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Das Erbe von Arwenack

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Davis J. Harbord

Das Erbe von Arwenack

Tower-Pier, Mai 1598, vormittags. London hatte die Arwenacks wieder. Am Tag zuvor waren sie mit ihrer Schebecke

eingelaufen und hatten an ihrem alten Platz querab des Towers vertäut. Blacky und Bill konnten „Geburtstag" feiern - nach ihrem fürchterlichen Abkanten bei

den Schafinseln, das ihnen, vor allem Blacky, fast das Leben gekostet hätte. Es kam wieder einmal ganz anders.

Doktor Abraham Freemont, der Mann, der Philip Hasard Killigrew ganz besonders verbunden war, fuhr mit einer Kutsche vor, und Hasard wurde sofort gewahrschaut.

Er wollte den Freund mit einem Lachen begrüßen, aber das gefror ihm, als er das tiefernste Gesicht Doc Freemonts bemerkte.

„Ich habe eine traurige Nachricht für dich", sagte der schlanke, weißhaarige Mann. Hasard kniff die Augen zusammen. Traurige Nachricht? Was konnte das sein?

„Deine Mutter, Lady Killigrew, ist gestorben ", sagte der Doc...

Die Hauptpersonen des Romans: Philip Hasard Killigrew - die Nachricht vom Tod seiner Mutter bringt für den See­

wolf noch einmal die Vergangenheit ins Spiel.

Simon Llewellyn und Thomas Lionel - Hasards Ferkelbrüder haben sich auf Ar­wenack eingenistet und lassen die Puppen tanzen.

Jeremy Toole - der Friedensrichter hat eine weiße Weste, aber er ist glitschig wie ein Aal.

Joshua Briggs - das kleine Männchen, das einer grauen Maus gleicht, hat den­noch das Herz eines Löwen.

Debby Tyndale - ihr gehört das „White Horse", und sie versteht es, ausgezeich­nete Spiegeleier mit Speck zu braten.

Edwin Carberry - fast schlägt für den Profos die Stunde, am Herzen einer Frau vor Anker zu gehen.

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„Ich möchte dir mein Beileid aus­sprechen", sagte Doc Freemont.

Hasard schüttelte den Kopf. „Sie war nicht meine Mutter, Abe",

sagte er leise. „Ich weiß - deine Pflegemutter.

Trotzdem. Du sagtest mir einmal, sie hätte dir von allen Killigrews am nächsten gestanden."

„Hat sie auch." Hasard nickte fast abwesend. Die Gedanken schossen in einem Wirbel durch seinen Kopf. Lady Anne. Ja, sie hatte ihn stets ge­gen den Alten in Schutz genommen, gegen Sir John, dieses wüste Mon­ster. Und gegen ihre eigenen drei Söhne.

Sie mußte ein schlechtes Gewissen gehabt haben.

Damals in der Sturmnacht 1556 hatte sie die Hansekogge „Wappen von Wismar" überfallen, die im Ha­fen von Falmouth Schutz gesucht hatte. Alle an Bord waren getötet worden - nur das schwarzhaarige und blauäugige Baby nicht, das Lady Anne an Bord gefunden und viel­

leicht aus einem seltsamen, mütterli­chen Mitgefühl heraus als vierten Sohn zu sich genommen hatte: Philip Hasard Killigrew.

Vielleicht auch war ihr dann im Verlauf der Jahre klargeworden, daß sie dem Jungen die Identität geraubt hatte, denn er war weder ein Englän­der noch ein Killigrew, sondern ein Deutscher aus der Sippe der von Manteuffels aus Pommern.

Für Sir John und die drei Brüder war er der „Bastard" gewesen, ein na­menloser Findling...

Doc Freemont räusperte sich. „Das ist noch nicht alles", sagte er. Hasard, der den Kopf gesenkt

hatte, schaute auf. Seine eisblauen Augen, die wie verloren wirkten, wur­den plötzlich wachsam.

„Was denn noch?" fragte er zwi­schen zusammengebissenen Zähnen.

„Deine beiden Brüder - Simon Lle­wellyn und Thomas Lionel - haben sich auf Arwenack eingenistet und beanspruchen das Erbe für sich", sagte Doc Freemont gepreßt.

„Wie bitte?" Bei der Nennung der Namen seiner beiden Brüder war Ha­

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sard etwas zusammengezuckt. „Si­mon Llewellyn und Thomas Lionel? Das kann doch nicht sein, Abe!"

„Es ist aber so", sagte Doc Free­mont ernst. „Und ich muß hinzufü­gen, daß es Gerüchte aus Cornwall gibt, in denen behauptet wird, Lady Anne habe dich zum Erben von Arwe­nack eingesetzt..."

Bisher hatten die Arwenacks auf der Kuhl der Schebecke still und stumm dabeigestanden und zugehört. Jetzt klang erregtes Gemurmel auf.

Hasard schien es nicht wahrzuneh­men. Fast grimmig sagte er: „So, mich hat sie zum Erben eingesetzt, mich, den Manteuffel, wie? Ich trage schon genug an dem Namen Killigrew, ver­dammt noch mal. Was soll ich mit Ar­wenack? Kannst du mir das mal ver­raten? Ich bin meiner eigenen Wege gegangen. Diese Killigrew-Sippschaft hat mir meine Kindheit und Jugend gestohlen, verstehst du das? Warum habe ich, kaum achtzehnjährig, Arwe­nack verlassen? Weil ich es dort nicht mehr aushielt, darum! Und jetzt soll mir meine Pflegemutter angeblich Arwenack vererbt haben? Das kann ich doch nur als Witz auffassen!"

Doc Freemont musterte den Riesen gelassen, rieb sich dann die schmale Nase und sagte: „Ich hielt es für meine Pflicht, dir das mitzuteilen. Trotz allem bist du ein Killigrew, und ein Erbe wirft man nicht so einfach weg. Du hast auch Söhne . . . "

„Du lieber Gott!" fuhr Hasard da­zwischen. „Wir sind Manteuffels, aber keine Killigrews!"

„Ich hörte", sagte Doc Freemont un­beeindruckt, „deine beiden Brüder hätten aus Arwenack einen Saustall gemacht und wären kräftig dabei, die Falmouther zu terrorisieren."

„Na und? Was geht mich das an?" sagte Hasard erbittert. „Sie sind eben die Söhne ihres Alten - für mich ein Grund mehr, mich von ihnen zu di­stanzieren."

„Warum nennst du dich dann nicht Philip Hasard von Manteuffel?" fragte Doc Freemont.

„Das frage ich mich auch", sagte Hasard gallig.

„Ich will's dir sagen", erklärte Doc Freemont. „Weil du sechzehn oder siebzehn Jahre auf Arwenack in Cornwall nicht verleugnen kannst. Sie haben dich geprägt. Auf deine Art bist du Engländer und ein Killigrew geworden, allerdings ein sehr anderer und recht eigenwilliger Killigrew und nach meiner Meinung der bisher be­ste Teil dieser Räubersippe, aber eben ein Killigrew."

„Danke für den Heiligenschein", knurrte Hasard. „Was willst du von mir, Abe? Du hast irgendwas im Sinn."

„Nun ja." Doc Freemont legte die Hände auf den Rücken, betrachtete die weißgescheuerten Planken der Schebecke, hob wieder den Kopf und sagte: „Weißt du, es gibt da allerlei Ungereimtheiten in dieser Erb­schaftssache. So ist zum Beispiel der Notar drei Tage nach seiner öffentli­chen Verlesung des Testaments von Lady Anne plötzlich verschieden, of­fenbar durch Gifteinwirkung. Mord oder Selbstmord, ist da zu fragen. In dem Testament ist Simon Llewellyn von Lady Anne als Erbe eingesetzt. Ist das Testament gefälscht? Und starb Lady Anne überhaupt eines na­türlichen Todes oder wurde er gewalt­sam herbeigeführt? Obwohl mich das alles nichts angeht, bin ich der An­sicht, daß du es zumindest deiner ver­

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storbenen Pflegemutter schuldig bist, diese Dinge zu klären. Das ist es, was ich dir sagen wollte."

„Aha!" schnappte Hasard. Dann schwieg er. Seine Stirn war gekraust, und auch er starrte - wie zuvor Doc Freemont - auf die Planken.

Es war Edwin Carberry, der Profos, der die Stille an Bord durchbrach.

„Ich frage mich", sagte er polternd, „wie diese beiden Rübenferkel nach England gelangt sind? Vor vier Jah­ren ließen wir sie als Gefangene der Spanier auf den Grand Cays zurück und nahmen an, sie würden nach Fort St. Augustine verbracht, wo die Dons ja mit Vorliebe Gefangene zum Ent­wässern der Sümpfe einsetzen. Etwa ein Dreivierteljahr später waren Jean Ribault, Renke Eggens und einige un­serer Männer vom Bund ebenfalls Gefangene der Spanier in Fort St. Au­gustine und stießen dort auf Sir Johns Galgenvögel. Unsere Männer konnten fliehen, die Kerle um den Bootsmann O'Leary aber auch. Wir begegneten der Schaluppe, mit der sie getürmt waren, und schossen sie zusammen. Erinnerst du dich, Sir?"

