S. 6.204 Vietta, Hermann Broch (gest. 30. Mai 1951), S. 624.

310 Egon Vietta

funktionalen Differenzierung, in eine seinsgeschichtliche und metaphysik-kritische Deutungsperspektive, in der der Nationalsozialismus letztendlichnur als „Beschleuniger“ und „Vollstrecker“ des „metaphysischen Wertzer-falls“ fungiert, „der das Abendland seit der Renaissance durchschauert“.205

Viettas Bewertung des Nationalsozialismus hat sich damit im Vergleich zuseinen pronazistischen Stellungnahmen aus den Jahren 1933/34 verkehrt,ohne dass die fundamentalistische Zivilisationskritik, die ihn damals zumAnhänger der ‚nationalen Revolution‘ werden ließ, um das Geringsteerschüttert worden wäre. In der Logik seines Denksystems bestätigt diejüngste Katastrophe nur die kulturkritische Diagnose aus der Zwischen-kriegszeit, dass man eine Zivilisation nicht „unter Mißachtung aller vital-geistigen und das besagt menschlich-wesenhaften Elemente aufbauen“

205 Ebd., S. 623. – Dass sich Viettas ‚unpolitische‘ Betrachtungsweise von der soziologischgeprägten Denkweise Brochs grundlegend unterschied, zeigt auch das zunächst unveröffent-licht gebliebene und erst aus dem Nachlass Brochs publizierte Interview, das Vietta mit demRomancier zu Beginn des Jahres 1950 in Amerika führte (vgl. Der Schriftsteller in der gegen-wärtigen Situation. Ein Gespräch zwischen Hermann Broch und Egon Vietta, in: HermannBroch, Kommentierte Werkausgabe, hg. von Paul-Michael Lützeler, Bd. 9/2: Schriften zurLiteratur 2, Frankfurt a.M. 1976, S. 249–262). Die Differenz tritt dort insbesondere an derDiskussion des Freiheitsbegriffs zutage. Während Broch Freiheit im Sinne des aufkläreri-schen Universalismus als Befreiung des Individuums von äußeren Zwängen definiert, ope-riert Vietta mit einem seinsphilosophischen Freiheitsbegriff. Die von Broch geforderteBeschränkung auf den politischen Bereich lehnt er – ganz in der Kontinuität seiner Kritikam ‚Westlertum‘ – als „materialistisch“ ab (S. 258). Viel wichtiger als die juristische oderökonomische Freiheit sei, dass der Mensch „in der Wahrheit“ stehe: „Unter der Freiheit, dienicht durch den zivilisatorischen Fortschritt bestimmt wird, verstehe ich das, was den Men-schen überhaupt erst zum Menschen macht. Es gibt auch einen anderen Begriff der Freiheit,der in der westlichen Welt sogar üblich geworden ist: Die Freiheit ist die Freiheit zur letztenreligiösen Entscheidung des Menschen“ (S. 257). Eine politische Dimension erhält dieserDisput auf dem Hintergrund der Blockkonfrontation und der identitätspolitischen Debatteum das Verhältnis zwischen Deutschland bzw. Europa und Amerika. Unausgesprochenschwingt in dem Gespräch aber auch die in der Nachkriegszeit so kontrovers diskutierteFrage nach der Bewertung der Emigration mit, die Vietta zu Beginn nur indirekt berührt, alser Brochs „Flucht in die Freiheit“ im Jahr 1938 erwähnt (S. 249). Zur Amerika-Kritik vgl.auch Egon Vietta, Das Gespräch Europa – Amerika, in: Das goldene Tor 6 (1951),S. 87–92, wo der Autor das Verhältnis zwischen Amerika und Europa auf wenig originelleWeise als Gegensatz von Technik und Seele bzw. von ‚mechanischem‘ und ‚geistigem‘ Frei-heitsbegriff beschreibt. Über die europäische Situation bemerkt er dort: „Der Verführer istauf der einen Seite die weit perfektere Technik, die Amerika zu bieten hat, auf der anderendie weit größere Lebenstiefe, die der Osten bewahrt hat und unterm Einfluß der europäi-schen Wissenschaften wiederentdeckt“ (S. 92). Vgl. auch eine während seiner USA-Reiseentstandene Artikelserie, in der Vietta die USA als Anhänger eines Fortschrittsglaubensbeschreibt, von dem Europa bereits erkannt habe, dass dieser nur „ein Übergang, der Binde-schritt zu etwas ganz anderem war“ (Egon Vietta, Die geistige Position Amerika. Hat Ame-rika in der Weltenwende die Ideen der Zukunft?, in: Universitas 7 [1952], S. 71–76, hierS. 73). – Zum Verhältnis zwischen Vietta und Broch und ihrem langjährigen Briefaustauschsiehe Silvio Vietta, Der Briefwechsel zwischen Hermann Broch und Egon Vietta, in: MichaelKessler (Hg.), Hermann Broch. Neue Studien. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 60.Geburtstag, Tübingen 2003, S. 347–362.

Die Nachkriegspublizistik 311

kann.206 Allenfalls akzentuiert er – unter dem Einfluss von HeideggersTechnikkritik und von Friedrich Georg Jüngers Die Perfektion der Technik(1946)207 – die technikkritischen Aspekte dieses Zivilisationsbegriffs nunstärker, wodurch Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg zu Manifesta-tionen eines globalen technischen Schicksals werden.208 Diese Tendenz trittauch in seiner Besprechung von Zuckmayers (Ende 1946 in Zürich urauf-geführtem) StückDes Teufels General zutage, an dem er die noch allzu natio-nale Perspektivierung des Krieges kritisiert.209 Oder auch an seinem eigenen‚Mysterienspiel‘ Monte Cassino, das demgegenüber den ‚übernationalenStandpunkt‘ in Szene zu setzen versucht.210 Der allegorische Plot dieses Stü-ckes gestaltet den Krieg als Bruderkrieg, in dem ein deutscher Offizier sei-nen zum amerikanischen Offizier gewordenen Bruder als Vaterlandsverrätererschießen lässt, obwohl dieser im Grunde nicht das Vaterland verraten hat,sondern nur vor einer totalitär gewordenen Technik geflohen ist.211 Nach-dem die vom Glauben an eine ‚neue Zeit‘ besessenen deutschen Soldaten ineiner nihilistischen Zerstörungsorgie ihre Gegner und zugleich sich selbstausgelöscht haben und die alte christliche Basilika eingestürzt ist, offenbartsich am Ende Gott selbst und der Chor der toten Mönche verkündet mitekstatischen Stimmen das wahre Evangelium des „neuen Menschen“.212

206 Egon Vietta, Georg Trakl. Eine Interpretation seines Werkes, Hamburg 1947 (= DasGedicht. Blätter für die Dichtung, NF, Bd. 6), S. 28 f.

207 Vietta bezieht sich unter anderem im Aufsatz Das Gespräch Europa – Amerika und in derSchrift Katastrophe oder Wende des deutschen Theaters auf Jüngers Perfektion der Technik.

208 Viettas Sichtweise entspricht auch in diesem Fall der Heideggers, der den Nationalsozialis-mus bereits in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre als besondere Form der Herrschaft neu-zeitlicher Technologie deutete. In seiner Heidegger-Studie hat dann Silvio Vietta diesenFaden aufgenommen und Heideggers Technikkritik als Vorläufer späterer soziologischerInterpretationen des Faschismus als Modernisierungs- und Rationalisierungsphänomen dar-gestellt, ohne die Differenz zwischen seinsphilosophischer Vernunftkritik und soziologi-schem Rationalitätsbegriff zu thematisieren. Vgl. Silvio Vietta, Heideggers Kritik am Natio-nalsozialismus und an der Technik, Tübingen 1989, S. 33 ff.

209 Vgl. Egon Vietta, Carl Zuckmayer: Des Teufels General, in: Das goldene Tor 2 (1947),S. 255 f. Vietta lobt in seiner Besprechung vor allem die bildhafte Vision des Rollfeldes imdritten Akt, in der der Dramatiker „die tödliche Leere des maschinellen und militärischenBetriebs“ beschworen und so „die seelische Katastrophe sichtbar“ gemacht habe, die zur „eu-ropäische[n] Tragödie“ führte (S. 256). Trotzdem bleibe in dem Stück die „eigentlicheLösung noch unausgesprochen“, da es im „nationalen Standpunkt verfangen“ sei und Zuck-mayer „nur als Deutscher, aber noch nicht als der Weltbürger“ spreche (ebd.).

210 Egon Vietta, Monte Cassino. Ein Mysterienspiel, mit Beiträgen von Rudolf Sellner undWilli Baumeister, Krefeld 1950. Das Stück wurde am 30. November 1949 in Düsseldorfuraufgeführt.

211 Die Kritik am technischen Totalitarismus wird dem ‚amerikanischen‘ Bruder bei seiner Ver-teidigungsrede in den Mund gelegt: „heute mußt du überallhin Telegraphendrähte legen undden Leuten zeigen, daß sie von einer Zentrale aus regiert werden. Am Ende flucht alles überdie verdammten Drähte, weil sich kein Mensch mehr frei bewegen kann, weil alles über dieDrähte stolpert, und warum? Damit die Drähte funktionieren.“ (S. 35)

212 Ebd., S. 78.

312 Egon Vietta

Mit seiner radikalen Kritik der Moderne näherte Vietta sich in derNachkriegszeit ideologisch dem Lager der ‚Konservativen Revolution‘ an.213

Zugleich brachte sie ihn notwendigerweise in Opposition zu all den kultur-politischen Tendenzen, die eine Rückbesinnung auf die Tradition desHumanismus und des christlichen Abendlandes propagierten. In dem län-geren Essay Die Selbstbehauptung des Abendlandes im Werk von T. S. Eliot(1948) unterzog Vietta die Rhetorik der abendländischen Tradition einergrundsätzlichen Kritik und bestritt, dass sich aus ihr eine geistige Konzep-tion Europas gewinnen ließe, wie sie Eliot 1946 in seinen Londoner Rund-funkreden über The Unity of European Culture gefordert hatte.214 WederHellenismus noch Christentum oder Humanismus könnten eine spezifischeuropäische Geistigkeit begründen, denn sie seien Etappen eines Säkulari-sierungsprozesses, der auf die Universalisierung der Vernunftgesetze undeine „geistig-materielle Weltherrschaft“ gerichtet gewesen sei.215 Der abend-ländische Säkularisierungsprozess habe so gesehen gerade die AbschaffungEuropas zum Ziel gehabt: „Denn wo die Vernunft regiert und die Wissen-schaft an Stelle der Metaphysik tritt, ist Abendland, ganz gleich, ob das inSüdafrika, in Ostasien oder Amerika geschieht“.216 Statt der Besinnung aufhistorische „Ideen“ könne nur die Rückkehr zum „Wesen“ und zumursprünglich „Schöpferische[n]“ des europäischen Denkens, zu der Philoso-phie als einer „Methode, den Abgrund der Wirklichkeit auszuschöpfen“,eine neue europäische Identität begründen.217 Für den treuen Heidegger-Schüler lautet die Schicksalsfrage des Abendlandes, „ob sich der rationaleabendländische Gedanke nicht selbst zu überwinden und in einen tieferen,religiös-denkerischen Bereich aufzubrechen vermöge […], ob die Vorherr-schaft des Logos […], die die platonische Philosophie im Abendlandbegründet hat, berichtigt werden kann.“218

213 So stand Vietta auch in Kontakt mit Carl Schmitt. Vgl. Carl Schmitt, Briefwechsel miteinem seiner Schüler, hg. von Armin Mohler in Zusammenarbeit mit Irmgard Huhn undPiet Tommissen, Berlin 1995, S. 266.

214 Die drei Vorträge Eliots waren am 10., 17. und 24. März 1946 in der Sendereihe „Lebendi-ges Abendland“ des Deutschen Dienstes des Londoner Rundfunks ausgestrahlt und kurzdarauf in Deutschland publiziert worden. Eliot hatte darin die gemeinsame christlich-huma-nistische Tradition Europas beschworen: Man verdanke dem Christentum „die Begriffe desrömischen Rechts, die zur Formung unserer westlichen Welt so stark beigetragen haben“,sowie die „Begriffe individueller und öffentlicher Moral“ (T[homas] S[tearns] Eliot, Die Ein-heit der europäischen Kultur, Berlin 1946, S. 55).

215 Vietta, Die Selbstbehauptung des Abendlandes imWerk von T. S. Eliot, S. 13.216 Ebd.217 Ebd., S. 22 und 24.218 Ebd., S. 26. – Heidegger setzte den Humanismus mit dem Prozess der Entfaltung der Meta-

physik gleich und hatte schon 1942 konstatiert: „Der Beginn der Metaphysik im DenkenPlatons ist zugleich der Beginn des »Humanismus«“ (Martin Heidegger, Platons Lehre vonder Wahrheit, in: Geistige Überlieferung. Das zweite Jahrbuch, in Verbindung mit Walter F.Otto und Karl Reinhardt hg. von Ernesto Grassi, Berlin 1942, S. 96–124, hier S. 122).

Die Nachkriegspublizistik 313

Dabei sieht sich Vietta mit seiner Kritik im Einklang mit einer europäi-schen Avantgarde, die die anthropozentrische bzw. „anthropomorphe“ Vor-stellung, der Mensch sei das „erkenntnistheoretische Zentrum der Welt“,destruiert und den „Grundstein zu einem neuen Seinsverhältnis“ gelegthabe.219 Die Reihe der in diesem Zusammenhang von ihm immer wiedererwähnten Namen reicht von Rilke, Kafka, Joyce und Broch bis zu Piran-dello, Eliot und Wilder, von Kierkegaard, Nietzsche, Ortega y Gasset undScheler bis zu Heidegger, Jaspers und Sartre. Tatsächlich ist sein Denkenjedoch keineswegs so europäisch ausgerichtet, wie es die Reihe dieserNamen suggeriert. Denn letzten Endes ist seine Kritik allein am Paradigmader Heideggerschen Seinsphilosophie ausgerichtet. Dies konnte bereits anseiner philosophischen Vereinnahmung Brochs und an seiner Replik aufEliot gezeigt werden. Es lässt sich genauso an seiner ambivalenten Haltunggegenüber dem französischen Existentialismus beobachten.

In dem selbständig publizierten Essay Theologie ohne Gott (1946), einerder ersten einführenden Darstellungen zu Sartre in der Nachkriegszeit, cha-rakterisiert Vietta den französischen Schriftsteller als einen „moderne[n]metaphysische[n] Romancier“ und stellt dessen frühen Roman La Nausée(1938), in dem „die historische Persönlichkeit“ aus dem Roman „verschwin-det“, in eine Reihe mit den Werken von Kafka, Joyce, Eliot und Dos Passos,die den „idealistische[n] Bezugspunkt »Mensch«“ ebenfalls aufgegeben hät-ten.220 Doch schon am Ende dieses Essays, wo er sich auf Sartres philoso-phische Schriften und insbesondere dessen jüngsten Essay L’Existentialismeest un humanisme (1946) bezieht, deutet er eine Kritik an, die in seinen fol-genden Aufsätzen dominant wird und die genau der Abgrenzungslinie folgt,die Heideggers Seinsphilosophie vom französischen Existentialismus trennt:Zwar ziele Sartre wie Heidegger auf ein neues Seinsverhältnis, doch setze erdabei sein „Freiheitsethos“ absolut und missachte die „Abhängigkeit desMenschen von den außermenschlichen Mächten“.221 Unüberhörbar klingthier der von Vietta auch gegenüber anderen ‚intellektualistischen‘ Tenden-

219 Egon Vietta, Theologie ohne Gott. Versuch über die menschliche Existenz in der französi-schen Philosophie, Zürich 1946, S. 19 und 27. – Vietta übernimmt den Begriff des Anthro-pomorphismus aus Heideggers Vorlesung „Der europäische Nihilismus“, die zu dieser Zeitnoch nicht publiziert war, ihm aber offensichtlich als Manuskript oder Mitschrift vorlag.Dort heißt es unter anderem: „Metaphysik ist Anthropomorphie – das Gestalten undAnschauen der Welt nach dem Bilde des Menschen“ (Heidegger, Der europäische Nihilis-mus, S. 111). Und: „Alles Bewußtsein von den Dingen und dem Seienden im Ganzen wirdauf das Selbstbewußtsein des menschlichen Subjektes als den unerschütterlichen Grund allerGewißheit zurückgeführt.“ (S. 113)

220 Vietta, Theologie ohne Gott, S. 17 und 20. – Sartres Roman war zu diesem Zeitpunkt nochnicht ins Deutsche übersetzt.

221 Ebd., S. 59. – Vietta bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Heideggers Schrift VomWesen des Grundes, in der der Philosoph Transzendenz als „Freiheit zum Grunde“ bestimmthatte. Vgl. Martin Heidegger, Vom Wesen des Grundes, 3., unveränderte Aufl., Frankfurta.M. 1949 (1. Aufl. 1929), S. 50. Zu Viettas Sartre-Kritik vgl. auch Egon Vietta, Jean Paul

314 Egon Vietta

zen der Moderne erhobene Vorwurf des Nihilismus an. Sartre überwinde„die Entscheidungslosigkeit durch die Seinsverlassenheit“, schreibt er ananderer Stelle, und erfinde eine „frei in sich selbst verstrebte Menschheit,die durch nichts als die Gesamtheit aller Menschen gebunden ist“.222 SeinFreiheitsbegriff führe in die „vollendete, wurzellose, zerstörungswütigeAnarchie“.223 Den Vorwurf, einem überholten Intellektualismus und Sub-jektivismus anzuhängen, richtete Vietta an anderer Stelle auch gegen diePhilosophische Anthropologie. In seinen Augen hielt diese in der für die„westliche Anthropologie und Soziologie“ typischen Weise an der Über-schätzung des Intellekts und der Wissenschaften fest, während Heideggermit seinem ‚dichtendes Denken‘ der „Sprung aus dem rechnend-verrech-nenden Denken unserer Zivilisation“ heraus gelang und so den „Weg zumHeil“ wies.224

Dieselbe Ambivalenz wie im Umgang mit dem französischen Exis-tentialismus zeigt sich auch an Viettas Stellungnahmen zur Literatur undzum Theater der Nachkriegszeit. Mit ihrer auf den ersten Blick irritierendenVerbindung von konservativen und kulturrevolutionären Gedanken undder doppelten Abgrenzung gegenüber realistischen und formalistischen Stil-richtungen entsprechen sie der Position, die er schon in seinen Aufsätzenaus den dreißiger Jahren eingenommen hatte.225 Genau wie damals ist

Sartres „Fliegen“ und das existenzielle Philosophieren, in: Hamburger akademische Rund-schau 2 (1947/48), H. 9/10, S. 513–524, bes. S. 522 f.

222 Egon Vietta, Existentielles Philosophieren, in: Rolf Italiaander/Ludwig Benninghoff (Hg.),… und ließ eine Taube fliegen. Ein Almanach für Kunst und Dichtung, Reinbek 1948,S. 78–91, hier S. 90.

223 Vietta, Jean Paul Sartres „Fliegen“ und das existenzielle Philosophieren, S. 524. Vietta fährtnach der zitierten Stelle fort: „Nicht die Freiheit ist das Problem, sondern die Frage nach derWahrheit“ (ebd.). – Der Nihilismusvorwurf wird in dieser Zeit von vielen deutschen Autorengegen Sartre erhoben, beispielsweise von Elisabeth Langgässer; vgl. dazu Gerhard Kurz, Null-punkt, Kahlschlag, tabula rasa. Zum Zusammenhang von Existentialismus und Literatur inder Nachkriegszeit, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hg.), Philosophie und Poesie. OttoPöggeler zum 60. Geburtstag, Bd. 2, Stuttgart 1988, S. 309–332, S. 319. Allgemein zurRezeption des französischen Existentialismus im Nachkriegsdeutschland vgl. Mechtild Rah-ner, „Tout est neuf ici, tout est à recommencer…“. Die Rezeption des französischen Exis-tentialismus im kulturellen Feld Westdeutschlands (1945–1949), Würzburg 1993 (= Episte-mata-Philosophie, Bd. 142), bes. Kap. V.

224 Egon Vietta, Die Vorträge Martin Heideggers 1949–1951, in: Universitas 6 (1951),S. 1359–1361, hier S. 1360 f. (Hervorhebung im Text).

225 Diese Ambivalenz bestimmt auch seine Stellungnahmen zur modernen, gegenstandslosenMalerei aus der Nachkriegszeit, der er einerseits einen kulturkritischen, gegen das „rechneri-sche Denken“ gerichteten Impetus attestiert (Egon Vietta, New Yorker Abstrakte kritisierendas technische Zeitalter. Zur Situation der modernen Malerei in Amerika, in: Universitas 6[1951], S. 601–602, hier S. 601), und die er andererseits in eine unheiliger Allianz mit der„allseitigen Geschäftigkeit“ des Kunstmarks verstrickt sieht (Egon Vietta, AmerikanischeKunst amerikanisch gesehen. Hat Amerika in der Weltenwende die Ideen der Zukunft?, in:Universitas 7 [1952], S. 167–178, hier S. 170).

Die Nachkriegspublizistik 315

Vietta auch jetzt darum bemüht, antinaturalistische Tendenzen der moder-nen Literatur antirationalistisch und metaphysisch zu codieren. Etwa wenner Thornton Wilders surrealistisches Theater als Manifestation eines künst-lerischen und gedanklichen Formwandels und als erstes Anzeichen einer„metaphysischen Morgendämmerung, die überm alten Europa hinweg-schwelt“, deutet.226 Oder umgekehrt die erzählerische Akribie beim spätenThomas Mann als Manifestation einer schon lange überholten, an „bürger-licher Bildung und Aufklärung“ orientierten Literatur kritisiert.227 Zudemversuchte er mit seinen eigenen, zwischen Traumspiel, Mysteriendrama undCauserie changierenden Stücken Beispiele für die von ihm favorisierte anti-illusionistische Ästhetik zu geben.228

Die größte öffentliche Aufmerksamkeit für seine Thesen erzielte erjedoch mit seiner kulturpolitischen Streitschrift Katastrophe oder Wende desdeutschen Theaters (1955), in der er seine ästhetische Programmatik miteinem fundamentalen Angriff auf das westdeutsche Subventionstheater ver-knüpfte. Rückblickend erscheint diese damals viel diskutierte Broschüre alsein spätes, auf ‚verlorenem Posten‘ verfasstes Manifest einer anderen, nicht-liberalen Moderne. Die Grundthese der Schrift lautet, dass das zum‚Betrieb‘ gewordene, durch seine staatliche Finanzierung dem Diktat desMassengeschmacks unterworfene Theater seine „Substanz“ – die kultisch-verbindende Funktion, die das Theater in der Antike hatte –, endgültig ver-spielt habe und zu einem Teilsystem der technischen Zivilisation gewordensei.229 Wie schon mehrfach beobachtet, changiert Viettas Argumentationauch hier auf eigentümliche Weise zwischen soziologisch-ökonomischer

226 Egon Vietta, Thornton Wilder, in: Die Fähre 2 (1947), S. 309–315, hier S. 315.227 Egon Vietta, Thomas Mann und Europa, in: Das goldene Tor 2 (1947), S. 752–755, hier

S. 754.228 Formal orientiert sich Viettas antiillusionistische Dramaturgie sowohl an der symbolistisch

geprägten Dramatik der Jahrhundertwende, vor allem an der Hofmannsthals, als auch ammodernen französischen, italienischen und amerikanischen Theater von Anouilh, Camus,Giraudoux, O’Neill, Pirandello, Sartre und Wilder. Vgl. neben dem Mysterienspiel MonteCassino auch Viettas Stücke: Goethe in Italien oder Die italiänische Reise. Eine Komödie,Säckingen am Rhein 1947; Iphigenie in Amerika. Ein Schauspiel, Hamburg 1948; DieVögel ehren Aristophanes. Eine Komödie, Hamburg 1948; Die drei Masken. Schauspiel,Frankfurt 1952.

229 Egon Vietta, Katastrophe oder Wende des deutschen Theaters, Düsseldorf 1955, S. 66. –Auf ähnliche Weise hatte Vietta das deutsche Nachkriegstheater schon 1948 als „vollkom-menste[n] Ausdruck des abendländischen Liberalismus“ gegeißelt und eine „Entscheidung“darüber gefordert, „ob Theater noch einmal sein wird oder ein nichtssagender Unterhal-tungsbetrieb“ (Egon Vietta, Nachkriegstheater, in: Hans A. Rümelin [Hg.], So lebten wirhin… Ein Querschnitt durch 1947, Willsbach (Württ.) o. J. [1948], S. 186–192, hierS. 190). Dieselbe, altvertraute, Unterscheidung zwischen (Zivilisations-)Literatur und Dich-tung legte Vietta auch seiner Bewertung der Erzählliteratur der Nachkriegszeit zugrunde (vgl.Egon Vietta, Gibt es eine deutsche Literatur?, in: Das literarische Deutschland, Jg. 2, H. 10,20 Mai 1951, S. 1).

316 Egon Vietta

Analyse und Nihilismuskritik.230 Dadurch werden einerseits Fragen deraktuellen Spielplangestaltung oder der Finanzierung der Staatsbühnen zuPhänomenen abendländischer Metaphysik stilisiert. Andererseits werdenpraktische Vorschläge zur Theaterreform, die auf die Einrichtung unabhän-giger, künstlerischer Bühnen zielen, mit eschatologischer Erwartung auf-geladen: das künftige Theater entstehe in einem jähen „Umschlag“ aus der„geistige[n] Katastrophe“ und öffne den „Weg zum Heil“.231 Das hier spür-bare fast zwanghafte Bemühen, antinaturalistische Ästhetik im Sinneromantischer Kulturkritik zu funktionalisieren, brachte Vietta in Opposi-tion zum literarischen ‚Betrieb‘. Zusammen mit seiner Kritik ‚aufkläre-rischer‘ Formexperimente verschloss es ihm gleichzeitig aber auch denZugang zu avantgardistischen Strömungen der Nachkriegszeit.232

230 Viettas Argumentation weist dabei auch Parallelen zu der Ernst Jüngers auf. Jünger hatte diekulturelle Situation der Nachkriegszeit in seiner Schrift Über die Linie (1950) ebenfalls alsEnd- und Übergangsphase des Nihilismus analysiert und die moderne Literatur ganz ähnlichwie Vietta unter dem Zeichen des antinihilistischen „Widerstande[s]“ betrachtet (vgl. ErnstJünger, Über die Linie, Frankfurt a.M. 1950, S. 19). Vietta bezieht sich an einer Stelle seinerStreitschrift positiv auf diesen Essay Jüngers – nicht ohne dabei anzumerken, dass HeideggerJüngers Auffassung von der Linie in seinem Antwortbrief Über »Die Linie« (1955) „kritischrevidiert“ habe (vgl. Vietta, Katastrophe oder Wende des deutschen Theaters, S. 170).

231 Vietta, Katastrophe oder Wende des deutschen Theaters, S. 170 und 228. Dabei knüpftVietta nicht nur an seine Philippika gegen den ‚liberalistischen‘ Kulturbetrieb aus der Zeitum 1930 an, sondern dekoriert seine Liberalismuskritik jetzt – ähnlich wie Jünger undandere Vertreter der ‚Konservativen Revolution‘ – noch mit dem Pathos antitotalitärenWiderstands: „Im totalitären Staat würde jeder verstehen, was es heißt: in die Katakombengehen: die wesenhafte Kraft abschirmen, verbergen vor den Häschern. […] Aber, frage ich,ist unsere technisch-wissenschaftliche Zivilisation weniger totalitär? Ist ihre öffentliche Mei-nung weniger allumfassend?“ (S. 222).

232 Dies zeigt beispielhaft sein indirekter Disput mit Adorno während des ‚5. DarmstädterGesprächs‘ im Jahr 1955. Vietta hielt Adorno auf der Tagung vor, dass die von ihm vertrete-nen Prinzipien der Arbeitsteilung und ‚Montage‘ gleichbedeutend mit dem „Ende des Künst-lerischen“ seien (vgl. Theater, hg. im Auftrag des Magistrats der Stadt Darmstadt und desKomitees Darmstädter Gespräch von Egon Vietta [= Darmstädter Gespräch, Bd. 5], Darm-stadt 1955, S. 228). Zu Viettas Ablehnung ‚aufklärerischer‘ Formexperimente vgl. auchEgon Vietta, „Der Graf von Ratzeburg“ und der Entwurf einer neuen Barlach-Dramaturgie,in: Die Neue Rundschau (1951), S. 142–150, bes. S. 143; und Egon Vietta, Die tragischeGestrigkeit des heutigen Theaters, in: Universitas 7 (1952), S. 401–405, wo er dem avant-gardistischen ‚Aktionstheater‘, die „(fast liturgische) Bühnenchoreographie“ von GustavRudolf Sellner und Carl Orff entgegensetzt (S. 404).

Die Nachkriegspublizistik 317

VII. Gottfried Benn

1. Perspektivierung von Wissenschaft

An der „Geschichte“ falle auf, notiert Gottfried Benn Anfang der vierzigerJahre, dass sie sich an ihren Wendepunkten der „Microcephalen“ bediene,da „der denkerische Typ […] bereits zu triebentfremdet und muskelent-wöhnt [sei], um ihrer geologischen Bewegung zu genügen“.1 Der Text lässtdabei weder Zweifel daran, wer zu den Microcephalen zu rechnen ist, nochdaran, dass sein Verfasser sich selbst in einer Position sieht, die den Gesetzender natürlichen Entwicklung nicht unterliegt: in einer statischen Sphäre‚geistiger Konstruktivität‘. Benns Aufzeichnungen Zum Thema: Geschichtegehören zusammen mit dem im gleichen Zeitraum entstandenen EssayKunst und Drittes Reich und dem Gedicht Monolog zu den sarkastisch-schärfsten Kommentaren zum ‚Dritten Reich‘, die von in Deutschlandlebenden Schriftstellern aus dieser Zeit überliefert sind. Die Niederschriftdes Typoskripts, das im Februar 1943 fertiggestellt, aber erst 1959 publi-ziert wurde, fiel in die Zeit des Eroberungskriegs im Osten und der entfes-selten militärischen und völkisch-rassistischen Propaganda. Damals hatteBenn einen Büroposten als Offizier in der Versorgung beim Oberkom-mando der Wehrmacht in Berlin, war mit Gutachten zu Dienstbeschädi-gungen befasst und als ein der ‚Degeneration‘, ‚Perversität‘ und ‚Rassen-schande‘ bezichtigter Schriftsteller bereits seit mehreren Jahren mitPublikationsverbot belegt. Den letzten Anstoß zu seinem Ausschluss aus derReichsschrifttumskammer hatte Wolfgang Willrichs Angriff Säuberung desKunsttempels gegeben, eine ‚kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundungdeutscher Kunst‘, die 1937 im Münchner medizinischen Fachverlag J. F.Lehmann erschienen war, einem, wie Benn in seinem Lebensberichtanmerkt, „hochangesehene[n], streng wissenschaftliche[n] Verlag“, der„grundlegende Werke der Heilkunde und Biologie“ verlegte, daneben aber

1 EuR, S. 353 (Zum Thema: Geschichte). Benns Texte werden zitiert nach Gottfried Benn,Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, textkritisch durchgesehen und hg. vonBruno Hillebrand, Frankfurt a.M. 1982–90, mit folgenden Siglen: G = Gedichte (1982);PuA = Prosa und Autobiographie (1984); EuR = Essays und Reden (1989); SuS = Szenenund Schriften (1990). Daneben wird auf die Stuttgarter Ausgabe zurückgegriffen: GottfriedBenn, Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. I-VII, in Verbindung mit Ilse Benn hg.von Gerhard Schuster (I-V) und Holger Hof (VI-VII), Stuttgart 1986–2003 (= SW I-VII).

auch Fachliteratur zur Eugenik sowie die rassekundlichen Werke Hans(„Rasse-“) Günthers.2

Dieser Kontext ist im Blick zu behalten, wenn man Benns vielfach kon-statierte Wandlung in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahrennicht nur als eine aus persönlicher Enttäuschung resultierende ‚Abkehr vonder Geschichte‘ erklären, sondern im Feld politischer, kulturphilosophi-scher, wissenschaftlicher und wissenspolitischer Diskurse verorten will. Sogesehen ist am eingangs zitierten Satz weniger die Kritik ‚der Geschichte‘bemerkenswert als deren (erneute) Zuordnung zum Pol naturwissenschaft-lich-anthropologischer Lebenskrafttheorien in einer supponierten Polaritätvon Bios und Geist. Sprach Benn in seinen pro-faschistischen Stellungnah-men aus dem Jahr 1933 noch von einer geschichtlich-anthropologischen‚Verwandlung‘, in der ein neuer „biologische[r] Typ“ entstehe, der zugleichauch „mythisch und tief“ sei,3 so figuriert das biologisch Neue und Gesundenun als Gegenbild des Schöpferischen. Damit hat sich seine Argumentationnicht, wie oft behauptet wurde, von der Geschichte (zurück) zur Anthro-pologie verlagert.4 Vielmehr haben sich die Relationen innerhalb seineranthropologischen Konzeption verschoben. Unter dem Eindruck der ‚na-turwissenschaftlichen‘ Propaganda von Rassegesundheit und Heldentypus,der Forschungen zum ‚Ahnenerbe‘ und zur künstlichen Befruchtung im‚Dritten Reich‘ werden die Theoreme und Metaphern des Organisch-Biolo-gischen kritisch neu bewertet.5 Benn bezeichnet die moderne Biologie jetztals „völlig unfähig, einen metaphysischen Gedanken aus ihrem Schoss zuentbinden“.6

Es gibt kaum einen anderen deutschen Autor der ersten Hälfte deszwanzigsten Jahrhunderts, der sich derart intensiv, fast zwanghaft mit denwissenschaftlichen Theorien seiner Zeit befasst hat wie Benn, keinen, derden wissenschaftlichen Denksystemen mehr Macht zuerkannt und keinen,der sie so radikal destruiert hat. Aus dem Expressionismus kommend,gehörte er zu den ‚Modernisten‘ der zwanziger Jahre, für die C. P. Snowzufolge die Überschreitung der Grenze zwischen literarischer und naturwis-

2 PuA, S. 418 f. (Doppelleben). – Tatsächlich gehörte J. F. Lehmann schon in den zwanzigerJahren zum Netzwerk ‚nationaler‘ Verlage; vgl. Jan-Pieter Barbian, Literaturpolitik im „Drit-ten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, überarbeitete und aktualisierteAusgabe, München 1995, S. 54.

3 PuA, S. 297 (Antwort an die literarischen Emigranten).4 Zuerst und für die Forschung bis heute einflussreich formuliert von Beda Allemann, Gott-

fried Benn. Das Problem der Geschichte, Pfullingen 1963, bes. S. 44–46.5 Benn bezieht sich in Zum Thema: Geschichte u. a. auf die Argumentation des Psychologen

Ernst Rudolf Jaensch, der den Nationalsozialismus als biologisch-charakterliche „Genesungs-bewegung gegen Krankes“ deutete; E. R. Jaensch, Der Gegentypus. Psychologisch-anthro-pologische Grundlagen deutscher Kulturphilosophie, ausgehend von dem, was wir überwin-den wollen, Leipzig 1938 (= Rassenkunde und psychologische Anthropologie, Bd. 2),S. XXXII. Siehe hierzu auch den Kommentar in: SW IV, S. 690 ff.

6 EuR, S. 358.

Perspektivierung von Wissenschaft 319

senschaftlicher ‚Kultur‘ charakteristisch war.7 Benn selbst hat sich in diesemSinne noch 1934 im Lebensweg eines Intellektualisten zur expressionistischenGeneration bekannt. An dieser Stelle interessiert allerdings weniger die all-gemeine Affinität avantgardistischer Ästhetik zur experimentellen Natur-wissenschaft als die spezifische naturphilosophische und anthropologischeAusrichtung Benns, aufgrund derer sich die ‚junge Generation‘ der Kolon-ne-Autoren um 1930 auf ihn berief8 – und die nach 1945 manchen Intel-lektuellen erneut zeitgemäß erschien.9 Im Blickpunkt steht dabei nicht dierecht gut erforschte Rezeption einzelner Wissensbereiche, wie etwa der Psy-chologie oder der Biologie, aus der sich die These einer wissenschaftlich-weltanschaulichen Prägung Benns – wie der vielfach erhobene Vorwurf des‚Biologismus‘ – ableiten ließe.10 Vielmehr geht es um die – eher assoziativen

7 Vgl. C. P. Snow, Ein Nachtrag (1963), in: Helmut Kreuzer (Hg.), Die zwei Kulturen. Litera-rische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C. P. Snows Thesen in der Diskussion, Mün-chen 1987, S. 59–96, hier S. 90.

8 Vgl. Kap. II, 3.9 Vgl. u. a. Frank Maraun [i.e. Erwin Goelz], Mythische Welt. Neue Lyrik von Gottfried Benn

(1949), in: Bruno Hillebrand (Hg.), Über Gottfried Benn. Kritische Stimmen 1912–1956,Frankfurt a.M. 1987, S. 200–202: „Benn weicht […] dem Schicksal der Gegenwart keines-wegs aus. Er holt es nur in einer tieferen und umfangenderen Schicht vor seinen Blick. Waser dort sieht, ist nicht Politik und Geschichte, sondern Mythos und Anthropologie.“ (S. 201)

10 Der Vorwurf, er erkläre gesellschaftlich-soziale Erscheinungen mit Modellen der Biologie,wurde Benn schon um 1930 von Kritikern gemacht. Vgl. beispielsweise Rudolf Arnheim,Die Flucht zu den Schachtelhalmen, in: Die Weltbühne 29 (1933), H. 2, S. 64–67. Nachdem Krieg wurde die Biologismus-These zuerst von Werner Milch vertreten, der meinte, beiBenn bilde „eine biologische Hypothese“, nämlich das Theorem der progressiven Zerebra-tion, den „Ausgang aller seiner Arbeit“ (Werner Milch, Über nachfaschistisches Denken, in:Der Bund. Jahrbuch, hg. von Hans Jürgen Leep, Wuppertal 1948/49, S. 90–109, hierS. 98). Kurz darauf kritisierte Gerhard Nebel, dass der disziplinierte Stilist Benn „das schau-derhafte Kauderwelsch des biologisch-medizinischen Jargons nicht nur ernst nimmt, son-dern es zur tragenden Säule seines Sprachbaus, zum Atlas seines Begriffshimmels macht“,und beklagte einen „Rückfall in den plattesten Materialismus“ (Gerhard Nebel, GottfriedBenns Lob der „Ausdruckswelt“, in: Thema. Zeitschrift für die Einheit der Kultur 1[1949/50], H. 7, Jan. 1950, S. 22–24, hier S. 22). Benn wertete diesen Aufsatz übrigens alseinen „erhebliche[n] Angriff“ auf seine Person (vgl. Brief an Oelze vom 27. Januar 1950, in:Gottfried Benn, Briefe an F.W. Oelze, hg. von Harald Steinhagen und Jürgen Schröder, Bd.II/2: 1950–1956, Wiesbaden/München 1980, S. 11). – Besonders einflussreich auf die For-schung war der Vorwurf der biologischen Letztbegründung in der Dissertation von DieterWellershoff, der schrieb, dass Benn keine Bedenken habe, „sozialen, kulturellen, politischenVorgängen einen biologischen Ursprung als letzte Ursache zu unterschieben“ (Dieter Wel-lershoff, Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde. Eine Studie über den Problemgehalt seinesWerkes, Köln/Berlin 1958, hier S. 90). Eine These, die in paraphrasierter Form in einemneueren Aufsatz von Wolfgang H. Zangemeister wiederkehrt (vgl. Wolfgang H. Zangemeis-ter, Gottfried Benn: Arzt und Naturwissenschaftler?, in: ders./W. Müller-Jensen/J. Zippel[Hg.], Gottfried Benns Absolute Prosa und seine Deutung des „Phänotyps dieser Stunde“.Anmerkungen zum 110. Geburtstag, Würzburg 1999, S. 121–124, bes. S. 123). Peter Rei-chel spricht von einer „Ideologisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse“ (Peter Reichel,Artistenevangelium. Zu den theoretischen Grundlagen von Werk und Wirken des spätenGottfried Benn [1973], in: Bruno Hillebrand [Hg.], Gottfried Benn, Darmstadt 1979 [=Wege der Forschung, Bd. 116], S. 312–349, hier S. 329). Ähnlich argumentieren Peter

320 Gottfried Benn

und ästhetischen als logischen – Verknüpfungen unterschiedlicher Diskurse,Theoreme und Denkfiguren in seinen Texten, um die dabei zu beobachten-den Verschiebungen und um das essayistische Verfahren selbst.

Dabei ist es nicht entscheidend, ob der Autor selbst die von ihm heran-gezogenen Theorien für wahr gehalten, beispielsweise an die ‚progressiveZerebration‘ ‚geglaubt‘ hat, oder ob sich seine Essays auf der Höhe des wis-senschaftlichen Erkenntnisstandes seiner Zeit befanden.11 Eine solcheBetrachtungsweise, die auch dem Irrationalismus-Vorwurf zugrunde liegt,12

Schünemann, für den Benn „entschieden den Naturwissenschaftler gegen den Geisteswissen-schaftler ausspielt“ (Peter Schünemann, Gottfried Benn, München 1977 [= Autorenbücher,Bd. 6], S. 72) und Jürgen Schröder, der meint, bei Benn werde ein gesellschaftlicher Ent-fremdungsvorgang „in eine nicht weiter ableitbare biologische Ursache und Urtatsacheumgedeutet“ (Jürgen Schröder, Gottfried Benn. Poesie und Sozialisation, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978 [= Sprache und Literatur, Bd. 103], S. 100). Bernhard Fischer sprichtvom „Biologismus“ Benns, der aus einer unreflektierten Vermengung naturwissenschaftli-cher und metaphysischer Begriffe resultiere (Bernhard Fischer, „Stil“ und „Züchtung“ –Gottfried Benns Kunsttheorie und das Jahr 1933, in: Internationales Archiv für Sozial-geschichte der Literatur 12 [1987], S. 190–212, hier S. 199). Und Gerwin Marahrens ver-tritt selbst mit Blick auf die späte Prosa noch die These, dass Benns ästhetischer Formbegriff„in der Biologie“ gründe (Gerwin Marahrens, Geschichte und Ästhetik in Gottfried Bennsintellektualer Novelle „Der Ptolemäer“, in: Friedrich Gaede/Patrick O’Neill/Ulrich Scheck[Hg.], Hinter dem schwarzen Vorhang. Die Katastrophe und die epische Tradition. Fest-schrift für Anthony W. Riley, Tübingen/Basel 1994, S. 171–192, hier S. 183). – Demgegen-über akzentuieren einige neuere Forschungsarbeiten das Nebeneinander divergenter wissen-schaftlicher Konzepte bei Benn (vgl. Tanja Becker, Maschinentheorie oder die Autonomiedes Lebendigen? Die literarische Amplifikation der biologischen Kontroverse um Mechani-zismus und Vitalismus in zentralen Prosawerken von Hans Carossa, Gottfried Benn, ErnstWeiß und Thomas Mann, Diss. phil., Köln 2000, bes. S.198–240) und die im Lauf der drei-ßiger Jahre immer deutlicher hervortretende antivitalistische Bestimmung des Geistes ineiner Trias von Geist – Materie – Leben (vgl. Hermann Fischer-Harriehausen, GottfriedBenn als Wissenschaftskritiker, in: Wirkendes Wort 44 [1994], S. 270–278; und FriedrichKittler, Benns Lapidarium, in: Weimarer Beiträge 40 [1994], S. 5–15). Demgegenüber ver-tritt Regine Anacker in ihrer voluminösen, allerdings größtenteils aus einer Zitatensamm-lung bestehenden Dissertation über Benns ‚Physiologie der Kunst‘ die These, die Oppositionvon Leben und Geist präge als unveränderliche Konstante Benns gesamtes Werk (vgl. RegineAnaker, Aspekte einer Anthropologie der Kunst in Gottfried Benns Werk, Würzburg 2004[= Epistemata-Literaturwissenschaft, Bd. 471], S. 162 und öfter).

11 An diesem Punkt gehen die Meinungen in der Forschung auseinander. So vertritt etwa Ger-linde F. Miller die Auffassung, dass Benn sich eng an die zeitgenössischen wissenschaftlichenQuellen hält und die Fakten „ganz untendenziös referiert“ (Gerlinde F. Miller, Die Bedeu-tung des Entwicklungsbegriffs für Menschenbild und Dichtungstheorie bei Gottfried Benn,New York/Frankfurt a.M./Paris 1990 [= New York University Ottendorfer Series, Neue Fol-ge, Bd. 29], hier S. 90), während Tanja Becker mit Blick auf Benns Darstellung der progres-siven Zerebration zu dem Ergebnis kommt, dass der Dichter die biologischen Tatsachenbewusst manipuliere und „keineswegs den Kenntnisstand der Hirnforschung der ersten Jahr-zehnte des 20. Jahrhunderts“ abbilde (Becker, Maschinentheorie oder Autonomie des Leben-digen?, S. 218).

12 Der Vorwurf des Irrationalismus bildet einen Topos der Benn-Rezeption von den dreißigerJahren bis heute. Dieter Wellershoff spricht von einem präfaschistischen „lebensphilosophi-schen Irrationalismus“ (Wellershoff, Gottfried Benn, S. 173), Jürgen Schröder vom „fun-damentale[n] Irrationalismus Benns“ (Schröder, Gottfried Benn, S. 121) und Hugh Ridley

Perspektivierung von Wissenschaft 321

ignoriert den spezifisch essayistischen Umgang mit wissenschaftlichenErkenntnissen in Benns Texten. Wenn dort wissenschaftliche Ergebnissereferiert und (primäre oder sekundäre) wissenschaftliche Quellen (offenoder verdeckt) zitiert und ‚montiert‘13 werden, dann geschieht das nicht imRahmen einer wissenschaftlichen Argumentation und nicht mit dem Ziel,positive Wahrheiten oder ein wissenschaftlich fundiertes ‚Weltbild‘ zu kons-truieren. Vielmehr werden wissenschaftliche Theorien von Benn als kultu-relle Konstrukte behandelt. Auf die seltsame, auch später in der Forschungimmer wieder vermerkte14 Ambivalenz von scheinbarer Wissenschaftsgläu-bigkeit und radikaler Wissenschaftsskepsis in seinen Essays angesprochen,hat er sein Verfahren selbst als „Perspektivismus“ bezeichnet, für den dieResultate der Wissenschaft nur „Material, Stoff“ und allein als „visionäreRealität“, als „Bildhaftgewordenes“ von Interesse seien.15 Der Benn-Bewun-derer Max Bense hat dafür später den Begriff ‚assoziative Prosa‘ geprägt unddiese in die Tradition expressionistischer Formexperimente gestellt: In ihrwürden die Dinge unter dem Aspekt des Ausdruckswertes zerlegt, um einenneuen, ‚surrealen‘ Gegenstand herzustellen, der „ebensoviel subjektive wieobjektive Bestandteile aufweist“; es komme also weder der natürlicheGegenstand noch die subjektive Befindlichkeit, sondern die Relation zwi-schen beiden zum Ausdruck.16

Nicht eine Popularisierung oder ideologische Funktionalisierung wis-senschaftlicher oder pseudowissenschaftlicher Erkenntnisse intendiert Bennfolglich in seinen Essays, vielmehr verwendet er wissenschaftliche Faktenund Denkfiguren als Bausteine ästhetisch-theoretischer Entwürfe. Damiterweist sich diese Prosa unabhängig von den inhaltlichen Bezugnahmen auf

von einem „irrationale[n] Menschenbild“ (Hugh Ridley, Gottfried Benn. Ein Schriftstellerzwischen Erneuerung und Reaktion, Opladen 1990, S. 156). Dagegen betont Ursula Kirch-dörfer-Boßmann die Aktualität von Benns Wissenschaftskritik, die u. a. durch die Theoriedes Radikalen Konstruktivismus bestätigt worden sei (vgl. Ursula Kirchdörfer-Boßmann,„Eine Pranke in den Nacken der Erkenntnis“. Zur Beziehung von Dichtung und Naturwis-senschaft im Frühwerk Gottfried Benns, St. Ingbert 2003 [= Saarbrücker Beiträge zur Litera-turwissenschaft, Bd. 79], bes. S. 20.)

13 In der Forschung ist mehrfach aufgezeigt worden, dass Benns Essays und Reden zu einemgroßen Teil eine ‚Montage‘ ausgewiesener und nicht-ausgewiesener Zitate aus unterschiedli-chen Quellen sind. Vgl. Friedrich Wilhelm Wodtke, Die Antike im Werk Gottfried Benns,Wiesbaden 1963, S. 39 und 118; Holger Hof, Montagekunst und Sprachmagie. Zur Zitier-technik in der essayistischen Prosa Gottfried Benns, Aachen 1997, S. 231–251.

14 Vgl. etwa Wolfgang Müller-Funk, Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie undGeschichte des Essayismus, Berlin 1995, S. 228 (Anm. 575).

15 Brief an Oelze vom 27. Januar 1933, in: Gottfried Benn, Briefe an F.W. Oelze, hg. vonHarald Steinhagen und Jürgen Schröder, Bd. I: 1932–1945, Wiesbaden/München 1977,S. 27. Benn beruft sich dabei auf Nietzsche und Ortega y Gasset.

16 Max Bense, Ptolemäer und Mauretanier oder die theologische Emigration der deutschenLiteratur, Köln/Berlin 1950, S. 39. Bense sieht den Essay als die charakteristische literarischeForm des „experimentellen Jahrhunderts, das die Gesinnungen und Ideologien, die Systemeund Methoden, die Formen und die Stile in den Zustand der Probe versetzt“ (S. 41).

322 Gottfried Benn

bestimmte naturphilosophische und wissenschaftskritische Positionenschon durch ihre experimentelle Methodik als eng verknüpft mit der Wis-senschaftskrise und der naturphilosophischen Wendung in Philosophie undKulturwissenschaften am Ende der zwanziger Jahre. Diese Verbindung wirdvor allem an zwei Aspekten des Bennschen Verfahrens sichtbar: zum einenin der intendierten Zusammenführung von Bild und Begriff, von sinn-lichem und analytischem Vermögen, die man als Reflex naturphilosophi-schen Einheitsdenkens17 und als bewusst gesetztes Korrektiv des wissen-schaftlichen Szientifizismus verstehen kann;18 zum anderen in der alsPerspektivismus bezeichneten Betrachtung wissenschaftlicher Theorien,Gesetze und Tatsachen als Phänomene des menschlichen Gestaltungstriebesbzw. als geistig-sinnliche Realitätskonstruktionen.

2. Die Wirklichkeitskrise und die Suchenach einer ‚natürlichen Weltsicht‘ 1930–32

Das, was Autoren wie Georg Simmel, Ernst Troeltsch oder Max Webernach dem Ersten Weltkrieg als Bildungs-, Wert- und Wissenschaftskrisediagnostizieren – die Abwendung von einer äußerlichen, am Ideal tech-nisch-exakter Wissenschaftlichkeit ausgerichteten Kultur einerseits und dieErkenntnis, dass auch die klassisch-idealistische Bildungskonzeption keineGrundlage für eine neue Wertorientierung mehr bietet, andererseits19 –,wird von Benn nicht nur reflektiert, sondern in gewisser Weise auch biogra-phisch repräsentiert. Schließlich war der Sohn aus protestantischem Pfarr-haus nach kurzzeitigem Studium der Philologie und Theologie mit seinerAusbildung zum Mediziner selbst durch die „induktive“, „die naturwissen-schaftliche Epoche hindurchgegangen“ und hatte so die „Methoden“ und„Gesinnungen“ beider Kulturen aufgenommen, aus deren Konkursmassenach dem Krieg eine neue Kultursynthese gewonnen werden sollte.20 Wiefür viele andere Intellektuelle auch stellte sich der Erste Weltkrieg für Bennim Rückblick als Katastrophe des technisch-ökonomischen Fortschritts-glaubens und des geschichtlich-kulturellen Entwicklungsdenkens dar. In

17 Vgl. Dirk von Petersdorff, Wie modern war die ästhetische Moderne? Gottfried BennsKunst-Vorstellungen und ihre Folgen, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 118 (1999),S. 165–185, hier S. 117.

18 Vgl. Müller-Funk, Erfahrung und Experiment, S. 14 und 238.19 Zur Wissenschafts- und Bildungskrise siehe Kap. I, 1.20 PuA, S. 312 (Lebensweg eines Intellektualisten). Vgl. auch die Bemerkung in Epilog und lyri-

sches Ich (1921): „Ich stamme aus dem naturwissenschaftlichen Jahrhundert; ich kenne mei-nen Zustand ganz genau. Bacchanal durch die Singularitäten, Konkretismus triumphal,gebrochen dann wie keines unter das Gesetz der Stilisierung und der synthetischen Funk-tion“ (PuA, S. 252).

Die Wirklichkeitskrise und die Suche nach einer ‚natürlichenWeltsicht‘ 1930–32 323

seiner 1919 entstandenen, an ein imaginäres Publikum von jungen Medi-zinstudenten gerichteten Rede Das moderne Ich (1920) deutet er ihn alsAusdruck des mit den Kategorien von Kausalität und Entwicklung operie-renden mechanistischen Denksystems und vollzieht dabei – in enger Anleh-nung an die naturwissenschaftliche und philosophische Darwinismuskritikseiner Zeit21 – erstmals die negative Gleichsetzung von geschichtlichemund biologischem Entwicklungsbegriff, die von da an einen beständigenTopos seines literarischen Werks bildet.22 Gut zwanzig Jahre später formu-liert er in Zum Thema: Geschichte dieselbe These, nun aber auf dem Hinter-grund des Zweiten Weltkriegs: „Hegel, Darwin, Nietzsche –: sie wurden dietatsächliche Todesursache von vielen Millionen.“23

Benns Essayistik war immer auch Zeitdeutung und reagierte als solchesensibel auf die verbreitete Krisenstimmung am Ende der Weimarer Repu-blik. In der äußerst produktiven Phase um 1930, in der der Essay für denAutor zur zentralen literarischen Form wurde, erschienen in kurzemAbstand in der Neuen Rundschau die wichtigen Essays Zur Problematik desDichterischen (1930), Der Aufbau der Persönlichkeit (1930), Irrationalismusund moderne Medizin (1931), Goethe und die Naturwissenschaften (1932)sowie in der Frankfurter Zeitung seine anlässlich der Aufnahme in die Preu-ßische Akademie der Künste gehaltene Akademie-Rede (1932). Mit diesenan prominenter Stelle verbreiteten Reden und Aufsätzen, die kurz daraufgesammelt in den beiden ersten Essaybänden Fazit der Perspektiven (1931)

21 Benn rekurriert, wie oft gezeigt wurde, insbesondere auf Oscar Hertwigs Schriften Das Wer-den der Organismen. Zur Widerlegung von Darwin’s Zufallstheorie (Jena 1916) und ZurAbwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus (Jena 1918) sowie auf SemiMeyers Probleme der Entwicklung des Geistes: Die Geistesformen (Leipzig 1913).

22 Einen Überblick zu Benns Darwinismuskritik und ihren Quellen geben Werner Rübe, Pro-voziertes Leben. Gottfried Benn, Stuttgart 1993, S. 189–212; und Miller, Die Bedeutungdes Entwicklungsbegriffs für Menschenbild und Dichtungstheorie bei Gottfried Benn,Kap. 1. – Ein Beispiel für den von Benn kritisierten biologistischen Fortschrittsglauben desspäten 19. und frühen 20. Jahrhunderts bieten die um 1900 sehr populären Schriften ErnstHaeckels. Darin heißt es beispielsweise: „Dasselbe Gesetz des Fortschritts [wie im Verwandt-schaftssystem der Arten und der Sprachen, G.S.] finden wir dann weiterhin in der histori-schen Entwicklung des Menschengeschlechts überall wirksam. Ganz natürlich! Denn auch inden bürgerlichen und geselligen Verhältnissen sind es dieselben Prinzipien, der Kampf umsDasein und die natürliche Züchtung, welche die Völker unwiderstehlich vorwärts treibenund stufenweise zu höherer Kultur emporheben. […] [D]ieser Fortschritt ist ein Naturgesetz,welches keine menschliche Gewalt, weder Tyrannenwaffen noch Priesterflüche, dauernd zuunterdrücken vermögen. Nur durch eine fortschreitende Bewegung ist Leben und Entwick-lung möglich. Schon der bloße Stillstand ist Rückschritt, und jeder Rückschritt trägt denKeim des Todes in sich selbst. Nur dem Fortschritt gehört die Zukunft;“ vgl. Ernst Haeckel,Über die Entwicklungstheorie Darwins (1863), in: ders., Gemeinverständliche Werke, hg.von Heinrich Schmidt-Jena, Bd. 5, Leipzig/Berlin 1924, S. 3–32, hier S. 27 f. Zur Populari-sierung des Darwinismus durch Ernst Haeckel und Wilhelm Bölsche zu Beginn des zwan-zigsten Jahrhunderts vgl. Peter Sprengel, Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehrein der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg 1998, S. 21 f.

23 EuR, S. 364.

324 Gottfried Benn

und Nach dem Nihilismus (1932) bei Kiepenheuer erschienen, trat der bisdahin hauptsächlich als Lyriker bekannte Autor erstmals als raunender Zivi-lisationskritiker vor die intellektuelle Öffentlichkeit und reihte sich unterdie vielen anderen Krisendiagnostiker dieser Zeit ein. Und seine Reflexio-nen wirkten besonders provozierend. Vor allem deshalb, weil sie ausschließ-lich um die anthropologische „Frage nach dem Ich“24 kreisten. Mitdemonstrativ antisoziologischem Gestus ignorierte Benn die wirtschaftli-che, politische und soziale Dimension der Krise am Ende der WeimarerRepublik und deutete sie statt dessen als fundamentale Krise des Wissensund der wissenschaftlichen Denksysteme.25 Zugleich stilisierte er sie alsepochale Grenzsituation: als Endpunkt der vom kausal-mechanistischenDenksystem beherrschten Periode, die mit der Französischen Revolutioneingesetzt und im Ersten Weltkrieg zu zerbrechen begonnen habe. Manbefinde sich augenblicklich am „Ausgang einer Weltanschauungsepoche“und in einem allgemeinem „Stimmungswandel“, in dem an die Stelle dernaturwissenschaftlich-materialistischen eine ganzheitliche Sicht des Men-schen trete.26 Man erlebe den „Zusammenbruch des zweiten großen ratio-

24 Schröder, Gottfried Benn, S. 99. – Für die zeitgenössische Rezeption vgl. Peter Haemecher,Dichter des Irrationalen, in: Der Ring, 8. November 1932; wieder abgedruckt in: Peter UweHohendahl (Hg.), Benn – Wirkung wider Willen. Dokumente zur WirkungsgeschichteBenns, Frankfurt a.M. 1971, S. 154–160.

25 Provozierend wirkten Benns Essays insbesondere auf linke und linksliberale Autoren, weil erin einer Situation, in der man von den Intellektuellen Stellungnahme und Engagement ein-forderte, die Kritik am Determinismus in der Naturwissenschaft in polemischer Weise auchauf die politisch-kulturelle Fortschrittsvorstellung ausdehnte und mit einem demonstrativenBekenntnis zum apolitischen, ‚rein phänomenalen‘ Charakter von Kunst verband. Dabeimachte er den Linksintellektuellen gerade ihre vermeintliche Wissenschaftsgläubigkeit bzw.ihre Ignoranz der Wissenschaftskrise zum Vorwurf und fragte in Zur Problematik des Dichte-rischen (1930): „Wenn aber nun gar, wie heute, die Basis des wissenschaftlichen und damitdes modernen Weltbilds überhaupt schwankt, das Gesetz von Kraft und Stoff durch das derVitamine und Katalysatoren bedroht, die Entwicklungsmechanik zu sehr unmethodischenteleologischen Gesichtspunkten, Gesetzen von doppelter Sicherung und synergetischen Prin-zipien gezwungen wird, das Kausalgesetz selbst Sprünge zeigt, […] wo soll dann der Dichtersich befinden […]?“ (EuR, S. 87.) Dasselbe Argumentationsmuster findet sich später in derAntwort an die literarischen Emigranten (1933). Der Vorwurf der Ignoranz ging dabei inso-fern fehl, als die antimaterialistischen, naturphilosophischen Theorien auch auf linksliberalerSeite rezipiert, wenn auch anders bewertet wurden. Prominentestes Beispiel dafür ist ThomasManns VortragDie Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (Reaktion und Fortschritt)von 1929, auf den sich Benn zu Beginn von Zur Problematik des Dichterischen bezieht. Mannverteidigt darin den „modernen Irrationalismus“ und die vielfach zu beobachtende „Geniali-sierung der Wissenschaft“, allerdings mit ganz anderer Tendenz als Benn. Denn er stellt siein geistesgeschichtlicher Perspektive als notwendiges Korrektiv eines allzu idealistischen Ver-nunftglaubens und als romantisch-revolutionäre Tendenz im Dienst der Aufklärung dar.Vgl. Thomas Mann, Reaktion und Fortschritt, in: Die Neue Rundschau 40 (1929),2. Teilbd., S. 199–219, bes. S. 209 (auch in: Thomas Mann, Essays, textkritisch durchgese-hen, kommentiert und hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Bd. 3: Ein Appellan die Vernunft. 1926–1933, Frankfurt a.M. 1994, S. 122–154, hier S. 139.)

26 EuR, S. 112 und 114 (Der Aufbau der Persönlichkeit).

Die Wirklichkeitskrise und die Suche nach einer ‚natürlichenWeltsicht‘ 1930–32 325

nalistischen Erfassungsversuchs der Welt“ nach dem „Ausgang der Anti-ke“.27 Auf dem Erfahrungshintergrund des Ersten Weltkriegs mit seinersozialdarwinistischen Kriegsrhetorik und dem massiven Einsatz modernsterTechnik hatte Benn schon 1920 die Vision eines den ganzen Kontinenterfassenden Zusammenbruchs des „blasenspülenden Säkulums“ ent-wickelt.28 In der zugespitzten Krisensituation um 1930, in der „die Ersatz-religion des sozialen und technischen Utilitarismus, die Euphorie des »Fort-schritts«“,29 endgültig zerbrochen zu sein scheint, das politische Systemzunehmend zerfällt und gegensätzliche Weltanschauungen miteinanderkonkurrieren, wird diese Vorstellung für Benn dann zum argumentativenGrundmuster.

Das Zentrum des ‚Stimmungswandels‘ lokalisiert Benn – und hierinstimmt er mit vielen zeitdiagnostischen und wissenschaftskritischen Stel-lungnahmen dieser Zeit überein – in der Erosion des Kausalitätsgesetzes,die, von neuesten Entwicklungen in den Naturwissenschaften ausgehend, zueiner alle Wissensbereiche affizierenden Erkenntniskrise geführt habe.Dabei bezieht er sich vor allem auf die Negation des Entwicklungsbegriffsdurch Teile der modernen Biologie – insbesondere der Embryologie (HansDriesch, Hans Spemann) und der Genetik (Wilhelm Johannsen) – und denvermeintlichen Indeterminismus der Quantenphysik (Max Planck). Erbeobachtet den antimechanistischen Methodenwandel aber ebenso in derHirnforschung (Constantin von Economo), der Schizophrenieforschung(C.G. Jung), der Ethnologie (Lucien Lévy-Bruhl), der Paläontologie undPrähistorie (Edgar Dacqué, Eugen Georg), der Charakterologie (Dilthey),der Psychoanalyse (Freud) und der Ontologie (Heidegger). Diese auf denersten Blick synkretistisch anmutende Selektion und Kombination dispara-ter und auch ganz unterschiedlich gewichtiger wissenschaftlicher Resultateund Theorien richtet sich nicht nach deren Wahrheitsgehalt, sondern alleindanach, ob sie geeignet sind, als Zeichen des behaupteten Mentalitätswan-dels zu fungieren und den Zusammenbruch des kausal-mechanistischenDenksystems plausibel zu machen. Benn betrachtet die FroscheiexperimenteDrieschs ebenso wie die quantenphysikalischen Berechnungen als ‚Modeer-scheinungen‘, an denen der konstruktive oder ‚mythologische‘ Charakteraller Naturgesetze und wissenschaftlichen Theorien zu Tage trete:

Nur noch ein statistischer Charakter steht dem physikalischen Gesetze zu. Physikerwie Philosophen halten die absolute Determiniertheit des Atomvorgangs fürunwahrscheinlich, einer der allgemeinsten Erfahrungssätze, der sogenannte zweite

27 EuR, S. 193 (Goethe und die Naturwissenschaften).28 EuR, S. 34 (Das moderne Ich).29 Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frank-

furt a.M. 1987, S. 268.

326 Gottfried Benn

Hauptsatz der Thermodynamik […], hat sich als das Prototyp eines statistischenGesetzes herausgestellt. Brüche im Bau, Risse im Hymen, Spuk im Parthenon.30

Benn deutet die Gegenwartskrise also als Wissenschaftskrise, und er deutetdie Wissenschaftskrise als Wirklichkeitskrise, als Krise der erkenntnistheo-retischen Grundlage von Realitätserfassung („Chaos zufälliger korrigier-barer wechselnder Ausdrucks- und Darstellungsformen“31), und infolgedes-sen als Verlust von Anschaulichkeit und Darstellbarkeit:

Die alten Realitäten Raum und Zeit Funktionen von Formeln […]; überall imagi-näre Größen, überall dynamische Phantome, selbst die konkretesten Mächte wieStaat und Gesellschaft substantiell gar nicht mehr zu fassen.32

Der Essayist greift hier Krisendiagnosen aus dem Bereich der Wissenschaf-ten auf. Die These der Repräsentationskrise im Goethe-Aufsatz übernimmter beispielsweise aus dem Buch des Philosophieprofessors Hugo Dingler,Der Zusammenbruch der Wissenschaft und der Primat der Philosophie(1926).33 Schon Dingler parallelisierte den sich seit dem Ersten Weltkriegabzeichnenden „Zusammenbruch des Glaubens an die Sicherheit des experi-mentellen Prinzips“ und an die Möglichkeit, „durch Erfahrung und Induk-tion der Realität ewige Gesetze zu entnehmen“, mit dem Zusammenbruchder „griechische[n] Philosophie“ am Ende der Antike und sprach in diesemZusammenhang von einer „Weltenwende“.34 Vor allem die moderne Physikhabe deutlich werden lassen, dass jede Realitätsbestimmung durch die „Auf-fassungstätigkeit“ des Subjekts bestimmt und, psychologisch gesehen, ‚ge-stalthafte Form‘ sei.35 Wie zuvor bereits gezeigt,36 argumentierten pro-minente Vertreter der modernen Physik ganz ähnlich. Konkret bezieht sichBenn im Goethe-Aufsatz auf einen Vortrag von Max Planck, der die in allenBereichen der ‚geistigen Kultur‘ und insbesondere in der Physik zu beobach-tende Krise 1930 ebenfalls als erkenntnistheoretische Grundlagenkrisebeschrieb und mit Blick auf die Quantentheorie den hypothetischen bzw.schöpferischen Anteil im physikalischen Weltbild hervorhob.37

30 PuA. S. 124 (Saison).31 EuR, S. 193 (Goethe und die Naturwissenschaften).32 EuR, S. 450 (Akademie-Rede).33 Vgl. Hugo Dingler, Der Zusammenbruch der Wissenschaft und der Primat der Philosophie,

München 1926, S. 123.34 Ebd., S. 10, 35, 122 und 9.35 Ebd., S. 155. Dingler hat diese gestalttypologische Betrachtung der Physik später im ‚Dritten

Reich‘ weiterentwickelt und damit eine wissenschaftstheoretische Begründung für die ‚Deut-sche Physik‘ geliefert. Siehe hierzu Steffen Richter, Die „Deutsche Physik“, in: HerbertMehrtens/Steffen Richter (Hg.), Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. Beiträge zurWissenschaftsgeschichte des Dritten Reiches, Frankfurt a.M., 1980, S. 116–141, bes.S. 120.

36 Vgl. Kap. II, 2.37 Benn erwähnt im Goethe-Aufsatz einen Vortrag Plancks mit dem Titel „Der Positivismus

und das physikalische Weltbild“ (EuR, S. 193), meint aber wohl den Vortrag Positivismusund reale Außenwelt, den der Physiker am 12. November 1930 vor der Kaiser-Wilhelm-Ge-

Die Wirklichkeitskrise und die Suche nach einer ‚natürlichenWeltsicht‘ 1930–32 327

Planck wie Dingler interpretieren die Krise als Krise der Repräsenta-tionssysteme und beziehen sich dabei vor allem auf den durch die Quanten-theorie gegen Ende der zwanziger Jahre virulent gewordenen Verlust derAnschaulichkeit in der physikalischen Darstellung, also die Erfahrung, dassein Objekt nicht unabhängig von der Beobachtungssituation beschriebenwerden kann und die Kantischen Anschauungsformen von Raum und Zeitkeine absolute Gültigkeit mehr haben.38 Diese Erfahrung begründet auchdie Suche nach einem metawissenschaftlichen Standpunkt, von dem aussich die differenten Wissensgebiete gemeinsam betrachten lassen. Eine sol-che Möglichkeit wird von Planck am Ende seines Vortrags formuliert, wo erden Zusammenschluss der Einzelwissenschaften zu einer „neuen, höherenEinheit“ ins Auge fasst.39 Und Dingler weist der Philosophie die Aufgabezu, die „Gesamtheit dieser Wissenschaften in ihrem tiefsten Wesen“ zu er-fassen und so wieder „Ordnung und Kosmos“ zu stiften.40 Diese Einheitdes Wissens kann man allerdings auf zwei unterschiedlichen Wegen anstre-ben. Und irritierender Weise werden in Benns Texten beide beschritten.Zum einen kann sie nämlich über eine reflexive Rückwendung auf dieGrundlagen von Erkenntnis oder eine phänomenologische Analyse geistigerPhänomene hergestellt werden, wie sie auch im perspektivischen Verfahrender essayistischen Prosa Benns zum Tragen kommt. Zum anderen dadurch,dass alle natürlichen und kulturellen Erscheinungen mit einer einheitlichenMethode behandelt, in ein und demselben System repräsentiert werden.Dabei geht es darum, die verloren gegangene Anschaulichkeit wiederherzu-stellen, jedoch nicht im Rückgriff auf das kausal-deterministische Wirklich-keitsmodell der klassischen Physik, sondern durch eine gestalttypologischeBetrachtungsweise.

sellschaft in Berlin gehalten hatte und der 1931 auch als eigenständige Broschüre im Leipzi-ger Akademie-Verlag erschienen war. Darin vertritt Planck keinen radikalen Konstruktivis-mus, sondern betont nur die Abhängigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse von experimentel-len Anordnungen, forschungsleitenden Hypothesen und theoretischen Interpretationen derMessergebnisse: „So verfügt der Schöpfer einer Hypothese über schier unbegrenzte Möglich-keiten und Hilfsmittel, er ist so wenig auf die physiologischen Leistungen seiner Sinnes-organe angewiesen, wie auf die Benützung physikalischer Meßgeräte. Mit seinem geistigenAuge durchschaut und kontrolliert er die feinsten Vorgänge, die sich in einem physikalischenGebilde abspielen […]. Und mit seinen geistigen Werkzeugen, seinen Instrumenten vonidealer Genauigkeit greift er in alle physikalischen Geschehnisse nach Belieben ein, um dieverwegensten Gedankenexperimente auszuführen und aus deren Ergebnis weitere Schlüssezu ziehen“ (Max Planck, Positivismus und reale Außenwelt [1930], in: ders., Wege zur physi-kalischen Erkenntnis. Reden und Vorträge, 2. Aufl., Leipzig 1934, S. 208–232, hierS. 222 f.).

38 Siehe hierzu Françoise Balibar, Wenn die Worte fehlen, um von der Natur zu sprechen …Relativitätstheorie, Quantenmechanik und Paradigmenwechsel in Physik und Philosophie,in: Christine Maillard/Michael Titzmann (Hg.), Literatur und Wissen(schaften)1890–1935, Stuttgart/Weimar 2002, S. 39–49, bes. S. 46.

39 Planck, Positivismus und reale Außenwelt, S. 232.40 Dingler, Der Zusammenbruch der Wissenschaft und der Primat der Philosophie, S. 399.

328 Gottfried Benn

Die Attraktivität dieses zweiten, programmatisch an die antike Natur-philosophie und an Goethes Morphologie anknüpfenden Lösungsversuchsfür Teile der literarischen Intelligenz ist schon bei Jünger und Nebel deut-lich geworden. Auch Benn bezieht sich in seiner Präsentation der Wissen-schaftskrise um 1930, insbesondere in seinem wichtigen Goethe-Aufsatzvon 1932, in dem er die (Wieder-)Gewinnung einer ‚natürlichen‘ – oder‚ptolemäischen‘41 – Weltsicht in Aussicht stellt, auf dieses Modell, ohne esaber tatsächlich zu adaptieren. Man erlebe gegenwärtig, schreibt er, wie „dieRelativitätstheorie durch Auflösung des physikalischen Raums den idealen,den aus den ästhetischen Kategorien Kants, doppelt beschwört, die Phi-losophie […] sich zur reinen Ontologie wendet, die Quantentheorie ausdem Munde Plancks […] den Begriff der Realität, diesen, wie er selber sagt,metaphysischen Begriff in hoher Inbrunst ehrt“, wie ganz allgemein „diegeistig-wissenschaftliche Gesamtvernunft“ das „hybrid übersteigerte Be-griffsnetz der modernen induktiven Naturexegese beiseite schiebt und eineneue, die alte Wirklichkeit durch Wiedergewinnung eines natürlichenWeltbildes sucht“.42

‚Natürliche Weltsicht‘ bedeutet in Goethe und die Naturwissenschaftenzweierlei: zum einen eine naturgeschichtliche Betrachtung des Menschenund zum anderen ein ‚natürliches‘ Sehen. Benn ist sich dabei durchausbewusst, dass sich die Aktualität von Goethes anschaulichem Denkens nurschwer mit den Erkenntnissen der Relativitäts- und Quantentheorie belegenlässt, und bemüht sich daher, den Begriff der Anschaulichkeit näher zubestimmen. In seiner Sicht meint anschauliches bzw. gegenständliches Den-ken bei Goethe mehr als ein gestalthaftes Sehen, das auf Formähnlichkeitenund bildhaftes Wiedererkennen ausgerichtet ist, wie es die vergleichendeMorphologie praktiziert. Vielmehr meint es ein schöpferisches Denken, dasauch auf gestaltlose Sphären angewandt werden kann und diesen erst Formgibt: „ein Eintauchen des Denkens in den Gegenstand und eine Osmosedes Objekts in den anschauenden Geist“.43 Mit dieser zweiten, weiterrei-chenden Bestimmung von Anschaulichkeit versucht Benn, Goethes Natur-

41 Vgl. EuR, S. 203 (Goethe und die Naturwissenschaften).42 EuR, S. 193 f. Benn verbindet mit der Quantentheorie also die Erwartung eines neuen meta-

physischen Weltverständnisses und bewertet die durch die theoretische Physik herbeigeführte‚Auflösung der Natur‘ in diesem Sinne positiv. Man kann bei ihm daher keinesfalls von einerAblehnung der modernen Physik sprechen und ihn schon gar nicht als Fallbeispiel dafürnehmen, wie aus der Perhorreszierung der modernen Physik eine Wendung zur Rassenbiolo-gie und zum „Gedankengut des Nationalsozialismus“ erwachsen sei, wie Carsten Könnekerdas tut (Carsten Könneker, „Auflösung der Natur – Auflösung der Geschichte“. ModernerRoman und NS-„Weltanschauung“ im Zeichen der theoretischen Physik, Stuttgart/Weimar2001, S. 317). Zu Benns Reflexion der modernen Physik siehe Gregor Streim, ‚Risse im Par-thenon‘. Reflexionen der modernen Physik in Gottfried Benns Poetik des Absoluten, in:Marie Guthmüller/Wolfgang Klein (Hg.), Ästhetik von unten. Empirie und ästhetischesWissen, Tübingen/Basel 2006, S. 403–425.

43 EuR. S. 194.

Die Wirklichkeitskrise und die Suche nach einer ‚natürlichenWeltsicht‘ 1930–32 329

betrachtung mit der in der Quantenphysik gemachten Erfahrung zu vermit-teln, dass ein Objekt nicht unabhängig von den Mitteln der Beobachtungzu charakterisieren ist.44 Implizit deutet er die Veränderung im physika-lischen Weltbild damit als Wendung zum Intuitionismus und als imGrunde ‚dichterisches‘ Denken. Vor allem aber stellt er so sein eigenes Ver-fahren in die Tradition der Goethischen Naturbetrachtung; genauer gesagt,unterlegt er dieser das eigene Schreibprogramm: „ein produktives Denkenim Rahmen wissenschaftlicher Themen, ein weittragendes perspektivischesErfühlen von Zusammenhängen und Ursprüngen“.45

Es ist nicht viel gewonnen, ja sogar irreführend, wenn man Benns Um-gang mit wissenschaftlichen, populär- oder pseudowissenschaftlichen Theo-rien als Irrationalismus einstuft. Und dies nicht nur, weil sein Verfahren derAdaption und Präsentation dieses Wissens, wie gesehen, hoch reflexiv ist,sondern auch deshalb, weil er keine Rückkehr zu vorwissenschaftlichenErkenntnisformen oder einem mythischen Weltverhältnis vertritt.46 Ebensowie Jünger und Nebel geht es ihm eher um eine Aktualisierung der antikenund Goethischen Naturphilosophie (in Benns Augen selbst eine „Kombina-tion von Kausalität und Mythe“47) auf dem Hintergrund neuester wissen-schaftlicher Entwicklungen, um ein Modell der Naturerklärung also, dassinnliche Erfahrung und experimentelle Forschung miteinander verbindet.Man kann seine Position deshalb auch nicht als reaktionär bewerten.48 Sieist antimodern und antiliberal, insofern sie auf die Überwindung des Fort-schrittsdenkens, der naturwissenschaftlichen und historischen Temporalisie-rung, zielt. Sie ist aber darin modern, genauer gesagt: avantgardistisch, dasssie diese Überwindung als konstruktiven Akt konzipiert.

Die Idiosynkrasie gegenüber dem modernen Fortschrittsdenken schlägtsich theoretisch und literarisch zunächst in der Präferenz für räumliche Dar-stellungsmodelle und Denkfiguren wie ‚Gestalt‘, ‚Typus‘, ‚Schichtung‘, ‚La-gerung‘ oder ‚Konstellation‘ nieder. Der alles umfassenden Verzeitlichung –Konsequenz einer „raumneurotisch entarteten Ratio“49 – begegnet derEssayist mit Strategien konzeptioneller Verräumlichung. Als strukturieren-

44 Auf Parallelen zwischen Benns und Heisenbergs Versuch einer Rehabilitierung von GoethesNaturwissenschaft verweist Walter Müller-Seidel, Goethes Naturwissenschaft im VerständnisGottfried Benns. Zur geistigen Situation am Ende der Weimarer Republik, in: Hans-HenrikKrummacher u. a. (Hg.), Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhundert-wende bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 25–53, bes. S. 43.

45 EuR, S. 194.46 So auch das entschiedene Plädoyer von Müller-Seidel, Goethes Naturwissenschaft im Ver-

ständnis Gottfried Benns, bes. S. 40 f.47 EuR, S. 202 (Goethe und die Naturwissenschaften).48 In der Akademie-Rede kritisiert Benn nicht allein die liberale Fortschrittsideologie, sondern

auch „die Utopisten von der anderen Seite, mit der alten Seele und dem stimmungsvollenGemüt“ (EuR, S. 451).