Hasard nickte düster. „Ich erinnere mich, Ed. Ich erinnere mich auch an die Haie. Wie es aussah - für uns je­denfalls - hatte keiner von den Lum­penkerlen eine Chance, zu überleben. Aber wir prüften das auch nicht nach. Wie dem auch sei - offenbar überleb­ten meine beiden sogenannten Brü­der und schafften es, nach England zurückzukehren. Für mich ist das ein Rätsel. Ich hielt sie für tot - im gewis­sen Sinne sind sie das auch für mich. Ich will mit ihnen nichts mehr zu tun haben."

„Das sehe ich anders", sagte der ru­hige, besonnene Ben Brighton, Ha­

sards Erster Offizier, und er wich dem wütenden Blick seines Kapitäns nicht aus. „Mir zum Beispiel ist es verdammt nicht gleichgültig, wenn es zwei Schurken mit einem miesen Trick gelungen sein sollte, sich auf Arwenack einzunisten. ,Arwenack' ­das ist unser Kampfruf, und wir nen­nen uns manchmal Arwenacks, weil du von der Feste über Falmouth stammst und dort deine Kindheit und Jugend verbracht hast. Der Kampf­ruf ,Arwenack' hat eben seine eigene Bedeutung für uns. Wenn Arwenack jetzt mit zwei Strolchen identisch ist, dann habe ich etwas dagegen. Das hat zum Teil etwas mit Schmutz zu tun, und unser Kampfruf soll sauber blei­ben."

Beifallsgemurmel klang auf, und die Mannen nickten.

Du meine Güte, dachte Hasard, jetzt reden die Kerle gleich noch da­von, daß es wider ihre Ehre sei, sich ihren Kampfruf beschmutzen zu las­sen.

Genauso war's. Smoky, der Decksälteste, haute auf

die Pauke und tönte: „Ehrensache, daß wir diese Sache bereinigen! Ich schlage vor, daß wir nach Falmouth segeln und die Ferkelbrüder ins Ge­bet nehmen. Hand hoch, wer dafür ist!"

Alle Hände flogen hoch. Eine Hand blieb unten - die von Philip Hasard Killigrew.

„Du bist überstimmt, Sir", erklärte Smoky resolut. „Die überwiegende Mehrheit hat entschieden."

Hasard schnappte ein bißchen nach Luft.

„Es geht auch um dein Erbe, Sir", sagte Smoky entschieden. „Wenn es meins wäre, würde ich darum kämp­

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fen, natürlich vorausgesetzt, daß an der Sache was faul ist. Aber das, was Doc Freemont berichtet hat, deutet darauf hin, daß die Ferkelbrüder schmutzige Pfoten haben."

Hasard verschränkte die Arme vor der Brust und entgegnete ein wenig biestig: „Und was ist, wenn ich auf dieses sogenannte Erbe pfeife, Mister Smoky? Oder wollt ihr mich auf Ar­wenack absetzen, damit ich dort meine Tage beschließe, he? Und ihr verzieht euch wieder in die Karibik, nicht wahr?"

„Davon kann überhaupt nicht die Rede sein, Sir", sagte Smoky empört. „Wenn du auf dein Erbe pfeifst, kannst du's ja dann verschenken. So einfach ist das. Oder du übergibst Ar­wenack deinen beiden Söhnen."

„Frag sie doch mal", sagte Hasard prompt.

Nun ja, da lief der gute Smoky ins offene Messer. Denn die beiden Kil­ligrew-Junioren erklärten energisch, sie hätten die Absicht, beim Bund der Korsaren zu bleiben, und der „Mister Smoky" möge sich die Feste Arwe­nack an den Hut stecken.

Für einen Moment war Smoky per­plex, aber dann hatte er eine Idee, und die hing damit zusammen, daß er nie etwas erben würde. Denn seine ihm unbekannte Mutter hatte ihn schlicht als Wickelbaby auf der Ein­gangsschwelle der St.-Andrews-Kirche in Plymouth abgelegt, darauf vertrauend, daß ihn zumindest der vertrottelte Kirchendiener finden würde. Hatte der auch.

O Heiland! Smoky schob die Ge­danken an seine Vollwaisenzeit schnell beiseite - bis auf die Tat­sache, daß er nie ein richtiges Zuhau­se gehabt hatte.

„Sir", sagte er sehr ernst, „wenn du die Festung Arwenack erbst, könn­test du sie der Stadt Falmouth als eine Art Lehen anvertrauen - mit der Maßgabe, die Feste als Waisenhaus einzurichten und zu unterhalten. Wie findest du das?"

Na, das war vielleicht ein Vor­schlag! Alle Mannen waren verdutzt, einschließlich ihres Kapitäns, der sei­nen lieben Smoky anstarrte, als sehe er ihn zum ersten Male.

Und dann brummte er nur: „Hm!" Und noch einmal: „Hm-hm!" Beim zweiten „Hm-hm" kratzte er sich hin­ter dem rechten Ohr, was er sonst nie tat. Oder höchst selten, vielleicht ein­mal alle fünf Jahre.

Smoky kriegte inzwischen den träumerischen Blick.

„Da hätten die armen Würmer end­lich ein festes Dach über dem Kopf", schwärmte er, „ein festes Dach auf so­liden Mauern. Und im Burghof könn­ten sie Haschen spielen, in den Stäl­len Versteck. Im Burggarten müßte Gemüse angepflanzt werden, weil kleine Kinder frisches Gemüse brau­chen. Im Keller wird eine Badestube eingerichtet - mit, äh, zehn großen Waschbottichen..."

„Wieso zehn?" fragte Carberry fas­sungslos.

Die Arwenacks sahen überhaupt alle so aus, als kämen sie nicht ganz mit.

„Wenn gebadet wird", belehrte Smoky den Profos, „können immer fünf Würmerchen in einem Bottich planschen, klar?"

Der Profos zog den Kopf ein. Dieser Mister Smoky wurde ihm unheim­lich.

Paddy Rogers, sonst mit dem Den­ken so schnell wie eine Schnecke,

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hatte bereits gerechnet und verkün­dete: „Fünf Würmerchen mal zehn Bottichen macht fünfzig Würmer­chen."

„Genau", sagte Smoky, fixierte sei­nen Kapitän und erkundigte sich: „Wie viele Zimmer hat Arwenack, Sir?"

„Wie viele. . ." Hasard brach wie­der ab, und seine Finger beschäftig­ten sich ein zweites Mal mit dem rech­ten Ohr.

Dafür sprang Big Old Shane ein, der ehemalige Schmied von Arwe­nack. Und er grinste bis zu den Oh­ren.

„Wenn ich mich richtig erinnere", dröhnte er, „sind in der Burg selbst zwanzig Zimmer, ganz abgesehen von den Zimmern im Gesindehaus, im Haus des Burgvogts und dem lin­ken Flügel mit den Waffenkam­mern."

„Reicht satt", sagte Smoky zufrie­den. „Allein in den zwanzig Zimmern der Burg könnten wir dann schon sechzig Würmerchen unterbringen, drei auf jedem Zimmer, vielleicht auch vier, womit wir bei achtzig Wür­merchen wären." Und Smoky strahlte.

„Da würden wir dann für die Bade­stube aber mehr Bottiche brauchen", sagte Paddy Rogers bedächtig, „und zwar nicht zehn, sondern sechzehn."

„Ich werd' nicht mehr", ächzte der Profos. „Spinnt ihr? Achtzig Wür­merchen!" Und er donnerte: „Könnt ihr mir mal sagen, wo ihr die herkrie­gen wollt?"

„Hier an Bord", donnerte Smoky zurück, „sind allein schon drei Wai­senkinder versammelt, nämlich Bill, Blacky und ich!"

„Vier", sagte der Kutscher.

Alle Köpfe ruckten zu ihm herum. „Vier?" fragte Smoky verdutzt.

„Wieso vier? Wer denn noch?" „Ich!" sagte der Kutscher, starrte

verlegen auf seine Stiefel und hatte einen roten Kopf.

Die Kerle standen da, als seien sie mit den Köpfen gegen ein Scheunen­tor gerannt. Völlig perplex. Der ein­zige, der still vor sich hinlächelte, ir­gendwie wissend, war Doc Freemont. Bei ihm war der Kutscher damals in Plymouth so eine Art Mädchen für al­les gewesen, bevor ihn Kapitän Dra­kes Preßgang auf die „Marygold" verschleppt hatte.

Hasard warf ihm einen schnellen Blick zu. Wußte der Doc mehr von der Vergangenheit oder Herkunft des Kutschers? Aber er sagte nichts. Da war nur sein Lächeln.

Auch der Kutscher beließ es dabei, ein Zipfelchen seiner Vergangenheit angehoben zu haben. Den Mannen brannte die Neugier in den Mienen, aber sie erfuhren nichts weiter, gar nichts.

Der Kutscher hatte seine Verlegen­heit schnell überwunden. Er sagte zu Carberry - fast kühl: „Unter vierund­dreißig Männern hier an Bord vier Vollwaisen, Profos! Das reicht doch wohl als Beweis für das, was Smoky vorschwebt. Vielleicht solltest du ein­mal ein Waisenhaus besuchen, um selbst zu sehen, wie viele Kinder dort gezwungen sind, zu leben, und zwar in qualvoller Enge und unter Bedin­gungen, die jedem menschenwürdi­gen Dasein Hohn sprechen."

Smoky nickte bestätigend. „Erin­nerst du dich an die Affen-Galeone, Ed, die wir vor vier Jahren mit Siri-Tong in der westlichen Karibik auf­brachten? Da waren vier und mehr

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Äffchen in einen Käfig gesperrt, eini­ge standen an Deck, andere unten in den Laderäumen - es stank zum Gott­erbarmen, und nur ein Pater war an Bord, der sich um die armen Tiere kümmerte. Damals dachte ich an das Waisenhaus, in dem ich ein paar Jahre zugebracht hatte - bis ich eines Nachts ausbrach. Zwischen den Aff­fenkäfigen auf der Galeone und dem verdammten Waisenhaus war gar kein so großer Unterschied."

„Schon gut, schon gut", murmelte der Profos, „hab's begriffen, Smoky." Er atmete tief durch. „Und du meinst, die Feste Arwenack wäre für einen solchen Zweck geeignet?"

„Überhaupt nicht zu vergleichen mit dem scheußlichen Gemäuer, in dem wir vegetierten", erwiderte Smoky. „Auf Arwenack könnten die Würmerchen wie kleine Prinzen und Prinzessinnen leben, nicht wahr, Sir?" Er blickte zu seinem Kapitän.

„Hm", brummelte Hasard, „ich weiß zwar nicht, wie kleine Prinzen und Prinzessinnen zu leben pflegen, aber auf Arwenack ist es sicher schö­ner als in den üblichen Waisenhäu­sern." Er grinste etwas schief. „Vor­ausgesetzt natürlich, auf Arwenack hausen keine Killigrews, die mir die Kindheit versauert haben."

„Du hast ihnen ganz schön die Zähne gezeigt!" ertönte der Baß von Big Old Shane.

„Na ja", sagte Hasard lahm, „was blieb mir anderes übrig bei dem Al­ten und seinen Ferkelsöhnen." Er reckte den Kopf. „Also, ihr wollt nach Falmouth segeln, habt ihr beschlos­sen, und die beiden Kerle ins Gebet nehmen, richtig?"

„Richtig", erwiderte Smoky und nickte. Auch die Mannen nickten.

„Und wie stellt ihr euch das vor?" fragte Hasard. „Wollt ihr Arwenack belagern, oder was?"

„Das überlassen wir dir, Sir", sagte Smoky schlicht. „Dir fällt bestimmt was ein, wie wir den Kerlen auf den Zahn fühlen können."

„Immer ich", sagte Hasard. „Uns fällt bestimmt auch was ein",

erklärte jetzt der Profos, „aber was dir einfällt, Sir, ist meistens besser. Wir würden natürlich - was die bei­den Rübenferkel betrifft - gern or­dentlich draufhauen, mit Bum-bum und so, aber da müssen wir bedenken, daß auf Arwenack alles heil bleiben soll, wenn wir es als Waisenhaus ein­richten wollen. Da dürfen wir nichts zertöppern. Du könntest es mit Dingsda - äh, Diplomatie versuchen."

„Mit Diplomatie, aha", sagte Ha­sard gallig. „Was meinst du wohl, wie meine beiden sogenannten Brüder auf Diplomatie reagieren? Die lachen sich halbtot!"

„Wenn sie sich halbtot lachen", sagte der Profos trocken, „dann tun sie uns schon einen Gefallen - wir brauchen den Halbtoten nur noch die andere Hälfte zu verpassen, was uns 'ne Menge Arbeit erspart."

Hasard runzelte die Stirn. „Ed, Ed! Wir sind weder Richter noch Voll­strecker von Urteilen, vor allem nicht in England. Wenn Simon Llewellyn und Thomas Lionel Dreck am Stek­ken haben, ist es Sache des Friedens­richters von Cornwall, darüber zu ur­teilen."

„Friedensrichter, Sir, können auch Dreck am Stecken haben oder besto­chen worden sein", sagte der Profos nüchtern. „Das kennen wir doch. Aber gut, das werden wir sehen. Was befiehlst du, Sir?"

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„Was soll ich befehlen?" entgegnete Hasard. „Ihr habt euch entschieden, nach Falmouth zu segeln, also muß ich mich beugen."

„Vor einer halben Stunde hat ab­laufendes Wasser eingesetzt", ver­kündete Dan O'Flynn, „wir können sofort auslaufen."

Hasard wandte sich zum Kutscher. „Genug Proviant und Trinkwasser an Bord?"

„Aye, Sir, kein Problem." „Gut." Hasard schaute Doc Free­

mont an und sagte: „Abe, wir haben London angelaufen, weil die Königin irgendeinen Auftrag für uns hat. Ich müßte mich also bei ihr entschuldi­gen, wenn ich - hm - noch einmal für eine Woche etwa verschwinde..."

Doc Freemont winkte ab. „Das erle­dige ich, mein Junge, du brauchst dich darum nicht zu kümmern. Erb­schaftsangelegenheiten haben Vor­rang, das ist auch im Sinne der könig­lichen Lissy. Ihr könnt ablegen."

„Danke, Abe." Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. Der Doc winkte den Mannen zu, wünschte eine gute Fahrt und verließ die Sche­becke.

Eine knappe Viertelstunde später segelten die Arwenacks themseab­wärts.

2.

Zwei Tage später, gegen Abend, lief die Schebecke in den Hafen von Fal­mouth ein. Old Donegal stand an der Pinne. Er hatte darum gebeten. Viel­leicht wollte er sich daran erinnern, wie das früher gewesen war, wenn er seine alte „Empress of Sea" in den Hafen gesteuert hatte.

Hasard beobachtete ihn von der Seite. Aber das Gesicht des Alten war granithart und verschlossen. Nur ein­mal, als sie kurz vor dem Einlaufen jene Stelle passierten, wo an Back­bord hinter den Ufern der Friedhof von Falmouth lag, da zuckte es um die Mundwinkel Old Donegals.

Hasard wußte, daß er in diesem Au­genblick an jene der O'Flynns dachte, die dort begraben waren - die Eltern, die Frau, die Söhne. Auch Dan O'Flynn blickte hinüber, schweigend, in sich versunken. Vielleicht dachte er an seine Mutter, die nach seiner Geburt verstorben war.

Knapp vor dem Hafen ließ Hasard die Segel wegnehmen. Mit auslaufen­der Fahrt glitt die Schebecke an die Pier. Niemand war da, um die Leinen wahrzunehmen. Der Hafen wirkte verlassen und öde - bis auf ein paar Fischerboote.

„Is'n hier los?" brummelte der Pro­fos stirnrunzelnd.

Sam Roscill und Stenmark spran­gen auf die Pier - gleich mit Vor- und Achterleine, die sie um die Poller be­legten. Zusätzlich wurden noch Vor-und Achterspring ausgefahren. Ein Teil der Mannen tuchte bereits die abgefierten Segel an den Rahruten auf. Sie sprachen nicht viel.

Und da wurde es ihnen plötzlich be­wußt.

Eine Geisterstille lag über dem Ha­fen und der Stadt, keine Lichter blinkten bei den Häusern. Die Fen­sterläden waren verschlossen.

„Scheint niemand ,an Bord' zu sein", knurrte der Profos. Mit „an Bord" meinte er die Stadt mit ihren Bürgern.

Und die Feste Arwenack über der Stadt?

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Ja, da herrschte keine Geisterstille. Und finster war es dort auch nicht. Dort war Lachen. Nur was für eins!

Hasard biß die Zähne zusammen. Jetzt holte ihn die Vergangenheit ein.

Arwenack! Es war wie immer, als noch Sir John dort oben seine Zechge­lage, seine Sauforgien gefeiert hatte.

Wie oft war er als Kind und als Junge von dort oben ausgerissen, wenn er es nicht mehr hatte aushal­ten können!

Das Grölen, das Kreischen, das Ge­lächter - wie damals. Und heute eher noch schlimmer.

Big Old Shane sprach es aus, grol­lend und mit Wut in der Baßstimme: „Es hat sich nichts verändert - sie to­ben dort oben herum wie seinerzeit der Alte mit seinen Saufkumpanen und Hurenweibern."

„Was hattest du denn erwartet?" fragte Hasard. „Daß sie dort oben Ge­betstunden abhalten und fromme Lieder singen?"

„Ach, Scheiße!" fauchte Old Shane. Hasard sah, daß der prächtige Bart Shanes zitterte, und er klopfte ihm auf die Schulter.