49 EuR, S. 202.

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des Prinzip bestimmt dieses Interesse auch seine Adaption wissenschaftli-cher Theorien. Denn viele der von Benn zitierten Theorien operieren miteinem räumlichen Repräsentationsmodell, mit dem, was er das „geologischePrinzip“50 nennt; ob es sich nun um Freuds Entdeckung des „Schichtung-scharakter[s] des Psychischen“51 handelt, um Johannsens Genotyp-Phäno-typ-Theorie, um das Stammhirn-Großhirn-Modell Economos, die antievo-lutionistische Paläontologie Dacquès, Lévy-Bruhls Nebeneinanderstellungvon ‚prälogischer‘ und moderner Geistesart in der Ethnologie oder um dieKonstitutionslehre der modernen Medizin, die „das Konstellative des Kör-pers“52 in den Vordergrund rückt. Neben der Tendenz zur Verräumlichungfindet sich in Benns Texten, wie schon angedeutet, jedoch noch eine andereTendenz, die auf eine Spiritualisierung des Unanschaulich-Funktionalenhinausläuft und ganz auf zeit-räumliche Repräsentation verzichtet. Wäh-rend jene ihre Denkfiguren und Leitbegriffe aus dem Bereich der Natur-geschichte und Biologie bezieht, steht diese unter dem Eindruck der moder-nen Physik. Letztgenannte Tendenz gewinnt dann, wie sich noch zeigenwird, in den Texten der vierziger Jahre die Oberhand.

3. ‚Leben‘ oder ‚Konstruktion‘?

Die Essays der Jahre 1930 bis 1932 enthalten nicht nur eine Krisenbeschrei-bung, sie interpretieren die Krise zugleich als Übergang in eine neue Epo-che, als Wandel des kollektiven Menschenbildes und als Weg hin zu einerneuen ‚Realitätskonstruktion‘. 1932 taucht in diesem Zusammenhang dannerstmals die Formulierung „anthropologische Wendung“ auf.53 Bennbezieht sich dabei allerdings auf heterogene Denkmodelle und Metaphernund konzipiert den Wandel in den verschiedenen Essays einmal eher orga-nologisch, ein anderes Mal eher physikalisch bzw. konstruktivistisch. Ver-gleicht man die im Abstand von zwei Jahren entstandenen Aufsätze Aufbauder Persönlichkeit (1930) und Der Nihilismus – und seine Überwindung(1932), dann lässt sich in diesem Zeitraum eine tendenzielle Abkehr vonlebensphilosophischen und organologischen Konzepten feststellen.

Den Ausgangspunkt von Benns Argumentation bildet die Feststellungvom Legitimitätsverfall der beiden anthropologischen Leitdiskurse des19. Jahrhunderts, des darwinistischen (der Mensch als der ‚hochgezüchteteAffe‘) sowie des idealistischen. Im Aufbau der Persönlichkeit untermauertBenn diese These, indem er einerseits gegen die Evolutionstheorie die palä-ontologisch-mythologischen Spekulationen Georgs und Dacqués ins Feld

50 EuR, S. 118 (Der Aufbau der Persönlichkeit).51 EuR, S. 118.52 EuR, S. 113.53 EuR, S. 212 (Der Nihilismus – und seine Überwindung).

‚Leben‘ oder ‚Konstruktion‘? 331

führt und andererseits der ‚zerebralen Hypothese‘, der Vorstellung des Men-schen als Vernunftwesen, die seit 1900 immer dominanter hervortretende„biologische Idee“54 entgegenstellt. Neue Forschungen zum Blutdrüsensys-tem, zum vegetativen Nervensystem, zum Hormonkreislauf und zu denStammhirnganglien würden eine „biologische“, ja „biologistische“ Fundie-rung der Persönlichkeit nahe legen.55 Der Aufbau der Persönlichkeit erfolgedurch ein über den ganzen Körper verteiltes „Organsystem“, eine komplexeStruktur „aus gegensätzlichsten körperlichen Systemen […], von peripherenStrömungen belebt und in jedem einzelnen des vollen Ausdrucks fähig.“56

Mit dieser Akzentuierung der physiologischen Grundlage aller psychischenProzesse greift er die klassische idealistische Anthropologie in ihrem kon-zeptionellen Kern, dem Leib-Seele-Dualismus, an. Benn beruft sich dabeiauf die „totalistische Strömung“ naturphilosophischen und lebensphiloso-phischen Denkens von der Antike über Goethe und Carus bis zu Freud,Driesch und Dilthey.57

Mit der biologischen bzw. physiologischen Hypothese gerät seine Argu-mentation jedoch in Konflikt mit dem wichtigsten Referenztext seinesEssays: Max Schelers zwei Jahre zuvor erschienenem Buch über Die Stellungdes Menschen im Kosmos (1928). Über eine weite Strecke folgt der Aufbauder Persönlichkeit dem „neuen Bilde vomWesensaufbau des Menschen“, wieScheler es skizziert.58 Das betrifft die doppelte Kritik an der idealistischenund der darwinistischen Anthropologie, die Negierung des Leib-Seele-Dua-lismus und den Rekurs auf Ergebnisse der Medizin, Psychiatrie und Hirn-forschung, die zeigten, dass seelische Prozesse nicht in einem Organ zu fixie-ren, sondern im Nervensystem zu lokalisieren seien.59 In der Gegenwart seiwieder „der ganze Körper“ zum „Parallelfeld der seelischen Geschehnissegeworden“,60 schreibt Scheler. Philosophen, Mediziner und Naturforschertendierten immer mehr zu der Ansicht, dass es „ein und dasselbe Leben“ sei,„das in seinem »Innesein« psychische, in seinem Sein für Andere leiblicheFormgestaltung“ aufweise.61 Der Unterschied zur Lebensphilosophie liegtdabei darin, dass Scheler zur Wesensbestimmung des Menschen einenGegensatz „höherer und tiefgreifender Ordnung“ einführt, nämlich den

54 EuR, S. 111.55 EuR, S. 112.56 EuR, S. 113 f.57 EuR, S. 113.58 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928, S. 11.59 „Eingehende Forschungen der Psychiater haben uns gezeigt, daß die für die Grundlage des

menschlichen »Charakters« ausschlaggebenden psychischen Funktionen, insbesondere alles,was zum Triebleben und zur Affektivität gehört […], seine physiologischen Parallelprozesseüberhaupt nicht im Großhirn hat, sondern in der Hirnstammgegend“ (ebd., S. 85).

60 Ebd., S. 86.61 Ebd., S. 86.

332 Gottfried Benn

von „Leben und Geist“,62 und mit Kant zwischen Geist und Psyche unter-scheidet. Anders als in der „panromantische[n] Denkart“63 bei Dacqué,Jung, Klages, Lessing oder Spengler, auf die Benn ebenfalls rekurriert, fasstScheler den Geist nicht als Epiphänomen des Lebens, sondern als ontischunterschiedene Ebene reflexiver Selbstvergewisserung – als eine „Raum undZeit überlegen[e]“ „formale Seinssphäre“.64 Diese Wendung wird von Bennim Aufbau der Persönlichkeit zwar bemerkt und anerkannt, aber noch nichtganz mitvollzogen:

Mag nun auch heute der menschliche Geist als ein anderes Prinzip wie das desLebens erscheinen, mag es diesem Prinzip entgegenstehen, wie Scheler meint, ausdem Biologischen überhaupt nicht ableitbar sein […] –: in der Persönlichkeit ist erfür immer mit dem Körper verbunden, in ihrer Geschichte immer mit dem Körperzur Gestaltung des Seins vereint.65

Zwei Jahre später, als Benn in Der Nihilismus – und seine Überwindung dieKonturen eines ‚neuen Menschen‘ skizziert, koppelt er das schöpferischePrinzip dann nicht mehr an physiologische Prozesse. Es figuriert nun alsdem Organischen übergeordneter ‚konstruktiver Geist‘.66 Die Abgrenzungerfolgt hier zum einen gegenüber dem biologischen Materialismus und derRassentheorie, die den Geist aus organischen Faktoren (wie dem Blut) ablei-ten, zum anderen aber auch gegenüber der Lebensphilosophie, die ihn alsFunktion des metaphysischen Lebens begreift. Unmissverständlich heißt es:

Wir setzen heute den Geist nicht in die Gesundheit des Biologischen ein, nicht indie Aufstiegslinie des Positivismus, sehen ihn allerdings auch nicht in einer ewigschmachtenden Tragödie mit dem Leben, sondern setzten ihn als dem Leben über-geordnet ein, ihm konstruktiv überlegen, als formendes und formales Prinzip.67

Scheler hatte ähnlich formuliert, der Geist sei ein „allem Leben überhauptentgegengesetztes Prinzip“ mit der Tendenz zur „Entwirklichung“.68 BennsArgumentation oszilliert allerdings noch in eigentümlicher Weise zwischendem lebensphilosophischen Diskurs und dessen Kritik durch die Philoso-phische Anthropologie. Denn obwohl er den Geist als dem Leben ‚überge-ordnetes‘ Prinzip fasst, greift er mit der Theorie der ‚bionegativen‘ Entwick-lung69 zugleich auf die Vorstellung einer Selbstentfremdung des Lebens im

62 Ebd., S. 95. Siehe hierzu auch Kap. I, 2 b.63 Ebd., S. 101.64 Ebd., S. 106.65 EuR, S. 122.66 Fischer-Harriehausen hat die Polarität von Geist und Leben zu Recht als ein konstitutives

Element der Bennschen Anthropologie hervorgehoben (vgl. Fischer-Harriehausen, Benn alsWissenschaftskritiker, a. a. O.).

67 EuR, S. 212.68 Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 46 und 65.69 Als ‚bionegative‘ (Lange-Eichbaum) Entwicklungstheorien behandelt Benn sowohl die psy-

chiatrischen Untersuchungen zum Zusammenhang von ‚Genie und Irrsinn‘ von ErnstKretschmer und Wilhelm Lange-Eichbaum als auch Economos Theorie der progressivenZerebration und Edgar Dacqués metaphysische Entwicklungslehre, auf die er u. a. in der

‚Leben‘ oder ‚Konstruktion‘? 333

Geist zurück, wie sie auch bei Nietzsche, Lessing oder Klages begegnet.70

Allerdings vertauscht er dabei die Wertung: Den kommenden Menschenstellt er als Negativvariante des Nietzscheanischen Übermenschen dar; nichtals „biologisch wertvolleren, als rassenmäßig gesteigerten, vitalistisch stärke-ren“ Typ, sondern als Resultat einer Degeneration des Biologisch-Gesundenzum Geistig-Produktiven.71 Diese Assoziation des Dekadenten, Spät- undEndzeitlichen wird in Benns Beschwörungen des Schöpferischen bis in seinSpätwerk hinein präsent bleiben.

Ein ambivalentes Verhältnis zur Lebensphilosophie lässt sich aber auchschon am Begriff des ‚konstruktiven Geistes‘ bzw. des ‚formalen Prinzips‘ablesen. Dieser ist dem Konzept einer psychophysischen Einheit verpflich-tet, insofern der Geist in unmittelbarer Weise körperliche Vorgänge beein-flusst, ja der Körper als Medium des Geistes fungiert.72 Dieser Gedankewird von Benn immer wieder variiert, beispielsweise in der Theorie vom ‚er-regenden Wort‘ in Irrationalismus und moderne Medizin (1931). SeineBemerkung, dass der Geist dem Leben ‚übergeordnet‘ sei, impliziert daherkeine wesensmäßige Unterscheidung, wie bei Scheler, sondern meint einelenkende Funktion des Geistes innerhalb des leib-seelischen Komplexes.Nicht die Transzendierung der Wirklichkeit hat Benn im Auge, sondern dieSpiritualisierung des Körpers. Gleichzeitig grenzt er sich von der lebensphi-losophischen Anthropologie dadurch ab, dass er das Bewusstsein statt alsEpiphänomen als Zentrum des Lebens einsetzt. Im Gegensatz zur lebens-philosophischen Anthropologie beschreibt er die körperliche Welt nichtmehr biologisch-ganzheitlich, sondern technisch-funktional, nicht mehr alsgestalthaften Ausdruck, sondern als geistig-physikalische Projektion. Die‚anthropologische Wendung‘ wird von Benn somit als Übergang vom Lebenzur Konstruktion konzipiert:

Manches deutet ja darauf hin, daß wir vor einer ganz allgemeinen anthropologi-schen Wendung stehen, banal gesagt: Verlagerung von innen nach außen, Verströ-mung der letzten arthaften Substanzen in die Gestaltung: die moderne Technikund die moderne Architektur deuten ja in diese Richtung: der Raum nicht mehrphilosophisch-begrifflich wie in der Kantischen Epoche, sondern bewegt, dyna-misch, durchspannt von Funktion. Das Raumgefühl nicht mehr lyrisch-vereinsamtangesammelt, sondern landschaftlich projiziert, ausgestülpt, metallisch realisiert.73

Akademie-Rede Bezug nimmt, wenn er den (männlichen) Funktionalismus als Ergebnis eines„Nachlassen[s] der schöpferischen Spannung“ und von „physiologischer Insolvenz“ bzw.Unfruchtbarkeit erklärt (EuR, S. 452).

70 Zu den lebensphilosophischen Dekadenztheorien siehe Herbert Schnädelbach, Philosophiein Deutschland 1831–1933, Frankfurt a.M. 1983, S. 178.

71 EuR, S. 212.72 Es ist daher nicht richtig, Benns Geist-Konzeption mit der von Scheler und Plessner ent-

wickelten Theorie der ‚Weltoffenheit‘ zu identifizieren, wie es Fischer-Harriehausen mitBlick auf den Aufbau der Persönlichkeit tut (vgl. Fischer-Harriehausen, Gottfried Benn alsWissenschaftskritiker, S. 272).

73 EuR, S. 212 f.

334 Gottfried Benn

Der ‚konstruktive Geist‘ schafft die Realität nicht mehr nach raum-zeitli-chen Prinzipien, weder nach kausal-mechanistischen noch nach organisch-gestalthaften. Die neuen Prinzipien heißen: Funktion und Projektion.Dabei wertet Benn den zuvor von ihm selbst verurteilten Funktionalismusauf, was auch in der im selben Jahr gehaltenen Akademie-Rede deutlich wird.Statt von ‚anthropologischer Wendung‘ spricht er dort von einer „neue[n]Cerebralisationsstufe“, die am Ende des seit Goethe fortschreitenden „Rea-litätsverfall[s]“ stehe:

[D]er Erdboden ist zerrüttet von purer Dynamik und von reiner Relation. Funk-tionalismus […] heißt die Stunde, trägerlose Bewegung, unexistentes Sein. […]Die alten Realitäten Raum und Zeit Funktionen von Formeln; Gesundheit undKrankheit Funktion von Bewußtseinszuständen; überall imaginäre Größen, überalldynamische Phantome […], immer nur der Prozeß an sich, immer nur die Dyna-mik als solche.74

Ganz ähnlich wie im Goethe-Aufsatz wird hier der moderne Realitätsverlustals Verlust von Anschaulichkeit und Raumerfahrung aufgefasst, allerdingsjetzt positiv gewertet: Er ist die Basis neuer Wirklichkeitsbildung. Die neue‚Cerebralisationsstufe‘ markiert den Übergang zur rein geistigen Konstruk-tivität – in Entgegensetzung zur organischen Gestaltung. Entscheidend fürdie Umwertung der Funktionalität in beiden Texten ist dabei, dass diesenicht nach dem Modell der klassischen Physik, sondern nach dem Modellder ‚indeterministischen‘ modernen Physik konzipiert wird. Die Aufwer-tung des Funktionalen, der modernen Technik und Architektur steht imZeichen der bereits beschriebenen Faszination durch die Akausalitätstheseund die Idee einer spiritualisierten Materie. Die Dynamik erhält deshalbauf einmal wesenhafte Qualität, weil sie als Vierte Dimension verstandenwird. Der bewegte, von Funktion ‚durchspannte‘ Raum wird zum Projek-tions- und Realisationsraum des konstruktiven Geistes, zum Medium des„anthropologischen Stils“.75

Man kann diese Aufwertung von Funktion und Technik in den Kontextanderer zeitgenössischer Entwürfe einer Überformung und Transformationder ‚rationalistischen‘ Moderne stellen und etwa Parallelen zu Ernst JüngersKraftfeld- und Kristallisationsmodellen ziehen. Für Benn gibt es keinen„Rückweg“ aus Unanschaulichkeit und Funktionalismus – „die Regression“zur Natur „ist versperrt“;76 es gibt nur die Möglichkeit, diese zur Grundlageeiner neuen Wesensbestimmung zu machen. Indem er diese Verwandlungals Verwandlung des Menschen selbst darstellt und in deren Zentrum dieVerbindung von Geist und physikalischen Prozessen setzt, greift Bennzugleich aber auch auf avantgardistische Konzepte und damit auf seineexpressionistischen Anfänge zurück. In expressionistischer Tradition steht

74 EuR, S. 450.75 EuR, S. 223 (Nach dem Nihilismus).76 EuR, S. 451.

‚Leben‘ oder ‚Konstruktion‘? 335

schon die Zentralmetapher des Gehirns. Gleiches gilt für die Vorstellungeiner Aktivierung archaischer Bewusstseinsschichten in funktionalenGestaltungsformen. In Der Nihilismus – und seine Überwindung etwa führtBenn Expressionismus, Surrealismus und Psychoanalyse als Indizien dafüran, dass man „biologisch einer Wiedererweckung der Mythe […] und korti-kal einem Aufbau durch Entladungsmechanismus und reine Expression“entgegengehe.77 Und in der Akademie-Rede beschwört er die kommende„Epoche eines großartig halluzinatorisch-konstruktiven Stils“, in dem sich„das Schöpfungsfrühe noch einmal ins Bewußtsein“ wende.78 Ganz imSinne der expressionistischen und futuristischen Avantgarde versucht Benn,konstruktivistische Formprinzipien an archaische Kräfte zu binden und denmodernen ‚Funktionalismus‘ so zu transzendieren. Das Bekenntnis zu denneuen „Ausdrucksmechanismen“, zu „Klee, Kandinsky, Leger“,79 impliziertdabei eine eindeutige Absage an naturalistische Gestaltungsprinzipien unddamit auch an völkische Kunstprogramme. Dies wird an Dorische Weltnoch genauer aufzuzeigen sein.

4. 1933 als anthropologische Verwandlung:‚Züchtung‘ und ‚Mutation‘

Es ist kein Zufall, dass die Formulierung von der ‚anthropologischen Wen-dung‘ zuerst in dem Aufsatz auftaucht, mit dem sich Benn erstmals deutlichsichtbar im nationalkonservativen Lager positioniert – durch den Publika-tionsort80 ebenso wie durch die Integration ideologischer Schlüsselwörterwie ‚Nation‘, ‚Gesetz‘, ‚Kampf‘ oder ‚volkhafte Verpflichtung‘ und durchdie Rede in der ersten Person Plural. Der Nihilismus – und seine Überwin-dung bietet damit zugleich das erste Beispiel des für Benns Aufsätze der fol-genden Zeit charakteristischen Bemühens, seine ästhetischen und an-thropologischen Reflexionen mit dem Diskurs der nationalen Erneuerungzu verknüpfen. Es wäre allerdings eine verkürzte Sicht, wenn man die Poli-tisierung von Benns Texten in dieser Zeit nur als einseitige Anpassungbeschriebe. Denn im Grunde geht es Benn um eine theoretische undästhetische Konzeptionalisierung der geschichtlichen Ereignisse, wobei ernationalrevolutionäre und nationalsozialistische Ideologeme aufgreift und

77 EuR, S. 213.78 EuR, S. 454 f.79 EuR, S. 452.80 Der Nihilismus – und seine Überwindung erschien zuerst am 10. Juli 1932 in der von Max

Fischer herausgegebenen, jungkonservativ geprägten Zeitschrift Der Vorstoß. Wochenschriftfür deutsche Zukunft.

336 Gottfried Benn

im Rahmen der skizzierten Anthropologie umdeutet.81 Was einmal als‚Kampf‘, ‚Nation‘ und ‚Gesetz‘ bezeichnet ist, wird ein anderes Mal als ‚Stil‘,‚Form‘ und ‚Konstruktion‘ gefasst. Das Grundmuster der Bennschen Deu-tung besteht bekanntlich darin, die nationalsozialistische ‚Revolution‘ alsanthropologische Transformation, als „neue anthropologische Qualität“82

darzustellen, als dominantes Hervortreten der elementaren, prälogischenund schöpferischen Schichten des Bewusstseins. Das geschichtliche Phäno-men des Nationalsozialismus bietet dabei zum einen die Referenzebene, aufder eine positive Konkretisierung und visionäre Ausgestaltung der Vorstel-lung eines ‚neuen Menschen‘ für den Autor erst möglich, eine ‚Verwand-lung‘ erst denkbar wird. Zum anderen wird der ‚neue Mensch‘ dadurchnotwendig auf den ‚neuen deutschen‘ bzw. den ‚nordischen‘ Menschen fest-gelegt. Im Vorwort zum Band Der neue Staat und die Intellektuellen, der imJuli 1933 in der Deutschen Verlags-Anstalt erschien, spricht Benn von der„seit langem sich vorbereitende[n] Verwandlung des inneren deutschenMenschen“.83 Alles, was jetzt „politisch und empirisch sichtbar“ werde und„Form“ gewinne, sei „nur Ausdruck dieser Verwandlung“, sie selber jedochsei „jenseitig, kausallos, transzendent“.84

Auch in den im Jahr der nationalsozialistischen Machtübernahme ent-standenen Reden und Aufsätzen lässt sich die Konkurrenz der zwei diffe-renten Konzeptionen des Schöpferischen, als Projektion und als Gestalt,nachweisen. Allerdings gewinnen die naturgeschichtliche Betrachtungsweiseund die ‚biologische Hypothese‘ in veränderter diskurspolitischer Konstella-tion vorübergehend wieder stärkeres Gewicht. Außer in argumentations-taktischen Erwägungen scheint dies auch darin begründet zu sein, dassGeschichte für Benn nur im naturgeschichtlichen Paradigma positiv dar-stellbar ist, in dem sie nicht als Fortschritt, sondern als Gestalt- und

81 Die oft formulierte These einer ‚notwendigen Entwicklung‘ Benns hin zum Nationalsozialis-mus erscheint angesichts der Willkür seines Versuchs einer diskursiven Anpassung unhaltbar.In positivem Sinn vertrat sie schon 1933 Frank Maraun, der in einer Rezension des BandesDer neue Staat und die Intellektuellen schrieb, die darin versammelten älteren und neuenArbeiten ließen „in ihrer geistigen Haltung folgerichtig den Weg erkennen“, der zu Benns‚Bekenntnis‘ hingeführt habe: „Den Menschen aus seinen nur sozialen und rational beding-ten Koordinaten herauszuheben und ihn als ein irrationales, metaphysisches Wesen, als dasihn auch der Nationalsozialismus wieder erkennen gelehrt hat, dem ewigen Antlitz desLebens gegenüberzustellen“ (Frank Maraun [i.e. Erwin Goelz], Auf dem Weg zum neuenStaat, in: Berliner Börsenzeitung, 3. Dezember 1933; zitiert nach Hohendahl [Hg.], Benn –Wirkung wider Willen, S. 178–183, hier S. 178). In negativem Sinn prototypisch formuliertfindet sich die These bei Dieter Wellershoff, der „Benns Verhalten im Jahre 1933“ als „Kon-sequenz seines Denkens“ hinstellt: „[D]er Vitalist, der Irrationalist, der Nihilist, war zumSalto mortale ins braune Kollektiv durchaus disponiert“ (Gottfried Benn, S. 154 und 157).

82 EuR, S. 460 (Der neue Staat und die Intellektuellen).83 EuR, S. 703.84 EuR, S. 703.

1933 als anthropologische Verwandlung 337

Stilwandel erscheint. Die These vom „Naturcharakter“85 der aktuellen ge-schichtlichen Ereignisse steht denn auch im Zentrum der beiden Rund-funkreden, mit denen er sich im April und Mai 1933 demonstrativ auf dieSeite der Nationalsozialisten stellt. In der Antwort an die literarischen Emig-ranten spricht er vom „Hervortreten eines neuen biologischen Typs“ unddavon, dass „die Geschichte mutiert“.86 Und inDer neue Staat und die Intel-lektuellen heißt es, im ‚totalen Staat‘ gelange eine „neue typologische Varia-nte“, eine „typologische Majorität“ in Sprache, Recht und körperlicherGestalt zum Ausdruck.87 Die gegenwärtige „echte neue geschichtlicheBewegung“ verwirkliche „eine neue anthropologische Qualität und einenneuen menschlichen Stil“, wie sich dies in der abendländischen Kultur-geschichte auch in Ägypten, Hellas und Rom vollzogen habe.88

Die geschichtliche Veränderung wird somit als Gestaltwandel beschrie-ben und die Gestaltwerdung biologisch-naturphilosophisch erklärt: als einsich im Zusammenwirken von Geist und Leben vollziehender Vorgang.Benn knüpft dabei an seine früheren Arbeiten zum Leib-Seele-Geist-Kom-plex an und nimmt neben den beiden Reden auch die Aufsätze Der Aufbauder Persönlichkeit, Irrationalismus und moderne Medizin, Goethe und dieNaturwissenschaften und Das moderne Ich in den Band Der neue Staat unddie Intellektuellen mit auf. Zugleich begibt er sich – vor allem da, wo es umdie praktische und programmatische Ausgestaltung dieser ‚Wandlung‘geht – auf die Ebene aktueller rassenbiologischer und bevölkerungspoliti-scher Debatten. Insbesondere in den für heutige ebenso wie für viele dama-lige Benn-Leser nur schwer erträglichen Reden und Aufsätzen zum Thema‚Züchtung‘ aus dem Jahr 1933 – Zucht und Zukunft, Züchtung,Der deutscheMensch. Erbmasse und Führertum, Geist und Seele künftiger Geschlechter –gewinnt die biologische Hypothese noch einmal Bedeutung. Es ist bisheraber kaum beachtet worden, dass sich auch in diesen Texten die schon inden Aufsätzen der Jahre 1930–32 beobachtete Ambivalenz bei der Funk-tionsbestimmung des Geistes innerhalb oder außerhalb des Leib-Seele-Komplexes zeigt und die rassenbiologischen Theorien hier in einem zweifel-haften Licht erscheinen.

Mit seinen Reden und Artikeln zum Thema ‚Züchtung‘ beteiligte sichBenn am rassenhygienischen und bevölkerungspolitischen Diskurs und ver-suchte dabei, sein Konzept der ‚anthropologischen Wandlung‘ mit den poli-tischen Zielsetzungen des ‚neuen Staates‘ zu verbinden. Jede „politischeEntscheidung“, die jetzt falle, schrieb er, sei „eine Entscheidung anthropolo-

85 EuR, S. 669 (Vorbemerkung zum Wiederabdruck von ‚Der Aufbau der Persönlichkeit‘ imBand ‚Der neue Staat und die Intellektuellen‘, 1933).

86 PuA, S. 297.87 EuR, S. 459 f.88 EuR, S. 460 f. – In der Antwort an die literarischen Emigranten zieht Benn eine andere kunst-

geschichtliche Parallele, indem er auf den Übergang von der Romanik zur Gotik verweist.

338 Gottfried Benn

gischer und existentieller Art“: „Hier beginnt die Trennung von Zeitaltern,die die Substanz berührt. Welchen Wesens ist der Mensch? Aus der Stellungzu dieser Frage steigt alles auf.“89 Seine beiden Zeitungsartikel Züchtungund Geist und Seele künftiger Geschlechter standen in engem Zusammenhangmit der Propaganda für das von den Nazis Ende Juli 1933 eingeführte ‚Ge-setz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ (Sterilisationsgesetz), das am1.1.1934 in Kraft trat und Zwangssterilisation bei erblichen bzw. angeblicherblichen Missbildungen und Krankheiten wie Schizophrenie und manisch-depressivem Irresein möglich machte.90 Allerdings wurde die völkischePropaganda von Erbhygiene und Rassenreinheit in Benns Artikeln nichtreproduziert, sondern eher kritisch behandelt. Einerseits übernahm er dieForderung nach staatlicher Eugenik: Eine „Reinigung des Volkskörpers“durch Sterilisierung diene der „Rasseertüchtigung“ und dazu, „qualitativhochwertiges Menschenmaterial“ zu züchten, und sei auch aus „volkswirt-schaftlichen Gründen“ geboten.91 Andererseits relativierte er wiederholt dieBedeutung, die eugenischen Maßnahmen bei der Züchtung eines neuenMenschentyps zukommen könnte, gegenüber der wichtigeren geistigen Prä-gung.92 Der Kernpunkt dieser Ambivalenz lag in einer abweichendenKonzeption der Relation von Leben und Geist und in seinem Vorbehaltgegenüber dem ‚naturgesetzlichen‘ Rassebegriff. Die auf der DarwinschenDeszendenztheorie und genetischer Kausalität basierende Rassenlehremusste Benn als Spielart des naturwissenschaftlichen Materialismus ableh-nen.93 Schon in Der Nihilismus – und seine Überwindung hatte er die allzu

89 EuR, S. 238 (Züchtung).90 Siehe hierzu auch den Kommentar in SW IV, S. 516 und 527. Zum Sterilisationsgesetz siehe

Michael Burleigh, Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, Frankfurta.M. 2000, S. 397–441, bes. S. 408. Allgemein zur Eugenik und Rassenhygiene im ‚DrittenReich‘ siehe Änne Bäumer, NS-Biologie, Stuttgart 1990, S. 73–109.

91 EuR, S. 255 (Geist und Seele künftiger Geschlechter). Solche schon vor 1933 und nicht nurin Deutschland weit verbreiteten eugenischen Forderungen konnte Benn auch in ErnstBergmanns Werk Erkenntnisgeist und Muttergeist (1932) finden, das für eine „künstlicheZuchtwahl“ plädierte, mit der die Degenerationsschäden ausgeglichen werden müssten, diedie humanitätsorientierte Zivilisation verschuldet habe, indem sie „das freie Wirken derNaturgesetze verhindert“ habe (Ernst Bergmann, Erkenntnisgeist und Muttergeist. EineSoziosophie der Geschlechter, Breslau 1932, hier S. 411). Tiefgreifende Maßnahmen „arthy-gienischer und artzüchterischer Natur“ seien nötig, um das Fundament einer »Nationalerzie-hung« und »Menschheitserziehung« zu schaffen“: „radikale Auslesemaßnahmen, durch wel-che Individuen mit ungeeigneten Merkmalen von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden,die Fortpflanzung derjenigen aber, welche wertvolle Erbsubstanzen erkennen lassen, begüns-tigt wird“ (ebd., S. 412).

92 Vgl. hierzu auch Joachim Dyck, Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929–1949, Göttingen2006, S. 118–124.

93 Es trifft eindeutig nicht zu, dass Benn 1933 im Zuge seiner Annäherung an den NS-Staat dieWissenschaftskritik aufgab und sich positiv auf die Naturwissenschaften berief, wie MichaelAnsel behauptet; vgl. Michael Ansel, Die Naturwissenschaften im Werk Gottfried Bennszwischen 1910 und 1933/34. Ein Rekonstruktionsversuch auf der Basis von Bourdieus Feld-theorie, in: Martin Huber/Gerhard Lauer (Hg.), Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für

1933 als anthropologische Verwandlung 339

biologische Anlage von Nietzsches ‚Übermenschen‘ kritisiert und sich voneinem ‚reaktionären Materialismus‘ abgegrenzt, der den Geist als Funktiondes biologischen Lebens erklärt.

Es ist also keineswegs so, dass Benn den Nietzscheanischen Züchtungs-gedanken „auf den faschistischen Hund“ bringt.94 Vielmehr kritisiert er inden Züchtungs-Texten indirekt den Glauben an eine genetische Determina-tion, wie er für die nationalsozialistische Rassenkunde konstitutiv war.95

Und er begründet diese Kritik mit wissenschaftlichen – medizinischen, psy-chiatrischen und erbgeschichtlichen – Forschungsergebnissen. So beruft ersich in der Rundfunkrede Zucht und Zukunft auf die psychiatrischen Stu-dien Ernst Kretschmers zum bestimmenden Einfluss des ‚Erbmilieus‘ undstellt diese der ‚modernen Eugenik‘ als eine Art Korrektiv gegenüber. DieRassenkunde habe zwar gezeigt, heißt es dort, dass „die Gene, die Erbmasseda“, dass sie „tragend und fundamental, naturhaft und wohl unausweich-lich“ seien – allerdings „auch wohl verhüllt von Gesetzen viel weiter reichen-der und fernerer Art, als daß sie unsere Erfahrung gliedern und umspannenkönnten“. Kretschmers Untersuchungen belegten gerade, dass „der Geist alsein anderes und höheres Prinzip […] auch da“ sei und die Erbmasse „tief“präge.96

Man kann feststellen, dass Benn sich in seinen Artikeln in zweifacherWeise von der Rassenideologie abgrenzt. Zum einen stellt er den naturge-setzlichen Charakter der Vererbung, ihren vermeintlichen Determinismus,und damit das Hauptdogma der Rassenkunde in Frage. Die Wirkungsweise

eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie und Medientheorie, Tübin-gen 2000, S. 251–280, bes. S. 264 f.

94 Alexander von Bormann, Widerruf der Moderne. Das Beispiel Gottfried Benn, in: HorstAlbert Glaser (Hg.), Gottfried Benn 1886 bis 1956. Referate des Essener Colloquiums,Frankfurt a.M. u. a. 1989 (Akten internationaler Kongresse auf den Gebieten der Ästhetikund der Literaturwissenschaft, Bd. 7), S. 29–46, hier S. 34.

95 Die Rassenkunde behauptete die streng naturwissenschaftliche Fundierung ihrer Erkennt-nisse in der Genetik. In seiner repräsentativen Rassenkunde definierte Hans Günther – demdie Nationalsozialisten in Thüringen schon 1930 eine Professur für Rassenkunde an der Uni-versität Jena verschafften – Rasse als „erbgleiche Menschengruppe“ und betonte, „daß einedurchdringende Kenntnis der Rassenerscheinungen und eine sichere Beurteilung der stritti-gen Fragen der Rassenforschung nur dem möglich ist, der die Vererbungsgesetze kennt“(Hans F. R. Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, 16. Aufl., München 1934 [1. Aufl.1922], S. 14 und 12).

96 EuR, S. 476. – Diese antibiologische Akzentuierung des Rasse- und des Züchtungsbegriffs inBenns Texten ist von einigen zeitgenössischen Kritikern durchaus bemerkt worden. Soschrieb Theodor Heuß in seiner Rezension von Kunst und Macht: „Neben den Geist stellt erjetzt die Rasse – hier aber zeigt sich der Sprung. Denn er entreißt sie, obwohl Naturwissen-schaftler und lebhaft mit den Kunstworten der Biologie arbeitend, dem naturhaften Seinund rückt sie so in den Rang eines abstrakten Wertes“ (Theodor Heuß, Kunst und Macht[Rezension], in: Die Hilfe 49 [1934], S. 579 f.; hier zitiert nach Hohendahl [Hg.], Benn –Wirkung wider Willen, S. 187 f., hier S. 188).

340 Gottfried Benn

der Gene sei nicht berechenbar. In diesem Zusammenhang bringt er wie-derholt auch die Mutation ins Spiel, also die Theorie einer spontanen,nicht-deterministischen Veränderung des Erbmaterials, dem die Rassen-kunde nur untergeordnete Bedeutung zumaß.97 Zum anderen weist er denUmwelteinflüssen, dem familiären Milieu und der staatlichen Erziehung,die entscheidende Rolle bei der ‚Züchtung‘ zu und verficht, indem er sichauf die Seite des von der Rassenkunde als unwissenschaftlich verworfenenLamarckismus schlägt, dabei auch die Vererbbarkeit erworbener Eigen-schaften.98 Wenn Benn in Züchtung mit Blick auf die gegenwärtige ‚Ver-wandlung‘ dekretierte, der „neue Mensch in Europa“ werde „halb aus Muta-tion und halb aus Züchtung“ hervorgehen,99 dann war dies also nur einscheinbares Zugeständnis an die rassenbiologische Anthropologie, imGrunde jedoch eine weitgehende Entwertung der Eugenik.100

Innerhalb des Benns Argumentation strukturierenden Geist-Leben-Schemas ist der Begriff der Züchtung der Seite des Geistes zugeordnet.Züchtung wird somit nicht rassenbiologisch, sondern primär als „intellektu-elle und moralische Züchtung“ bestimmt,101 als eine vom Geist ausgehen-de, auf den Geist zielende, durch ihn vermittelt aber auch den Körper trans-formierende Maßnahme. Rasse selbst ist in dieser Perspektive eine Gestaltdes Geistes. „Rasse züchten“ hieße immer „Geist züchten“: „Nur der Geist[…] bildet das Körperliche eines Volkes oder eines einzelnen dahin aus, daß

97 Vgl. Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 252.98 Vgl. insbesondere Zucht und Züchtung, wo Benn die ‚Erkenntnis‘ der Erbforschung Kretsch-

mers referiert, dass „aus einem weitreichenden menschlichen Entwicklungsgesetz herausTalent, geistiges Streben, seelisch-produktive Erfahrungen, die eine Generation in sich sam-melt und verankert, nicht verloren geht, sondern als Erbmasse weitergegeben werden kann“(EuR, S. 470). Günther dagegen verneint die Vererbung erworbener körperlicher oder see-lischer Eigenschaften strikt, wobei er sich sowohl auf Darwin als auch auf den – von Bennebenfalls rezipierten – Genetiker Wilhelm Johannsen beruft (vgl. Günther, Rassenkunde desdeutschen Volkes, S. 251 f.). „Rassische und erbgesundheitliche Ertüchtigung“ ist für ihnnur durch eugenische „Auslese“ zu erreichen (ebd., S. 462 und 252).

99 EuR, S. 238.100 Eine indirekte Absage an die rassenbiologische Eugenik diagnostiziert auch Fischer-Harrie-

hausen (Gottfried Benn als Wissenschaftskritiker). Diese impliziert allerdings nicht notwen-dig eine Antithese zum „Züchtungsoptimismus“ (ebd., S. 274), da Benns Züchtungs-Konzeption – sofern sich hier überhaupt von einer Konzeption sprechen lässt – immer aufdie ‚schöpferische‘ Transformation des Menschen zielt. Sie ist insofern als Gegenentwurf zurEugenik anzusehen, als es ihr nicht um die ‚Reinigung‘ oder ‚Aufnordung‘ einer Rasse, son-dern um eine qualitative Veränderung, um einen ‚neuen Menschen‘ geht, der durch Zucht-wahl bzw. Auslese nicht zu erreichen ist. Sie ist damit weder biologisch-evolutionistisch aus-gerichtet, wie Fischer („Stil“ und „Züchtung“ – Gottfried Benns Kunsttheorie und das Jahr1933) meint, noch kann man die Forderung, „eine für Deutschland ganz neue Moral undMetaphysik der Form“ (EuR, S. 212) zu schaffen, als moralischen Widerspruch gegen dieNS-Rassenhygiene werten, wie Miller (Die Bedeutung des Entwicklungsbegriffs für Men-schenbild und Dichtungstheorie bei Gottfried Benn, S. 46) vorschlägt.