„Reg dich nicht auf, mein Alter", sagte er versöhnlich. „Abe Freemont hatte uns vorgewarnt - dort oben sei ein Saustall, und sie seien kräftig da­bei, die Falmouther zu terrorisieren. Man sieht's, die Häuser sind abge­schottet."

„Warum wehren sie sich nicht?" fragte Old Shane wütend. „Sie könn­ten die ganze Bande da oben aushun­gern!"

„Frag mich was anderes", entgeg­nete Hasard.

„Keine Courage", sagte Old Done­gal hart und knapp. Er bändselte die

Pinne fest und starrte düster zur Burg hoch.

„So wird's wohl sein", murmelte Hasard.

Don Juan räusperte sich. „Dort oben hast du also deine Kindheit und Jugend zugebracht - nicht schlecht, Mister Killigrew, Sir." Und er lä­chelte.

„Nicht schlecht? Wieso das?" fragte Hasard.

„Von da oben muß man eine phan­tastische Aussicht über die Bay von Falmouth haben", erwiderte der Spa­nier.

„Stimmt." Hasard erinnerte sich, wie oft er von den Zinnen des Burg­turms aus über die Bay geschaut hatte, vor allem, wenn die Stürme vom Atlantik her gegen die kornische Küste angerannt waren. Da hatte man sich da oben festhalten müssen. Und er fügte hinzu: „Der Ausblick hat mich für manches entschädigt." Und dann wurde seine Stimme jäh hart. „Sie wollten mich einmal von dem Turm stürzen, meine drei saube­ren Brüder. Sie wußten, daß ich bei Sturm oft dort oben weilte."

„Und?" fragte der Spanier. „Nichts und", knurrte Hasard. „Die

Diener mußten sie vom Turm schlep­pen. Als der Alte seine Söhne sah, kriegte er fast einen Schlaganfall. Dann wollte er auf mich los, aber da hielt ich ihn mit einer Degenspitze auf. Ich glaube, ich war damals vier­zehn oder fünfzehn. Wenn ich heute darüber nachdenke, wundere ich mich immer noch, warum ich den Spieß nicht umgedreht und die Mist­kerle hinuntergestürzt habe."

„Du würdest es auch heute nicht tun", sagte Ben Brighton ruhig.

Carberry erschien auf dem Achter­

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deck und meldete: „Schebecke aufge­klart, Sir." Er blickte Hasard erwar­tungsvoll an. „Unternehmen wir noch was?"

Hasard entspannte sich. Er hatte Ben Brighton erwidern wollen, daß er sich da gar nicht so sicher wäre und wahrscheinlich viel Ärger erspart hätte. Aber das behielt er für sich.

Er lächelte schon wieder. „Was schlägst du denn vor, Ed?"

„Mal so die Lage peilen, Sir", erwi­derte der Profos. „Wundere mich überhaupt, daß hier keiner Notiz von uns nimmt. Wenn sie Posten aufge­stellt haben, müßte von denen längst gemeldet worden sein, daß ein frem­des Schiff eingelaufen ist. So klein sind wir ja nun auch wieder nicht, um nicht gesehen zu werden."

„Die Bürger haben sich verkro­chen", sagte Old Donegal, „und die da oben fühlen sich verdammt sicher." Er deutete nach Südosten, wo sich Pendennis Point befand, die äußerste Landspitze von Falmouth. „Dort hin­ten stand früher Tag und Nacht ein Ausguck - an dem wäre nicht mal 'ne Maus vorbeigeschlüpft, ohne gesehen zu werden. Offenbar halten es die Kerle nicht mehr für nötig, dort Po­sten aufzustellen. Das allerdings hätte es bei dem Alten nicht gegeben, schon deswegen nicht, weil immer mit spanischen Angriffen gerechnet wer­den mußte."

Hasard nickte Old Donegal zu. Dann sagte er: „Also, Freunde, ich schlage vor, daß Old Shane, Dan und ich einen kleinen Spaziergang unter­nehmen und mal oben ans Burgtor klopfen. Ist ja noch Besuchszeit und nicht mitten in der Nacht." Er grinste hart. „Vielleicht werden wir zum Sau­fen eingeladen..."

„Das glaubst du doch wohl selbst nicht, Sir", platzte der Profos heraus.

„Da hast du recht, Ed", sagte Ha­sard, „sollte auch nur ein Späßchen sein. Kurz und gut, meine verehrten Brüder sollen wissen, daß ich da bin. Es bleibt abzuwarten, wie sie reagie­ren. Dann werden wir weitersehen. Unser Schiffchen sollte gefechtsklar sein und muß rund um die Uhr scharf bewacht werden. Kümmerst du dich darum, Ben?"

„Geht klar, Sir", erwiderte Ben Brighton. „Was ist, wenn die da oben es schaffen, euch drei zu vereinnah­men?"

„Sie vereinnahmen uns nicht", sagte Hasard.

„Wie du meinst", brummte Ben Brighton, „ich habe allerdings Zie­genböcke schon mal Handstand üben sehen."

„Ts-ts", äußerte Hasard, „man sollte es nicht für möglich halten."

„Eben." Ben Brighton knirschte mit den Zähnen. „Mit Verlaub, Sir, als Bruder Leichtfuß hatte ich dich bis­her noch nicht kennengelernt."

„Leichtfuß stimmt, mein Guter", sagte Hasard grinsend. „Wenn's näm­lich brenzlig wird, hüpfen wir leicht­füßig davon. Ich habe nicht die Ab­sicht, da oben eine Schlacht anzuzet­teln. Unbewaffnet werden wir auch nicht sein, also was soll's! Ich will wei­ter nichts, als die Dinge in Bewegung bringen. Was sich da oben abspielen wird, weiß ich genau. Du mußt mir zugute halten, daß ich meine Brüder kenne - wahrscheinlich besser als sie sich selbst. Keine Sorge, Ben, wir sind in spätestens einer Stunde wieder zu­rück."

„Na gut", murmelte Ben Brighton. Trotzdem war's ihm unbehaglich.

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Das lag aber mit an der widersprüch­lichen Situation - da oben auf Arwe­nack ließen sie die Puppen tanzen, und hier unten herrschte Grabes­stille. Sicherlich liefen die Mäuse in der Kirche von Falmouth mit ver­heulten Augen herum.

So zogen sie also los, bespickt mit Pistolen und Blankwaffen. Philip Ha­sard Killigrew hatte seinen Rad­schloß-Drehling dabei, Big Old Shane und Dan O'Flynn waren mit doppel­läufigen Pistolen ausgerüstet, die sie in den Gurten stecken hatten.

Wären sie laut singend zur Burg hochgestiegen, niemand hätte sie ge­hört, jedenfalls da oben nicht. Am schlimmsten war dort das Gekreische der Frauenzimmer, das allerlei Ver­mutungen zuließ. Allerdings keine sehr sittsamen, wenn man das Wie­hern der Kerle richtig deutete. Nun ja, bei Hengsten konnte man das ver­stehen, aber es sollte ja Männer ge­ben, die sich wie solche gebärdeten oder sogar glaubten, solche zu sein.

Noch unten im Hafen klopfte Ha­sard an die Tür jenes Hauses, in dem früher der Hafenmeister gewohnt hatte. Er pochte mit dem Kolben des Drehlings ans Holz - bum-bum-bum. Drinnen rührte sich nichts. Auch kein Fensterladen wurde geöffnet.

Es war schon ein Kreuz. Da konnte im Hafen einlaufen, wer wollte, nie­manden kümmerte das.

„Wenn das die Dons wüßten!" unk­te Dan O'Flynn. „Sie könnten Fal­mouth ausnehmen wie eine prächtige Weihnachtsgans. Die Kerle da oben würden es nicht mal merken."

„Eine Schande", knurrte Old

Shane, „dieses Pack, dieses ver­dammte. Kümmert sich einen Dreck um die Stadt."

„Die Stadt hat selbst schuld", sagte Hasard eher gelassen. Er klopfte noch einmal, aber kein Hafenmeister erschien.

„Damals war Amos Whitman Ha­fenmeister, erinnert ihr euch?" fragte Old Shane.

„Klar", erwiderte Dan grinsend. „Der sauste schon auf die Pier, sobald Segel an der Kimm gemeldet wurden, weil er Angst hatte, ein anderer könnte sich als Hafenmeister ausge­ben und die Hafengebühren kassie­ren."

„Hat ja auch mal einer gemacht", sagte Hasard und grinste ebenfalls. „Dieser alte Hafenstrolch - wie hieß er doch gleich?"

„Zachary, der krumme Zachary", sagte Dan. „Gott hab ihn selig. Mir tat er immer leid."

„Da war 'n verdammter Schnaps­bruder", brummelte Old Shane.

„Wenn du 'n Buckel hättest, wür­dest du vielleicht auch saufen", ent­gegnete Dan.