101 EuR, S. 258 (Geist und Seele künftiger Geschlechter).

1933 als anthropologische Verwandlung 341

man von Rasse und Züchtung sprechen kann.“102 In diesem Sinne wird derZüchtungsbegriff kurz nach und im direkten Anschluss an Benn auch vonMax Bense in seiner Schrift Aufstand des Geistes verwendet, die 1935 im sel-ben Verlag wie Benns Essaybände, der Deutschen Verlags-Anstalt, erschien.Im Kapitel zu ‚Philosophie und Züchtung‘ bestimmt Bense Züchtung alsein Ordnungsprinzip, das dem ‚Schöpferischen‘ eine Form gibt: Züchtungsei eine „Ordnung des Seins“ und die Philosophie habe die Aufgabe,„Züchtung zu bewirken“.103 Ebenso wie Benn und anders als die völkischenRassentheoretiker begreift Bense das ‚Schöpferische‘ dabei nicht als einnaturgesetzliches Prinzip, sondern als etwas Irrationales, das durch nicht-berechenbare, spontane Veränderungen bzw. ‚Mutationen‘ gekennzeichnetsei.104 In seinem 1937 publizierten Anti-Klages beruft sich Bense in diesemZusammenhang auf Nietzsche, der gezeigt habe, dass der „sublime Erkennt-nisgeist“ nicht nur ein Dekadenzphänomen, sondern auch „ein Mittel derZüchtung“ sei.105 Dass diese Argumentation eine Kritik an der Vergötzungvon Blut und Rasse im ‚Dritten Reich‘ ist, wird auch an Benses spätererSchrift Aus der Philosophie der Gegenwart (1941) deutlich, in der er erneutKlages’ Geistfeindschaft attackiert und anschließend die „faschistisch undnationalsozialistisch gebundene Rasseforschung“, die ebenfalls vom „Primatdes Lebens“ ausgehe, als eine politische Variante der „Lebensphilosophie“darstellt, sich in diesem Fall verständlicherweise aber einer expliziten Bewer-tung enthält.106

Allerdings muss festgehalten werden, dass Benns Abgrenzung gegen-über rassenbiologischen Züchtungsprogrammen noch keine Distanzierungvom NS-Staat bedeutet, sondern zunächst nur gegen die völkische Rassen-ideologie gerichtet ist. Denn Benn verwirft zwar den biologistischen, adap-tiert in seiner Züchtungsrhetorik aber den ‚charakterlichen‘ Rassebegriffund greift dabei entsprechende Forderungen des nationalsozialistischenErziehungsprogramms auf.107 So, wenn er fordert, alle politischen Anstren-

102 EuR, S. 258. Eine scharfe Kritik am rassenbiologischen Züchtungsbegriff formuliert Bennspäter in Zum Thema: Geschichte (1943): „Der Mensch ist ein Wesen, das selber und dessenBegriffe genau überwacht werden müssen, aber gerade, weil er ein Tier nicht ist. Diese Über-wachung geschieht nicht durch biologische, sondern intellektuelle Prinzipien […]. NichtZüchtung, sondern Erziehung hiesse das Gesetz, das dem Rechnung trüge“ (EuR, S. 365).

103 Max Bense, Aufstand des Geistes. Eine Verteidigung der Erkenntnis, Stuttgart/Berlin 1935,S. 111 f.

104 Bense bezieht sich dabei ebenfalls auf die antideterministische Physik und Biologie: „Schöp-fungsnähe […] bedeutet diese Orientierung an Begriffen wie »Diskontinuität« und »Term«.Denn die Terme der Quantentheorie sind Differenzen für stationäre Zustände, das eigentli-che Geschehen liegt dunkel dazwischen; es ist sozusagen ein Sprung, erinnert an die biologi-sche Mutation, und aus diesem Sprung, der wie aus einem »transzendenten Müssen« herausgeschieht, offenbart sich das »Schöpferische«“ (ebd., S. 82).

105 Max Bense, Anti-Klages oder Von der Würde des Menschen, Berlin 1937, S. 42.106 Max Bense, Aus der Philosophie der Gegenwart, Köln 1941, S. 37.107 Vgl. dazu Kap. I, 3.

342 Gottfried Benn

gungen des neuen Staates müssten auf die „Grundlegung eines neuen opfer-fähigen Lebensgefühls“ zielen,108 oder klarstellt, dass Züchtung nicht „Bil-dung“ im herkömmlichen, ‚zivilisatorischen‘ Sinn befördern, sondern „dieweltanschauliche Kraft und die moralische Möglichkeit, das Ich hinzugebenan etwas Allgemeines, eine Gemeinschaft oder Idee“, ausbilden solle.109

Diese charakterliche Bestimmung des Geistes – als „Entscheidungs-fähigkeit, Maßsinn, Urteilshärte, Prüfungsschärfe“110 – verbindet sich beiihm dann aber wieder auf ambivalente Weise mit der konstruktivistischenGeistkonzeption. Man könnte auch sagen, der soldatische Idealtypus derNS-Propaganda wird von Benn avantgardistisch überformt. Etwa, wenn esheißt: „Militante Transzendenz –: der neue deutsche Mensch […]. Nichtintellektualistisch, aber extrem ins Denkerische gespannt, in eine Eigenge-setzlichkeit des Geistig-Konstruktiven.“111 Unter dem Schlagwort des‚neuen deutschen Menschen‘ reaktiviert Benn kaum verhohlen die futuristi-sche Utopie einer Geist-Materie-Verschmelzung: „Gehirne muß man züch-ten, große Gehirne, die Deutschland verteidigen, Gehirne mit Eckzähnen,Gebiß aus Donnerkeil.“112 Schon in der Akademie-Rede hatte Benn dasKonstruktive in ähnlicher Weise an das Archaische gekoppelt. Und imNihilismus-Aufsatz hatte er den „konstruktive[n] Geist“ als den „eigentlichanthropologische[n] Stil“ definiert, als „die eigentliche Hominidensub-stanz“, die sich „mythenbildend“ entfalte.113

5. ‚Formaler Absolutismus‘: Kunst und Macht (1934)

Während Benn in seinen unmittelbar nach der ‚Machtergreifung‘ entstan-denen Aufsätzen und Reden hauptsächlich die Frage nach der Entstehungeines neuen Menschentypus behandelt, tritt wenig später das Verhältnis von‚Kunst und Macht‘ ins Zentrum seiner Reflexionen. Dabei werden beidevon ihm als Manifestationen eines Ausdruckswillens dargestellt, und zwar –darin liegt die besondere Pointe seiner Konzeption – als parallele Erschei-nungen, die in keinem Kausalverhältnis zueinander stehen. Benn entwickeltdiesen Gedanken vor allem in seinen zwischen Ende 1933 und Mitte 1934entstandenen Reden und Aufsätzen.114 Auf dem Hintergrund der kultur-

108 EuR, S. 704 (Vorbemerkung zum Band ‚Der neue Staat und die Intellektuellen‘).109 EuR, S. 471 f. (Zucht und Zukunft).110 EuR, S. 258 (Geist und Seele künftiger Geschlechter).111 EuR, S. 242 (Züchtung). Auf avantgardistische Züge in Benns Essays dieser Zeit und auf die

Verwandtschaft mit dem italienischen Futurismus weist auch Schröder, Gottfried Benn,S. 119, hin.

112 EuR, S. 242.113 EuR, S. 223.114 Sie wurden Ende 1934 in Benns letztem im ‚Dritten Reich‘ publizierten Sammelband Kunst

und Macht zusammengefasst. Der Band enthält den Essay Dorische Welt, den Aufsatz

‚Formaler Absolutismus‘ 343

politischen Auseinandersetzung um die Stellung expressionistischer undfuturistischer Kunst im NS-Staat sowie scharfer Angriffe gegen die eigenePerson verteidigt er dabei einerseits die künstlerische Moderne und entwirftandererseits – vor allem in dem zentralen Essay Dorische Welt – eine avant-gardistische Theorie des totalitären Staates.115

Dieses Argumentationsmuster lässt sich schon am Bekenntnis zumExpressionismus beobachten. Dort verteidigt Benn den Expressionismusgegen die Anfeindungen von völkischer Seite zunächst damit, dass er ihnaus der historischen Situation heraus erklärt: Der Expressionismus sei eineReaktion auf die durch die moderne Physik und den Ersten Weltkriegausgelöste Wirklichkeitskrise gewesen; die Zerstörung der Gegenständlich-keit in der Kunst habe sich parallel zum Zerfall des kausal-mechanischenWeltbildes vollzogen, parallel zur Auflösung „der alten Realitäten Raumund Zeit“ in „Beziehungen und Funktionen“, parallel zur „Auflösung vonNatur“ und „Auflösung von Geschichte“.116 Die avantgardistische ‚Wirk-lichkeitszertrümmerung‘ erscheint so als eine historisch notwendige, ange-sichts der veränderten Lage inzwischen allerdings auch überholte Aufgabe.Gleichzeitig verteidigt Benn aber Expressionismus, Futurismus und Kubis-mus gegen den Vorwurf des Formalismus, indem er sie als Äußerung eineselementaren „Stilwillen[s]“,117 mithin als anthropologisches Phänomen

Bekenntnis zum Expressionismus (Expressionismus), die (nicht gehaltene) Rede auf StefanGeorge und die (gehaltene) Rede auf Marinetti (Gruß an Marinetti) sowie den autobiographi-schen Versuch Lebensweg eines Intellektualisten.

115 Die Anfangszeit des ‚Dritten Reichs‘ war von kulturpolitischen Auseinandersetzungen zwi-schen dem völkischen Lager und Rosenbergs ‚Kampfbund für Deutsche Kultur‘ auf der einenund der im NSD-Studentenbund und um die Zeitschrift Die Kunst der Nation konzentrier-ten kunstpolitischen Opposition auf der anderen Seite geprägt, bei denen es um die Stellungder Moderne im NS-Staat ging. Der Streit kulminierte anlässlich der in Berlin undHamburg – unter Schirmherrschaft von Goebbels und Göring – gezeigten Ausstellung ‚Ita-lienische Futuristische Flugmalerei (Aeropittura)‘ im März 1934, in deren ZusammenhangBenn seine Rede auf Marinetti hielt und in deren Folge es zu schärfsten Angriffen in der völ-kischen Presse kam. Hitler beendete den kulturpolitischen Richtungsstreit mit seiner Redeauf dem Nürnberger Reichsparteitag im September 1934, in der er zwar die völkischenWortführer in die Schranken wies, zugleich aber auch alle modernen und avantgardistischenTendenzen grundsätzlich von der ‚nationalsozialistischen Kunstentwicklung‘ ausschloss.Siehe hierzu Hildegard Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek 1963,S. 63–86; und Reinhard Merker, Die bildenden Künste und der Nationalsozialismus. Kul-turideologie, Kulturpolitik, Kulturproduktion, Köln 1983, S. 131–137. Den Streit um dieAeropittura-Ausstellung dokumentiert Peter Demetz, Worte in Freiheit. Der italienischeFuturismus und die deutsche Avantgarde (1912–1934), München/Zürich 1990,S. 372–402. Zu Benns Position innerhalb der kulturpolitischen Auseinandersetzungen undden Angriffen auf ihn siehe die detaillierte Darstellung von Dyck, Der Zeitzeuge, bes.S. 154–169 und S. 223–231. Dyck macht auch darauf aufmerksam, dass Benns Band Kunstund Macht zu den Exponaten der Münchner Ausstellung ‚Entartete Kunst‘ von 1937 gehör-te.

116 EuR, S. 266.117 EuR, S. 268.

344 Gottfried Benn

erklärt: In dieser künstlerischen Bewegung habe sich eine „schöpferischeSpannung“ entladen, habe sich eine „innere Realität“ auf „unmittelbar[e]“Weise in formalen Gebilden veräußerlicht.118 Er betont das „vollkommenAutochthone, Elementare“ dieser Formen.119 Demnach leistete der Expres-sionismus mehr als eine Wirklichkeitszertrümmerung. Er überwand näm-lich den Realitätszerfall durch eine Neuschöpfung, die nicht mehr denkausal-mechanischen Kategorien von Raum und Zeit, sondern einem geis-tig-konstruktiven Prinzip unterworfen war. Dieses Prinzip bezeichnet derEssayist unter Vermeidung des inkriminierten Formalismus-Begriffs als„formalen Absolutismus“.120

Benn rechtfertigt den Expressionismus Ende 1933 also nicht allein inhistorischer Sicht. Vielmehr vertritt er ganz offensiv Theorie und Poetik derAvantgarde. Dies zeigt sich am Bekenntnis zu antinaturalistischen und abs-trakten Stilformen, an der elementaren Deutung der Abstraktion und vorallem an seinem Begriff des Ausdrucks. Ebenso wie die Begriffe ‚Stil‘ und‚Form‘ verwendet Benn auch den in den Texten des Jahres 1934 in den Mit-telpunkt rückenden Begriff ‚Ausdruck‘ in expressionistischer Bedeutung.„Ausdruckshaft“ schreiben hieße: „nicht ein Thema wird geschlossen vor-geführt, sondern innere Erregungen, magische Verbindungszwänge reintranszendentaler Art stellen den Zusammenhang her.“121 Ausdruck bezeich-net in diesem Sinn das Gegenprinzip von Abbildung. Er meint eine unmit-telbare Realisation und Materialisation affektiv-geistiger Zustände – das,was Wilhelm Worringer in seiner für die expressionistische Theoriebildungso einflussreichen Dissertationsschrift Abstraktion und Einfühlung (1908)als ‚Abstraktionsdrang‘ bezeichnet hatte.122

118 EuR, S. 264.119 EuR, S. 263.120 EuR, S. 271. – In ähnlicher Weise deutete zur selben Zeit auch C.G. Jung die avantgardis-

tische Gegenstandsauflösung als Symptom einer anthropologischen Verwandlung bzw. alsAusdruck einer schöpferischen Entfaltung des ‚losgelösten Bewusstseins‘. In einem zuerst1932 in der Europäischen Revue veröffentlichten Aufsatz über Joyce schreibt er: „Ulysses istder Schöpfergott in Joyce, ein wahrhafter Demiurg, dem es gelungen ist, sich von der Ver-wicklung in seine Welt geistiger wie physischer Natur zu befreien und sie mit losgelöstemBewußtsein zu betrachten“ (C.G. Jung, Ulysses ein Monolog, in: ders., Wirklichkeit der See-le. Anwendungen und Fortschritte der neueren Psychologie, Zürich/Leipzig/Stuttgart 1934,S. 132–169, hier S. 162).

121 EuR, S. 264.122 Der Vergleich mit Worringer dient hier dazu, strukturelle Grundelemente avantgardistischer

Ästhetik zu profilieren, die Worringer in vieler Hinsicht prototypisch formuliert hat und diesich ähnlich in den theoretischen und programmatischen Stellungnahmen wichtiger expres-sionistischer Autoren, etwa bei Carl Einstein, finden. Es wird also keine direkte Worringer-Rezeption Benns unterstellt. Benn kannte wohl Worringers im Juli 1911 im Sturm erschiene-nen Aufsatz Zur Entwicklungsgeschichte der modernen Malerei (vgl. EuR, S. 414), der einewichtige Rolle in der Begriffsgeschichte des Expressionismus spielt, eine Lektüre von Wor-ringers Dissertation ist jedoch nicht belegt. In der Rede auf Stefan George stellt Benn Worrin-ger in eine Reihe mit George, Simmel, Gundolf, Klages, Troeltsch, Frobenius, Scheler,

‚Formaler Absolutismus‘ 345

Im Gegensatz zur Nachahmung, die auf Einfühlung und einem rationa-listisch geprägten „Vertrauensverhältnis“ zur äußeren Welt gründet, siehtWorringer den Abstraktionsdrang als „Folge einer grossen inneren Beunru-higung des Menschen“.123 Auf diese archaische Erfahrung von Fremdheitund Beunruhigung reagiere der Mensch durch die Schöpfung einer nachlinearer, geometrischer oder kubischer Gesetzmäßigkeit organisierten For-menwelt, in der alle Referenzen auf natürliche, psychologische oder intel-lektuelle Gegenstände getilgt seien. Es handele sich um eine von abstraktenPrinzipien gesteuerte ‚Projektion‘ eines inneren Zustands (‚état d’âme‘), dietranszendenten Charakter habe.124 Obwohl Worringer auch die naturalisti-sche Kunst als instinktives Kunstwollen mit einer eigenen Formensprachedarstellt, tendiert er doch dazu, den Begriff des Stils und des Stilwillens, jaden der Kunst selbst in exklusiver Weise auf die dem ‚Abstraktionsdrang‘entspringenden Schöpfungen anzuwenden. ‚Stil‘ fungiert so schon bei ihmals Gegenbegriff zum ‚Naturalismus‘.125 Der vollkommenste Stil sei der„Stil der höchsten Abstraktion“, durch den ein Objekt von allen Lebensspu-ren gereinigt und einem „absoluten Werte“ angenähert werde.126 Die Abs-traktion wird von Worringer zugleich als das „ursprüngliche“127 Kunstwol-len verstanden, das die primitive Kunst und die griechisch-orientalischenAnfänge der abendländischen Kunst bestimmt habe, das im Zuge des Ratio-nalisierungsprozesses aber durch das Nachahmungsprinzip verdrängt wor-den sei und in der Gegenwart, „nachdem der menschliche Geist in jahrhun-dertlanger Entwicklung die ganze Bahn rationalistischer Erkenntnisdurchlaufen hat“,128 in erkenntnisskeptisch modifizierter Form wiedermachtvoll empor dränge.

Worringers Kunstphilosophie hilft, die anthropologische Grundkon-zeption von Benns Ästhetik schärfer zu konturieren. Auf ihrem Hinter-

Spengler, Curtius, Keyserling, Bertram und Schuler, die in seiner Sicht alle für den um 1900einsetzenden Umbruch in den Wissenschaften stehen, für den „Sieg der Transzendenz überdie Natur“ (EuR, S. 483).

123 Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, 9., unveränderte Aufl., München 1919(1. Aufl. 1908), S. 19.

124 Vgl. ebd., S. 134. Worringer bezieht die Figur der Projektion auch auf die naturalistischeKunst, die er als eine mit den „Linien und Formen des Organisch-Lebensvollen“ operierendeProjektion des Zustands eines naiv-sinnlichen oder intellektuellen „Einsseins mit der Natur“erklärt (ebd., S. 36 und 134). Zur Denkfigur der Projektion und ihrer Herkunft aus der Psy-chophysiologie des 19. Jahrhunderts siehe Jutta Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung.Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literaturder frühen Moderne, Freiburg 2005 (= Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, Bd. 124).Müller-Tamm zeigt, dass Worringers Abstraktionsmodell selbst noch der Einfühlungsästhe-tik verpflichtet ist, er also keineswegs formalistisch argumentiert (vgl. ebd., S. 249–287).

125 Vgl. Worringer, Abstraktion und Einfühlung, S. 34 f. und 45.126 Ebd., S. 22.127 Ebd., S. 107.128 Ebd., S. 23.

346 Gottfried Benn

grund wird verständlich, warum Benn die abstrakte bzw. ‚absolute‘ Kunstals Manifestation eines elementaren Stilwillens, als ‚anthropologisch tief‘auffasst und das schöpferische Elementarereignis des Ausdrucks zugleich alsTranszendierung der natürlichen Welt, als einen gegen das ‚Leben‘ gerichte-ten geistigen Akt begreift. Dabei tritt die antivitalistische Tendenz, die Wor-ringers Aufwertung der Abstraktion gegenüber der Einfühlung grundiert,bei Benn verstärkt hervor. Im antinaturalistischen Stil äußert sich seinerDarstellung nach nicht nur eine Disposition zur Transzendenz, sondern erkonzipiert den ‚formalen Absolutismus‘ in gnostisch anmutender Weise alsBefreiung des Geistes aus der Natur in einer neuen Schöpfung.129 DieTransformation archaischer Affekte in eine Welt funktionaler Formen undBeziehungen bezeichnet er als „anthropologische Erlösung im Forma-len“.130 Zum semantischen Feld dieser antinaturalistischen Schöpfungs-und Geistkonzeption gehören auch die Begriffsprägung „anthropologischerGeist“,131 die Bezeichnung der Kunst als „anthropologische[s] Prinzip“132

sowie der Begriff der „Ausdruckswelt“,133 der nicht erst nach dem ZweitenWeltkrieg zu einem Leitbegriff der Bennschen Ästhetik wird, sondern schonim Zentrum der Reflexionen des Jahres 1934 steht.

Nachdem die avantgardistischen Elemente in Benns Argumentationdeutlich geworden sind, stellt sich um so drängender die Frage nach ihremVerhältnis zur nationalsozialistischen Kunstpropaganda, der sie sich geradebei Verteidigung der Avantgarde gegen den Formalismusvorwurf immerwieder anzunähern scheint. Etwa, wenn es im Vorwort zu Kunst und Machtheißt: „was wir heute rassenmäßig verlangen, ist Form, ist Abstraktion, istAusdruck von Inhalten“.134 Oder wenn Benn sich in der Rede auf StefanGeorge bei der Charakterisierung Georges als Vertreter des l’art pour l’artausgerechnet auf Alfred Rosenberg beruft: „Es ist […] die unerbittlicheHärte des Formalen, die über seinem Werk liegt, […] das, was Alfred

129 Benns dualistische Konzeption von Geist und Materie und die Vorstellung einer antinatura-listischen Entwicklungstendenz des Geistes sind wohl durch Edgar Dacqués gnostische Deu-tung der mythischen Kosmogonie beeinflusst. Siehe hierzu Regina Weber, Gnostische Ele-mente im Werk Gottfried Benns, in: Horst Albert Glaser (Hg.), Gottfried Benn 1886 bis1956. Referate des Essener Colloquiums, Frankfurt a.M. u. a. 1989, S. 123–144. Allgemeinzur Präsenz gnostischer Ideen in der Ästhetik der Moderne siehe Michael Pauen, Dithyram-biker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne, Berlin 1994,bes. S. 118–131. Pauen zeigt an programmatischen Äußerungen u. a. von Mondrian, Male-witsch, Worringer und Kandinsky, dass gnostische Denkfiguren gerade da ins Spiel kommen,wo dem Nachahmungsprinzip das Konzept einer gegenstandslosen, ‚geistigen Kunst‘ ent-gegengesetzt wird.

130 PuA, S. 323 (Lebensweg eines Intellektualisten).131 PuA, S. 344.132 PuA, S. 343.133 PuA, S. 323.134 EuR, S. 281 (Der Krieger und die Statue).

‚Formaler Absolutismus‘ 347

Rosenberg den »ästhetischen Willen« nennt“.135 Man könnte solche Anlei-hen bei der NS-Rhetorik leicht als taktisches Zugeständnis oder Technikder Camouflage deuten. Dabei würde jedoch übersehen, dass es zwischenBenns und Rosenbergs Argumentation durchaus strukturelle Gemeinsam-keiten gibt. Denn ebenso wie Benn vertritt Rosenberg eine anthropologi-sche Ästhetik, das heißt er betrachtet die künstlerische Form als Manifesta-tion eines metaphysischen Willensprinzips. Im Mythus des 20. Jahrhundertsspricht er von „willenhafte[r] Entladung“ und „Willenstat“, bei der „Form-wille“ und „Geist“ von Umwelt und Innenwelt gestaltend Besitz ergrif-fen.136 Und von diesem Standpunkt aus kritisiert er das l’art pour l’art-Prinzip und den Expressionismus, wo die einzelnen Formelemente nichtmehr ausdruckshaft und ohne „Funktion“ verwendet würden.137 WennBenn nun die avantgardistische Kunst als schöpferisches Elementarereignisdeutet, dann folgt er scheinbar trotz gegensätzlicher Wertung demselbenanthropologischen Kunstdiskurs. Die entscheidende Differenz beider Posi-tionen lässt sich daher nicht als Opposition von ästhetizistischer bzw. for-malistischer und anthropologischer Ästhetik beschreiben. Sie liegt vielmehrin einer Abweichung innerhalb der anthropologischen Grundannahme, wiesie auch schon an Benns Rassebegriff beobachtet wurde.

Während Benn seine Ästhetik im Spannungsfeld des Geist-Materie-Dualismus entfaltet und den künstlerischen Prozess als Überwindung derNatur, als zweite Schöpfung darstellt, geht Rosenberg von der unauflösli-chen Verbindung von Bios und Geist aus und betrachtet alle körperlichenErscheinungen als Manifestationen unterschiedlicher metaphysischer Ras-senseelen. Die völkische Rassenmetaphysik bedingt dabei notwendigerweiseein gegenständliches, ein ‚organisch-seelisches‘ Schönheitsideal, das nichtuniversell, sondern rassenspezifisch ist.138 Wenn Rosenberg von ‚Formwil-len‚ ‚Stilwillen‘ oder ‚ästhetischem Willen‘139 spricht, dann meint er damiteben nicht die Transformation und Transzendierung der Natur durch denGeist, wie Benn offenbar annahm oder unterstellte,140 sondern die Gestalt-werdung einer beseelten Materie. Benns Adaption des Begriffs ‚ästhetischer

135 EuR, S. 487. Benn zitiert hier Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts (1930), von dem sichein mit zahlreichen Anstreichungen versehenes Handexemplar in seiner nachgelassenenBibliothek erhalten hat. Vgl. den Kommentar in: SW IV, S. 554 f.

136 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigenGestaltenkämpfe unserer Zeit, 99.-102. Aufl., München 1936 (1. Aufl. 1930), S. 316.

137 „Nur für Aesthetiker, die Aesthetik um der Aesthetik und nicht um der Kunst und desLebens willen treiben, ist eine Linie nichts als Linie, Ornament. Für jeden Künstler ist sieaber – ob bewußt oder unbewußt – Funktion, Trägerin einer Leistung. Sie ist an einebestimmte Materie gebunden“ (ebd., S. 290).

138 Vgl. ebd., S. 303.139 Vgl. ebd., S. 316., 353 und 315.140 Benn versah die entsprechenden Stellen in seinem Exemplar von Rosenbergs Buch mit

zustimmenden Anstreichungen. Vgl. den Kommentar in SW IV, S. 554 f.

348 Gottfried Benn

Wille‘ beruht somit auf einem ähnlichen ‚Missverständnis‘ wie seine Adap-tion des Züchtungsbegriffs. Denn in seiner Sicht handelt es sich bei derZüchtung um eine geistige Transformation der Natur auf nicht-künstleri-schem Gebiet. Das heißt, er beschreibt Züchtung nicht als einen biologi-schen bzw. auf biologischen Prinzipien basierenden Vorgang, sondern ana-log zum künstlerischen Prozess als Expression bzw. Projektion.

6. Abstraktion und Realisation: Dorische Welt (1934)

Benns weitestreichende und bekannteste Reflexion zum Thema ‚Kunst undMacht‘ ist der kultur- und kunstphilosophische Essay Dorische Welt. Auchdieser Text, der zumeist entweder als Apologie des NS-Staates oder als Ver-teidigung der Kunstautonomie gelesen worden ist, gehört in den Kontextder kulturpolitischen Auseinandersetzung um die Avantgarde und lässt sichebenso wie die anderen Aufsätze des Bandes Kunst und Macht als Beitrag zueiner avantgardistischen Kunst-Macht-Theorie lesen. Zuerst im Juni 1934in der Europäischen Revue erschienen, bildet er zugleich den Endpunkt vonBenns öffentlichem Eintreten für avantgardistische Positionen im ‚DrittenReich‘. Man könnte auch sagen: Es ist sein letzter Versuch einer ästhetisch-anthropologischen Konzeptualisierung des totalitären Staates.

Indem Benn die griechische Antike als Folie kulturtheoretischer Refle-xion über die Gegenwart nimmt, führt er eine in der deutschen Literatur-geschichte lang zurückreichende Tradition fort. Auf der Textoberflächepräsentiert sich Dorische Welt dabei vor allem als eine kritische Auseinander-setzung mit der Geburt der Tragödie (1872), Nietzsches ‚Beitrag‘ zur Grün-dung des ‚zweiten Reiches‘. Benns Darstellung einer ‚Geburt der Kunst ausder Macht‘ antwortet bekanntlich Nietzsches These der ‚Geburt der Tragö-die aus dem Geiste der Musik‘ und verfolgt ganz explizit die Absicht, Dio-nysos in die „Grenzen“ zurückzuweisen, „in denen er vor 1871 […]stand“.141 War Nietzsches Aufwertung des Dionysischen von der Hoffnungauf eine Revitalisierung erstarrter Zivilisation inspiriert, so steht Benns Ver-absolutierung des Apollinischen im Zeichen eines tief sitzendenMisstrauensgegen das Rauschhaft-Orgiastische, das für ihn niemals Grundlage vonKunst sein kann.142 Deshalb entwirft er auch eine andere Genealogie dergriechischen Kunst und rückt einen anderen Abschnitt der antiken Kultur-geschichte ins Zentrum. Während Nietzsche die Kunstblüte der klassischenZeit als Bändigung und Überformung chthonisch-vorderasiatischer Ein-flüsse darstellt, schuf Benn zufolge erst Sparta die Vorraussetzung für die

141 EuR, S. 302.142 „[W]ir haben inzwischen primitive Völker aus Reiseschilderungen und Filmen kennenge-

lernt, namentlich Negerrassen, deren Existenz eine einzige Folge von Rauschanfällen zu seinschien, ohne daß Kunst daraus entstand“ (EuR, S. 302 f.).

Abstraktion und Realisation 349

Kunst des 5. Jahrhunderts: „Zwischen Rausch und Kunst muß Sparta tre-ten, Apollo, die große züchtende Kraft.“143 Hinter der ‚Silhouette‘ des klas-sischen Griechenland flackert nicht, wie in Nietzsches Frühwerk, die „dio-nysische Gewalt“, das orgiastische „Versöhnungsfest“ von Mensch undNatur,144 hinter ihr „steht die graue Säule ohne Fuß, der Tempel aus Qua-dern, steht das Männerlager am rechten Ufer des Eurotas […] –: die dori-sche Welt.“145 Das ‚dorisch-apollinische‘ Prinzip ersetzt das ‚dionysisch-apollinische‘.146 Die antivitalistische Tendenz dieser Aufwertung desApollinischen lässt sich auch in Benses wenig später entstandenem Anti-Kla-ges feststellen, worin dieser das Dionysische indirekt mit dem vitalistischenLebensbegriff Klages’ identifiziert und konstatiert: „Aus Klages läßt sichkeine Kultur begründen.“147

Benn distanziert sich damit aber nicht allein vom Antikebild des frühenNietzsche. Seine mit Zitaten Taines und Burckhardts operierende kultur-geschichtliche ‚Korrektur‘ reflektiert vor allem die antivitalistische Wen-dung in seinem eigenen anthropologischen Denken, die ihn nun in Oppo-sition zur (ebenfalls anthropologischen) Ästhetik und KulturtheorieNietzsches bringt.148 Implizit verwirft Benn die psychophysische Theorie,die kulturelle Phänomene – bei Nietzsche die Musik – als unmittelbare

143 EuR, S. 303.144 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (1872), in: ders., Sämtliche Werke. Kritische

Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, Mün-chen 1988, S. 9–156, hier S. 29.

145 EuR, S. 292.146 Die Referenz auf Sparta – meist verbunden mit dessen Entgegensetzung zu Athen – hat eben-

falls eine lange, bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition in der kulturgeschicht-lichen und politischen Publizistik, wobei Sparta vor allem von zivilisationskritischen undromantischen Autoren als Paradigma des idealen Staates behandelt wurde. Siehe hierzu Bar-bara Bauer, Der Gegensatz zwischen Sparta und Athen in der deutschen Literatur des 18.und frühen 19. Jahrhunderts, in: Barbara Bauer/Wolfgang G. Müller (Hg.), Staatstheoreti-sche Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800, Wiesbaden 1998(= Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 79), S. 41–94. Den Nationalsozialisten, die Germanenund (antike) Griechen ohnehin als Rassegemeinschaft betrachteten, galt Sparta vor allem auf-grund seiner Rassengesetzgebung als vorbildlich. So berief sich Hitler in seinen Reden mehr-fach auf Sparta als den ersten ‚Rassenstaat‘ der Geschichte. Siehe hierzu Karl Christ, Sparta-forschung und Spartabild (1983), in: ders. (Hg.), Sparta, Darmstadt 1986 (= Wege derForschung, Bd. 622), S. 1–72, bes. S. 50–53. Für Rosenberg, der in ‚Hellas‘ den schönsten„Traum des nordischen Menschentums“ erkannte, bewahrten insbesondere die Dorer mitihrer „aristokratische[n] Verfassung“ das „schöpferische blonde Blut“ vor Vermischung undDegeneration (Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 34 f.). Zur ideologisch bestimmtenSparta-Idealisierung in der Zeit des Nationalsozialismus siehe die instruktive Studie von Vol-ker Losemann, ‚Die Dorier‘ im Deutschland der dreißiger und vierziger Jahre, in: WiliamM. Calder III/Renate Schlesier (Hg.), Zwischen Rationalismus und Romantik. Karl OtfriedMüller und die antike Kultur, Hildesheim 1998, S. 313–348.

147 Bense, Anti-Klages oder Von der Würde des Menschen, S. 15.148 In seinem Frühwerk zeigt Benn selbst noch eine deutliche Affinität zur dionysischen Antike.

Siehe hierzu Wodtke, Die Antike im Werk Gottfried Benns, der drei Phasen in Benns Anti-kerezeption unterscheidet. Während das vor dem Ersten Weltkrieg entstandene Frühwerk im

350 Gottfried Benn

Manifestation vitaler Energien, als Äußerung von „Kunsttrieben derNatur“149 versteht, und entfaltet im Bild der dorischen Welt die entgegen-gesetzte Sichtweise, in der Kunst und Kultur als Ergebnis einer Umformungund Transzendierung der Natur erscheinen. Das ‚Dorisch-Apollinische‘steht hier für die formende Überwindung des ‚Lebens‘. Dabei kann Bennzum einen an Nietzsche selbst anknüpfen, der die dorische Kultur als „fort-gesetztes Kriegslager des Apollinischen“ bezeichnet und so bereits in engsteNähe zum Formbegriff gerückt hatte,150 zum anderen an Rosenberg, der inihr die „genialste Schöpfung eines auf Sachlichkeit ausgehenden Stilwillens“erblickte.151 Insbesondere die Parallelen zu Rosenberg sind auffällig. Mitdiesem teilt Benn die antivitalistische Entgegensetzung der apollinisch-männlichen Kultur Spartas zumDionysischen.152 Und wenn er die dorischeKunst als „Ausbruch der hellenischen Volkheit“ und „Tatsache der Rasse“bezeichnet,153 scheint er auch dessen Rhetorik zu übernehmen. Dadurchwird die fundamentale Differenz ihrer anthropologischen Konzeptionenaber auch hier kaum verdeckt. Denn Benn erklärt den dorischen ‚Ausbruch‘

Zeichen des Dionysischen stehe, werde ab 1920 die orphische und ab 1930 dann die apolli-nische Sicht der Antike bestimmend.

149 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 31.150 Ebd., S. 41.151 Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 353. – Als Paradigma für eine nachexpres-

sionistische, antivitalistische Kunst und Kultur wurde das Dorische schon im Kontextheroischer Konzeptionen der Neuen Sachlichkeit aufgewertet. Vgl. etwa Broder Christian-sen, Das Gesicht unserer Zeit, Buchenbach in Baden 1929, der das Dorische als Vorbild fürden von ihm entworfenen heroisch-sachlichen ‚H-Stil‘ behandelt. Zu Christiansen sieheauch Kap. II, 1.

152 Rosenberg betrachtete Apollo neben Athene als wichtigste Verkörperung der nordischen Ras-senseele der Griechen, als „Wahrer der Ordnung“ und Gott „des rhythmisch bewegten,jedoch nicht ekstatischen Tanzes“ (Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 35). Inseiner völkischen Deutung der griechischen Mythologie als Rassenmythologie fungiertApollo als Gott einer arischen Nordrasse, der „griechischen Wikinger“ (S. 46). Rosenbergspricht auch vom „nordisch-apollinischen Lichtprinzip“ (S. 46). Ähnlich wie Benn wendeter sich gegen die ‚romantische‘Antikendeutung, die die vorderasiatischen, chthonischen undmatriarchalischen Ursprünge Griechenlands in den Vordergrund rückte. Apollo steht beiihm für den Sieg des männlichen „nordischen Wesens“ (S. 39) über das Mutterrecht. Darausresultiert auch seine negative Wertung des Dionysischen: „Als etwas rassisch und seelischFremdes – wenn vielleicht auch Uraltes – tritt alles Dionysische in griechisches Leben ein,das später stärkste Gleichnis des rein psychisch mit ihm gehenden nordischen Verfalls“(S. 44). Die dionysische ‚Religion der Besessenheit‘ deutet Rosenberg als Folge von fremdras-sigen (östlichen) Einflüssen und von Rassenmischung und insofern als Degenerationsmerk-mal (vgl. S. 45). Während Dionysos’ „Gesetz der endlosen Geschlechtsbefriedigung“ die„hemmungslose Rassenmischung zwischen Hellenen und Vorderasiaten aller Stämme undVarietäten“ bedeute, repräsentiere Apollo das Paternitätsprinzip und die Überführung des„Amazonen- und Hetärentum[s]“ in die „Ehe“ (S. 47); er stehe für „Volk und Rassenschutz“(S. 54) und symbolisiere den „erste[n] große[n] Sieg des nordischen Europas“ (S. 53) überAsien.

153 EuR, S. 304 f.

Abstraktion und Realisation 351

als Ablösung des Geistes von der „naturhafte[n] Basis der Schöpfung“154

und meint mit ‚Rasse‘ im Grunde das ‚anthropologische Prinzip‘: „derMensch, das ist die Rasse mit Stil“.155 Dabei arbeitet er an einer Umwer-tung und Neudefinition des Rassebegriffs: Er übernimmt den Begriff, ver-tauscht aber die theoretische Referenzebene – ein Verfahren, das sich eben-falls an seinem Umgang mit den Begriffen ‚Macht‘ und ‚Züchtung‘ zeigenlässt. Die „rassenbiologische Utopie“ – als modernes Phänomen, als „Spät-ling der untergehenden moralischen Welt“ – soll im Bild der Dorischen Weltin eine „formbewußte, geistig geprägte“ Utopie überführt werden.156

Wenn man den anthropologischen Dualismus von Natur und Geist alsargumentative Grundstruktur von Benns Essay ansieht, dann stellt sichauch die Relation von ‚Kunst und Macht‘ anders dar, als sie von der For-schung zumeist verstanden wurde, nämlich nicht als Konflikt zwischen demMachtanspruch des Staates und dem Freiheitsanspruch der Kunst im Sinneder Autonomieästhetik.157 Der Eindruck einer widersprüchlichen Argu-mentation Benns158 entsteht vor allem aufgrund der unterschiedlichenAkzentuierungen der ‚Macht‘. So suggeriert der Zwischentitel ‚Die Geburtder Kunst aus der Macht‘, die dorische Kunst gehe aus dem soldatischenStaat hervor. Gleichzeitig behauptet der Verfasser aber die Parallelität vonKunst- und Staatsentwicklung und beruft sich dabei auf die „moderneanthropologische Prinzipienlehre“, die „in der Macht und der Kunst ver-schwistert die beiden großen Spontangewalten der antiken Gemeinschaft“erblicke.159 Die Statuenkunst entfalte sich „im gleichen Augenblick wie dieöffentlichen Einrichtungen“;160 sie ‚begleite‘ „aus der Entfernung die Züch-tung des schönen Körpers“.161 Man könne Macht und Kunst „nebeneinan-der sehen“.162 Die Widersprüchlichkeit dieser Aussagen lässt sich zum Teildamit erklären, dass Benn den Begriff der Macht sowohl im politischen als

154 EuR, S. 306.155 EuR, S. 307. Vgl. auch die frühere Äußerung in dem im April 1933 im Berliner Tageblatt

veröffentlichten Aufsatz Deutscher Arbeit zur Ehre, wo Benn schreibt, die „Absolutheit desFormalen“ gehöre „zur Substanz der menschlichen Rasse“, und so die „Eigengesetzlichkeitdes Geistig-Konstruktiven“ in der Kunst begründet (EuR, S. 234).