„Ich hab aber keinen, und mit Schnaps ist ein Buckel auch nicht zu ertränken."

„Der Buckel nicht, aber das Denken daran", sagte Dan O'Flynn. „Der Alte hätte Zuwendung gebraucht, aber niemand kümmerte sich um ihn, nicht mal John Reskymer, der Pfar­rer."

„Ach der", sagte Old Shane ver­ächtlich.

„Bevor wir jetzt die Kirchenge­schichte von Falmouth erörtern", sagte Hasard, „schlage ich vor, daß wir uns wieder in Marsch setzen. Ich hatte hier nur geklopft, um mal zu se­

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hen, ob jemand reagiert, was aber nicht der Fall ist."

Knapp sechs Minuten später stan­den sie vor dem verschlossenen Burg­tor von Arwenack, das von zwei mas­siven Türmen flankiert wurde. An die beiden Türme wiederum schloß sich die Burgmauer an, von der Arwe­nack ringsum abgeschirmt wurde.

In dem großen Burgtor befand sich noch einmal eine normale Tür, die je­doch gleichfalls verschlossen war. Durch sie ging man gewöhnlich aus und ein. Das Burgtor wurde nur ge­öffnet, wenn Reiter oder Fuhrwerke passieren mußten.

Ein Blick hoch zu den beiden Turm­söllern ließ erkennen, daß sie nicht von Wachen besetzt waren. Der Krach vom Burghof her war ohrenbe­täubend. Dort wurde offenbar auch gefeiert. Der flackernde Schein eines Feuers geisterte über die Mauern von Arwenack, der Duft eines Spießbra­tens weht den drei Männern in die Nase.

„Wildschwein am Spieß", sagte Big Old Shane, nachdem er kurz ge­schnuppert hatte.

Hasard und Dan nickten. „Na, dann wollen wir mal", sagte

Hasard und donnerte den Drehling­kolben gegen das Burgtor. Das klang schon anders als unten beim Hafen­meister. Es dröhnte, als sei gegen ei­nen Riesengong geschlagen worden. Hasard kannte das. Man mußte nur gegen eine bestimmte Stelle der Ei­chenbohlen schlagen, dann wurde dieses Dröhnen erzeugt. Das wirkte wie ein Resonanzboden.

Als das Dröhnen verstummte, herrschte auch hinter den Mauern ab­solute Stille. Der Krach war wie abge­schnitten.

Die drei Männer lauschten. Stimmengewirr setzte ein. Dazwi­

schen erklang das Klirren von Spo­ren. Sie näherten sich dem Burgtor. Hasard blickte auf das kleine Brett­chen in der Tür, das in Augenhöhe als Guckloch angebracht war. Es konnte natürlich nur von innen geöffnet wer­den. Aber es wurde noch nicht ent­fernt.

Eine barsche Stimme fragte: „Wer da?"

„Philip Hasard Killigrew!" schmet­terte der Seewolf. „Ich will meine Brüder sprechen!"

Stille. Nur das Feuer im Burghof kni­

sterte und knackte. Ein Scheit zer­sprang knallend. Es klang wie ein Schuß.

Hasard behielt das Brettchen im Auge. Dort hantierte jemand herum. Das Brettchen klappte nach innen. Ein bärtiges Gesicht tauchte auf. Al­les war von dem Gesicht nicht zu se­hen, aber es gehörte nicht zu Simon Llwellyn oder Thomas Lionel. Ha­sard wurde gemustert.

„Wer bist du?" fragte der Kerl. Die Betonung lag auf dem „Wer".

„Philip Hasard Killigrew." „Idiot! Willst du mich ver Schei­

ßern?" „Ich will meine Brüder sprechen",

sagte Hasard scharf, „und bin es nicht gewohnt, mich mit ,Idiot' anre­den zu lassen, verstanden?"

Das Gesicht verschwand. Das Brettchen wurde zugeknallt.

„Jetzt geht's los", flüsterte Hasard seinen beiden Mannen zu.

Er winkte, ihm zu folgen. Fünf Schritte weiter links vom Tor befand sich ein Vorsprung in der Mauer. Er ragte in ganzer Mauerhöhe wie ein

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Erker vor. Innen, vom Burghof aus, führte dort eine Treppe hoch zum Wehrgang. Hinter dem Vorsprung versteckten sich Big Old Shane und Dan O'Flynn, die Waffen schußbe­reit. Hasard blieb zwischen Vor­sprung und Tor stehen.

Aus dem Burghof ertönte Palaver. Jetzt erkannte Hasard die Stimme von Simon Llewellyn. Sie klang ge­reizt. Offenbar schnauzte er den Kerl an, der durch das Guckloch gelugt hatte.

Dann brüllte Simon Llewellyn: „Bastard, bist du das?"

„Ich bin es!" rief Hasard zurück. „Was willst du?" „Ich will das Testament deiner

Mutter sehen!" rief Hasard. Ein höhnisches Lachen war die

Antwort. Dann brüllte Simon Llewel­lyn: „Du hast überhaupt nichts zu wollen, Bastard! Verschwinde! Du hast hier nichts mehr zu suchen. Ich bin der Burgherr! Hast du mich ver­standen? Ich bin der Burgherr - ich-ich-ich!"

„Ich will den Beweis sehen!" rief Hasard.

„Leck mich am Arsch!" brüllte Si­mon Llewellyn.

„Dann komm raus, du Feigling!" rief Hasard.

„Verschwinde! Oder ich hetze dir die Köter auf den Hals!" Jetzt über­schlug sich Simon Llewellyns Stimme.

Und auch Thomas Lionel meldete sich kreischend: „Wir machen dich hin, Bastard!"

„Ich bin nicht so leicht umzubrin­gen wie euer Notar!" rief Hasard mit klirrender St imme.

Das schien zu sitzen. Die beiden Ferkelbrüder fluchten lästerlich.

Zwischendurch hörte Hasard den ge­zischten Befehl Simon Llewellyns: „Laßt sie raus!"

Genauso hatte er sich das vorge­stellt. Er kannte ihre Reaktionen. Sie ließen die Bluthunde los. Erst sollten die Tiere kämpfen. Dann würden sie ihre Kerle „an die Front" schicken ­aber selbst immer in Deckung blei­ben. Sie hatten sich nicht geändert. Es war wie immer. Und es würde erst zu Ende sein, wenn sie ihn umge­bracht oder selbst ins Gras gebissen hatten.

Hasard glitt zurück zu Big Old Shane und Dan O'Flynn.

Seine Stimme klang grimmig: „Ihr könnt jetzt abhauen, wenn ihr wollt, aber ich bleibe."

„Ich habe schon immer mal Blut­hunde abschlachten wollen!" fauchte Big Old Shane. „Vor allem die Be­stien von Arwenack, die sie immer auf die Bauern gehetzt haben!"

„Geht mir nicht anders", sagte Dan O'Flynn.

„Na gut", sagte Hasard, „dann bleibt, aber schießt nicht daneben. Wenn das erledigt ist, verschwinden wir."

„Aye, aye, Sir." Sie waren schußbereit - mit dem

Rücken an der Burgmauer. Hasard lauerte um die Ecke des Vorsprungs. Die Tür im Tor flog auf. Ein langer Schatten raste nach draußen. Nicht weit.

Hasards Schuß peitschte. Das Tier überschlug sich, schlitterte ein Stück weiter und blieb verkrümmt liegen.

Jaulen, Heulen, Kläffen. Sie quol­len aus der Tür - drei, fünf, sieben Bluthunde. Im Innenhof grölten die Kerle.

Hasard sprang vor und feuerte.

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Schuß um Schuß verließ den Lauf seines Drehlings. Kugel um Kugel fetzte in Tierkörper, in die Leiber von Bluthunden, die auf Menschen abge­richtet waren. Sie hatten ein königli­ches Leben geführt. Und sie kannten nur Menschen, die ausgerissen wa­ren, jene Menschen, auf die man sie hetzend losgelassen hatte.

Jetzt erklangen auch wieder die Hetzrufe - die der freien Jagd, was bedeutete, daß sie die Gehetzten zer­reißen und zerfetzen durften.

Aber die Jagd verlief umgekehrt. Sie konnten die drei Männer nicht an­springen und zu Boden reißen. Deren Rohre spuckten Feuer, und in diesem Feuer zuckten sie zusammen, bäum­ten sich auf, wurden sie gestoppt, her­umgeschleudert, zur Seite gefegt.

Ihr infernalisches Bellen verwan­delte sich in Jaulen. Drei, vier schleppten sich davon, aber Kugeln holten sie ein und streckten sie nie­der.

Da war noch ein Tier, ein riesiges Vieh, und es stürmte auf Hasard zu, mit glühenden Augen und gefletsch­tem Fang.

Hasard ließ den Drehung fallen und zog blitzschnell den Degen. Er stach zu, als das Tier mit einem letz­ten Satz auf ihn zuflog. Der Stahl bohrte sich in die Brust des Bluthun­des, durchspießte sie und drang am Rücken wieder heraus. Hasard zog den Degen zurück. Das Tier schnappte nach seinem Stiefel und verendete.

„Weg jetzt!" zischte Hasard, hob den Drehling auf und wandte sich um.

Längs der Mauer huschten sie nach unten.

Von den beiden Turmsöllern

peitschten Schüsse. Die Kerle schos­sen blind, denn von den drei Männern war nichts mehr zu sehen. Die Dun­kelheit hatte sie verschluckt.

Im Umkreis des Burgtors lagen acht tote Bluthunde.

Simon Llewellyn drosch den Hun­deführer zusammen, weil dessen „blöde Viecher" den Bastard nicht zerrissen hatten.

Das Wildschwein verbrannte am Spieß und war ungenießbar. Und die Sauforgie war zerplatzt wie eine Sei­fenblase. Kein Kreischen, kein Wie­hern mehr. Auf Arwenack zog dump­fes Grübeln ein.

3.

Auf halben Weg zum Hafen hinun­ter stießen die drei Männer auf zehn Arwenacks unter Führung Edwin Carberrys.

„Na so was!" wunderte sich Ha­sard. „Hier gibt's aber keine Pinte, Ed. Oder wo wolltet ihr hin?"

„Befehl vom Ersten, Sir", knurrte Carberry. „Wir sollten euch heraus­hauen!"

„Aus was heraushauen, mein Gu­ter?" erkundigte sich Hasard.

„Ihr wart doch in eine Schießerei verwickelt, verdammt noch mal!"

,,Wir?" Hasard drehte sich zu Big Old Shane und Dan um. „Waren wir in eine Schießerei verwickelt?"

„Schießerei nicht direkt", sagte Dan O'Flynn grinsend. „Wir waren auf einem Schießstand, Ed. Und jetzt gibt's auf Arwenack keine Bluthunde mehr."

„Da werden sich die armen Wür­merchen aber freuen", brummelte der Profos.

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„Wie?" fragte Dan verdutzt. „Na, unsere Waisenkinder, du Blöd­

mann", sagte der Profos in seiner lie­benswürdigen Art.

„Ach so. Ja, da hast du recht." „Diese Ferkellümmel haben also

Bluthunde auf euch gehetzt", sagte der Profos. „Nicht zu fassen." Er blickte zu Hasard. „Wäre das jetzt nicht eine Chance, die Kerle gleich aufzumischen, Sir?"

Hasard winkte ab. „Die Partie ist eröffnet, Ed. Ich möchte abwarten. Dabei vermute ich, daß sie vielleicht heute nacht was versuchen."

„Zum Beispiel?" „Zum Beispiel", sagte Hasard, „daß

sie versuchen, unser Schiffchen zu überfallen, was ich sehr begrüßen würde. Die Bluthunde gibt es nicht mehr. Als nächstes werden sie ihre Kerle gegen uns vorschicken. Das würde uns die Möglichkeit geben, diese Horde gebührend zu empfan­gen und zu verkleinern, was wieder Folgen zeitigt. Du verstehst, was ich meine?"

„Die Bande soll zerbröseln, rich­tig?"

„Richtig, Ed. Und dann bleiben nur meine sauberen Brüder übrig - ge­wissermaßen nackt, was ihnen noch nie gefallen hat."

„Bin einverstanden, Sir." Sie kehrten an Bord zurück, emp­

fangen von einem verdrossenen Ben Brighton, der sich fürchterlich aufge­regt hatte, als oben die Schüsse gefal­len waren.

„Du hattest da oben keine Schlacht anzetteln wollen, Sir", sagte er wü­tend. „Aber genau das hast du ge­tan!"

„So? Habe ich? Stimmt aber nicht, mein Guter und Allerbester!" sagte

Hasard heiter. „Eine Schlacht war das nicht, sondern ein Schlachten. Ich erklärte das Ed schon, vielmehr Dan klärte ihn auf. Sie ließen die Bluthun­de los, und die leben jetzt nicht mehr. Ich hatte damit gerechnet. Die Blut­hunde waren immer so eine Art Spe­zialität meiner Brüder und meines Alten. Shane, Dan und ich reichten, um sie zu erledigen. Es waren nur acht. Der Alte hatte mehr gehabt. Er nahm sie immer mit, wenn er die Pacht von den Bauern eintrieb, er oder der Burghauptmann. Heute abend habe ich eine alte Rechnung beglichen - mit Hilfe von Shane und Dan. Sollte ich deswegen vorher ein großes Trara veranstalten?"

Von der Kirche klangen neun Glok­kenschläge herüber.

„Na bitte", sagte Hasard, „vor einer Stunde zogen wir los, jetzt sind wir wieder da, wir haben die eine Stunde eingehalten, wie ich das versprochen hatte. Alles klar, Ben?"

„Alles klar, Sir." Der Erste lächelte. „Du bist schon ein verdammter Hun­desohn. Übrigens waren es deine Söhne, die mir hier die Hölle einheiz­ten, als oben die Schüsse fielen."

Hasard drehte sich zu seinen Söh­nen um. „Wieso das denn?"

Die standen trotzig da und funkel­ten ihren Vater an.

Und Hasard junior fauchte: „Du hast Shane und Dan mit hochgenom­men, Sir! Nichts gegen sie! Aber Philip und ich meinen, daß wir da oben auch was zu vertreten haben ­als deine Söhne. Killigrews sind wir auch, mal so ganz nebenbei."

Hasard ertappte sich dabei, daß er sich schon wieder innerhalb kurzer Zeit hinter dem rechten Ohr kratzen wollte. Er merkte es noch rechtzeitig

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und unterließ es. Seine Rechte blieb an der Hüfte. Er schob sie weiter und verschränkte sie hinter dem Rücken mit der Linken.

„Nun ja", sagte er und verbot sich, zu seufzen. „Shane und Dan und Do­negal sind Falmouther und kennen das Gelände dort oben. Donegal wollte ich nicht bemühen. . ."

„Mahlzeit!" unterbrach ihn Old Do­negal wütend. „Als Falmouther aus der Großvätergeneration muß ich mich da oben wohl noch besser aus­kennen als ihr jünger Hüpfer. Oder etwa nicht?"

Jetzt wurde Hasard aus drei Augen­paaren angefunkelt - von Old Done­gal und seinen beiden Söhnen. Da stieg ihm doch die Galle hoch - und er fauchte zurück: „So, der eine hat da oben im Sandkasten gespielt, und die beiden anderen haben da oben auch was zu vertreten! Na bitte! Meine Herren Söhne, so erinnere ich mich, rieten dem Mister Smoky, er möge sich Arwenack an den Hut stek­ken. Und Mister O'Flynn, der Ältere, erhob auch keinen Einspruch, als ich vorschlug, mit Shane und Dan denen da oben einen Besuch abzustatten. Aber anschließend nölt ihr hier her­um und fühlt euch zurückgesetzt. So, ich gehe jetzt in die Koje, Gentlemen! Rutscht mir den Buckel runter! Hängt euch Arwenack um den Hals oder sonstwohin! Aber laßt mich zu­frieden!"

Und damit tauchte Philip Hasard Killigrew ab. Er kündigte seiner Mannschaft den Dienst auf, sozusa­gen. Er hatte die Schnauze voll. Am liebsten wäre er, allein, versteht sich, nach Plymouth gesegelt und hätte jetzt Plymsons Kneipe „Bloody Mary" aus den Angeln gehoben.

Als das Schott zu seiner Kammer zukrachte, zuckten die Mannen zu­sammen.

Jetzt funkelte ein vierter, nämlich Big Old Shane. Und er funkelte Old Donegal und die beiden Junioren an.

„Seid ihr noch zu retten, ihr dämli­chen Hammel?" legte er los und stand da, als habe er die Absicht, zuerst Old Donegal aus den Stiefeln zu heben. „Das ist seine ureigenste Sache mit seinen verdammten Brüdern und Ar­wenack! Seine ureigenste! Ihr habt nicht die Hölle erlebt, die er da oben durchstehen mußte - du nicht, O'Flynn, und ihr beiden Junker schon gar nicht. Ihr wißt überhaupt nicht, was ihr für einen Quatsch dahergere­det habt. Ich hätte euch an Hasards Stelle vierkant eine geschmiert, da­mit ihr wieder Vernunft annehmt. Vielleicht könnt ihr ihn morgen um Entschuldigung bitten - wenn über­haupt. Gute Nacht!"

Und damit marschierte auch Big Old Shane unter Deck und ließ sein Kammerschott hinter sich zukra­chen.

„Scheiße!" sagte der Profos Edwin Carberry, blickte zu Smoky und fügte hinzu: „Wenn die Ferkelbrüder heute nacht angreifen, möchte ich geweckt werden. Habe die Ehre!" Er streifte Old Donegal mit einem finsteren Blick - ebenso die beiden Junioren ­und verschwand.