156 EuR, S. 306 f.157 Stellvertretend kann hier die Deutung Wodtkes stehen, nach der Benn in seinem Bild der

Antike „den großen Konflikt seiner eigenen Zeit zwischen dem Machtanspruch des totalenStaates und dem Freiheitsanspruch der modernen Kunst“ gespiegelt habe (Die Antike imWerk Gottfried Benns, S. 109).

158 So erkennt Schröder einen „eklatanten und schizophrenen Argumentationsbruch“ darin,dass Benn seinen Essay zunächst auf die These einer „engste[n] Zusammengehörigkeit, Syn-these, Symbiose“ von Kunst und Macht hin zulaufen lässt, dann aber unvermittelt die„strikte Trennung von Kunst und Macht“ behauptet und mit einer „Autonomieerklärungder Kunst“ endet (Schröder, Gottfried Benn, S. 177).

159 EuR, S. 298.160 EuR, S. 298.161 EuR, S. 301.162 EuR, S. 305.

352 Gottfried Benn

auch im anthropologischen Sinne verwendet. Dabei wird der Anteil derpolitischen Macht, der staatlichen Gesetzgebung, an der Kunstentwicklungklar begrenzt: Der „Beitrag“ des Staates beschränkt sich auf die Verbreitungder dorischen „Kunstausübung“ über ganz Griechenland; die Entstehungder Kunst kann der Staat aber in keinerlei Hinsicht beeinflussen.163

In der anthropologischen Perspektive dagegen sind Macht und Kunstnicht nur Parallelerscheinungen, sondern auch weitgehend identisch, dennsie unterliegen demselben Prinzip: dem der Form. Von einer ‚Geburt derKunst aus der Macht‘ lässt sich also nur dann sprechen, wenn Macht nichtim Sinne staatlicher Reglementierung, sondern als Formprinzip oder ‚züch-tende Kraft‘ verstanden wird. Benns Position ähnelt hier der der Program-matiker eines ‚dritten‘ oder ‚politischen‘ Humanismus, die die ästhetischeErziehung als Basis einer politischen nationalen Kultur ansahen.164 Da dasFormprinzip von Benn als ein ästhetisches begriffen wird, müsste mit Blickauf seinen Text eigentlich von einer ‚Geburt des Staates aus der Kunst‘gesprochen werden. Die dorische Kunst und der dorische Staat repräsentie-ren in seiner Sicht beide die „Gegenbewegung“165 zur Natur bzw. den ‚for-malen Absolutismus‘. „[D]ie dorische Harmonie, die hohe Chordichtung,die Tanzweisen, de[r] Baustil, die straffe soldatische Ordnung, die vollstän-dige Nacktheit des Ringers“ seien gleichermaßen durch strengste Befolgungabstrakter Regeln und Gesetze entstanden.166 Es handelt sich in Benn Sichtjeweils um eine nach formalen Prinzipien verfahrende Gestaltung natürli-chen Materials, sei dies nun der (organische) menschliche Körper oder der(anorganische) Stein. Der „zum System erhobene[n] Gymnastik“ korres-pondiert das „allgültige Tonsystem“, der Züchtung der schönen Körper diegeometrische Ordnung der Säulen.167 Der Essay Dorische Welt unterläuftauf irritierende Weise die politische und autonomieästhetische Diskussionvon künstlerischer Freiheit vs. staatlicher Lenkung, indem er zwar eine kau-sal-deterministische Relation von Staat und Kunst negiert, beide aber alsManifestationen desselben Regelsystems, des ‚spartanischen Stils‘, deutet.Er konstruiert aus dem kulturhistorischen Material die Vision einer Kultur,

163 EuR, S. 305. – Dass die Kunst „überhaupt da war, […] das war als Ganzes der so ungeheuer-liche Ausbruch eines neuen menschlichen Elementes, daß man es nur als absolut, eigenge-setzlich, selbstentzündet ansehen kann“. (EuR, S. 305.) Das formale Darstellungsprinzipstamme nicht „unmittelbar aus der Natur“, sondern aus einem „neuen schöpferischen Akt“,heißt es gegen Ende des Essays. Es sei erst in Erscheinung getreten, „als die naturhafte Basisder Schöpfung schon vorlag“. (EuR, S. 306.) Diese Schöpfungstheorie konkurriert allerdingsmit der Entwicklungstheorie, nach der sich die Kunst – wie der Geist – in einem Prozess all-mählicher Ablösung von der Natur herausgebildet habe. Das Nebeneinander von Schöp-fungsmodell und Entwicklungsmodell lässt sich in Benns Essays der dreißiger und vierzigerJahre durchgängig beobachten.

164 Siehe hierzu Kap. VI, 5.165 EuR, S. 306.166 EuR, S. 300.167 EuR, S. 300.

Abstraktion und Realisation 353

in der die Kunst vom Ästhetischen ins Anthropologische überführt ist – das,was Benn im Lebensweg eines Intellektualisten die „Möglichkeit einer neuenRitualität“ nennt.168 In seiner Vision der Dorischen Welt steht das „anthro-pologische Prinzip des Formalen“ imMittelpunkt der Kultur.169

Damit wird nun aber keineswegs einer klassizistischen Formstrengeoder einem sachlichen Funktionalismus das Wort geredet. Und Benn feiertim Bild der dorischen Säulenordnung auch nicht die „Architektur derReichsparteitage“.170 Vielmehr knüpft seine Darstellung der dorischenKunst unmittelbar an das im Bekenntnis zum Expressionismus und in denReden auf George und Marinetti formulierte avantgardistische Programman. Das Dorische dient ihm als Paradigma des antinaturalistischen Stils –und tritt damit an die Stelle, die in anderen Aufsätzen und Reden derExpressionismus innehatte. Benn konzipiert die griechisch-dorische Weltals ‚Ausdruckswelt‘, als eine mittels Farben, Linien und Formen aus Lichtund Raum bewerkstelligte ‚Realisation‘: „Porphyr, bearbeitet von Traum,Kritik und höchster Vernunft; Ton und darauf die Linien menschlicherBewegung“.171 Und er bemüht sich, dem Leser die griechische Welt durchseine ästhetische Beschreibung als ein künstlich-plastisches, reliefartigesGebilde, als ‚Welt im Licht‘ vor Augen zu stellen. Dabei folgt die Form-gebung der Dorer abstrakten Prinzipien. Ihre Kunst basiert Benn zufolgenicht auf einfühlender Nachahmung – gestaltet daher auch kein rassischesSchönheitsideal –, sondern sie gewinnt ihre Gestaltungsprinzipien aus dem‚Material‘. Und dadurch, dass sie dieses immer radikaler von mimetischenSpuren reinigt, wird sie schließlich selbstreferenziell oder, wie Bennschreibt, ‚eigengesetzlich‘: „[I]mmer tiefer, zufallsloser wird die Fügung derplastischen Gestalt. Es arbeitet nicht mehr das Auge, es arbeitet das Gesetz,der Geist.“172 So wie auch die dorische ‚Macht‘ das Individuum „reinigt“,„filtert“, es „kubisch“ und dadurch ausdrucks- bzw. „kunstfähig“macht.173

Indem Benn den künstlerischen Prozess als Entpersönlichung, Rei-nigung und abstrakte Neuschöpfung konzipiert, greift er unverkennbar aufdie moderne symbolistische Poetik, auf das Programm der ‚poésie pure‘oder ‚poésie absolue‘ zurück, das im 19. Jahrhundert ebenfalls mit einer

168 PuA, S. 343. Vgl. auch die Bemerkung im Bekenntnis zum Expressionismus: „Die frühenGriechen hatten noch keine Kunst, das waren sakrale und politische Steinbehauungen, Odenim Auftrag, rituelle Arrangements“ (EuR, S. 270).

169 PuA, S. 343.170 Kittler, Benns Lapidarium, S. 11.171 EuR, S. 285. Benn verwendet in dem Essay zweimal den Begriff „Ausdruck“ (vgl. EuR,

S. 285 und 306).172 EuR, S. 301. „Anfangs rein naturalistisch, entstanden aus Auftrag und Befehl. Dann immer

mehr die Gesetze aus dem Material entnehmend, dem ewigen Material, dem Stein. […][N]un lockert das innere Gesicht die Realität von allem Gelegentlichen […]“ (EuR, S. 301).

173 EuR, S. 305.

354 Gottfried Benn

Aufwertung Apollos gegenüber Dionysos einherging.174 Und er adaptiertzugleich avantgardistische Theoreme, wenn er die abstrakte Neuschöpfungals Reaktion auf eine archaische Beunruhigung und als Projektion einertranszendentalen Befindlichkeit deutet:

[W]enn wir uns jetzt einmal dem Wesen der griechischen Kunst zuwenden, sodrückt der dorische Tempel ja nichts aus, er ist nicht verständlich, und die Säule istnicht natürlich, sie nehmen nicht einen konkreten politischen oder kultischen Wil-len in sich auf, sie sind überhaupt nicht parallel, sondern das Ganze ist ein Stil, dasheißt, es ist von innen gesehen ein bestimmtes Raumgefühl, eine bestimmte Raum-panik, und von außen gesehen sind es bestimmte Anlagen und Prinzipien, um dasdarzustellen, also es zu beschwören.175

Ebenso wie Worringer verwendet Benn den Begriff Stil hier in der exklusi-ven Bedeutung von ‚antinaturalistischer Stil‘. Und wie jener begreift er ihnals die ursprünglichere, der ‚rationalistischen‘ Mimesis vorangehendeKunsttendenz. Schon Worringer hatte den Abstraktionsdrang aus transzen-dentem Weltempfinden und „geistige[r] Raumscheu“ abgeleitet, die er alsCharakterzug früher Kulturen ansah.176 Schon ihm galt der dorische Tem-pel mit seiner „rein geometrischen“ oder „stereometrischen“, allein den„Gesetze[n] der Materie“ folgenden Ordnung als herausragendes Beispieldieser frühen „abstrakte[n] Tendenz“,177 und auch er parallelisierte dieGeisteslage der Antike bereits mit der ‚Wirklichkeitskrise‘ des zwanzigstenJahrhunderts.178

Benns Essay lässt es gegen Ende allerdings fraglich erscheinen, ob eineRückkehr zu einem transzendenten Weltverhältnis möglich und ob das‚Dritte Reich‘ in diesem Sinne als Wiederkehr der Antike aufgefasst werdenkann. Denn die Konzeption des Verhältnisses von Kunst und Macht in derDorischen Welt ist insofern tatsächlich ambivalent, als der Essay verschiedeneAntworten auf die Frage anbietet, ob sich der Geist überhaupt in dergeschichtlichen Welt ‚verwirklichen‘ kann. Während vor allem im viertenAbschnitt eine Realisation des Geistes bzw. des anthropologischen Prinzipsin kulturellen Gebilden, in Riten und öffentlichen Einrichtungen, als denk-

174 Siehe hierzu Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neun-zehnten Jahrhunderts bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Reinbek 1988 (1. Aufl.1956), S. 161–165.

175 EuR, S. 306 (Hervorhebung im Text).176 Worringer, Abstraktion und Einfühlung, S. 20.177 Ebd., S. 102 f.178 In Dorische Welt schreibt Benn, die Antike sei „sehr nah“. Das „idealistische System eines

heutigen Philosophen“ stehe „Platon näher als dem Weltbild des modernen Empirikers“, der„moderne, relativistische Nihilismus“ entspreche der „pyrrhonoischen Skepsis im 3. vor-christlichen Jahrhundert“ und „das Problem des Dinges an sich“ sei in der Gegenwart wiedervirulent geworden (EuR, S. 303 f.). Ganz ähnlich formulierte es Worringer: „Erst nachdemder menschliche Geist in jahrhundertelanger Entwicklung die ganze Bahn rationalistischerErkenntnis durchlaufen hat, wird in ihm als letzte Resignation des Wissens das Gefühl fürdas »Ding an sich« wieder wach“ (Worringer, Abstraktion und Einfühlung, S. 23).

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bar erscheint, wird im letzten Abschnitt die These einer prinzipiellen Anti-nomie von „Kunst und Geschichte“ bzw. einer Überwindung der geschicht-lichen Welt durch den Geist entfaltet: „Die Zeitalter enden mit Kunst, unddas Menschengeschlecht wird mit Kunst enden. Erst die Saurier, die Ech-sen, dann die Art mit Kunst.“179 Die dorische Plastik gewinnt in dieser Per-spektive eine zusätzliche, gnostisch-eschatologische Bedeutung: Als Höhe-punkt der dorischen Stilentwicklung wird sie zum Zeichen für die endlicheÜberwindung des geschichtlichen (und biologischen) Lebens durch denGeist.

Wir sehen der dorischen Welt nach, den Völkern mit Stil, wir hören ihnen nach,und wenn sie auch dahin sind, ihre Zeit erfüllt, die Geschlechter hernieder und dieSonne der Säulen, […] rufen sie noch einmal aus der Tiefe, aus Scherben, Mauer-geflecht, muschelbedeckten Bronzen, von Schlammfischern aus dem Meeresgrundversenkten Entführungsschiffen entwunden, ein Gesetz den Späteren zu, dasGesetz des Umrisses, ein Gesetz, das hinreißender nirgends als von der Stele dessterbenden Läufers, Ende des 6. Jahrhunderts […], aus seinen biologisch unaus-führbaren, nur parisch stilisierbaren Bewegungen zu uns spricht. Ein Gesetz gegendas Leben […].180

Im Rückblick auf die letzten Zeugnisse der dorischen Welt, die als steinerneund metallene Artefakte vom organischen Verfall unberührt geblieben sind,erkennt die Gegenwart ihre eigene Bestimmung. Eine geschichtliche Reali-sation des Geistes ist in dieser Perspektive nicht denkbar. Vielmehr wirddem anthropologischen Prinzip (erneut) eine entelechische Tendenz zuge-schrieben, die auf die ‚anthropologische Erlösung im Formalen‘ zielt.181 Sovollzieht der Schluss der Dorischen Welt bereits die Wende von der ästhe-tisch-anthropologischen Konzeption der Macht zur ‚Zwei-Reiche-Lehre‘,die die in der folgenden Zeit entstandenen Texte beherrscht und in der dieMacht endgültig dem Bereich der Natur zugeschlagen wird: „[E]s gibt zweiOrdnungen, eine physische und eine metaphysische“, „eine geistige undeine naturhafte“.182 In Sein und Werden (1935), Benns letztem im ‚DrittenReich‘ erschienenen Aufsatz über Julius Evolas Rivolta contro il mondo

179 EuR, S. 308.180 EuR, S. 308.181 Auf die antinaturalistische Entwicklungstendenz des Geistes bezieht sich auch der inDorische

Welt neu eingeführte, von Benn Novalis zugeschriebene Begriff der „progressive[n] Anthro-pologie“ (EuR, S. 307). Der Mensch, als „Minotaurus“, Zwitterwesen aus Geist und Natur,heißt es dort, werde endlich „akkordisch rein und in Höhen monolithisch und windet jenemanderen die Schöpfung aus der Hand“ (EuR, S. 308). Über den ‚Geist‘ schreibt Benn zweiJahre später an Oelze: „Er ist überhaupt nicht über der Natur, scheint mir, gegen sie sicher,aber auch das Organische ist nicht über dem Anorganischen, das Leben nicht über demUnbelebten, der Geist nicht über beiden, es sind 3 Würfe, Anstrengungen […] der […]selbst wahrscheinlich unter Zwang lebenden »Natura naturans«, dem »Ens realissimum«(Descartes), der Entelechie“ (Brief vom 7. Juni 1936, in: Briefe an F.W. Oelze, Bd. I, S. 126[Hervorhebung im Text]).

182 EuR, S. 314 f. (Sein und Werden).

356 Gottfried Benn

moderno (1934), aus dem dieser Satz stammt, wird die Möglichkeit einer‚Verwirklichung‘ für die Moderne verneint. In der ‚Traditionswelt‘ habeeine „reale Beziehung zwischen Geist und Wirklichkeit, zwischen Geist undMacht“ bestanden, in der ‚modernen Welt‘ könne es eine solche Realisationaber nicht mehr geben.183 Evolas Erwartung, dass Faschismus und Natio-nalsozialismus eine „frische Bindung der Völker an die Traditionswelt“ unddamit neue „Legitimierung für die Beziehungen zwischen Geist undMacht“ bringen würden, scheint der Autor, der diese Auffassung hier nurreferiert, schon nicht mehr zu teilen.184 Im 1937 entstandenen WeinhausWolf (1949) konstatiert der Ich-Erzähler nur noch lapidar: „Es gibt keineVerwirklichung. Der Geist liegt schweigend über den Wassern.“185 Und im1941 entstandenen Aufsatz Kunst und Drittes Reich (1949) wird die Rela-tion von Kunst und Macht polemisch als Opposition von Ausdrucksweltund ‚Vorwelt‘ gefasst: „Was nicht Ausdruck wird, bleibt Vorwelt“.186

7. Theoretische Physik und ‚Ausdruckswelt‘:Physik 1943 und Bezugssysteme

In seinen während des Krieges entstandenen essayistischen Texten, die er1949 in dem Band Ausdruckswelt zusammenfasst, greift Benn den in Dori-sche Welt entwickelten Gedanken einer Geschichte und Natur überwinden-den Formwelt wieder auf und führt die formal-konstruktivistische Argu-mentation fort. So gesehen gibt es keinen Bruch in seinem ästhetischenund anthropologischen Denken zwischen dem Ende der Weimarer Repu-blik und der Kriegs- und Nachkriegszeit. Zentral geht es weiterhin um dieDiagnose einer aus der Wirklichkeitskrise hervorgehenden ästhetischenund anthropologischen ‚Verwandlung‘, eines neuen ‚Stils‘. Allerdings greiftBenn bei der Konzeption dieser Verwandlung und Formbildung jetzt kaumnoch auf Theorien und Denkfiguren aus dem Bereich der Physiologie, Bio-logie und Naturgeschichte zurück, die in seinen Texten aus den spätenzwanziger Jahre und denen aus dem Jahr 1933 eine wichtige Rolle spielten.Angesichts der nationalsozialistischen Rassenpolitik und der biologistischenPropaganda von Fruchtbarkeit, Gesundheit und Züchtung – mit der er inZüchtung, Kunst und Drittes Reich, Zum Thema: Geschichte und Pallas pole-misch abrechnet – scheint auch die indeterministische Biologie, scheinenüberhaupt alle organische Prozesse beschreibenden Modelle für Benn des-avouiert zu sein. Selbst die Umweltlehre Jakob von Uexkülls kritisiert er als

183 EuR, S. 317.184 EuR, S. 318.185 PuA, S. 148.186 EuR, S. 348.

Theoretische Physik und ‚Ausdruckswelt‘ 357

eine letzten Endes naturalistische Verkennung der anthropologischenBesonderheit.187 In der 1947 entstandenen Erzählung Der Ptolemäer iden-tifiziert er das biologische und geschichtliche Denken insgesamt mit derempirisch-naturwissenschaftlichen Realitätskonzeption, die das „definitiveHindernis“ für die Konstituierung eines in „den Sphären jenseits desLebens“ gründenden „neuen Kulturbewußtseins“ darstelle.188 Doch dieserGedanke ist nicht neu. Man kann feststellen, dass sich hier nur eine Ten-denz verstärkt, die bei Benn schon um 1930 deutlich ausgeprägt ist unddie sachlich darin gründet, dass die auf dem Leben-Geist-Dualismus basie-rende Vorstellung eines Heraustretens des Menschen aus der Natur imnaturgeschichtlich-organischen Paradigma schlecht darstellbar ist. Die„neue“, „zweite Realität“, die Ausdruckswelt, schafft nur der Mensch, der„nicht mehr Natur“ ist.189 Um diese nicht-natürliche Schöpfung zu kon-zeptualisieren, greift Benn in den vierziger Jahren verstärkt auf physika-lische Denkfiguren zurück, auf die antike Kosmologie, vor allem aber aufdie theoretische Physik, die in den Texten dieser Zeit zur wichtigsten Refe-renzwissenschaft wird.

Benns Bezugnahme auf die theoretische Physik, die sich vor allem anden zwei kurzen, wohl beide 1943 entstandenen Texten Physik 1943 undBezugssysteme beobachten lässt, erscheint auf den ersten Blick allerdingsambivalent. Denn einerseits identifiziert er die theoretische Physik mit fun-damentalem Erkenntnisrelativismus, andererseits erblickt er in ihr einenneuen Weg zum ‚Wirklichen‘. Schon Mitte der dreißiger Jahre verwendeteer gelegentlich die Begriffe ‚Ding an sich‘, ‚Ens realissimum‘ oder ‚Naturanaturans‘ als metaphorische Umschreibungen eines Geist und Naturumfassenden ‚Wirklichen‘.190 In Physik 1943 spricht er dann vom ‚AbsolutRealen‘:

Die Elemente sind austauschbar. Die Zeit ist nur ein Faktor der Messung. Alle sindErscheinungsformen dessen, was die moderne Physik das „Endgültig Reale“ unddas „Absolut Reale“ nennt –: ein x, das immer rätselhafter wird, je mehr man sichihm methodisch nähert. Immer klarer treten sich die beiden Reiche gegenüber: dieAusdruckswelt, als Summe der Begriffe, die die Generationen geistig erarbeitetenund vorsichbrachten, und dann dieser Hintergrund, einst die Substanz, dann dasEns realissimum des Descartes, heute also das „Endgültig Reale“.191

Diese Interpretation der theoretischen Physik ist irritierend, wenn manbedenkt, dass diese in den Augen vieler Zeitgenossen gerade alle Gewisshei-ten zerstört und das Absolute durch Relationen und Funktionen ersetzt hat-

187 Vgl. SuS, S. 217 f. (Von Uexküll, 1943/1949).188 EuR, S. 201.189 EuR, S. 383 (Pallas).190 Vgl. den weiter oben zitierten Brief an Oelze vom 7. Juni 1936.191 EuR, S. 399. Vgl. a. Pallas: „Der weiße letzte [Mensch, G.S.] ist nicht mehr Natur, er ist den

Weg gegangen, den ihn jenes »Absolut Reale«, Götter, Vor-Götter, Ur, Vor-Ure, Ens realissi-mum, Natura naturans mit einemWort: das Herz der Finsternis getrieben hat“ (EuR, S. 383).

358 Gottfried Benn

te. „Das Absolute ist verschwunden, die Wirklichkeit ist relativ“, heißt esbeispielsweise in einer philosophischen Deutung der theoretischen Physikvon Joseph Petzoldt,192 auf die Benn sich an anderer Stelle, in Bezugssysteme,bezieht.193 Und auch Benn selbst konstatiert, es gebe keine „Erkenntnis imallgemeineren Sinne“194 mehr und der „Verlust des Bestimmten und Abso-luten“ sei „das augenblickliche Stigma des Kulturkreises.“195 Von solchenÄußerungen ausgehend, haben einige Forscher die These vertreten, Bennübe Kritik an der durch die moderne Physik bewirkten ‚Auflösung derNatur‘, strebe eine Rückgewinnung von Anschaulichkeit an und stelle indiesem Sinne die mythische Kosmogonie der modernen Physik positivgegenüber.196

Wenn Benn von einer Wiederkehr des Absoluten, eines ‚Absolut‘ oder‚Endgültig Realen‘ in der modernen Physik spricht, zeigt dies jedoch, dassdie moderne Physik in seinen Augen – anders als die ‚mechanistischen‘Naturwissenschaften – durchaus metaphysische Qualität besitzt und alsParadigma der anthropologischen Verwandlung dienen kann. Wie an frühe-rer Stelle bereits gezeigt wurde, stand er mit dieser Deutung keineswegsallein, sondern konnte sich auf prominente Vertreter der modernen Physikberufen, die im Verlust von Stofflichkeit und Anschaulichkeit eine Annähe-rung an die antike Metaphysik erkannten. So heißt es etwa in einem 1940in der – für Benn so wichtigen – Europäischen Revue publizierten Aufsatzüber Metaphysische Folgerungen aus neuer physikalischer Erkenntnis, dass dievon der Quantenphysik untersuchten Teilchen der Strahlung zwar „nichtsStoffliches, gleichwohl aber etwas Substantielles“ seien und daher unter denBegriff der „metaphysischen Realität“ fielen.197 In ähnlicher Weise proble-matisierte Max Planck in derselben Zeitschrift den Begriff der Realität mitBlick auf die „Geheimnisse der kosmischen Ultrastrahlung“, die „rätselhaf-

192 Joseph Petzoldt, Das Weltproblem vom Standpunkt des relativistischen Positivismus aus,Leipzig/Berlin 1912 (1. Aufl. 1911) (= Wissenschaft und Hypothese, Bd. 14), S. 206.

193 Vgl. den Kommentar in SW IV, S. 708.194 EuR, S. 399 (Physik 1943).195 PuA, S. 467 (Doppelleben).196 In diese Richtung argumentiert Könneker, „Auflösung der Natur – Auflösung der Geschich-

te“, S. 317. Thomas Pauler vertritt die Ansicht, dass Benn die ‚mythische Kosmogonie‘ alsAntithese zum Wirklichkeitsverlust in der modernen Physik verwendet; vgl. Thomas Pauler,Schönheit und Abstraktion. Über Gottfried Benns ‚absolute Prosa‘, Würzburg 1992 (= Epis-temata-Literaturwissenschaft, Bd. 77), S. 178. Elisabeth Emter meint, dass der Dichter denrationalistischen Erkenntnismethoden der alten und neuen Physik das Programm einer mys-tischen Partizipation entgegensetzte und sich dabei affirmativ auf die Theorie der progressi-ven Zerebration bezog; vgl. Elisabeth Emter, Literatur und Quantentheorie. Die Rezeptionder modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren(1925–1970), Berlin/New-York 1995 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kul-turgeschichte, Bd. 2), S. 147–153.

197 Christian Mezger, Metaphysische Folgerungen aus neuer physikalischer Erkenntnis, in:Europäische Revue 16 (1940), 2. Halbbd., S. 484–489 und S. 534–537, hier S. 485 f.

Theoretische Physik und ‚Ausdruckswelt‘ 359

ten Atomspaltungen“ und die „Enthüllungen des Elektronenmikro-skops“.198 Realität dürfe nicht mit Sichtbarkeit und Gegenständlichkeitgleichgesetzt werden, vielmehr tendiere die theoretische Physik zur „Zu-rückführung der […] Elemente auf ein höheres Reales“, auf das „endgültigReale“.199 Diesem könne man sich nur mit Modellen annähern: „Wie hin-ter jedem Sinneseindruck ein Gegenstand, so steht hinter jedem erfahrungs-mäßig Realen ein metaphysisches Reales.“200 In diesem Kontext erscheintBenns Aussage, dass mit der zunehmenden Abstraktion in der physika-lischen Wissenschaft zugleich das Bewusstsein eines metaphysischen Welt-zusammenhangs wachse, keineswegs außergewöhnlich.

Benn geht allerdings noch über die Annahme einer unsichtbaren, nicht-materiellen Realität hinaus und nähert sich in Physik 1943 einer intuitionis-tischen Deutung der theoretischen Physik an. Wie manch anderer Schrift-steller seiner Zeit und wie schon die frühen Vertreter der Avantgarde spielter mit der Vorstellung einer Geist-Materie-Verschmelzung.201 Einerseits hatdie moderne Physik in seinen Augen die Relativität aller Begriffe, Theorienund Weltbilder und die prinzipielle Nicht-Erkennbarkeit des Wirklichenerwiesen, andererseits haben ihre Berechnungen und Formeln aber auch

198 Max Planck, Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft, in: Europäische Revue 18 (1942),1. Halbbd., S. 75–88, hier S. 80. – In der Europäischen Revue erschienen in den dreißiger undvierziger Jahren eine ganze Reihe von wissenschaftlichen bzw. populärwissenschaftlichen Auf-sätzen, die die Entwicklungen in der modernen Kosmologie, Physik und Mathematik dar-stellten und ihre philosophische Relevanz diskutierten, – eine Tradition, die ab 1947 dann imMerkur fortgesetzt wurde. Neben den Aufsätzen vonMezger und Planck siehe auch: James H.Jeans, Das neueWeltbild der Physik, in: 12 (1936), 1. Halbbd., S. 312–325; Max Bense, DerIrrationalismus und die moderne Mathematik, in: 14 (1938), 2. Halbbd., S. 768–778; MaxPlanck, Determinismus oder Indeterminismus?, in: 14 (1938), 2. Halbbd., S. 958–972;Hans Eibl, Metaphysische Ansätze im physikalischen Weltbild, in: 14 (1938), 2. Halbbd.,S. 1064–1077; J.M. Cornford, Griechische Naturphilosophie und moderne Wissenschaft,in: 15 (1939), 1. Halbbd., S. 365–376. Die Europäische Revue wurde damit zu einem wichti-gen Forum für die Vertreter der theoretischen Physik in der wissenschaftspolitischen Aus-einandersetzung im ‚Dritten Reich‘. Planck und andere Autoren nahmen die theoretischePhysik indirekt gegen die verbreitete Anfeindung als ‚jüdischer Intellektualismus‘ in Schutzund verteidigten dabei zugleich die abstrakt-mathematische Beweisführung gegen das vonder ‚Deutschen Physik‘ vertretene Dogma ‚klassisch-anschaulicher‘ Erklärung. So wandtesich Planck in dem zitierten Aufsatz ganz direkt gegen den häufig erhobenen Vorwurf, dietheoretische Physik würde „durch ihre Wendung zum Abstrakt-Mathematisch-Formalen denBoden der Wirklichkeit unter den Füßen verliere[n]“ (S. 969). Zur ‚Deutschen Physik‘ undihrer Berufung auf die klassische Mechanik siehe Richter, Die „Deutsche Physik“, S. 119.

199 Planck, Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft, S. 82.200 Ebd. – Zu Plancks absolutistischer Deutung der Quantenphysik und der Parallele zu Benn

siehe Streim, ‚Risse im Parthenon‘, S. 414 f.201 So referierte beispielsweise Kandinsky in seiner wichtigen Programmschrift Über das Geistige

in der Kunst (1912) auf die u. a. durch die Mikrophysik vermittelte Vorstellung einer nicht-sichtbaren Materie und begründete damit die Abkehr vom Nachahmungsprinzip und einetheosophisch-spiritistisch geprägte Theorie der künstlerischen Abstraktion. Vgl. WassilyKandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 8. Aufl., mit einer Einführung von Max Bill,Bern 1965 (1. Aufl. 1912), bes. S. 22, 33 und 41–45.

360 Gottfried Benn

bisher nicht vorstellbare Umwandlungen der Materie möglich gemacht. Erverweist auf die Atomspaltung, die so viel Energie freizusetzen vermöge,„daß die Planeten in Katastrophen verwickelt werden könnten“, und wertetdies als Indiz dafür, dass der „formenbildende Geist“ in der Lage sei, „aneinem Prozeß, der die Materie auflöst, mitzuwirken“.202 Und mit Blick aufdie neuen kosmologischen Theorien stellt er fest:

Die Materialisierung der Strahlung und die Zerstrahlung der Materie. Die Naturgeht über in eine Verflechtung von Begriffen und Symbolen und diese erzeugenwiederum Materie und Natur. Die Einheit von Materie und Energie ist ebensovollzogen, wie die Einheit von Gedanke und bewegter Natur. Einst war wohl Gottder Schöpfer der Welten, und zweifellos gibt es Älteres als Blut, aber seit einigerZeit treiben die Gehirne die Erde weiter und die Entwicklung der Welt nimmtihren Weg durch die menschlichen Begriffe […].203

Noch einmal scheint hier die avantgardistische Utopie der spiritualisiertenMaterie, des konstruktivistischen Demiurgen auf, wobei die Strahlung alsParadigma für die Verbindung von Geist und Materie dient.204 Gleichzeitighält Benn aber an der Theorie der Ablösung des Geistes von der Materiefest und verbindet den Begriff des ‚Absolut-Realen‘ mit der gnostischenKosmologie. In dieser Perspektive erscheint dann die Auflösung und Zerstö-rung der Materie als die eigentliche Bestimmung des ‚formenbildendenGeistes‘: „Das »Endgültig Reale« sandte ihn in einer späten Schöpfungs-stunde hervor, um sich mit ihm zu befruchten und zu zerstören.“205 DasFormale, die Ausdruckswelt ist, wie Benn 1944 in Erkenne die Lage! (1949)schreibt, „der Neue Gott“.206

Schöpferischer Konstruktivismus und erkenntnistheoretischer Relati-vismus sind in Benns Konzeption der Ausdruckswelt in eigenartiger Weiseverquickt. Das wird auch in Bezugssysteme deutlich, wo er – mit Rekurs aufdie bereits erwähnte Schrift Petzoldts, die eine empiriokritizistische Deu-tung der Relativitätstheorie enthält –, vor allem die relativistischen Kon-sequenzen der modernen Physik herausstellt. Demnach haben die neuenphysikalischen Theorien nicht allein die Gültigkeit des alten physikalischenWeltbildes erschüttert, sondern die „Relativität“ aller Denk- bzw. „Bezugs-

202 EuR, S. 399.203 EuR, S. 402.204 Die viele Intellektuelle dieser Zeit – u. a. auch Jünger – faszinierende Vorstellung einer

Wechselwirkung zwischen Materie und Strahlung wurde übrigens von Max Planck als Spe-kulation zurückgewiesen. Je „kühner und enthusiastischer sich diese himmelsstürmendenPhantasien“ betätigten, desto nüchterner solle „man des Satzes eingedenk sein, daß manch-mal dicht neben der höchsten Vernunft der größte Unsinn lauert“ (Planck, Determinismusoder Indeterminismus?, S. 971). Eine ähnliche Faszinationskraft übte bereits die Entdeckungder X-Strahlen im Jahr 1895 auf die Kunst um die Jahrhundertwende aus. Siehe hierzuChristoph Asendorf, Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um1900, Gießen 1989, S. 139–148.

205 EuR, S. 399.206 SuS, S. 229.

Theoretische Physik und ‚Ausdruckswelt‘ 361

systeme“ erwiesen, ob es sich nun um die antike Kosmogonie handelt, dasmittelalterliche Weltbild oder den „Zauber der Inkas“.207 In jedem Fallunterliegen die angewandten „Ordnungsgrundsätze“, „Begriffe“ und „Er-kenntnismittel“ einer „zeitlich-abschnittliche[n] und geographische[n]Begrenzung“.208 Damit relativiert Benn erneut die Gültigkeit wissenschaft-licher Erkenntnis, entwickelt gleichzeitig aber eine ästhetisch-metaphysi-sche Sicht auf die Wissenschaft. Denn indem er die ‚Bezugssysteme‘ mitihrem Inventar von Formeln, Symbolen und Begriffen insgesamt der Aus-druckswelt zuschlägt, erscheinen sie als Manifestationen des formendenGeistes, der seinerseits eine Funktion des ‚metaphysisch Wirklichen‘ ist:Bezugssysteme sind formale Gebilde und auch „Erscheinungsformen, langeLaunen des »Endgültig Realen«.“209 Oder, wie es im Roman des Phänotyp(1944/1949) heißt: Die ästhetische Verwandlung der abstrakten Kunstmutet wie „eine jener Mutationen“ an, „in denen sich das Hintergründige,das »Absolut Reale«, wie es die moderne Physik nennt, gelegentlich weiter-bewegt“.210

Die Tendenz zur ‚Poetisierung‘ von Wissenschaft zeigt sich auch daran,dass die ‚Bezugssysteme‘ als ein konstruktives Sehen beschrieben werden.Auffällig häufig verwendet Benn Begriffe und Bilder aus dem Bereich derOptik. Etwa, wenn er den Darwinismus als „eine Beleuchtung, eine Per-spektive“211 oder die Zeit als „Reflex von Spiegeln und Spiegelbildern“212

charakterisiert. Die ein Denksystem strukturierenden ‚Bezüge‘ erweisen sichals abhängig von Blickwinkel und Lichteinfall, sie sind letztlich Effekteeiner Wahrnehmungsanordnung oder eines experimentellen Systems. Dieantike Naturphilosophie sei ein Formsehen gewesen, das kausal-mechanisti-sche Weltbild der Naturwissenschaft dagegen gründe in einem Bewegungs-sehen: „Wer hier beobachtet, will Veränderungen wahrnehmen, Differen-zen, Quanten, keinen Olymp, keine Schöpfung, – das optische System, dashier arbeitet, ist ein Elephantenauge, das kann Ruhendes nicht sehen.“213

Diese Entgegenstellung darf jedoch nicht so verstanden werden, als würdeBenn für eine Rückkehr zum ‚antiken Sehen‘ eintreten, sei es nun diemythische Kosmogonie oder eine platonistisch inspirierte Gestalttypologie,die man in derselben Zeit an den Schreibweisen Jüngers oder Nebels beob-achten kann. Tatsächlich steht das – im Kern expressionistische – Modellder Ausdruckswelt dem auf „innerer Ordnung, Anschauung, Harmonie“214

207 EuR, S. 391.208 EuR, S. 391 f.209 EuR, S. 392.210 PuA, S. 179.211 EuR, S. 364 (Zum Thema: Geschichte).212 EuR, S. 400 (Physik 1943).213 EuR, S. 389 (Bezugssysteme).214 EuR, S. 389.

362 Gottfried Benn

basierenden Bezugssystem der Antike entgegen, da es mit den Prinzipienvon Abstraktion und Projektion operiert und eine ganz andere Konzeptiondes ‚Sehens‘ enthält. Dies lässt sich nirgends besser beobachten als amRoman des Phänotyp, der in engem Zusammenhang mit den ästhetisch-an-thropologischen Reflexionen der Ausdruckswelt entstand und den Bennselbst als konsequenteste Realisierung seiner poetischen Prinzipien begriff –und für den er 1950 erstmals den Begriff „absolute Prosa“ verwendete.215

8. Die Poetik der ‚absoluten Prosa‘:Roman des Phänotyp undDer Ptolemäer (1949)

Benn führt den Begriff ‚absolute Prosa‘ in seiner Autobiographie Doppelle-ben ein und knüpft dabei an die Tradition avantgardistischer Poetik an.Zum einen bezieht er sich indirekt auf die symbolistische Poetik der ‚poésieabsolue‘, wenn er die absolute Prosa als Entreferentialisierung der Spracheund als eine auf den Prinzipien von „Abstand, Rhythmus und Tonfall“beruhende Wortkunst fasst.216 Zum anderen verbindet er mit ihr einbestimmtes Kompositionsprinzip: „[e]ine Folge von sachlich und psycho-logisch nicht verbundenen Suiten“, eine „Prosa außerhalb von Raum undZeit, ins Imaginäre gebaut, ins Momentane, Flächige“.217 So gesehen, han-delt es sich um einen in der Tradition expressionistischer Formexperimentestehenden Versuch, einen Prosatext ohne psychologischen und chronologi-schen Zusammenhang zu konstruieren – einen Text also, der ein anderes‚Bezugssystem‘ entwirft als der raum-zeitlicher Kausalität verpflichtete psy-chologische Roman.218 Die absolute Prosa konstruiert demnach die Weltneu, indem sie konventionelle Verbindungen auflöst und die einzelnen Ele-mente anschließend nach formalen Prinzipien organisiert.

215 PuA, S. 446 (Doppelleben).216 PuA, S. 446.217 PuA, S. 446.218 Zum Begriff der absoluten Prosa und seinem ästhetikgeschichlichen Kontext siehe Klaus

Gerth, Absolute Dichtung? Zu einem Begriff in der Poetik Gottfried Benns (1968), in:Bruno Hillebrand (Hg.), Gottfried Benn, Darmstadt 1979 (= Wege der Forschung,Bd. 316), S. 240–260, bes. S. 244 f.; Jürgen H. Petersen, Absolute Prosa, in: Gerhard P.Knapp/Gerd Labroisse (Hg.), Wandlungen des Literaturbegriffs in den deutschsprachigenLändern seit 1945, Amsterdam 1988 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik,Bd. 27), S. 71–88; Moritz Baßler, Absolute Prosa, in: Walter Fähnders (Hg.), Expressionisti-sche Prosa, Bielefeld 2001 (= Aisthesis-Studienbücher, Bd. 1), S. 59–78. Zur ganz ähnlichenKonzeption von Carl Einsteins Bebuquin (1912) – dem neben André Gides Paludes (1895)wichtigsten Vorbild von Benns ‚Roman‘ – siehe Matias Martinez-Seekamp, Ferien von derKausalität? Zum Gegensatz von ‚Kausalität‘ und ‚Form‘ bei Carl Einstein, in: Text + KritikBd. 95 (1987): Carl Einstein, S. 13–22.