Ben Brighton sagte kühl: „Schiff bleibt gefechtsklar, das heißt, Ge­fechtswache zieht auf. Mit einem An­griff der Kerle muß gerechnet wer­den. Ich möchte alle zwei Stunden ge­weckt werden. Vielleicht sind Old Do­negal und die beiden Junioren so freundlich, die ganze Nacht Wache zusätzlich zu schieben, weil sie so er­

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picht darauf sind, dem Kapitän in je­der Weise behilflich zu sein. Dem steht natürlich nichts im Wege." Er nickte freundlich und verzog sich in seine Kammer.

„So was hab ich noch nicht erlebt", murmelte Smoky verstört, straffte sich jedoch und sagte: „Wache zieht auf wie eingeteilt. Sperrt mir ja die Augen auf, ihr Läuseknacker! Wer auf Wache pennt, den walke ich mit dem Nudelholz durch, daß er als Pfannkuchen in jede Bratröhre paßt. Ist das klar?"

„Aye, aye", murmelten die Männer. Als Wachführer der ersten Wache

blieben Smoky und Ferris Tucker an Deck, Don Juan de Alcazar und Dan O'Flynn würden die Mitternachts­wache übernehmen, Ben Brighton und Al Conroy die Morgenwache. Je­weils sechs Mann waren ihnen zuge­teilt. Bei den Drehbassen standen Kohlebecken mit Holzkohleglut. Handwaffen waren verteilt, darunter Tromblons mit ihrer verheerenden Streuwirkung auf kürzerer Distanz.

Ja, und Old Donegal sowie die bei­den Junioren legten die Ohren an und gingen - eingedenk der Empfehlung des Ersten Offiziers - alle drei Wa­chen während der Nacht mit.

Der Witz war nur, daß überhaupt nichts passierte. Die Mannen der drei Wachen meinten, sich auf dem Mond zu befinden - wenn der Mond mit Er­eignislosigkeit und Öde identisch war, was man nicht so genau wußte.

Carberry war schwer enttäuscht. Da hatte der Kapitän echt daneben­gehauen, wenn er angenommen hatte, die Kerle würden im Verlauf der Nacht angreifen.

Nichts da. Kein Schwanz zeigte

sich, nicht mal der eines verliebten Katers.

Die Lichter auf Arwenack waren auch gelöscht. Das Gemäuer ragte dü­ster in den Nachthimmel.

Der neue Tag brach an. Die Sonne vertrieb die Morgennebel. Von ir­gendwoher war ein Hahnenschrei zu vernehmen. Ein anderer antwortete. Die ersten Fensterläden der Häuser am Hafen wurden geöffnet, auch jene im Haus des Hafenmeisters.

Ein Glatzkopf erschien in einem der oberen Fenster. Im Fenster dane­ben klopfte eine Frau Federbetten aus. Der Glatzkopf blickte zur Sche­becke, tauchte weg, wurde wieder sichtbar. Ein Spektiv wurde auf die Schebecke gerichtet.

Old Donegal, neben Ben Brighton auf dem Achterdeck stehend, langte seinerseits zum Spektiv und plierte zu dem Fenster.

Dann murmelte er: „Amos Whit­man, der Hafenmeister, hat uns ent­deckt. Dieser alte Knacker! Daß der noch lebt!"

„Wie alt ist der denn so?" fragte Ben.

„Amos? Na, wie alt wird der jetzt sein", brummelte Old Donegal. „Schätze, so um die Sechzig."

Um die Sechzig! Ben Brighton ver­biß sich ein Grinsen. Ein Mann dieses Alters war bei Old Donegal ein „alter Knacker". Da war zu fragen, wie er sich selbst bezeichnete.

„Also jünger als du", sagte Ben. „Jünger?" fragte Old Donegal em­

pört. „Wo denkst du hin! Amos war schon mit vierzig bemoost und müm­

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melig. Gegen den bin ich ein junger Hirsch!"

„Mümmelig?" erkundigte sich Ben. „Was verstehst du darunter?"

„Der mümmelt eben", erklärte Old Donegal, „so wie alte Kerle, wenn sie keine Zähne mehr haben."

Was die Zähne betraf, da war Old Donegal tatsächlich ein Naturwunder oder - mit seinen eigenen Worten ­„ein junger Hirsch".

„Außerdem", führte Old Donegal weiter aus, „hatte Amos schon mit vierzig 'ne Halbglatze. Nachts trug er im Bett 'ne Zipfelmütze, die ihm seine Alte gestrickt hatte."

„Ach, er war verheiratet?" Old Donegal kicherte. „War? Er ist

es noch!" Er hatte den Kieker wieder geschwenkt und jetzt auf das Fenster gerichtet, wo von der Frau die Betten ausgeklopft wurden. „Da ist sie - Be­nedicta, die Holde! Ha-ha! Sie trägt 'n Häubchen, sonst erkennst du nicht, daß sie 'ne Frau ist, die dürre Zicke. Hat überhaupt nichts drauf, die Alte, rein gar nichts, schon damals nicht, Brett mit zwei Warzen, verstehst du? Wenn ich da an meine Snugglemouse denke!" Old Donegal ließ den Kieker sinken und starrte Ben an. „Was gibt's da zu grinsen, he?"

„Ach, nichts." Ben hüstelte und hielt rasch die Hand vor den Mund. Er hätte vor Lachen brüllen können. Das lag an der häufig doch sehr merk­würdigen Betrachtungsweise des al­ten Zausels, der zum Beispiel einen Vierzigjährigen bereits als „be­moost" und „mümmelig" bezeich­nete. Aber er selbst meinte, noch „ein junger Hirsch" zu sein. Na, und die Schilderung über die „dürre Zicke".

Ben hob sein Spektiv ans Auge und peilte die Lady an, die jetzt mit einem

Strohklopfer die Betten bearbeitete. Er sah unter dem Häubchen eine Geiernase, einen verkniffenen Mund und ein spitzes Kinn, auf dem eine Warze prangte.

Ja, dagegen war Mary Snuggle­mouse, verehelichte O'Flynn, nun wirklich eine Schönheit mit allem Drum und Dran, da biß die Maus kei­nen Faden ab. Er schwenkte den Kie­ker nach links, aber Arnos, der „alte Knacker", hatte seinen Fensterplatz bereits geräumt.

Dafür prallte unten die Tür auf, an die Hasard in der Nacht gehämmert hatte. Amos erschien und zog sich beim Hinuntersteigen der beiden Türstufen noch eine Jacke über.

Oben beugte sich Benedicta weit aus dem Fenster und keifte: „Amos! Du hast deine Mütze vergessen!"

Arnos zuckte zusammen, betastete seinen Kopf, der oben zur Vollglatze geworden war, und huschte wieder ins Haus zurück. Oben im Fenster verdrosch Benedicta die Betten, als könnten die was dafür, daß Arnos seine Mütze vergessen hatte.

Old O'Flynn gluckste vor sich hin. „Ich hätte die Alte längst erwürgt",

verkündete er grinsend, „oder zum Teufel gejagt."

Als Amos, jetzt bemützt, wieder auftauchte, zeterte Benedicta erneut los.

„Arnos, hast du deine Medizin ge­nommen?"

„Ich muß jetzt zu dem Schiff!" brüllte Amos in einer Anwandlung von Widerstand gegen seine bessere Hälfte zurück.

Benedicta schüttelte drohend den Bettenklopfer. „Du nimmst sofort deine Medizin, Arnos, sonst setzt es was!"

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Da verlosch Amos' Widerstand wie eine abgebrannte Kerze. Gehorsam trottete er zurück und verschwand zum zweiten Mal im Haus.

„Benedicta!" schrie Old Donegal zum Haus hinüber. „Paß auf, daß du nicht aus dem Fenster fällst, du alte Nachteule!"

Es sah aus, als erleide Benedicta am Fenster einen Schlaganfall. Sie herzte ihren Busen, wo keiner war, und schien nach Luft zu schnappen. Dann rannte sie zum anderen Fen­ster, wo offenbar Arnos den Kieker hatte liegen lassen, setzte ihn ans Auge und stierte zu Old Donegal. Der streckte ihr doch wahrhaftig die Zun­ge raus und zeigte ihr eine lange Nase.

„Bäh!" machte er dabei. „Donegal!" sagte Ben Brighton ent­

setzt. „Bist du verrückt, verdammt noch mal?"

Vom Fenster her kreischte Bene­dicta: „O'Flynn, du alter Hurenbock! Du Trunkenbold . . . "

Unten erschien wieder Arnos, und da schrie Benedicta: „Amos, du bleibst im Haus! Untersteh dich, zu dem Schiff zu gehen! Ich verbiete dir das, hast du mich verstanden?"

„Ich tue meine Pflicht!" brüllte Arnos wütend.

Benedicta oben am Fenster war nicht minder wütend, sie war sozusa­gen rasend. Und darum drosch sie in Ermangelung einer anderen Klopfge­legenheit - möglicherweise dachte sie an den Hintern ihres Ehegatten - wie eine wilde Furie wieder auf die Bet­ten. Und so passierte das, was passie­ren mußte, denn auch Bettleinen ha­ben eine bemessene Lebenszeit oder zeitigen eine Wirkung, wenn sie über­strapaziert werden.