Die Poetik der ‚absoluten Prosa‘ 363

Die Benn-Forschung hat das Konzept der ‚absoluten Prosa‘ vornehm-lich im ästhetikgeschichtlichen Kontext der Avantgarde verortet, den ebensowichtigen, von dem ersten kaum ablösbaren wissenshistorischen Kontextaber weitgehend unbeachtet gelassen. Dabei stellte Benn selbst mehrfacheine Analogie zwischen der Entwicklung der künstlerischen Abstraktionund den aktuellen Abstraktionstendenzen in der physikalischen und mathe-matischen Theoriebildung her. Den Konnex sieht er darin, dass beide aufdieselbe Krise reagieren: auf die Krise der Repräsentation. Der Verlust des‚stofflich-psychologischen‘ Zusammenhangs ist in seinen Augen nur dieFolge einer fundamentalen Erschütterung der Erkenntnisform, der Auf-lösung aller raum-zeitlichen Anschauung, wie sie auch der Entwicklung dertheoretischen Physik zugrundeliegt. In einem Brief an seinen Verleger MaxNiedermayer, in dem er die Manuskriptsendung des Roman des Phänotypankündigt und dessen befremdliche Form zu erklären versucht, wird dieserHintergrund angedeutet: „In jedem Satz muß alles stehn, er [der Phänotyp,G.S.] kann sich auf nichts außerhalb seiner selbst mehr beziehn, es gibt jakeinen Anfang und es gibt ja kein Ende, das wären ja Raum-Zeitvorstellun-gen aus einer anderen chaotischen Welt, er muß also sich selber ordnen,[…] absolut sein in jeder Chiffre, in jedem Wort. Das ist die Krise!“219 Wodie raum-zeitliche Anschauung verloren geht, können innere und äußereWelt nicht in chronologisch-kausaler Folge dargestellt werden. „Das abso-lute Gedicht“, sagt Benn später im Vortrag Probleme der Lyrik (1951), „istin der Lage, ohne Zeit zu operieren, wie es die Formeln der modernen Phy-sik seit langem tun.“220

Man kann die Abstraktion – die in der Sprache und insbesondere ineinem Prosatext immer nur tendenziell realisierbar ist – im Roman des Phä-notyp als Prinzip der Achronologie und Akausalität beschreiben: Gedanken,Ereignisse, Bilder werden aus ihren historischen, sozialen und psychologi-schen Kausalzusammenhängen herausgelöst und in neue, assoziative Ver-bindungen gebracht, wodurch sie als gleichwertige Ausdrucksformen einesschöpferischen Bewusstseins erscheinen: „Das erste Wort schafft die Situa-tion, substantivistische Verbindungen die Stimmung, Fortsetzung folgt ausSatzenden, die Handlung besteht in gedanklichen Antithesen.“221 In Dop-pelleben bezeichnet Benn dies Verfahren als „Montagekunst“: „Nichts wirdstofflich-psychologisch verflochten, alles angeschlagen, nichts durchgeführt.

219 Brief an Max Niedermayer vom 18. September 1948, in: Gottfried Benn, Ausgewählte Brie-fe, mit einem Nachwort von Max Rychner, Wiesbaden 1957, S. 124–127, hier S. 127 (Her-vorhebung im Text).

220 EuR, S. 531. Diese Parallelisierung von künstlerischer Abstraktion und moderner Physik fin-det sich in der Zeit um 1950 in einer ganzen Reihe kunstprogrammatischer und -philosophi-scher Publikationen insbesondere aus dem Bereich der bildenden Kunst. Siehe hierzu Emter,Literatur und Quantentheorie, S. 185–217.

221 PuA, S. 173.

364 Gottfried Benn

Alles bleibt offen. Antisynthetik.“222 Abstrakt, unanschaulich ist diese Prosaalso in dem Sinne, dass narrative Zusammenhänge fast zwanghaft – Bennspricht auch von einer „Ausdrucks- und Darstellungsneurose“223 – vermie-den bzw. zerstört werden. Da gleichzeitig eine neue, formalen Prinzipienfolgende Ordnung hergestellt wird, ist die absolute Prosa ihrer programma-tischen Intention nach aber auch von einer höheren, geistigen Art.224

Damit stellt Benn im ästhetisch-anthropologischen Diskurs einenZusammenhang zwischen Abstraktion und Vergeistigung her, den in denvierziger Jahren verschiedene Autoren ganz ähnlich auch für die Entwick-lung der modernen Physik und Mathematik geltend machten. So beschreibtMax Planck in dem bereits erwähnten Aufsatz Determinismus oder Indeter-minismus? die Entwicklung der Physik als fundamentale Veränderung derDenk- und Anschauungsweise, als eine „Wendung zum Abstrakt-Mathema-tischen“.225 Während die klassische Physik ihre Erkenntnisse aus raum-zeit-licher Anschauung gewonnen habe, würde die moderne Physik – Planckführt als Beispiele das Verschiebungsgesetz der Wärmestrahlung (Wien),das van’t Hoffsche Gesetz des osmotischen Drucks, den zweiten Hauptsatzder Wärmetheorie (Maxwell) und Boltzmanns Theorie zum Zusammen-hang von Entropie und Wahrscheinlichkeit an – diese auf geistig-formaleWeise, in Form von ‚Gedankenexperimenten‘ erzielen. Eine analoge Ent-wicklung konstatiert Max Bense im Bereich der Mathematik, die sich mitder nichteuklidischen Geometrie (Gauß), der Mengenlehre (Cantor) undder Gruppentheorie (Lagrange) ebenfalls von der Anschaulichkeit des drei-dimensionalen Raums gelöst habe und dabei zum Spiegel einer „metaphysi-schen“ Wandlung der Kultur bzw. „des Menschlichen“ geworden sei.226

Abstraktion ist in der ‚absoluten Prosa‘ also nicht allein formales Kom-positionsprinzip, sondern kennzeichnet auch ein ästhetisch-anthropologi-sches Produktionsprinzip, das Benns in hohem Maße poetologisch-selbst-referenziellen Prosatexte in vielfach variierten Bildern und Formelnbeschwören. Dazu zählt an erster Stelle die Kreis-Zentrum-Metaphorik,die, wie in der Forschung immer wieder bemerkt wurde, eine wichtigeFunktion im Roman des Phänotyp erfüllt.227 Wie in einer ‚Orange‘ die ver-

222 PuA, S. 471.223 Brief an Max Niedermayer vom 18. September 1948, in: Benn, Ausgewählte Briefe, S. 126.224 Die Abfolge von Dekomposition des naturalistischen Gegenstandes und geistig-abstrakter

Konstruktion ist ein Grundtheorem im kunstprogrammatischen Diskurs der frühen Avant-garde. So heißt es beispielsweise bei Kandinsky: „Die naturellen Formen stellen Grenzen, diein vielen Fällen diesem Ausdruck imWege stehen. So werden sie zur Seite geschoben und diefreie Stelle wird für das Objektive der Form gebraucht – Konstruktion zum Zweck der Kom-position“ (Kandinsky, Das Geistige in der Kunst, S. 129).

225 Planck, Determinismus oder Indeterminismus?, S. 969.226 Bense, Der Irrationalismus und die moderne Mathematik, S. 777 f.227 Vgl. Pauler, Schönheit und Abstraktion, S. 147. Zur Bedeutung der Kreis-Zentrum-Meta-

phorik in Benns gesamtem Werk siehe Hanspeter Brode, Studien zu Gottfried Benn I.

Die Poetik der ‚absoluten Prosa‘ 365

schiedenen Sektoren „nebeneinander“ und „gleichwertig“ um eine „Wurzel“in der „Mitte“ zentriert seien, so sind nach Benns Darstellung auch die ein-zelnen Kapitel dieses ‚Anti-Romans‘ untereinander nicht narrativ verknüpft,aber doch zusammenhängend, da sie verschiedene Wahrnehmungen, Erin-nerungen, Visionen oder Gedanken eines Textsubjekts, des Phänotyps bzw.des „Existentielle[n]“, repräsentieren.228 Die Metaphorik von Kreis undZentrum erfasst dabei sowohl die akausale Verknüpfung als auch den Pro-zess der Hervorbringung.229 Denn die kreisförmig geordneten Bilder oderBildsplitter gehen aus dem Zentrum hervor bzw. werden von diesem ‚aus-gestrahlt‘, wie Benn es Oelze gegenüber formuliert: „radial strahlen die ein-zelnen Ansätze aus, keine Bewegung; ein Roman im Sitzen“.230

Alle in dieser Zeit entstanden Prosatexte – neben dem Roman des Phä-notyp handelt es sich um den 1949 zusammen mit diesem publizierten Pto-lemäer sowie den 1949 entstandenen, aber erst später veröffentlichtenRadardenker – operieren mit dieser ästhetisch-medialen Grundkonstellationoder ‚experimentellen‘ Anordnung: ein im Zentrum fixiertes Subjekt, dasdie von innen und außen einströmenden Eindrücke aufnimmt und reflek-torisch bricht. Benn nennt dies „punktuelle Perspektiven“.231 So die Kon-stellation des Phänotyps, der die Eindrücke und Erinnerungen reflektiert,die er „während eines Vierteljahres, vom 20.3.1944–20.6.1944“ gewonnenhat.232 So auch die Konstellation des Ptolemäers, der die Impressionen undGedanken zum Ausdruck bringt, die er im Laufe eines Jahres in seinemSchönheitsinstitut empfängt; ebenso die des Radardenkers, der seine Asso-ziationen auf einem „bestimmten Holzstuhl“ sitzend während eines Herbs-tes sammelt;233 wie auch die des Ich-Erzählers in Block II, Zimmer 66(1944/1950). Das Subjekt wird jeweils als eine Art Medium vorgestellt, dasEindrücke empfängt und verwandelt. Entscheidend ist dabei die Art derTransformation: eben nicht raum-zeitlich (mimetisch), sondern expressiv.Die absolute Prosa bildet Eindrücke nicht ab, sondern sie drückt sie ausbzw. ‚realisiert‘ sie. So heißt es im Roman des Phänotyp:

Selbstentzündung, autarkische Monologie. Radio ist der Natur weit überlegen, esist umfassender, kann variiert werden, die Natur ist egozentrisch, regional gebun-

Mythologie, Naturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Café- und Inselmotive, Gehirn-beschreibungen und Kulturkreislehre bei Benn, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Litera-turwissenschaft und Geistesgeschichte 46 (1972), S. 714–763.

228 PuA, S. 446.229 Vgl. a. Brode, Studien zu Gottfried Benn I, S. 737.230 Brief an Oelze vom 31. Mai 1944, in: Briefe an F.W. Oelze, Bd. I, S. 364.231 PuA, S. 154.232 PuA, S. 178. „Ein Roman im Sitzen. Ein Held, der sich wenig bewegt, seine Aktionen sind

Perspektiven, Gedankengänge sein Element“ (PuA, S. 173).233 PuA, S. 235.

366 Gottfried Benn

den, […]. Schreibtisch oder Fensterplatz entwickelt mehr Substanz als Landschaft,sie schaffen ihr Ausdruck […].234

Ganz ähnlich lautet das Programm des ‚Radardenkers‘:Die vorstehenden Emanationen sollten einen Seelenzustand darstellen, für den eskeine sachliche Erklärung und keine individuelle Begründung gibt. Das Gehirn istrund, weich, dehnungsfähig – seine Funktion ist Realisieren. Der Radardenkersollte sich realisieren, er brachte sprachlich vor, was seine Wirklichkeit in jenenHerbsttagen war.235

‚Strahlen‘, ‚Radio‘, ‚Radar‘ – Benn bedient sich bei der Formulierung seinerPoetik der absoluten Prosa einer mediumistischen Rhetorik, die ähnlichauch schon in den Programmschriften der frühen Avantgarde auftritt.236

Allerdings rekurriert er dabei nicht auf den wissenschaftlichen Spiritismusder Jahrhundertwende, sondern auf die aktuelle Vorstellung eines physika-lischen Indeterminismus. Er konzipiert die abstrakte Schöpfung, das Prin-zip der Expression analog zu den unsichtbaren physikalischen Verwand-lungsprozessen, wie sie die moderne Strahlen- und Atomphysik entwirft:Der abstrakte Intellekt realisiert sich, indem er die elementare Struktur derMaterie umwandelt und so zumMedium des „Absolut Reale[n]“ wird.237

Diese Konzeption geistig-formaler Realisation zielt ganz offensichtlichnicht auf eine Restitution von Anschaulichkeit und unterscheidet sich folg-lich nicht allein vom ‚Bewegungssehen‘ der Moderne, sondern genausoauch vom ‚Formsehen‘ der Antike. Dies wird an den poetisch-programmati-schen Aussagen im Ptolemäer noch deutlicher. Darin lehnt der Ich-Erzählerdie synthetische Betrachtungsweise – „Gesamtschau, Totalitätsbetreuung,Lebenseinheit“ – für sich ausdrücklich als nicht mehr zeitgemäß ab: „Bruch-stücke, Reflexe; wer Synthese sagt, ist schon gebrochen.“238 Anstelle des„Zusammenhang suchende[n] Denken[s]“ entwickelt er eine prismatischeBlicktechnik, die die Dinge in ihre physikalisch-sinnlichen Elemente, dieFarben, zerlegt: „Sieht man wie ich seitlich in die Dinge hinein, sieht manjedenfalls Buntes“.239 Der Vorgang der optischen Verwandlung wird auch

234 PuA, S. 173.235 PuA, S. 246 (Der Radardenker).236 Vgl. Baßler, Absolute Prosa, S. 72–74; und Asendorf, Ströme und Strahlen, S. 154–163.237 PuA, S. 179 (Roman des Phänotyp).238 PuA, S. 198 f. Die Parallelen zum Kubismus liegen auf der Hand. Benn selbst beruft sich

mehrfach auf Cézanne, zuerst im Bekenntnis zum Expressionismus und dann im Roman desPhänotyp, wo er die abstrakte Wendung in der Literatur mit der von Cézanne herbeigeführ-ten „Verwandlung des Blicks“ in der modernen Malerei vergleicht (PuA, S. 154). In diesemSinn schrieb auch Max Bense, man müsse „Benns Prosa lesen wie man ein Bild Picassosbetrachtet“ (Ptolemäer und Mauretanier, S. 39).

239 PuA, S. 210. Der Ptolemäer nennt sich selbst „Artist“ und „Prismatiker“ (PuA, S. 233). MaxBense kommentierte die Metapher des Prismas folgendermaßen: „Das Prisma zerlegt die Far-ben, indem es sie von einer Mitte zerstreut. Die expressionistische Analyse der Dinge ist pris-matisch, sie zerstreut von der Mitte der Subjektivität aus und diese Zerstreuung ist prinzipiellohne Grenze“ (Ptolemäer und Mauretanier, S. 38).

Die Poetik der ‚absoluten Prosa‘ 367

hier im Sinne der avantgardistischen Poetik als Abfolge von Dekompositionund Neuschöpfung beschrieben. Das Programm des Ptolemäers lautet:

Unbestimmbar sich verhalten und Eindrücke der ruhenden Erde gewinnen, dieBestandteile auseinandernehmen und wieder zusammenschließen […]: die Ernied-rigung in die Dinge und dann die Erneuerung nach der Qual des unproportionier-ten Durcheinander in einem Griff, in einem Blick – dazu bedarf es nur einesSchritts in das ptolemäische Gelände.240

Entscheidend an der Metaphorik des Prismas ist, dass die Dinge im Prismanicht allein ‚zersprengt‘241 werden – „paralytische Blicke“, vor denen „dieganze Welt zerfällt“, seien die seinen nicht, sagt der Ptolemäer242 –, sonderndass eine neue, nach formal-ästhetischen Prinzipien organisierte, abstrakteForm entsteht. Es gebe „Standpunkte und Blicke, in denen die Welten sichvereinen“, „Augenblick und Dauer in Einem“ erschienen.243 Der Ptolemäerwird so zur Chiffre für den Artisten, der aus der raum-zeitlichen Wahrneh-mungsordnung heraustritt und ein anderes „Sehen“, einen „Stil“ entwickelt,der nicht gegenständlich-anschaulich ist.244

Hier stellt sich nun die Frage, warum Benn sich in diesem Zusammen-hang gerade auf den Begründer des geozentrischen Weltsystems bezieht.Die Forschung hat seine Anspielung auf den antiken Astronomen Ptole-mäus zumeist als eine polemische Kritik des Autors am Dynamismus deswissenschaftlichen Weltbildes der Neuzeit gedeutet245 und als ein Bekennt-nis zu einer anti-kopernikanischen „Raumwelt“246 bzw. einem räumlich-an-schaulichen Denken in der Tradition Goethes.247 Tatsächlich konnotiertBenn mit dem ptolemäischen Weltsystem in seiner Erzählung – anders alsin einigen Passagen des Goethe-Aufsatzes – aber keine feststehende Subjekt-Objekt-Relation, sondern umgekehrt die Spannung zwischen einem lokalfixierten Betrachterstandpunkt und den auf unterschiedlichen Bahnen umdiesen kreisenden Phänomenen: „ptolemäische Erde und langsam drehende

240 PuA, S. 230. Auf ähnliche Weise, als „eine Osmose des Objekts in den anschauenden Geist“,wurde das schöpferische Denken schon im Goethe-Essay von 1932 beschrieben (EuR,S. 194). Die Figur der Osmose wird dann im Gespräch Drei alte Männer (1949) wieder auf-gegriffen: „[W]issen Sie, was Osmose ist – ? – Daran müssen Sie immer denken! Durch sichhindurchlassen den Dunst der Götter, den Rauch der Pythia, die Emanationen unerahnbarerGestalten, – Materialisationen –: […] Eindrücke von Innen und Außen und dazwischen dieErregung, sie sprachlich zu erfassen. […] Denken, das sich im noch nicht Vorhandenenbewegt, im Imaginären –: Ausdrucksdenken.“ (SuS, S. 107 f.)

241 Vgl. PuA, S. 227.242 PuA, S. 232.243 PuA, S. 233. „Perspektivismus/ist ein anderes Wort für seine Statik“, heißt es in dem

1943/44 entstandenen Gedicht Statische Gedichte über den ‚Weisen‘ (G, S. 323).244 PuA, S. 231.245 Wodtke, Die Antike imWerk Gottfried Benns, S. 143.246 Schröder, Gottfried Benn, S. 183.247 Pauler, Schönheit und Abstraktion, S. 174.

368 Gottfried Benn

Himmel, Ruhe und Farbe der Bronce unter lautlosem Blau.“248 Statt kon-templativer Schau metaphorisiert das ptolemäische Modell hier die bereitsbeschriebene punktuelle Perspektivik – in Doppelleben spricht Benn von„Drehpunktskonstituierungen“249 –, in der Ausdruck erst durch ästhetisch-reflexive Brechung der Gegenständlichkeit entsteht.250 Wenn Benns Ptole-mäer kurz darauf auf ganz unptolemäische Weise äußert: „Ich drehe eineScheibe und werde gedreht“,251 dann verschmilzt die Figur mit der des ‚mitGläsern arbeitenden‘ Prismatikers, und es wird zugleich ein weiterer Aspektder Poetik absoluter Prosa metaphorisiert, nämlich die Einbeziehung deskünstlerischen Subjekts in den Prozess der antinaturalistischen Verwand-lung. Im Bild der doppelten Drehung erscheinen Subjekt und ästhetisch-sinnliche Welt als in einem Prozess wechselseitiger Transformation mit-einander verbunden. Indem der Künstler formalisiert und abstrahiert – unddas heißt auch: in der Verwendung der Zeichen von individuellen psycho-physischen Inhalten abstrahiert –, hat er Teil am Prozess der geistigenSchöpfung und wird dabei selbst in seiner anthropologischen Struktur ver-wandelt.

9. „Phase II des nachantiken Menschen“ 1949/50

Die anthropologische ‚Verwandlung‘ bleibt das zentrale Thema in BennsErzählungen, Essays und Vorträgen der frühen Nachkriegszeit. Wenn erdabei gelegentlich auf biologische Metaphern zurückgreift, so muss diesauch als polemische Abgrenzung gegenüber der die Publizistik dieser Zeitbeherrschenden humanistischen Rhetorik kultureller Erneuerung undihrem idealistischen Geistbegriff verstanden werden. So heißt es beispiels-weise im Ptolemäer:

Wieder war eine solche Stunde da, eine Stunde, in der sich etwas abzog von derErde: der Geist oder die Götter oder das, was menschliches Wesen gewesen war –,es handelte sich nicht mehr um den Verfall des einzelnen Menschen, auch nichteinmal den einer Rasse, eines Kontinents oder einer sozialen Ordnung, einesgeschichtlichen Systems, sondern etwas weit Ausholenderes geschah: die Zukunfts-losigkeit eines ganzen Schöpfungswurfes trat in das allgemeine Gefühl, eineMutation – an ein Erdzeitalter gebunden, an das hominine –, mit einem Wort: dasQuartär ging hintenüber.252

248 PuA, S. 233.249 PuA, S. 471.250 Die konstruktiven Aspekte des ‚ptolemäischen Sehens‘ betonte schon Bodo Bleinagel, Abso-

lute Prosa. Ihre Konzeption und Realisierung bei Gottfried Benn, Bonn 1969 (= Abhandlun-gen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 62), S. 54 f.

251 PuA, S. 233.252 PuA, S. 204.

„Phase II des nachantiken Menschen“ 1949/50 369

Obwohl Benn in der Nachkriegszeit weiterhin die ihm lieb gewordenenLeitmetaphern aus dem Bereich der Geologie und Genetik – insbesonderedie der Mutation – bemüht, ist doch unverkennbar, dass er die Verwand-lung selbst keineswegs als (natur)geschichtlichen oder biologischen Vorgangkonzipiert, sondern als Bewusstseinswandel: als Zusammenbruch undErsetzung eines Denksystems oder ‚Weltbildes‘.253 Wenn der Erzähler imPtolemäer feststellt, das „Dogma […] vom Homo sapiens“ sei „zu Ende“,254

und sich dem Herrn von Ascot „transmundane Perspektiven“ eröffnen,255

dann zielt das auf einen allgemeinen konstruktivistischen Methodenwech-sel, den die unterschiedlichen von Benn zitierten wissenschaftlichen Theo-rien, Spekulationen und Tendenzen gleichermaßen symptomatisch belegenbzw. belegen sollen. Dabei muss man festhalten, dass Benn in seiner ästheti-schen Praxis zwar selbst konstruktivistisch operiert, in seiner Deutung diesesMethodenwechsels jedoch stiltypologisch-geistesgeschichtlich verfährt.256

Denn der anthropologische Wandel wird von ihm als Stilwandel beschrie-ben, und der Stilwandel wird umgekehrt als anthropologischer Wandelgedeutet. Dieses Verfahren bestimmt seine Sicht auf die Dorische Welt glei-chermaßen wie seine Deutung der avantgardistischen Kunst als Ausdruckvon Vergeistigung. Veränderungen des künstlerischen Verfahrens, sei es dieErfindung der Perspektive oder deren Überwindung in der Polyperspektivi-

253 Wer aus der Verwendung von Begriffen wie ‚Quartär‘ oder ‚Mutation‘ automatisch auf ein„biologisch-geologische[s]“ Geschichtsverständnis Benns schließt, wie Marahrens (Ge-schichte und Ästhetik in Gottfried Benns intellektualer Novelle „Der Ptolemäer“, S. 179),verkennt deren metaphorische Funktion in Benns Prosatexten. Tatsächlich dienen alle dieseBegriffe dazu, das – keineswegs biologische – Konzept der geistigen Transformation zuumschreiben. Das gilt genauso für den exponierten Begriff des ‚Phänotyps‘, der von Benn inseinem ‚Roman‘ eben nicht in der von Johannsen festgelegten und von Benn selbst in DerAufbau der Persönlichkeit zugrunde gelegten genetischen Bedeutung – als Bezeichnung fürdie aus dem Zusammenwirken von Genotyp und Umwelteinflüssen resultierende Erschei-nungsform eines Lebewesens – verwandt wird, sondern nun innerhalb einer Polarität vonLeben und Geist die Sphäre abstrakter Formbildung bezeichnet. Mit einem entwicklungs-geschichtlichen Darstellungsmodell operiert Benn nur dann, wenn er die von ihm projek-tierte Verwandlung in spielerisch-polemischer Weise als End- und Zielpunkt der Natur-geschichte präsentiert: „Der menschliche Körper beharrt erstaunlich konsequent innerhalbdieses quartären Erdzeitalters, aber der Geist differenziert sich in immer neuen Ausdrücken,Ausbrüchen, neuen Auswegen seiner selbst, man hat den Eindruck, die ganze Mutations-fähigkeit und Variabilität der Art ist in ihm allein tätig geblieben“ (PuA, S. 155).

254 PuA, S. 204.255 PuA, S. 214.256 Benn orientierte sich, wie auch an Dorische Welt beobachtet werden kann, an der in der

Kunstgeschichte von Wölfflin, Pinder und Worringer entwickelten stiltypologischen Metho-de. In Doppelleben beklagt er, dass die Literaturwissenschaft bzw. die ‚Literaturhistorie‘ fürihre Gegenstände kein adäquates Verfahren entwickelt habe – mit Ausnahme von Taine inFrankreich und von Curtius’ Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), worinan „literarische[n] Stilhaltungen und Ausdrucksabstufungen die genotypische Beharrungs-und die phänotypische Verwandlungszone“ aufgezeigt würde (PuA, S. 457).

370 Gottfried Benn

tät, gehören für ihn „in das Feld der Verwandlungszone“,257 in der der Geistund nicht die Natur des Menschen ‚mutiert‘. Sie sind Ausdruck dieser Ver-wandlung.

Damit argumentiert Benn interessanterweise ähnlich wie einer der ein-flussreichsten konservativen Zeitdiagnostiker der Nachkriegszeit, HansSedlmayr, den man als intellektuellen Antagonisten des von Benn vertrete-nen Avantgardismus ansehen kann. In seiner 1941 geschriebenen und 1948publizierten Epochendeutung Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19.und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit, deren Haupttitel schnell zumSchlagwort für christlich-humanistische Restaurationstendenzen wurde,verwendet Sedlmayr ebenfalls eine – durch Pinder, Spengler und vor allemErnst Jünger inspirierte – stil- und gestalttypologische Methode und bewer-tet dabei gerade die neuen Formen der künstlerischen Moderne als ‚Symp-tome‘ für die krisenhafte Geisteslage der Gegenwart.258 Ebenso wie Benndeutet er die abstrakt-experimentellen Tendenzen in der Kunst – etwa dieAuflösung des „subjektiven Zentrums“ in den Bildern Picassos259 – und inder Wissenschaft – vor allem die „Hochblüte der Wissenschaften vom Leb-losen […]: Physik, Chemie, Astronomie“260 – als Zeichen einer sich in Tie-fenschichten vollziehenden „Verlagerung des Schwergewichts menschlicherExistenz, menschlicher Geistestätigkeit und menschlicher Arbeit“ ins Abs-trakt-Anorganische.261 In diesem Zusammenhang spricht er von „trans-und antihumanistischen Tendenzen“.262 Die entscheidende Differenz zuBenn liegt darin, dass Sedlmayr diese „anthropologische“ „Umwälzung“ alsNihilismus verdammt und als schizophrene „Störung“ pathologisiert.263 Ersieht die abendländische Kultur am Ende ihres ‚vierten Zeitalters‘ angelangt,an dem sie entweder in vollkommene ‚Deshumanisation‘ übergehen oderaber das christlich-humanistische Menschenbild restituieren müsse, um so„Heilung“ zu finden.264 Sedlmayr teilt also Benns Diagnose der anthro-pologischen Lage, leitet aus ihr aber einen fundamentalen Angriff auf denästhetischen ‚Modernismus‘ ab.

Auf diesem Hintergrund müssen die utopisch-konstruktivistischenAkzente verstanden werden, mit denen Benn sein eigenes Programm der‚absoluten Kunst‘ am Ende der vierziger Jahre versieht. Der „Stil der

257 PuA, S. 155 (Roman des Phänotyp).258 Vgl. Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als

Symbol der Zeit, Salzburg 1948, S. 9 f.259 Ebd., S. 152.260 Ebd., S. 148.261 Ebd., S. 159.262 Ebd., S. 153.263 Ebd., S. 161 und 163.264 Ebd., S. 247.

„Phase II des nachantiken Menschen“ 1949/50 371

Zukunft“, so heißt es in einer zuerst für das Rundfunkgespräch mit ThiloKoch im Oktober 1949 verfassten und dann inDoppelleben übernommenenBetrachtung, werde eine „Montagekunst“ sein.265 Man befinde sich in einerPhase, in der die „Bereitschaft zu grundsätzlichen Bauplanänderungen“, zu„konstruktiven Mutationen“ besonders ausgeprägt sei und die deshalb „an-dere Stilprinzipien“ erfordere.266 Da der „bisherige Mensch […] zu Ende“weder biologisch, soziologisch noch theologisch mehr bestimmbar sei,müsse er „neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichworten,sinnlosen Bezügen, […] durch formale Tricks, Wiederholungen von Wor-ten und Motiven“.267 Statt von geistigem Epochenwechsel und neuem‚Zeitalter‘ spricht Benn von einer neuen ‚Phase‘ – nicht der Geschichte, son-dern des anthropologischen ‚Stils‘: „Bezeichnung für diesen Stil, von mirgeprägt: PHASE II – nämlich Phase II des expressionistischen Stils, aberauch Phase II des nachantiken Menschen.“268 Trotz seiner sachlich-tech-nizistischen Terminologie geht Benn mit dieser Formulierung doch weitüber eine Diagnose der künstlerischen und anthropologischen ‚Lage‘ hinausund präsentiert die Montagekunst als Modell für einen anthropologischen‚Umbau‘. Der ‚Verlust der Mitte‘ wird gewissermaßen zum Programm. DerMensch ohne ‚Mitte‘, „ohne moralischen und philosophischen Inhalt, derden Form- und Ausdruckprinzipien lebt“, wird dabei Sedlmayrs – vonBenn als „romantisch“ klassifiziertem – Aufruf zu einer christlich-restaurati-ven ‚Zeitwende‘ entgegengestellt.269

265 PuA, S. 470 (Doppelleben). Das Interview wurde unter dem Titel Phase II im Januar 1950auch imMerkur publiziert.

266 SW VII/1, S. 234 (Rundfunkgespräch mit Thilo Koch).267 PuA, S. 470 f.268 PuA, S. 472. – Gottfried Willems hat das Programm der ‚Phase II‘ als einen gegen die „Ver-

festigungen des Modernismus“ gerichteten Versuch zur „radikalisierenden Erneuerung desursprünglichen Impulses der Moderne“ gedeutet, der große Übereinstimmungen mit derÄsthetik der Postmoderne zeige (Gottfried Willems, Benns Poetik der „Phase II“ und dieProblematik der Postmoderne, in: Horst Albert Glaser [Hg.], Gottfried Benn 1886 bis 1956.Referate des Essener Colloquiums, Frankfurt a.M. u. a. 1989 [Akten internationaler Kon-gresse auf den Gebieten der Ästhetik und der Literaturwissenschaft, Bd. 7], S. 9–28, hierS. 17). Dagegen hat Helmuth Kiesel darauf hingewiesen, dass die Rede von der ‚Phase II‘ inengem Zusammenhang mit Benns Bekenntnis zu einem – „nachexpressionistische[n]“ –Montagestil steht, und sie deshalb als Programm einer „zweite[n] Phase der Moderne“ auf-gefasst, in der die Forciertheit der Avantgarde „reflektiert und gemildert oder gezähmt wur-de“ (Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung imzwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 430 f.). Wenn man die anthropologischen undgnostisch-heilsgeschichtlichen Implikationen von Benns Montagebegriff in den Blicknimmt, fällt allerdings vor allem die Ähnlichkeit mit programmatischen Äußerungen derfrühen Avantgarde auf, so dass die ‚Phase II‘ auch als Versuch zur Fortführung oder Neubele-bung der avantgardistischen Ästhetik verstanden werden kann.

269 EuR, S. 503 (Nietzsche nach 50 Jahren).

372 Gottfried Benn

Die verdeckte Polemik gegen Sedlmayr, die Benn vor allem in den pro-grammatischen Reden Nietzsche nach 50 Jahren (1950) und Probleme derLyrik (1951) führte,270 erhellt die veränderte diskurspolitische Konstella-tion, in der er seine ästhetisch-anthropologischen Reflexionen in der Nach-kriegszeit formulierte. Hatte er das Programm des ‚formalen Absolutismus‘im ‚Dritten Reich‘ gegen eine biologistische Anthropologie verteidigenmüssen, so sah er sich nun mit der Renaissance einer geistesgeschichtlich-idealistischen Anthropologie und dem erneuten Vorwurf des Nihilismuskonfrontiert. Benn reagierte darauf offensiv, indem er sich nach bekanntemMuster zum einen auf die Tradition der artistischen Poetik von Mallarmébis Pound berief und zum anderen auf aktuelle wissenschaftliche Forschun-gen wie Gehlens Theorie der Eindrucksoffenheit und Antriebslosigkeit desMenschen271 – auf Forschungsergebnisse, in denen „vom Verlust der Mitte[…] gar nicht die Rede“ sei, die vielmehr zeigten, dass eine Entwicklung desMenschen nur in Richtung einer „Übersteigerung des Animalischen zuintellektuellen Konstruktionen“ im Sinne von „Ausdruck“ und „Abstrak-tion“möglich sei.272 Gegen die Anfechtungen durch die „theologische Emi-gration“273 bekannte sich Benn damit in der Nachkriegszeit weiterhin als‚Modernist‘ und verteidigte sein – von ‚theologischen‘Akzenten selbst nichtfreies – Programm der Verwandlung als das der Lage einzig angemessene:„Aber der Mensch wird voraussichtlich nicht im Sinne der heutigen Kultur-melancholiker enden, wenn er sich seiner Art gemäß verhält, er verhält sichdann nach schöpferischen Gesetzen, die über der Atombombe und den

270 Die polemische Bezugnahme auf Sedlmayr dient Benn in Probleme der Lyrik als zentrale rhe-torische Argumentationsfigur. Denn dort lässt er den Redner in ein imaginäres Streitgesprächmit einer nicht näher bezeichneten ‚Mitte‘ treten, die ihn und mit ihm die gesamte abstrakteKunst der Degeneration und „Deshumanisation“ anklagt und ihm eine für das „Vierte Zeit-alter“ charakteristische „Erniedrigung des Geistes ins Anorganische“ vorwirft (EuR, S. 525).Der Artist weist diese Anwürfe und Forderungen der ‚Mitte‘ strikt zurück und analysiert sieals Ausdruck von Angst: „wir müssen mit Verlaub diese Mitte ins Auge fassen, die alles soviel besser weiß, alles von früher und alles von morgen, diese sogenannte organische, natürli-che, erdhafte Mitte, Gottes schönste Mitte, […] diese Mitte ist das Abendland, das will sichnicht mehr verteidigen, aber Angst will es haben, geworfen will es sein. Zum Frühstück etwasMidgardschlange und abends eine Schnitte Okeanos, das Unbegrenzte. Keine Angst haben,das ist schon unreligiös und antihumanitär“ (EuR, S. 526).

271 Vgl. EuR, S. 530. Benn bezog sich dabei auf eine sekundäre Quelle, einen Zeitungsartikelüber neuere Theorien vom Ursprung des Menschen (vgl. den Kommenar in SW VI, S. 379),den er in der für ihn typischen Weise zur Konstruktion einer kulturellen Symptomatik ver-arbeitete. Ob er Gehlens Theorie aus eigener Lektüre kannte, ist nicht sicher. Wie eine Notizaus dem Jahr 1941 belegt, hatte er das Erscheinen von Gehlens Hauptwerk Der Mensch(1940) aber schon früh registriert (vgl. SW VII/2, S. 82).

272 EuR, S. 530 f. (Probleme der Lyrik).273 Bense, Ptolemäer und Mauretanier, S. 12. Benn nennt in Doppelleben als exemplarische Fälle

für die „neue große Woge der Frömmigkeit“ in der Literatur die Namen Döblin, Eliot undJünger (PuA, S. 468).

„Phase II des nachantiken Menschen“ 1949/50 373

Klötzen von Uranerz stehen.“274 Aufgrund dieser avantgardistischen Kon-zeption des schöpferischen Geistes wurde Benn in der Nachkriegszeit zurLeitfigur all derjenigen Schriftsteller und Kritiker, die sich für eine abstrakt-experimentelle Literatur einsetzten. Und gleichzeitig nicht nur zum Gegen-spieler konservativer Kulturkritiker, sondern auch zum Opponenten einermetaphysisch gewendeten Anthropozentrismuskritik, wie sie Jünger undNebel vertraten.275

274 EuR, S. 531 (Probleme der Lyrik).275 Dies zeigt sich auch an Nebels Kritik an Benn (siehe hierzu Kap. IV, 7). Dass Jünger sich in

der Nachkriegszeit um eine Annäherung an Benn bemühte, kann nicht über die grundlegen-den intellektuellen und ästhetischen Differenzen zwischen beiden Autoren hinwegtäuschen,die auch daran deutlich werden, dass ihr Briefwechsel nicht über den Austausch von Höflich-keiten hinausging (vgl. Gottfried Benn/Ernst Jünger: Briefwechsel 1949–1956, hg., kom-mentiert und mit einem Nachwort von Holger Hof, Stuttgart 2006). In einem Brief an sei-nen Verleger beklagte sich Benn über „die ewige Zusammenstellung mit Jünger“ inZeitungs- und Zeitschriftenartikeln, die er „ganz verkehrt“ finde (Brief an Max Niedermayervom 12. August 1949, in: Gottfried Benn, Briefe an den Limes Verlag 1948–1956 [= Gott-fried Benn Briefe, Bd. 8], hg. und kommentiert von Marguerite Valerie Schlüter und HolgerHof, mit einem Nachwort von Marguerite Valerie Schlüter, Stuttgart 2006, S. 41–42, hierS. 41).

374 Gottfried Benn

VIII. „Ultrahumanismus“.Die Begründung der Nachkriegsmoderne aus demGeist der Anthropozentrismuskritik um 1950

Mit seiner Behauptung, dass sich in der Gegenwart ein anthropologischerund künstlerischer Stilwandel vollziehe, die er im Rundfunkgespräch mitThilo Koch medienwirksam zur Formel vom ‚Übergang zur Phase II desnachantiken Menschen‘ zuspitzte, stand der Dichter Gottfried Benn um1950 in der jungen Bundesrepublik keineswegs allein. Vielmehr brachte ermit dem ihm eigenen Gespür für geistige Zeitströmungen eine Auffassungzum Ausdruck, die von vielen Intellektuellen und Künstlern geteilt wurde.Dies wird jedoch erst dann deutlich, wenn man Benns Äußerungen in denKontext der umfangreichen kulturdiagnostischen und -prognostischenPublizistik der frühen Nachkriegszeit einordnet.

Am Ende des ersten Kapitels wurde bereits dargestellt, wie die zahl-reichen Zeitdiagnosen, die nach 1945 auf den Buchmarkt gelangten, diedamalige Situation als menschheitsgeschichtliche Epochenschwelle be-schreiben:1 als „Erneuerung des […] Abendlandes“,2 „tiefste[n] Einschnittder Geschichte“ seit der vorchristlichen Achsenzeit,3 „Glaubensringen vonerdgeschichtlichem Ausmaß“,4 „Ende der Neuzeit“5 oder menschheits-geschichtlichen „Umwandlungsprozeß“.6 Die in der Forschung schonmehr-fach beobachtete Parallelität bzw. Kontinuität zwischen den philosophischenZeitdeutungen aus den beiden Krisenzeiten liegt nicht allein in der existen-tiellen Stilisierung der geschichtlichen Umbruchsituation,7 die an derKonjunktur existenzphilosophischer und existentialistischer Metaphern wie

1 Vgl. Kap. I, 7.2 Ernst Naegeli, Vorwort, in: Die neue Weltschau. Internationale Aussprache über den

Anbruch eines neuen aperspektivischen Zeitalters veranstaltet von der Handels-HochschuleSt. Gallen, Stuttgart 1952, S. 6–8, hier S. 6.

3 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München 1949, S. 19.4 Alfred Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie, 2. Aufl., München 1950 (1. Aufl.

1935), S. 475.5 Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, Basel 1950.6 Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart. Erster Band: Die Fundamente der aperspektivischen

Welt. Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung, Stuttgart 1949, S. VII.7 Vgl. beispielsweise Frank Trommler, Emigration und Nachkriegsliteratur. Zum Problem der

geschichtlichen Kontinuität, in: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.), Exil und innereEmigration, Frankfurt a.M. 1972, S. 173–197, bes. S. 174 und 184. Siehe hierzu auch Kap.I, 7.

‚Stunde Null‘, ‚Nullpunkt‘ oder ‚Kahlschlag‘ augenfällig wird,8 sondernauch darin, dass die Krise jeweils als eine primär anthropologische Krise, alsVerwandlung des Menschen selbst konzipiert wird. Die äußeren, politi-schen, ökonomischen und sozialen Umbrüche gelten hier nur als Zeichendes fundamentalen ‚Weltbild-‘‚ Bewusstseins-‘ oder ‚Denkstilwandels‘. Derentscheidende Punkt, an dem sich nicht-konservative und konservative Kri-sendiagnosen dieser Zeit unterscheiden, liegt in der Bewertung dieseranthropologischen Verwandlung. Während konservative Krisendeutungen,wie die Hans Sedlmayrs, den diagnostizierten Transformationsprozess alsdrohende ‚Enthumanisierung‘ und als ‚Nihilismus‘ verdammen und ihmmit der Aufforderung zur Rückkehr zum christlich-humanistischen Men-schenbild und zur Restitution des ‚Abendlandes‘ entgegentreten, wird er inden Analysen, die den Menschen als prinzipiell unbestimmtes Wesen vor-stellen, als Überwindung des Anthropozentrismus begrüßt.9 Gelten Abs-traktion, Funktionalisierung und Technisierung in konservativer Sicht alsFaktoren einer Fremdbestimmung des Menschen, so beschreiben sie dieexistenzialanthropologischen Krisendiagnosen als Sphäre, in der sich dermenschliche Geist realisiert. Viele Beiträger zeigen dabei die auch bei Bennlatent vorhandene Tendenz, die gegenwärtige Situation eschatologisch zustilisieren. So etwa Alfred Weber, wenn er eher besorgt die Heraufkunfteines „vierte[n] Menschen“10 beschwört, oder Jean Gebser, der hoffnungs-voll den Anbruch der „aperspektivischen Welt“11 prognostiziert.

Wie schon in der kulturdiagnostischen Publizistik aus der Zeit um1930 wird die These des anthropologischen Wandels auch jetzt primär mit

8 Vgl. Gerhard Kurz, Nullpunkt, Kahlschlag, tabula rasa. Zum Zusammenhang von Exis-tentialismus und Literatur in der Nachkriegszeit, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hg.),Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag, Bd. 2, Stuttgart 1988,S. 309–332; und Mechtild Rahner, „Tout est neuf ici, tout est à recommencer …“. DieRezeption des französischen Existentialismus im kulturellen Feld Westdeutschlands(1945–1949), Würzburg 1993 (= Epistemata-Philosophie, Bd. 142), S. 108–116.

9 Die Differenz der Bewertungen ist dabei nicht identisch mit der soziologischen Differenzzwischen der älteren und jüngeren Generation, wie Mechtild Rahner meint. Rahner vertrittdie These, dass die junge Nachkriegsgeneration, die sie vor allem durch Alfred Anderschrepräsentiert sieht, mit Begriffen wie ‚Nullpunkt‘ oder ‚schöpferischer Nihilismus‘ die posi-tive Vorstellung eines gesellschaftlich-politischen und literarischen Neuanfangs verband,während die ältere Generation, zu der sie u. a. Jaspers rechnet, diese von einer humanisti-schen Position aus kritisierte (vgl. Rahner, „Tout est neuf ici, tout est à recommencer …“,S. 236 und 241–250). Tatsächlich lässt sich aber weder Anderschs durch die positive Auf-nahme des französischen Existentialismus geprägte Position für alle jüngeren Nachkriegs-autoren verallgemeinern, noch ist die ‚ältere Generation‘ insgesamt mit einer konservativenNihilismuskritik zu identifizieren. Denn die existenzphilosophisch geprägte Nihilismuskri-tik, wie sie Jaspers und andere Autoren um 1930 ganz ähnlich wie um 1950 formulierten(vgl. ebd., S. 235–241), war keineswegs mit einer Orientierung an traditionalistischen undhumanistischen Konzepten verknüpft.

10 Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie, S. 446.11 Gebser, Ursprung und Gegenwart, Bd. 1, S. 8.

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dem wissenschaftlichen Grundlagenwandel in der ersten Hälfte des zwan-zigsten Jahrhunderts begründet, der in der Sicht der Autoren eine metho-dische Annäherung von Natur- und Geisteswissenschaften mit sich gebrachtund so die Voraussetzung für eine ‚ganzheitliche‘ Weltsicht geschaffen hat.Auf die Kontinuitäten und spezifischen Veränderungen dieser Sichtweisewurde bereits im ersten Kapitel eingegangen. Dort wurde auch auf diebesondere Stellung von Jean Gebsers Buch Ursprung und Gegenwart(1949/1953) hingewiesen. Darin entwickelt der schweizerische Kulturphi-losoph eine vergleichende Gesamtbetrachtung der wissenschaftlichen undkünstlerischen Zeittendenzen, die in allen Feldern dieselbe strukturelle Ver-änderung der ‚Bewusstseins-‘ und ‚Denkform‘ vom perspektivischen zum‚aperspektivischen‘ bzw. ‚ganzheitlichen‘ Bewusstsein nachweist. Ganz ähn-lich wie die Benns – der den ersten Band von Gebsers Werk kurz nachErscheinen zur Kenntnis nahm12 – ist Gebsers Konzeption des Bewusst-seinswandels dabei insbesondere am Paradigma der modernen Physik aus-gerichtet: Bewusstsein wird von ihm als ‚Dimension‘ bestimmt und die‚aperspektivische‘ Bewusstseinsform als ‚vierdimensional‘ charakterisiert, alsÜberwindung der raum-zeitlichen ‚Vorstellung‘, mithin als nicht-anschauli-ches Denken.13 In ähnlicher Weise hatten ja schon Physiker wie Planck undHeisenberg in ihren an ein breites Publikum gerichteten Vorträgen undAufsätzen die Aufgabe der Anschaulichkeit in der modernen Physik alsBeginn eines alle Gebiete des Wissens betreffenden Wandels der „Denk-form“ beschrieben.14 Ebenso wie Benn bezieht sich Gebser zugleich aberauch auf den künstlerischen Durchbruch in die ‚vierte Dimension‘ in derantinaturalistischen Kunst der Avantgarde, vor allem in den späten Bildernvon Braque und Picasso.15

12 Vgl. die entsprechende Notiz Benns aus dem Jahr 1949, in: Gottfried Benn, Sämtliche Wer-ke. Stuttgarter Ausgabe, in Verbindung mit Ilse Benn hg. von Gerhard Schuster und HolgerHof, Stuttgart 1986–2003, Bd. VII/2, S. 243.

13 Gebser betont, „daß die aperspektivische Welt nicht »vorgestellt« werden kann“, dass sie„über unsere Vorstellung hinaus“ geht und nur als „diaphane“ wahrnehmbar ist (Gebser,Ursprung und Gegenwart, Bd. 1, S. 427 und 429). Im zweiten Band geht er dann ausführ-lich auf die durch die nicht-euklidische Geometrie, die Relativitätstheorie und die Quanten-theorie verursachten Veränderungen des physikalischen Weltbildes und die Theorie der ‚vier-ten Dimension‘ ein. Vgl. Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart. Zweiter Band: DieManifestationen der aperspektivischen Welt. Versuch einer Konkretion des Geistigen, Stutt-gart 1953, S. 145–167. Die Grundthese eines von der Entdeckung der ‚vierten Dimension‘in der Physik ausgehenden Bewusstseinswandels hatte Gebser schon 1943 formuliert. Vgl.Jean Gebser, Abendländische Wandlung. Abriß der Ergebnisse moderner Forschung in Phy-sik, Biologie und Psychologie. Ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft, neue, erweiterteund illustrierte Ausgabe, Zürich 1945 (Erstveröffentlichung 1943), bes. S. 30 f.

14 Werner Heisenberg, Die Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes (1941), in: ders.,Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft. Sechs Vorträge, 3., erweiterte Aufl.,Leipzig 1942 (1. Aufl. 1935), S. 77–95, hier S. 83. Siehe hierzu auch Kap. II, 2.

15 Vgl. Gebser, Ursprung und Gegenwart, Bd. 1, S. 50.

„Ultrahumanismus“ 377

Diese Konzeption eines Bewusstseins- und Denkformwandels – in derbeschreibende und programmatische Aussagen kaum voneinander zu unter-scheiden sind – kam durch ihre synthetisierende, alle Wissensbereiche aufeine gemeinsame Ebene fundamentaler Bewusstseinsvorgänge beziehendeAusrichtung zum einen dem Wunsch nach einer Gesamtschau von Natur-und Geisteswissenschaft entgegen. Und sie stellte zum anderen ein Modellbereit, mittels dessen sich neuere antinaturalistische Tendenzen von Kunstund Literatur dem Gesamtbild einer antimaterialistischen und antiidealisti-schen Epochenwende in der Geschichte der Moderne einordnen und solegitimieren ließen. Wie verbreitet das Bedürfnis nach einer Synthetisierungwissenschaftlichen Wissens in der Nachkriegszeit war und wie stark dieThese des Denkformwandels die öffentliche Diskussion in dieser Zeitbestimmte, zeigt eine ganze Reihe viel beachteter wissenschaftlich-künstleri-scher Veranstaltungsreihen: vor allem die zwischen 1950 und 1952 ver-anstalteten St. Gallener Vortragszyklen über ‚Die neue Weltschau‘, die ab1950 regelmäßig stattfindenden ‚Darmstädter Gespräche‘ und die Münche-ner Vortragsreihe ‚Die Künste im technischen Zeitalter‘ von 1953, die Ver-treter verschiedenster Fachrichtungen mit der Frage nach der neuen ‚anthro-pologischen Perspektive‘ miteinander ins Gespräch brachten.16 Bei derMünchner Veranstaltung trafen beispielsweise Guardini und Heisenberg –am Rande auch Heisenberg und Ernst Jünger – zusammen und stimmtendabei in der Forderung nach einer ‚neuen Ordnung‘ im Verhältnis vonGeist und Natur überein.17

Direkt durch die Thesen Gebsers angeregt war die St. Gallener ‚Aus-sprache über den Anbruch eines neuen aperspektivischen Zeitalters‘, dieprominente Vertreter der Physik, Biologie, Psychologie, Philosophie,Kunstgeschichte und anderer Disziplinen zusammenbrachte, die sich inihren Vorträgen alle bemühten, den von Gebser behaupteten Wandel der„Denk- und Realisationsweisen“18 jeweils in ihren Fachgebieten aufzuzei-gen. So stellte Arthur March in seinem Beitrag noch einmal die Abstrak-tionstendenz der modernen Mathematik und Physik vor, die das „Wesender Dinge“ nicht mehr im Gegenständlichen, sondern in der „Struktur“suche, und analogisierte diese innerwissenschaftliche Entwicklung explizit

16 Elisabeth Emter hat diese Debatte in Hinblick auf die Rezeption der modernen Physikrekonstruiert; vgl. Elisabeth Emter, Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption dermodernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren(1925–1970), Berlin/New York 1995 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kul-turgeschichte, Bd. 2), S. 180–194.

17 Vgl. Romano Guardini, Die Situation des Menschen, in: Die Künste im technischen Zeit-alter. Dritte Folge des Jahrbuchs Gestalt und Gedanke, hg. von der Bayerischen Akademieder schönen Künste, München 1954, S. 15–42; und Werner Heisenberg, Das Naturbild derheutigen Physik, in: Die Künste im technischen Zeitalter, S. 43–69.

18 Jean Gebser, Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht, in: Die neue Weltschau,S. 250–271, hier S. 250.

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mit der Kunstentwicklung der letzten Jahrzehnte.19 Dem korrespondierteder Beitrag von Gustav Friedrich Hartlaub, der die nicht-gegenständlicheTendenz in der bildenden Kunst und den Funktionalismus der modernenArchitektur als Parallelentwicklung zur Überwindung des deterministischenDenkens in Physik, Biologie, Medizin und Philosophie darstellte.20 AdolfPortmann zeichnete die Abkehr von Vitalismus und Mechanismus in derMolekularbiologie nach, die die Biologie der Physik annähere und von der„Einsicht in die Transzendenz“ des Lebendigen getragen sei, und setzte diesmit den neuen Erkenntnissen der Verhaltensforschung in Beziehung.21 Ale-xander Mitscherlich bestätigte diese Verbindung, indem er den medizi-nisch-psychologischen „Wandel des Menschenbildes“ skizzierte, der dazugeführt habe, dass man Leibliches und Seelisches nicht mehr kausal verbun-den sehe.22 Und Max Bense beschrieb den Weg des abendländischen Den-kens als „Prozeß des beständigen Abbaus der Natur“ und des „bildhaftenGeistes“ und bezeichnete es als Aufgabe einer künftigen „philosophischenAnthropologie“, die abstrakt-technische ‚Existenz‘ des modernen Menschen„seinsmäßig zu rechtfertigen“.23

Der Kunst kam in diesem Krisen- und Transformationsdiskurs insofernein besonderer Stellenwert zu, als gerade sie beweisen sollte, dass es sich beider behaupteten Veränderung um mehr als nur einen wissenschaftlichenParadigmenwechsel handelte. Künstlerische Werke und Tendenzen wurdenals Symptome des allgemeinen Bewusstseinswandels behandelt, also miteiner zukunftsweisenden Bedeutung versehen. So stellte Emil Preetoriusdie Betrachtung der ‚Künste im technischen Zeitalter‘ in seiner Eröffnungs-rede zur gleichnamigen Vortragsreihe unter die Leitfrage, ob es „einegeheime Konkordanz von äußerem und innerem Geschehen, vom Wandelder Welt und dem Wandel der menschlichen Bewußtseinslage“ gebe.24

Dabei rückte insbesondere die in dieser Zeit heftig umstrittene nicht-ge-genständliche Malerei in den Brennpunkt des Interesses, an der die – jenach Standpunkt als ‚Enthumanisierung‘ perhorreszierte oder als ‚Aper-spektivität‘ affirmierte – Bewusstseinsveränderung besonders deutlich her-vorzutreten schien. Der Streit um die im engeren Sinn moderne Kunst war

19 Arthur March, Die Neuorientierung der Physik, in: Die neue Weltschau, S. 32–51, hierS. 51.

20 Vgl. G[ustav] F[riedrich] Hartlaub, Abstraktion und Invention oder Der Umbruch in denbildenden Künsten seit 100 Jahren, in: Die neue Weltschau, S. 181–249.

21 A[dolf ] Portmann, Die Wandlungen im biologischen Denken, in: Die neue Weltschau,S. 73–93, hier S. 92.

22 Alexander Mitscherlich, Die Wandlung des Leib-Seele-Problems in der modernen Medizin,in: Die neue Weltschau, S. 94–118, hier S. 94.

23 Max Bense, Philosophie im Zeitalter der Technik, in: Die neue Weltschau, S. 119–144, hierS. 140 und 142.

24 Emil Preetorius, Eröffnung der Vortragsreihe, in: Die Künste im technischen Zeitalter,S. 11–14, hier S. 13.

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so von vornherein untrennbar mit der weltanschaulichen, kulturphiloso-phischen und anthropologischen Debatte um die Zukunft ‚des Menschen‘verknüpft. Dies wird auch an der Konzeption des ersten ‚DarmstädterGesprächs‘ von 1950 zum Thema ‚Das Menschenbild in unserer Zeit‘deutlich, bei dem die Hauptvorträge der beiden (unterschiedliche Parteienrepräsentierenden) Kunstwissenschaftler Johannes Itten und HansSedlmayr über Möglichkeiten und Gefahren der modernen Kunst durcheine Reihe von Referaten prominenter Fachgelehrter flankiert wurden, diedas Menschenbild in der gegenwärtigen Theologie, Soziologie, Medizin,Biologie und Philosophie skizzierten.25 Bei dieser Veranstaltung ging esalso weniger um die veränderte Darstellung des Menschen in der Kunst alsvielmehr um die Denk- und Wahrnehmungsweise, die in den Darstellungs-prinzipien der modernen Kunst zum Ausdruck gelangte. Es ging, andersgesagt, um eine anthropologische Betrachtung der Kunst.

Die Art und Weise, wie der Zusammenhang zwischen künstlerischemFormwandel und anthropologischem Wandel in den Vorträgen des ‚Darm-städter Gesprächs‘ und auch in anderen Reden und Aufsätzen hergestelltwird, ist im Einzelnen recht verschieden und unter den Diskursteilnehmernauch umstritten. Fast immer wird jedoch auf die Veränderung des Subjet-Objekt-Verhältnisses und die Entwertung der sinnlich wahrnehmbarenWelt hingewiesen. Von einem „fundamentale[n] Wandel des menschlichenWeltverhältnisses“ spricht beispielsweise Wolfgang de Boer in seinem als‚anthropologische Untersuchung‘ deklarierten Aufsatz Zur Entsinnlichungder modernen Kunst (1953) im Merkur.26 Die mit der Neuzeit einsetzendewissenschaftlich-technische Naturbetrachtung mit ihrer Entsinnlichung deräußeren Welt habe, so heißt es dort, schließlich zu einer radikalen Ablösungder menschlichen „Innerlichkeit“ von der äußeren Natur geführt, und diemoderne Kunst habe auf diese Erfahrung notwendigerweise mit der Abwen-dung von der „Erscheinungswelt“ bzw. vom Prinzip der Naturnachahmungreagiert.27 Die „moderne Geistigkeit“ sei „durch eine auffallende, radikaleEmanzipation von der natürlichen Sinnenwelt des Menschen“ gekennzeich-net.28 Künstlerische Abstraktion wird von de Boer dabei als Entwicklungeines die „Raumkörperwelt“ des „natürliche[n]“ Sehens überwindenden„reinen“ Sehens erklärt, als Emanzipation des Augensinns.29 Ebenso wie

25 Vgl. Das Menschenbild in unserer Zeit, hg. im Auftrag des Magistrats der Stadt Darmstadtund des Komitees Darmstädter Gespräch 1950 von Hans Gerhard Evers, Darmstadt o. J.[1951].

26 Wolfgang de Boer, Zur Entsinnlichung der modernen Kunst. Eine anthropologische Unter-suchung, in: Merkur 7 (1953), S. 24–38, hier S. 25.

27 Ebd., S. 24.28 Ebd., S. 28.29 Ebd., S. 32.

380 „Ultrahumanismus“

G. F. Hartlaub, Willi Baumeister und andere Verfechter der modernenKunst deutet er die Entwicklung der abstrakten Formensprache als Rück-gewinnung schöpferischer Ausdruckskraft und Freiheit und zugleich auchals Prozess mystischer Weltverneinung und Vergeistigung. Die anthropolo-gische Dimension dieses Vorgangs liegt für ihn in der Abtrennung der ‚See-le‘ bzw. der ‚Innerlichkeit‘ von der Sinnenwelt.

Der bei de Boer angedeutete anthropologisch bedeutsame Zusammen-hang von Abstraktion und Vergeistigung wird in einem Aufsatz des Kunst-theoretikers Kurt Leonhard über Das Ungenügen am Menschen in der neue-ren Kunst (1951) weiter expliziert. Auch Leonhard erklärt die Entstehungder abstrakten bzw. „absolute[n]“ Malerei als Befreiung des Sehens von derraum-zeitlichen Gegenstandskonstitution durch die Konzentration auf die„reinen Elemente des Sichtbaren“.30 Zugleich damit habe sich das Weltver-hältnis grundlegend gewandelt, hin zu einer „Einheit von Geist und Stoff“,zur „Vertauschbarkeit von Objekt und Subjekt“.31 In diesem Zusammen-hang rekurriert Leonhard unter anderem auf die moderne Physik, die ihreHypothesen durch abstrakte Berechnungen bilde und erkannt habe, dass„jede objektive Erfahrung […] subjektbedingt“ sei.32 Wie viele andereÄsthetiker deutet er die moderne Physik dabei aber eher im Lichte der Pro-grammatik der ‚absoluten Kunst‘, als dass er die moderne Kunst physika-lisch erklärte.33 Denn er charakterisiert die neue ‚Realitätsvorstellung‘ – mitähnlichen Worten wie Benn – als einen nicht-mimetischen Ausdrucksvor-gang: als „Versichtbarung des Unsichtbaren durch Projektion auf die magi-sche Fläche des Bildes“, die in reinster Form an den Bildern Paul Klees zubeobachten sei.34 Die entscheidende Differenz zum alten, anthropozentri-schen Humanismus liegt seiner Meinung nach darin, dass – in der Kunstebenso wie in der Wissenschaft – die Natur nicht mehr ‚vermenschlicht‘,sondern umgekehrt das gesamte „tödlich teilnahmslose Universum“ zum

30 Kurt Leonhard, Das Ungenügen am Menschen in der neueren Kunst, in: Die Neue Rund-schau 62 (1951), S. 129–142, hier S. 133.

31 Ebd., S. 135.32 Ebd., S. 139. Leonhard beobachtet diesen Wandel der „Realitätsvorstellung“ (S. 135) ebenso

in der neueren Philosophie: in der Phänomenologie von Husserl, der Existenz-Analyse vonJaspers und Heidegger und der Ausdruckslehre von Klages.

33 Diese in der Kunstkritik verbreitete ‚naive‘ Verknüpfung von physikalischer und künstleri-scher Abstraktion wird kurz darauf von Felix Noeggerath kritisiert; vgl. Felix Noeggerath,Über das Unzeitgemäße der abstrakten Kunst, in: Merkur 5 (1951), S. 1005–1019 hierS. 1010.: „Nun ist neuerdings die Diskussion über die abstrakte Kunst dadurch in ein etwasbeunruhigendes Fahrwasser geraten, daß ihre Befürworter sich auf die Entwicklung gewisserZweige der Naturwissenschaft, insbesondere der Atomphysik berufen […]. Leider hat mannicht immer den Eindruck, als dürfe sich die Diskussion auf genaue Sachkenntnis in Dingender physikalischen Forschung oder auch nur auf eine unbedingt zuverlässige erkenntnistheo-retische Orientierung berufen.“

34 Leonhard, Das Ungenügen des Menschen in der neueren Kunst, S. 141.

„Ultrahumanismus“ 381

Medium „des »entmenschlichten« Geistes“ werde.35 Leonhard bezeichnetdiese Position unter Vermeidung des negativ besetzten Begriffs der Enthu-manisierung als „Ultrahumanismus“.36 Und auch er stellt die Theorie derkünstlerischen (und wissenschaftlichen) Abstraktion in den Kontext desLeben-Geist-Dualismus, indem er die Entwertung der sinnlich wahrgenom-menen bzw. raum-zeitlich vorgestellten Welt als sukzessive Emanzipationdes Geistes beschreibt. In dem Maße, in dem der „Glaube“ an die biologi-sche und intellektuelle „Vorzugsstellung des Geschöpfes Mensch“ verlorengegangen sei, sei umgekehrt „die Würde des menschlichen Geistes gestie-gen“.37 In dieser ‚Erlebnispolarität‘ von Geist und Leben erkennt Leonharddie gemeinsame Signatur der modernen Wissenschaft und Kunst undzugleich die Voraussetzung für die Wiedergewinnung einer metaphysischenGrunderfahrung in der Moderne:

Damit scheint die Spannung zwischen dem biologischen Lebewesen Mensch unddem menschlichen Geist größer geworden als je, und diese Spannung trägt unserheutiges Lebensgefühl, so wie das Lebensgefühl des mittelalterlichen Menschenvom Leib-Seele-Dualismus getragen wurde, der aber wohlgemerkt etwas ganzanderes war. (Für uns gehören auch die Sinneswahrnehmungen und die Körper-erlebnisse zu der „unmittelbaren Wirklichkeit des Geistes“ –, denn es sind Empfin-dungen; und andererseits gehört die persönliche Seele, ja das ganze liebe individu-elle Ich, durchaus zum biologischen Lebewesen Mensch.) Diese Erlebnispolaritätkehrt auch in den scheinbar so gegensätzlichen Aussagen der heutigen Literaturimmer und immer wieder […]: von Rilke bis Valéry, von Jünger bis Benn, von Sar-tre bis Camus, von Proust bis Joyce, von Kafka bis Eliot.38

35 Ebd. – Eine ähnliche Auffassung formuliert auch Alfred Weber, der in der abstrakten Kunstnicht allein eine „Bejahung der technischen Welt“ erblickt, sondern zugleich auch einen„Durchstoß zu etwas Menschlich-Seelischem in deren Rahmen, gewissermaßen in ihremGitterwert, also ganz das Gegenteil von Enthumanisierung, vielmehr Projizierung desMenschlichen in die durchtechnisierte Welt“ (Alfred Weber, Der dritte oder der vierte Mensch.Vom Sinn des geschichtlichen Daseins, München 1953, S. 210 [Hervorhebung im Text]).

36 Leonhard, Das Ungenügen des Menschen in der neueren Kunst, S. 141.37 Ebd., S. 139. – Diese Akzentuierung des Leben-Geist-Dualismus steht nicht im Wider-

spruch zu einer ‚ganzheitlichen‘ Betrachtung des Menschen, die eine enge Verflechtung leib-licher und seelischer Vorgänge annimmt. Tatsächlich stimmt Leonhards Auffassung insofernmit der Sicht der ganzheitlichen Medizin und Psychologie überein, als der psychisch-physi-sche Komplex von ihm nicht dem ‚Leben‘ zugeschlagen, sondern als Spannungsfeld vonLeben und Geist konzipiert wird. Den ganzheitlichen Ansatz in Psychologie und Medizinvertreten in dieser Zeit insbesondere Alexander Mitscherlich und Victor von Weizsäcker. Sowiderlegt in der Sicht Mitscherlichs die neue Erkenntnis, dass Leibliches und Seelisches inkeinem kausalen Verhältnis zueinander stehen, die Vorstellung vom Menschen als „biologi-sche Maschine“: „Ein Monismus als Grundkonzeption zum Verständnis des Menschen reichtnicht aus, weder ein spiritueller, geschöpflicher, noch ein materialistischer, entwicklungskau-saler. Der Mensch ist mehr – nicht weniger. Es geht der Leib als etwas Eigenes mit der Seeleals etwas überall Gegenwärtigem um.“ (Mitscherlich, Die Wandlung des Leib-Seele-Pro-blems in der modernen Medizin, S. 117)

38 Leonhard, Das Ungenügen des Menschen in der neueren Kunst, S. 140.

382 „Ultrahumanismus“

Das Ende des Zitats macht klar, dass die Diagnose der Überwindung desAnthropozentrismus in der Kunst die Literatur einschließt. In den einschlä-gigen Vortragsreihen und Sammelbänden wird zumeist auch einem Literar-historiker oder Literaturkritiker Platz eingeräumt, der dann die Literatur-entwicklung derselben symptomatischen Betrachtung unterzieht, wie esandere Autoren mit der modernen Malerei oder bestimmten Naturwissen-schaften tun. Auch einige wichtige literarisch-kulturelle Zeitschriften, anerster Stelle die Neue Rundschau und der Merkur, bemühen sich in dieserZeit darum, die neuesten Tendenzen in der modernen Naturwissenschaft,Philosophie, Kunst und Literatur als parallele Phänomene eines fundamen-talen Transformationsprozesses vorzustellen.

Allerdings fällt den Beteiligten die Einordnung der Literatur in diesenZusammenhang nicht leicht. Das liegt zum einen daran, dass sich die amParadigma der nicht-gegenständlichen Malerei ausgerichtete Kunstphiloso-phie nicht ohne weiteres auf die Literatur übertragen lässt. Und zum ande-ren fehlt es in dieser Zeit, von Benn abgesehen, noch an programmatischenStellungnahmen von Autoren oder literarischen Gruppen, auf die man sichberufen könnte. Dies führt dazu, dass die Aussagen in den einschlägigenliteraturkritischen Essays zumeist recht vage bleiben, sowohl was die Nen-nung bestimmter Autoren als auch was die Beschreibung bestimmter ästhe-tischer Phänomene betrifft. Häufig beschränkt man sich auf eine oberfläch-liche Analogisierung von allgemeinen Formprinzipien moderner Literaturmit der ‚Entgegenständlichung‘ in der modernen Physik. So wie Erich Kah-ler, der von einer die gesamte moderne Literatur von Mallarmé bis zu Brochund Sartre kennzeichnenden Tendenz zur „Zerarbeitung, Zersetzung dertäglichen Weltoberfläche, zu einer Entorganisation, Disintegrierung dergeläufigen Realität“ spricht und als Beispiele dafür unter anderem die „Kol-lektivierung“ und Typisierung in der modernen Dramatik, die Technik der„Montage“ im modernen Roman und die Präferenz für parabolische Erzähl-weisen bei Autoren wie Kafka und Ernst Jünger anführt.39

Andere Publizisten bemühen sich um eine genauere Applikation derTheorie des Denkformwandels, indem sie literarische Texte unter demAspekt ‚perspektivischer‘ oder ‚aperspektivischer‘ Darstellung analysierenund die Frage nach der Gegenständlichkeit bzw. Abstraktion dabei auf dieEbene narrativer und psychologischer Konstruktionen beziehen. Auf dieseWeise wendet etwa Gebser seine phänomenologische Denkformanalyse imzweiten Band von Ursprung und Gegenwart auch auf die Literatur an. Alsliterarische Manifestation von ‚Aperspektivität‘ bewertet er dort insbeson-

39 Erich Kahler, Untergang und Übergang der epischen Kunstform, in: Die Neue Rundschau(1953), S. 1–44, hier S. 16, 5 und 32. – Zur Bedeutung Kafkas für die Legitimation parabo-lischer Schreibweisen in der Nachkriegszeit siehe auch Frank Trommler, Realismus in derProsa, in: Thomas Koebner (Hg.), Tendenzen der deutschen Literatur seit 1945, Stuttgart1971, S. 179–275, bes. S. 226 f.

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dere die Entreferenzialisierung in der modernen Lyrik, die das einzelneWort absolut setze,40 während der moderne Roman von Proust, Joyce,Musil oder Woolf in seinen Augen zwar die Zeit problematisiert und dielineare Struktur des Entwicklungsromans überwindet, dabei aber dochnoch raum-zeitlicher Vorstellung verpflichtet bleibt.41 „Raumzeitfreie Rea-lisation“ in der Literatur ist für Gebser allein durch eine „grammatischeNeustrukturierung“ möglich, wobei er die Grammatik als literarischesÄquivalent der grundlegenden ‚Bewusstseinsstruktur‘ behandelt.42 Der lite-rarische Denkformwandel wird von ihm so zwar unausgesprochen, dochdeutlich erkennbar mit der Poetik ‚absoluter Dichtung‘ identifiziert.43 Wiegesehen, macht Benn, auf dessen Vortrag Probleme der Lyrik sich Gebserunter anderem bezieht,44 den Übergang zur ‚Phase II des nachantiken Men-schen‘ in der Nachkriegszeit in ähnlicher Weise an der Zerstörung konven-tioneller grammatischer und semantischer Zusammenhänge fest.

Diese engere und zugleich auch programmatischere Konzeption einersich analog zum wissenschaftlichen Denkformwandel vollziehenden Trans-formation literarischer Schreibweisen vertreten auch andere Essayisten undKritiker. Am weitesten ausgearbeitet und theoretisch fundiert, im Diskussi-onszusammenhang der Nachkriegszeit allerdings auch etwas isoliert, ist diePosition Max Benses, der einzige Publizist, der als Grenzgänger zwischenden verschiedenen Kulturen mit vergleichbarer Kompetenz über moderneMathematik, Naturwissenschaft, Philosophie und Ästhetik zu schreibenvermag. Auch Bense konstatiert eine alle Wissensbereiche betreffende Ver-änderung der menschlichen ‚Rationalität‘ und schließt dabei unmittelbar anseine philosophische Publizistik aus den dreißiger und vierziger Jahren,etwa seine Schrift Aufstand des Geistes (1935), an.45 So konstatiert er, das„naturwissenschaftliche Weltbild“ habe sich zu einem unanschaulichen,nicht-kausalen „artistische[n] Weltbild“ gewandelt.46 Als Paradigma dieserVerwandlung gelten ihm im Bereich der Naturwissenschaften die modernePhysik und Mathematik, in der die „Modelle“ der „Mechanik“ durch eine

40 „Eine […] einzigartige, weltbild-verändernde Leistung, vollzogen an dem menschlichstenund wichtigsten Ausdrucksmittel, der Sprache, vollzogen also an der Grundlage und demge-mäß von grundlegender Bedeutung und Wirkung: das Wort befreit von seiner Raum-Zeit-Gebundenheit, das Raumzeitliche diphanierend – die Geburt der aperspektivischen Sprache,die der neuen Bewußtseins-Struktur Ausdruck zu verleihen vermag.“ (Gebser, Ursprung undGegenwart, Bd. 2, S. 347)

41 Vgl. ebd., S. 353.42 Ebd., S. 360.43 Gebser greift dabei auf literaturwissenschaftliche Arbeiten aus den dreißiger und vierziger

Jahren von Werner Günther, Reto R. Bezzola, Hans-Egon Holthusen und Emil Staigerzurück.

44 Vgl. Gebser, Ursprung und Gegenwart, Bd. 2, S. 363.45 Vgl. dazu Kap. II, 2.46 Max Bense, Über die spirituelle Reinheit der Technik, in: Merkur 3 (1949), S. 767–780,

hier S. 770. Bense übernimmt den Begriff der Artistik von Benn.

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„bildlose Symbolik höchster Abstraktion“ ersetzt worden seien.47 Das his-torische Paradigma literarischer Artistik bildet für ihn dagegen der Expres-sionismus. Im Anschluss an Benns poetologische Reflexionen beschreibt erdas Verfahren der expressionistischen Prosa, die den „Zusammenhang zwi-schen Subjekt und Prädikat“ ebenso wie den „der Sätze unter sich“ nichtlogisch, sondern „assoziativ“ regle, als eine Technik der Denaturierung,durch die sich das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt fundamentalverändere.48 An die Stelle des abgebildeten „natürliche[n] Gegenstand[s]“trete der evozierte „surreale Gegenstand“, der „einerseits unserer Innenwelt,andererseits unserer Außenwelt angehört“.49 In seinem großen Essay Ptole-mäer und Mauretanier (1950) stellt er dann auch die Entwicklung desmodernen Romans in den Kontext einer „Theorie des allgemeinen Objekt-zerfalls“:50 Ebenso wie die Logik, Mathematik, Physik, Malerei und Musikhabe auch der moderne Roman „kein angebbares adäquates Objekt mehr“und ersetze das epische Erzählen durch ein „Gemisch von Experimenten,Diagnosen, Reflexionen, Konfessionen, Repräsentationen und Repliken“.51

Ein anderer einflussreicher Literaturkritiker, der den Denkformwandelebenfalls an der ‚Perspektivik‘ der modernen Literatur aufzuzeigen suchtund dabei wiederholt Parallelen zur Grundlagenkrise in den Naturwissen-schaften herstellt, ist Hans Egon Holthusen. Wie in der modernen Physik,schreibt er 1949 imMerkur, so lasse sich auch bei vielen modernen Autorenein „Durchbrechen und Überschreiten der überkommenen und für unserGefühl naiven Bewußtseinsordnung“ beobachten.52 Und in einem Beitrag

47 Ebd., S. 774.48 Max Bense, Über expressionistische Prosa, in: Merkur 3 (1949), S. 197–199, hier S. 197. –

Benses Essays zur Literatur sind in ihrem theoretischen Ansatz der Zeichentheorie und inihrer kunstprogrammatischen Ausrichtung der experimentellen Ästhetik verpflichtet.

49 Ebd., S. 198. – Hier unterscheidet Bense die ‚expressionistische‘ Prosa, welche die Relationzwischen Künstler und Objekt ausdrücke, von der ‚existentiellen‘ Prosa, welche die Existenzselbst wiedergebe. Benn, der Benses Aufsatz mit großem Interesse las, konnte diese Differen-zierung zwischen expressionistischer und existentieller Sprache übrigens nicht nachvollzie-hen: „Diese beiden würde ich für nahezu identisch halten“ (Brief an Hans Paeschke vom19. März 1949, in: Gottfried Benn, Ausgewählte Briefe, mit einem Nachwort von MaxRychner, Wiesbaden 1957, S. 144). An anderer Stelle hat Bense die existentielle Prosa als„Aussage aus Chiffren“ bestimmt, die durch Mehrdeutigkeit und Sinnbildhaftigkeit gekenn-zeichnet sei (vgl. Max Bense, Über existentielle Prosa, in: Die Sammlung 3 [1948],S. 676–680, hier S. 678).

50 Max Bense, Ptolemäer und Mauretanier oder die theologische Emigration der deutschenLiteratur, Köln/Berlin 1950, S. 17.

51 Ebd., S. 17 f. – Aus diesem Grund gilt Bense der Essay, der formal nicht „von den Gegen-ständen seines Inhalts“ abhänge, vielmehr „ein Ergebnis der Kombination, der Konturenund Kontraste dieser Gegenstände“ sei, als die eigentliche Prosaform der Moderne; vgl. MaxBense, Der Essay und seine Prosa, in: ders., Plakatwelt. Vier Essays, Stuttgart 1952,S. 23–37, hier S. 29.

52 Hans Egon Holthusen, Die Bewußtseinslage der modernen Literatur, in: Merkur 3 (1949),S. 537–553 und S. 680–689, hier S. 539 f.

„Ultrahumanismus“ 385

im Rahmen der zweiten St. Gallener Vortragsreihe über die ‚Neue Welt-schau‘, in dem er sich direkt auf die Thesen Gebsers bezieht, spricht er von„schwerwiegenden perspektivischen Veränderungen“ im naturwissenschaft-lichen Denken, die auch die Geisteswissenschaften und die Literatur nichtunberührt lassen könnten.53 Holthusen denkt dabei ebenfalls in erster Liniean die Zerstörung psychologischer und narrativer Kausalität, die er beispiel-haft bei Rilke, Kafka und Valéry realisiert sieht. Hier habe das „Bewußtseindes Dichters gleichsam den »euklidischen Raum« der klassischen Poesie ver-lassen und einen nicht-euklidischen Standpunkt bezogen“.54 Die Literatursei im Bennschen Sinne „existentiell“ geworden.55 Holthusen beschreibtdiesen Prozess in seinen Essays als Emanzipation des Geistes vom Lebenbzw. als Weg zur „Realisation“ des „absolute[n] Geiste[s]“, wobei er sichgleichzeitig auf die symbolistische Poetik und auf die Philosophie der Exis-tenzerhellung bezieht.56 Dem Verlust der „Mitte“ stehe eine „neue Tiefe inder Bewußtwerdung des Daseins“ gegenüber.57 Wie Benn und Leonhardbegegnet auch dieser Kritiker dem konservativen Verdikt von der Ent-menschlichung der modernen Kunst mit einer Spiritualisierung und einerexistentialistischen Ausdeutung der Abstraktion.

Ähnlich argumentiert Egon Vietta, der in der ‚Entpersönlichung‘ immodernen Tagebuch und im modernen Roman Kafkas oder Sartres eine‚metaphysische‘ Tendenz ausmacht: „Das Leben selbst wird zum Hand-lungsträger, der Roman wird unpersönlich, die historische Persönlichkeitverschwindet aus dem Roman, der Name des Helden spielt keine Rollemehr.“58 Der radikale Ausschluss alles Gefühlvollen und Individuellen, dieKonzentration auf die „mitleidlose Faktizität des Seins“ entspricht auchnach Viettas Meinung einer neuen „Gewißheit der menschlichen Existenz“,die nicht mehr (anthropozentrisch) im „Ich und seiner Vorstellungskraft“,sondern im „Sein“ verwurzelt ist.59 Die moderne Literatur begründet soauch bei ihm die These des epochalen Bewusstseinswandels: „Wir stehenjenseits von Descartes und Nietzsche. Das europäische Denken hat seinekopernikanische Wendung vollzogen.“60

53 Hans Egon Holthusen, Die Situation des Menschen in der modernen Literatur, in: Die neueWeltschau. Zweite internationale Aussprache über den Anbruch eines neuen aperspektivi-schen Zeitalters veranstaltet von der Handels-Hochschule St. Gallen, Stuttgart 1953,S. 7–41, hier S. 11.

54 Ebd., S. 16.55 Ebd., S. 12. Holthusen zitiert an dieser Stelle aus dem ersten Abschnitt des Romans des Phä-

notyp. Seine Ausführungen sind aber auch darüber hinaus in starkemMaße von Benns poeto-logischen Reflexionen beeinflusst.

56 Holthusen, Die Situation des Menschen in der modernen Literatur, S. 19.57 Ebd., S. 20.58 Egon Vietta, Theologie ohne Gott. Versuch über die menschliche Existenz in der modernen

französischen Philosophie, Zürich 1946, S. 17.59 Ebd., S. 52 f.60 Ebd., S. 53.

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Im Überblick über die zitierten Äußerungen wird deutlich, dass auchdie stärker formanalytisch argumentierenden Beiträge nicht auf einebestimmte Programmatik oder Richtung referieren, die als adäquate literari-sche Realisation des Denkformwandels gelten könnte. Die Schreibweisenund Poetiken, auf die in diesem Zusammenhang verwiesen wird, sind hete-rogen: die Poetik der absoluten Poesie, die expressionistische Prosa, dermoderne Essay, surrealistische Schreibweisen oder parabolisches Erzählen.Die Tendenz zur Abstraktion und Transzendenz wird gleichermaßen ansprachexperimentellen Techniken wie an Formen philosophisch-reflexiverBeschreibung festgemacht. Diese Doppelung ergibt sich auch daraus, dasses im Grunde nur zwei, in mancher Hinsicht gegensätzliche Autoren sind,die in dieser Zeit als Repräsentanten des Denkformwandels in der deut-schen Gegenwartsliteratur wahrgenommen werden: nämlich Benn und Jün-ger. Ihre Texte sind die einzigen allgemein anerkannten literarischen Musterdes dekretierten Transformationsprozesses.61 Dies liegt nicht zuletzt daran,dass beide die wissenschaftliche Grundlagenkrise in ihremWerk reflektierenund sich in ihren poetologischen Äußerungen zudem häufig optisch-tech-nischer Metaphern bedienen. So berufen sich die Kritiker immer wieder aufBenns „prismatische Methode“62 oder verweisen auf Jüngers „stereoskopi-sche Optik“, die nicht die „Raum- und Zeittiefe“, sondern den „metaphysi-schen Gehalt“63 der Objekte erschließe und die „Gestalt des LebewesensMensch […] in eine »teleskopische Ferne«“ entrücke.64 Für Fritz Usingerrepräsentieren Benn und Jünger auf unterschiedliche Weise beide „die aufden äußersten Punkt vorgeschobene Geistposition“, auf der das „wissen-schaftlich kontrollierende Bewußtsein“ niemals ausgeschaltet sei.65 Ihr „ge-meinsames Anliegen“, schreibt Holthusen, sei „die Bewußtmachung undDarstellung der geistigen und seelischen Situation der Gegenwart, […] dieDiagnose der »Lage«.“66

61 Das Fehlen literarischer Muster aus dem Bereich der deutschen Literatur führt gelegentlichauch dazu, dass noch einmal die Autoren der ehemaligen ‚jungen Generation‘ – wie Kasack,Langgässer, Lange oder Eich – als Beispiele angeführt werden. So auch bei Hans Egon Hol-thusen, Die Überwindung des Nullpunkts (1951), in: ders., Der unbehauste Mensch.Motive und Probleme der modernen Literatur, München 1951, S. 137–168, bes. S. 155 f.

62 Bense, Über expressionistische Prosa, S. 198.63 Jürgen Rausch, Ernst Jüngers Optik, in: Merkur 4 (1950), S. 1069–1085, hier S. 1082.

Rausch rekurriert dabei ebenfalls auf die nicht-gegenständliche Malerei: „Wie der Maler denRaum verläßt, so der Dichter die Zeit. […] Auf diese Weise erreicht Jünger zwar nicht denMythos, zu dem es ihn zieht, […] aber er tendiert ihn mit dem experimentellen Roman,jener erregenden Entzeitlichung der Epik, die in einer Epoche, welche den Rationalismusdurchschaute, aber vor »noch unsichtbaren Tempeln« steht, nicht mehr die Plastizität desbürgerlichen Romans, sondern die Transparenz sucht.“ (Ebd.)

64 Leonhard, Das Ungenügen amMenschen in der neueren Kunst, S. 140.65 Fritz Usinger, Abenteuer und Geschichte. Zu Ernst Jüngers „Strahlungen“, in: Die Neue

Rundschau (1950), S. 248–266, hier S. 266.66 Holthusen, Die Überwindung des Nullpunkts, S. 146.

„Ultrahumanismus“ 387

Die Namen Benns und Jüngers fungieren in diesen Texten somit eherals Chiffren einer literarischen und kulturellen Orientierung, als dass siemetonymisch auf eine tatsächlich vorhandene Literatur verweisen würden.Wie sich insgesamt feststellen lässt, dass der mit dem Konzept des Denk-formwandels operierende kunst- und literaturkritische Diskurs vor allemeine programmatische und politische Funktion erfüllt. Ähnlich wie in dergleichzeitigen Debatte um die abstrakte Malerei67 dient die Berufung aufden Grundlagenwandel in der modernen Naturwissenschaft, insbesondereder Physik, auch in der Literaturkritik in erster Linie zur Legitimation derkünstlerischen Moderne innerhalb der kunstpolitischen Auseinanderset-zungen zu Beginn der fünfziger Jahre.68 Mit ihr verbindet sich die Rezep-tion der mittlerweile ‚klassisch‘ gewordenen europäischen literarischenModerne von Mallarmé über Rilke, Kafka, Musil, Joyce bis hin zu Sartre,Eliot und Benn.

An diesem Punkt stellt sich nochmals die Frage nach Kontinuität oderDiskontinuität eines existenzialanthropologisch geprägten Krisendiskurseszwischen 1930 und 1950 und nach der historischen Bewertung der obenskizzierten Programmatik. In der Forschung ist eine intellektuelle und lite-rarische Kontinuität mehrfach konstatiert und dabei zum einen an der Fort-schreibung der existenzphilosophischen Krisendeutung, zum anderen daranfestgemacht worden, dass die junge deutsche Nachkriegsliteratur an die imKolonne-Kreis entwickelten ‚magisch-realistischen‘ oder ‚klassisch-moder-nen‘ Schreibweisen angeknüpft hätte.69 Diese Feststellung ging teilweise

67 Siehe hierzu Martin Warnke, Von der Gegenständlichkeit und der Ausbreitung der Abstrak-ten, in: Dieter Bänsch (Hg.), Die fünfziger Jahre. Beiträge zu Politik und Kultur, Tübingen1985 (= Deutsche TextBibliothek, Bd. 5), S. 209–222.

68 Dies zeigt sich beispielhaft auch an Walter Jens’ Plädoyer für die abstrakte Literatur, in der derKritiker die ‚intellektuelle Prosa‘ von Kafka bis Benn gegen eine konservative Kritik in Schutznimmt, die sie vom Standpunkt ‚richtigen Erzählens‘ aus als unanschaulich diffamiere unddas Adjektiv „abstrakt“ in der Tradition völkischer Kunstkritik als „Schmähwort“ verwende(Walter Jens, Plädoyer für die abstrakte Literatur, in: Texte und Zeichen 1 [1955],S. 505–515, hier S. 505). Was genau Jens unter Abstraktion in der Literatur versteht, bleibtdabei allerdings unklar; ebenso wie sein literaturprogrammatischer Standpunkt, der von tra-ditionalistischen Positionen nicht so weit entfernt zu sein scheint, wie der Autor vorgibt.Etwa da, wo er schreibt, einzig die intellektuelle Prosa sei in der Lage, „die Vielfalt derErscheinungen im dichterischen Gleichnis auf ein allgemein verbindliches Ganzes zurück-zuführen“ (S. 512). Oder wenn er der „heutigen Dichtung“ die Aufgabe zuweist, „einer Lite-ratur den Weg zu ebnen, in der sich Intellekt und Anschauung, Abstraktion und Bild,Mythos und Mathematik zu einer neuen untrennbaren Einheit verbinden.“ (S. 513 f.)

69 Vgl. Trommler, Emigration und Nachkriegsliteratur, S. 174; Hans Dieter Schäfer, Zur Peri-odisierung der deutschen Literatur seit 1930 (1977), in: ders., Das gespaltene Bewußtsein.Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945, München 1981, S. 55–71, bes.S. 64 f.; Gerhard Kurz, Nullpunkt, Kahlschlag, tabula rasa, S. 311 f.; und Volker C. Dörr,Mythomimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen (Erzähl-)Literatur der frü-hen Nachkriegszeit (1945–1952), Berlin 2004 (= Philologische Studien und Quellen, H.182), S. 133

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mit einer Kritik der restaurativen Tendenzen in der Nachkriegskultur ein-her, die ebenfalls als Fortführung der um 1930 proklamierten kulturellen‚Wende‘ gesehen wurden. Betrachtet man die unterschiedlichen der exis-tenzialanthropologischen Tendenz in der Nachkriegszeit zuzuordnendenAussagen und ihre Funktion im Rahmen der Debatte um eine kulturelleNeuorientierung, fallen solch eindeutige Antworten allerdings schwer. Diesnicht zuletzt deshalb, weil der existenzialanthropologische Ansatz zur Kri-senlösung um 1950 eine sehr viel größere Verbreitung und Akzeptanz hatals noch um 1930 und auch nicht mehr nur von einer kleinen Gruppe Intel-lektueller und Schriftsteller vertreten wird. So legitimiert sie in dieser Zeit,wie gesehen, keineswegs nur „eine klassizistisch temperierte Verwendungrealistischer und expressionistischer Motive und Schreibweisen“,70 sonderndient auch der Durchsetzung sowohl nachavantgardistischer als auch neoa-vantgardistischer Tendenzen.71

Die existenzialanthropologische Denkrichtung markierte eine beson-dere ideologische und ästhetische Position innerhalb des breiten intellektu-ellen Spektrums der Nachkriegszeit, die mit dem Begriff der „Restaura-tion“72 unzureichend erfasst wird. Diejenigen, die ihr folgten, wandten sichgegen die verbreitete klassisch-humanistische Bildungsrhetorik und dieIdeologie, nach der eine zukunftsfähige kulturelle Orientierung nur imRückbezug auf die abendländische, christlich-humanistische Traditionmöglich war.73 Bense merkte 1950 polemisch an, die Rede vom „neuenchristlichen Humanismus“ werde allenthalben als „provinzielles Ressenti-ment zum Aufbau einer verkäuflichen Literatur benutzt […], die es nicht

70 Gerhard Kurz, Nullpunkt, Kahlschlag, tabula rasa, S. 311.71 Helmuth Kiesel hat zur Unterscheidung des Nachavantgardismus vom (Neo-)Avantgardis-

mus den Begriff der ‚reflektierten Moderne‘ eingeführt. Dieser bezeichnet eine Poetik, dieden „forcierten Avantgardismus […] in komplexere und differenziertere Konzepte und Wer-ke“ überführt (Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik,Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 301). Nach Kiesel setzt diese Ten-denz, die er beispielhaft im Montageroman Döblins, im epischen Theater Brechts und im‚Montagegedicht‘ Benns ausgeprägt sieht, bereits in der literarhistorischen „ ‚Sattelzeit‘ “(S. 300) um 1930 ein und wird in der Nachkriegszeit fortgeführt. Der Begriff der ‚reflektier-ten Moderne‘ dient so auch dazu, die literarische Kontinuität zwischen 1930 und 1950 zubeschreiben, die in diesem Fall allerdings eher von der Exilliteratur als von der im ‚DrittenReich‘ entstandene Literatur ausgeht (vgl. S. 437–441).

72 Trommler, Emigration und Nachkriegsliteratur, S. 185. (Trommler spielt dabei auf WillyHaas’ Aufsatz Restauration? in der Literarischen Welt vom 16. Mai 1930 an.)

73 Zur Rhetorik der humanistischen Kulturerneuerung in der frühen Nachkriegszeit siehe Wal-traud Wende, Einen Nullpunkt hat es nie gegeben. Schriftsteller zwischen Neuanfang undRestauration – oder: Kontinuitäten bildungsbürgerlicher Deutungsmuster in der unmittel-baren Nachkriegsära, in: Georg Bollenbeck/Gerhard Kaiser (Hg.), Die janusköpfigen 50erJahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik III, Wiesbaden 2000,S. 17–29, hier S. 20 f.

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nötig hat, Weltliteratur zu sein“.74 Vom „Trost der Geborgenheit im Pro-vinziellen“, der die traditionsbeflissene deutsche Nachkriegskultur kenn-zeichne, sprach im selben Jahr auch Theodor W. Adorno und beklagte dasFehlen einer künstlerischen Avantgarde.75 Und Holthusen stellte fest, dassdie in der Nachkriegszeit durch Autoren wie Rudolf Alexander Schröderoder Ernst Robert Curtius hochgehaltene „humanistische Gelehrsamkeit“jüngere Autoren nicht mehr anspreche, da für diese „das überlieferte Bilddes Menschen fragwürdig und der »euklidische« Wirklichkeitsbegriff derklassischen Poesie ungültig geworden“ sei.76 Zugleich wandten sich die hierbehandelten Autoren aber auch gegen die veristischen Literaturkonzepte,die vor allem in der frühen Nachkriegszeit erprobt worden waren.77 Sieunterstützten mit ihren Publikationen allgemein die „gegen-realistische»Wende«“78 in der westdeutschen Literatur am Beginn der fünfziger Jahre,den Übergang von der ‚Kahlschlag-‘ und ‚Trümmerliteratur‘ hin zu einer

74 Bense, Ptolemäer und Mauretanier, S. 12. – Bense sah auch Jünger in gefährlicher Nähe zudieser Tendenz. So deutete er den Manierismus in den Strahlungen (1949) – wie auch inThomas Manns im selben Jahr erschienenem autobiographischen Text Die Entstehung desDoktor Faustus (1949) – als stilistisches Indiz einer verdeckten Theologisierung des Denkens.Benns Ptolemäer (1949) repräsentierte für ihn dagegen kontrapunktisch die Position des kon-sequenten Festhaltens am experimentellen Verfahren, durch das jede Weltanschauung ‚pris-matisch‘ gebrochen wird. Dass der ‚Nihilist‘ Benn in den literarischen Debatten der Nach-kriegszeit die Rolle des intellektuell brillanten Antagonisten christlich-humanistischerAutoren tatsächlich und gerne übernahm, lässt sich u. a. dem 1955 vom NordwestdeutschenRundfunk aufgezeichneten Rundfunkgespräch Soll die Dichtung das Leben bessern entneh-men, in dem Benn sich unter anderen mit Heinrich Böll und Reinhold Schneider auseinan-dersetzte. Vgl. Gottfried Benn, Das Hörwerk 1928–56. Lyrik, Prosa, Essays, Vorträge, Hör-spiele, Interviews, Rundfunkdiskussionen, hg. von Robert Galitz, Kurt Kreiler und MartinWeinmann, Frankfurt a.M. 2004, MP3-CD, Track 130.

75 Theodor W. Adorno, Auferstehung der Kultur in Deutschland?, in: Frankfurter Hefte 5(1950), S. 469–477, hier S. 471. Ebenso wie Bense rief auch Adorno in der Nachkriegszeitden Expressionismus als Paradigma ästhetisch-kritischer Intellektualität in Erinnerung: „Je-denfalls bedeutete der Expressionismus immerhin die großartige Anstrengung des Bewußt-seins, aller Fesseln von Konvention und Verdinglichung sich zu entschlagen und dem in derverhärteten Welt vereinsamten Ich zum reinen Ausdruck zu verhelfen. Nichts, was an Kraftund Unbeirrtheit dieser Anstrengung zu vergleichen wäre, ist heute wirksam […]. Der Nach-kriegsgeist, in allem Rausch des Wiederentdeckens, sucht Schutz beim Herkömmlichen undGewesenen.“ (Ebd., S. 472 f.)

76 Holthusen, Die Überwindung des Nullpunkts, S. 155.77 Frank Trommler hat schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass das Eintreten für eine

‚abstrakte‘, nicht auf Identifikation zielende Literatur am Beginn der fünfziger Jahre nur aufdem Hintergrund der Kritik an einem „affirmierenden Realismus“ zu verstehen ist, der inden Augen vieler Autoren durch die völkische Literatur diskreditiert war; vgl. Trommler,Realismus in der Prosa, S. 225.

78 Wilfried Barner (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart(= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. XII), Mün-chen 1994, S. 176.

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„neue[n] Artistik“,79 der sich mit dem ‚Comeback‘ Benns ankündigte unddann etwa im Auftreten der Konkreten Poesie Gestalt annahm.80 So gese-hen erfüllte dieser Diskurs um 1950 einerseits die Funktion, artistischenund auch experimentellen literarischen Tendenzen in der Bundesrepublikden Weg zu ebnen und den Anschluss an die internationale literarischeModerne herzustellen. Andererseits grenzte er, indem er die Abstraktionund die Artistik existentialistisch codierte, zugleich realistische bzw. ‚aufklä-rerisch-rationalistische‘ Tendenzen der modernen Literatur aus und blo-ckierte damit auch ein Anknüpfen an wichtige Strömungen in der Literaturder Weimarer Republik sowie die Rezeption der deutschen Exilliteratur.81

In der grundsätzlichen Ambivalenz gegenüber ‚der Moderne‘ kannman, unabhängig von den unterschiedlichen, jeweils mit ihr verknüpftenästhetischen und politischen Optionen, eine Kontinuität existenzialanthro-pologischer Krisendeutung zwischen 1930 und 1950 erkennen. Wie diephilosophischen und literarischen Schriften aus der Endphase der WeimarerRepublik, die die These vom Ende des Anthropozentrismus ins Zentrumdes Programms einer kulturellen Erneuerung stellten, so vertraten auch diehier untersuchten Programmschriften aus der Nachkriegszeit das Konzepteiner ‚anderen‘, nicht-rationalistischen und nicht-humanistischen Moderneund deuteten neuere wissenschaftliche und künstlerische Entwicklungsten-denzen in diesem Sinne als Zeichen eines grundlegenden Bewusstseins-wandels, einer Verwandlung ‚des Menschen‘. Dabei verband sich mit derAnthropozentrismuskritik in der Nachkriegszeit allerdings ein relativ breitesSpektrum ästhetischer, politischer und wissenschaftlicher Positionen, dasvon der neokonservativen Institutionentheorie Gehlens und der rechtskon-servativen Nihilismuskritik Jüngers bis zu der existenzphilosophisch gepräg-ten Verantwortungsethik Jaspers’ und der (neo)avantgardistischen ÄsthetikBenns oder Benses reichte.

79 Volker Wehdeking/Günter Blamberger, Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit(1945–1952), München 1990, S. 46. Zum künstlerischen Avantgardismus in der Nach-kriegszeit siehe auch Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 283–290.

80 Die Verbindung zur (Neo-)Avantgarde wird vor allem am Beispiel Benses deutlich, derAnteil an der Entwicklung der Konkreten Poesie hatte.

81 Gerhard Kurz spricht von einer „peinliche[n] Verdrängung der Emigranten“ bei den Kriti-kern, die eine existentialistische Nachkriegsmoderne entwerfen, und nennt als Beispiel Hol-thusens Vortrag Die Überwindung des Nullpunkts (Kurz, Nullpunkt, Kahlschlag, tabula rasa,S. 321).

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Personenregister

Adler, Gerhard 97Adorno, Theodor W. 252 f., 317, 390Anders, Peter 112Andersch, Alfred 183, 245, 376Angermayer, Fred K. 185Anouihl, Jean 245, 249, 316Ansel, Michael 339Appel, Paul 278Aristoteles 140, 168, 173, 177, 180, 183Assmann, Aleida 252Augustinus 141Bachofen, Johann Jakob 298, 304, 309Baeumler, Alfred 289, 304Balbo, Italo 296, 300, 303Barlach, Ernst 207Baumeister, Willi 381Beheim-Schwarzbach, Martin 114, 207Benn, Gottfried 1, 3, 7, 9, 87, 111, 113,

131, 143, 173, 188, 193, 200 ff., 242,263, 273, 276 f., 288, 298, 318–375,377, 381 f., 384–391

Bense, Max 87, 106, 130, 136, 141, 143,145, 280, 322, 342, 350, 365, 367, 379,384 f., 389 ff.

Bergengruen, Werner 73, 241Bergmann, Ernst 339Bergson, Henri 29, 178, 188, 211, 229 f.Bertram, Ernst 346Bezzola, Reto R. 384Bielefeldt, Heiner 46 f.Billinger, Richard 206, 242Binswanger, Ludwig 69–72Bloch, Ernst 259Blüher, Hans 199Bluhm, Lothar 147, 162Blumenberg, Hans 140Boer, Wolfgang de 380 f.Bohr, Niels 85, 106, 129, 139, 143 f.Böll, Heinrich 390Bollnow, Otto Friedrich 50, 52 f., 57, 60 f.,

68 f., 71 ff., 176, 185, 230, 234, 309Bölsche, Wilhelm 324Boltzmann, Ludwig 365Bontempelli, Massimo 281 f.Borchert, Wolfgang 251

Bormann, Alexander von 340Born, Max 129Bose, Satyendranath 85Bottai, Giuseppe 290–293Brachmann, Wilhelm 293Brandt, Christina 152Braque, Georges 377Brecht, Bertolt 271 f., 389Broch, Hermann 273 ff., 278 f., 283, 309 ff.,

314Broglie, Louis Victor de 82, 85, 143Buchheim, Karl 101Burckhardt, Jakob 196, 350Buytendijk, Frederik J. 36, 101 f., 108Buzzati, Dino 281Camus, Albert 316, 382Cantor, Georg 365Caputo, Giacomo 297, 302 f.Carrá, Carlo 279–282Carus, Carl Gustav 332Cecchi, Emilio 281Cézanne, Paul 367Chagall, Marc 241Chirico, Giorgio de 281 f.Christiansen, Broder 98, 351Chrysipp 170Claassen, Eugen 210, 239Cocteau, Jean 144, 245, 249Comte, Auguste 25Cromwell, Oliver 117Curtius, Ernst Robert 14–19, 37, 78 f., 81,

88, 90 ff., 95, 100, 346, 370, 390Dacqué, Edgar 34, 36, 102, 108, 187, 326,

331, 333, 347Dante Alighieri 157Darwin, Charles 2, 36, 150, 167, 174, 324,

339Delbrück, Max 152Demokrit 127, 173Denkler, Horst 100, 222, 238Descartes, René 284, 356, 386Dewey, John 66Dibelius, Martin 101Diederichs, Peter 97

Dilthey, Wilhelm 20, 57 f., 68, 70, 72, 92,284, 298, 326, 332

Dingler, Hugo 327 f.Döblin, Alfred 88–91, 261, 263 f., 272 f.,

389Dos Passos, John 314Dostojewskij, Fjodor M. 265, 268Drexler, Hans 288Driesch, Hans 36, 102, 108, 123–126, 136,

138, 326, 332Dvorak, Robert 161Economo, Constantin von 326, 331Ehrenstein, Albert 272Eich, Günter 113, 387Eichendorff, Joseph von 210Einstein, Albert 82, 109, 140, 143Einstein, Carl 345Eliot, Thomas Stearns 263, 309, 313 f., 373,

382, 388Empedokles 169 f.Emter, Elisabeth 125, 127Ende, Edgar 279 f.Epikur 173Erasmus von Rotterdam 117, 199Eschmann, Ernst Wilhelm 98 f.Esselborn, Hans 154Evola, Julius 356 f.Fahrenbach, Helmut 35, 38Fechter, Paul 205, 276Feininger, Lyonel 241Fischer, Bernhard 341Fischer, Max 336Fischer-Harriehausen, Hermann 333 f., 341Forman, Paul 104Freud, Sigmund 2, 34, 56, 67, 89, 211, 214,

216, 219, 326, 331 f.Freyer, Hans 164Friedmann, Alexander 85Friedrich, Hugo 292Fritsche, Herbert 186 f.Fritz, Karl Egon, siehe Vietta, EgonFrobenius, Leo 34, 108, 298, 345Frommel, Wolfgang 198, 285, 287 ff.Funi, Achille 296Gangl, Manfred 45Gauß, Carl Friedrich 365Gebhard, Klaus 193Gebser, Jean (Hans) 1, 74, 85 f., 376 ff.,

383 f., 386Gehlen, Arnold 2, 36, 43, 49 f., 54 ff., 60,

62–69, 72 f., 86, 145, 164, 185, 227,232, 234, 239 f., 289, 373

Georg, Eugen 112, 326, 331George, Stefan 284, 347, 354

Gide, André 179, 307Gigon, Olaf 171Giotto 281, 296Giraudoux, Jean 245, 249, 316Glaeser, Ernst 96Goebbels, Joseph 163, 344Goethe, Johann Wolfgang von 112, 129 f.,

135, 137, 171, 187, 259, 290, 327,329 f., 332, 335, 368

Göring, Hermann 344Grassi, Ernesto 290, 292 f.Gremmels, Heinrich 193Großheim, Michael 46 f.Gründel, E. Günther 98Guardini, Romano 74, 86 f., 197, 378Gundolf, Friedrich 345Günther, Hans F. R. 319, 340 f.Günther, Joachim 164, 210Günther, Werner 384Habermas, Jürgen 43Haeckel, Ernst 324Haldane, John Scott 85Hartlaub, Felix 240Hartlaub, Gustav Friedrich 379, 381Hartmann, Hans 83, 93 f.Hartmann, Nicolai 55, 56 f.Hauptmann, Carl 212Hauptmann, Gerhart 212Hayduk, Alfons 208Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 25, 324Heidegger, Martin 2, 19 ff., 28, 37 ff., 40 f.,

43–49, 51, 53, 55, 60, 68 ff., 79, 94, 96,100, 102, 110, 121, 123, 127, 155, 160,163, 176, 178, 194–197, 199, 201, 232,254, 261, 267–271, 274 f., 283 f., 292,309 f., 312–315, 326, 381

Heimsoeth, Heinz 52, 57Heisenberg, Werner 82 f., 85, 103, 105 f.,

125, 127, 129 f., 137, 144, 194, 330,377 f.

Heiss, Robert 76Heißenbüttel, Helmut 241, 243Helbing, Lothar, siehe Frommel, WolfgangHemingway, Ernest 241Heraklit 134, 149, 168 f., 171Hertwig, Oscar 324Hesiod 134, 149 f.Hess, Victor Franz 85Hesse, Hermann 73Heuß, Theodor 340Heym, Georg 242Heyse, Hans 53Himmler, Heinrich 310Hirschfeld, Kurt 249

428 Personenregister

Hitler, Adolf 51, 60, 195 f., 344, 350Hobbes, Thomas 49Hocke, Gustav René 88–91, 243 ff.Hoff, Jacobus Henricus van’t 365Hoffmann, Ernst 163Hofmannsthal, Hugo von 73, 212, 214,

226 ff., 316Holthusen, Hans Egon 3, 384–387, 390 f.Homer 149, 251 f.Horkheimer, Max 252 f.Hubble, Edwin P. 111Huchel, Peter 85, 113, 204 f., 210, 254Husserl, Edmund 12, 29, 32, 72, 163,

177 f., 228, 231 f., 261, 271, 284, 381Itten, Johannes 380Jaeger, Werner 285 ff.Jaensch, Ernst Rudolf 319Jaspers, Karl 2, 14–21, 23, 28, 37, 41–47,

49 f., 53, 55, 60, 74, 77–82, 86, 100,163, 236 ff., 274, 284, 291, 314, 376,381, 391

Jens, Walter 388Jochmann, Günther 198Johannsen, Wilhelm 326, 331, 341Joyce, James 210, 241 f., 272, 274, 277 ff.,

314, 345, 382, 384, 388Jung, Carl Gustav 34, 90, 146, 279, 326,

333, 345Jünger, Ernst 2, 9, 44, 87, 106, 114,

116–163, 165, 172 f., 175, 179,193–202, 207, 288, 317, 330, 335, 362,371, 373 f., 378, 382 f., 387 f., 390 f.

Jünger, Friedrich Georg 73, 133, 193 f.,196, 198 f., 312

Kafka, Franz 207, 241, 272, 314, 382 f.,386, 388

Kahler, Erich 383Kaiser, Georg 241Kaiser, Joachim 254Kallimachos 301Kandinsky, Wassily 336, 360, 365Kant, Immanuel 25, 80, 103, 106, 284,

329, 334Kantorowicz, Alfred 97Kasack, Hermann 387Kästner, Erhart 161, 179, 197Keyserling, Hermann Graf 346Kierkegaard, Søren 137, 267, 299, 314Kiesel, Helmuth 119, 372, 389Kittler, Friedrich 354Klages, Ludwig 2, 20, 34, 56, 61, 72, 108,

111, 213, 333 f., 342, 345, 350, 381Klee, Paul 142, 336, 381Koch, Thilo 372, 375

Koestler, Arthur 108 f.Köhler, Wilibald 208Kolmar, Gertrud 113Kommerell, Max 290Könneker, Carsten 191 f., 329Korn, Karl 161, 199, 222Koselleck, Reinhart 79Koslowski, Peter 154, 159Kracauer, Siegfried 95Kramme, Rüdiger 47Kretschmer, Ernst 333, 340 f.Kreuder, Ernst 242, 245Krieck, Ernst 58 f., 286 f.Krockow, Christian Graf von 45Krüger, Gerhard 80Kubin, Alfred 207, 233, 241Kuby, Erich 145Kuhnert, Artur 110Kutzbach, Karl A. 207Lagrange, Joseph de 365Lamarck, Jean-Baptiste de Monet, Chevalier

de 150, 341Lange, Horst 9, 68, 85, 113 f., 203–260,

387Lange-Eichbaum, Wilhelm 333Langgässer, Elisabeth 113, 315, 387Langner, Ilse 251Laue, Max von 128Lautréamont, Comte de 145Leep, Hans-Jürgen 193Léger, Fernand 336Lehmann, Gerhard 62Lehmann, J. F. 319Lehmann, Wilhelm 213Leibniz, Gottfried Wilhelm 138Lennartz, Franz 246Leonhard, Kurt 381 f., 386Lernet-Holenia, Alexander 226 f.Lersch, Philipp 72, 82Lessing, Theodor 34, 333 f.Lethen, Helmut 23, 37, 47Leukipp 127, 173Lévy-Bruhl, Lucien 24, 215 ff., 326, 331Liebert, Arthur 11Lindner, Martin 22Linné, Carl von 133, 135 f.Lipps, Hans 68 f., 71 ff., 234Loesche, Martin 83Lorenz, Konrad 65 f., 123Löwith, Karl 49 f.Lukrez 167Luther, Martin 117, 195, 199Maaß, Joachim 97Maeterlinck, Maurice 140

Personenregister 429

Mallarmé, Stéphane 373, 388Man, Hendrik de 23, 80Mann, Klaus 96 f.Mann, Thomas 199 f., 241, 273, 294, 316,

325, 390Mannheim, Karl 14–18, 24–28, 30, 42, 90,

92, 98, 100Marahrens, Gerwin 370Maraun, Frank (i.e. Erwin Goelz) 337Marc, Franz 278March, Arthur 378Marcuse, Herbert 46 f., 49Marinetti, Filippo Tommaso 277, 344, 354Marquard, Odo 34Mattenklott, Gert 145Matzke, Frank 92, 94 f., 97Maxwell, James Clerk 140, 365Mead, Margaret 66Meckel, Eberhard 205Meyer-Abich, Adolf 108Meyer, Semi 324Miller, Gerlinde F. 341Millikan, Robert Andrews 85Minkowski, Eugen 69Misch, Georg 48, 61Mitscherlich, Alexander 82, 379, 382Mohler, Armin 154, 163, 195, 202Molzahn, Ilse 207Müller, Hans von 92Musil, Robert 384, 388Mussolini, Benito 281, 296Nebel, Gerhard 9, 120, 135, 139, 149,

161–202, 262, 330, 362, 374Newton, Sir Isaac 103, 174Niedermayer, Max 364Nietzsche, Friedrich 88 f., 121, 133, 198,

211, 279, 284, 310, 314, 324, 334, 342,349 ff., 386

Noeggerath, Felix 381Nossack, Hans Erich 240, 252Novalis (i.e. Friedrich von Hardenberg) 278,

356Oelze, Friedrich W. 356, 366O’Neill, Eugene 316Orff, Carl 317Ortega y Gasset, José 90 ff., 94 f., 100,

262 f., 274 f., 314Ossietzky, Carl von 271Otto, Walter F. 198, 292Ovid 140Paeschke, Hans 297Pascal, Blaise 138Petersen, Julius 92Petzoldt, Joseph 359, 361

Peuckert, Will Erich 212, 221Picasso, Pablo 200, 277, 367, 371, 377Pinder, Wilhelm 92, 370 f.Pirandello, Luigi 281, 314, 316Planck, Max 82 f., 85, 104, 128, 143,

326 ff., 359 ff., 365, 377Platon 136, 141, 144, 177, 183, 190, 313,

355Plessner, Helmuth 2, 16, 21 ff., 31 ff.,

35–39, 43 f., 47–50, 62 ff., 66, 85 f., 92,97, 102, 187, 334

Plotin 141, 163Pohlenz, Max 189Polybios 183Portmann, Adolf 66, 81 f., 85, 379Poseidonios 170 ff., 173, 183Pound, Ezra 373Preetorius, Emil 379Prinzhorn, Hans 34Prinzig, Albert 280Proust, Marcel 272, 382, 384Ptolemäus (Ptolemaios) 368Pythagoras 136Rahner, Mechthild 376Rakette, Egon 208Raschke, Martin (Ps. Otto Merz) 2, 93,

110–114, 204Rauch, Karl 98, 204Rausch, Jürgen 387Reemtsma, Jan Philipp 145Regenbogen, Otto 198Reichenbach, Hans 103, 105, 108Reinhardt, Karl 171, 198, 292Renan, Ernest 144Reymont, Stanislaw 213Richelieu, Armand Jean du Plessis, Herzog

von 117Richter, Hans Werner 244 f.Rilke, Rainer Maria 226 f., 266 f., 272–275,

309, 314, 382, 386, 388Ritterbusch, Paul 57Roh, Franz 115 f.Rosenberg, Alfred 62, 65, 191, 291 ff., 344,

347 f., 350 f.Rothacker, Erich 57–60Rousseau, Jean-Jacques 67Rüdiger, Horst 285Sartre, Jean-Paul 263, 309, 314 ff., 382,

386, 388Schaefer, Oda 217, 239, 254 ff., 259Schäfer, Hans Dieter 207, 246Schauwecker, Franz 114Scheler, Max 2, 19 ff., 24–27, 29 ff., 33,

35–39, 54 f., 58, 62 f., 66, 85 f., 90, 96,

430 Personenregister

102, 110, 187, 274, 285, 299, 314,332 ff., 345

Schelsky, Helmut 162, 164, 168 f.Schmalenbach, Herman 195Schmitt, Carl 46–49, 162, 165, 195, 199,

201, 313Schnädelbach, Herbert 34, 46 f.Schneider, Reinhold 390Schnitzler, Arthur 249Schopenhauer, Arthur 34, 211Schröder, Jürgen 325Schröder, Rudolf Alexander 390Schrödinger, Erwin 103 f., 106, 144, 152Schubart, Walter 199Schulenburg, Werner von 280Schuler, Alfred 346Schütz, Erhard 210Sedlmayr, Hans 86, 371, 373, 376, 380Seifert, Friedrich 55 f., 58Sellner, Gustav Rudolf 317Shaw, Michael 127Simmel, Georg 11, 68, 323, 345Sitter, Willem de 85, 109Sloterdijk, Peter 153Snell, Bruno 198, 287Snow, Charles Percy 319Sombart, Werner 25, 54, 101Speidel, Hans 163Spemann, Hans 326Spengler, Oswald 16, 34, 44 ff., 61, 78, 80,

111, 133, 147, 166, 298, 333, 346, 371Staiger, Emil 384Stehr, Hermann 212Steinecke, Ludwig 11, 20, 37, 109Sternberger, Dolf 18, 23, 46, 120, 146Stomps, Viktor Otto 85, 204 f.Storch, Otto 66Strauss, Erwin 69Strawinsky, Igor 200Suhrkamp, Peter 96Süskind, Wilhelm Emanuel 93, 95Taine, Hippolyte 350, 370Terr-Nedden, Eberhard 208Toynbee, Arnold J. 78, 147Trakl, Georg 207, 309Troeltsch, Ernst 11 f., 323, 345

Tucholsky, Kurt 271Tylor, Edward B. 216Uexküll, Jakob von 36, 82, 102, 108, 357Uexküll, Thure von 292Ungaretti, Giuseppe 281Usinger, Fritz 147, 387Valéry, Paul 200, 382, 386Vergil 167, 291, 307Vesper, Will 207Vico, Giovanni Battista 278Vietta, Egon (i.e. Karl Egon Fritz) 3, 9, 95 f.,

163, 204, 245, 261–317, 386Vietta, Silvio 312Vinci, Leonardo da 274Vittorini, Elio 281Vries, Hugo de 82, 85, 150Wach, Joachim 20Wallenstein, Albrecht W. E. von 117Weber, Alfred 74, 76–80, 84, 86, 101, 376,

382Weber, Max 11 f., 109, 323Wechssler, Eduard 92Wege, Carl 304Wehdeking, Volker 240Weinheber, Josef 73, 196Weinstock, Heinrich 198Weizsäcker, Carl Friedrich von 83, 107, 126Weizsäcker, Victor von 382Wellershoff, Dieter 337Weyrauch, Wolfgang 100Wiechert, Ernst 278Wien, Wilhelm 365Wilder, Thornton 314, 316Willems, Gottfried 372Willrich, Wolfgang 276, 318Winkler, Eugen Gottlob 120Wirbitzky, Wilhelm 207Witelo 141Wölfflin, Heinrich 370Woolf, Virginia 384Worringer, Wilhelm 345 ff., 355, 370Wundt, Wilhelm 216 f.Zehrer, Hans (Ps. Hans Thomas) 97Zenon 189Zuckmayer, Carl 312

Personenregister 431