Der Bezug platzte auseinander, und Benedicta stand in einer wirbelnden Wolke weißer Bettfedern. Frau Holle ließ es schneien — und das mitten im Wonnemonat Mai.

Old Donegal lachte sich kringelig, Ben Brighton und die Morgenwäch­ter, die alles mitgekriegt hatten, ge­nauso.

Und Arnos stand unten im Schnee und wurde von den Bettfedern berie­selt. Ein Teil schwebte über den Ha­fen, mitgenommen von einer leichten Brise.

Carberry schoß an Deck, zwei Pi­stolen in den Fäusten, und schaute sich wild um.

„Wo sind die Hunde?" röhrte er. Er sah nur Kerle, die lachend her­

umhüpften oder sich die Bäuche hiel­ten. Und ein paar Bettfedern schweb­ten vor seiner Nase aufs Deck nieder. Er stierte sie an mit langem Hals, bückte sich, hob eine auf und roch daran. Schlauer wurde er davon auch nicht.

„Was ist hier los?" brüllte er. Amos, ziemlich in Weiß, zuckte er­

neut zusammen, und fast schien es, als habe er die Absicht, die Flucht zu­rück ins Haus anzutreten. Aber er er­mannte sich - wenn er ins Haus zu­rückkehrte, würde Benedicta mit ihm den Molly machen. Da ging er doch lieber zu dem Schiff, auch wenn ihm das nicht geheuer war - diese lachen­den Kerle und dann eben diese Don­nerstimme. Ganz dunkel meinte er auch, den silberhaarigen Alten auf dem Achterdeck von irgendwoher zu kennen.

Aber Hafengebühren würde er auf jeden Fall kassieren. Das war ein fremdes Schiff, also hatte der Kapi­tän zu zahlen. Und so marschierte er

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auf die Schebecke zu, wie die Pflicht es ihm befahl. Da mochte Benedicta noch soviel zetern oder einen weite­ren Bettbezug ruinieren. Außerdem guckten schon überall die Leute aus den Fenstern, neugierig wie immer, wenn ein fremdes Schiff im Hafen lag.

Die Kerle lachten immer noch, und so erhielt der Profos keine Antwort auf seine Frage, was hier los sei.

Statt dessen sah er das Männchen auf die Schebecke zumarschieren, und da war er mit einem Satz auf der Pier, um den Kerl gebührend in Emp­fang zu nehmen. Wurde ja auch mal Zeit, daß sich hier jemand blicken ließ.

Jetzt hätte Amos am liebsten doch wieder Reißaus genommen. Entsetzt blieb er stehen und starrte das Unge­tüm mit dem wilden zernarbten Ge­sicht und dem Rammkinn an. O Gott, der bedrohte ihn auch noch mit zwei Pistolen!

„Was willst du?" ranzte ihn der Profos an.

„Ich - ich bin der Hafenmeister", stotterte Arnos und schielte links über die Schulter, wohin er die Flucht antreten könnte. Dabei blies er sich zwei Bettfedern von der Nase, die ihm die Sicht verdunkelten.

„Na und?" bölkte Carberry. „Wir sind gestern abend schon eingelau­fen. Aber hier pennt wohl alles - dir hängen noch die Bettfedern in der Mütze!"

„Ich - ich muß die Hafengebühren kassieren." Arnos hätte fast geheult. Er stierte auf die beiden Pistolen, mit denen der Kerl herumschlenkerte, als seien das Hampelmänner. „Vor-Vor­sicht!" stammelte er. „Wenn die los­gehen . . . "

„Dann macht es bum, und du fällst um!" röhrte der Profos.,

Arnos zitterte. „Ich - ich will Ihnen aber nichts Böses, lieber Mister! Ich ­ich muß nur die Hafengebühren kas­sieren, dann - dann gehe ich wieder."

Carberry schob die beiden Pistolen unter den Gurt und stemmte die Pranken in die Hüften. Er starrte auf das Männchen hinunter, das zuse­hends schrumpfte.

„Hafengebühren kassieren", flü­sterte der Profos, und das war immer noch laut genug, „für diese lausige Pier samt Hafen Gebühren kassieren, was, wie?" Und er donnerte: „Weißt du denn, wer wir sind, du Spillerhe­ring?"

„N-nein", wisperte Amos. „Wir sind die Arwenacks - unter

Kapitän Philip Hasard Killigrew!" dröhnte der Profos, und das Echo schallte von den Hauswänden zurück.

4.

Arnos wurde käsig im Gesicht. „Ka-kapitän Ki-killigrew? D-der

See-see-seewolf?" stotterte er. „Genau der! brüllte der Profos.

„Und wir zahlen keinen müden Penny Hafengebühr, verstanden?"

„Ja-jawohl, Mister Arwenack." „Ich heiße Carberry!" donnerte der

Profos. „Edwin Carberry! Ist das klar?"

„Jawohl, Mi-mister Arwe .. .äh,Ca­carberry. Ogottogott, m-mir ist so schlecht..."

Der Profos langte zu, schwenkte Amos am Kragen an Bord, rief grol­lend nach dem Kutscher und einer Pulle Rum, empfing sie und ließ das Männchen kräftig schlucken. Er

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nahm auch gleich einen. Da kriegte das Männchen wieder Farbe.

Old Donegal stiefelte grinsend auf die Kuhl hinunter und begrüßte den „alten Knacker".

Da ging Amos ein Seifensieder auf. „Bist du's wirklich, Donegal?"

„Klar, wer denn sonst! Shane ist auch dabei. Und mein Sohn Dan. Und unter wem wir fahren, weißt du ja schon.. ."

„Ja, unter mir." Hasard setzte mit einer Flanke auf die Kuhl hinunter. „Guten Morgen, Amos! Schön, dich zu sehen. Gestern abend habe ich bei euch angeklopft, aber keiner hat ge­öffnet."

Da wurde Amos nun doch wieder verlegen und stotterte: „Gu-guten Morgen, Sir. Wu-wußte nicht, daß ihr das wart, sonst hätte ich natürlich ge­öffnet, aber Benedicta sagte, ich sollte nicht zur Tür gehen, womöglich seien das — seien das . . . "

„Meine Brüder", ergänzte Hasard. „Ja." Hasard nickte Carberry zu, was be­

deutete, er möge Arnos noch was schlucken lassen. Arnos war ein dank­barer Schlucker, zumal ihn seine Be­nedicta diesbezüglich unter strenger Kontrolle hielt. Einen Humpen Dünn­bier kriegte er nur, wenn Benedicta Geburtstag hatte. Warum das so war, wußte kein Mensch. Vielleicht wollte Benedicta an ihrem Geburtstag einen lustigen Amos. Zu den anderen Feier­tagen und zum eigenen Geburtstag erhielt Arnos Lindenblütentee. Der kam ihm schon zu den Ohren raus.

Also, er zippelte kräftig an der Pulle, und seine Augen wurden glän­zend. Auch seine alte Gesichtsfarbe kehrte zurück und wechselte zu ei­nem rötlichen Ton über.

„Wann sind Simon Llewellyn und Thomas Lionel nach Falmouth zu­rückgekehrt, Amos?" erkundigte sich Hasard.

Amos überlegte. Dann erwiderte er: „Vor etwa acht Monaten, Sir." Er zö­gerte, ermannte sich und fügte tapfer hinzu: „Gewalttätiger und verrohter als jemals zuvor - und noch schlim­mer als Sir John. Lady Anne hat furchtbar darunter gelitten - Abend für Abend Sauforgien oben auf Arwe­nack oder bei uns in den Kneipen Prü­geleien. Die Töchter der Bürger muß­ten sogar tagsüber in den Häusern bleiben. Sie wurden von den Kerlen belästigt - es gab auch Vergewalti­gungen."

„Warum habt ihr euch nicht ge­wehrt?"

„Gewehrt?" Arnos schüttelte den Kopf. „Wir sind nicht stark genug."

„Wie viele Kerle haben meine Brü­der um sich versammelt?"

„Ungefähr dreißig, aber sie haben ja auch die Bluthunde, die sie immer dabei hatten, wenn sie durch Fal­mouth strolchten."

„Die Bluthunde haben wir heute nacht erschossen", sagte Hasard ru­hig.

Amos erstarrte. „Mein Gott, und das haben die sich da oben gefallen lassen?"

Hasard zuckte mit den Schultern. „Ich hatte damit gerechnet, sie wür­den heute nacht zurückschlagen und unser Schiff angreifen."

„Haben sie aber nicht getan", knurrte der Profos. „Die Taktik mit dem Zerbröseln kommt nicht ganz hin, Sir."

„Ich trag's mit Fassung, Ed", sagte Hasard und wandte sich wieder Amos zu. „Wann ist Lady Anne gestorben?"

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„Am zwölften April, Sir. Einen Tag später verlas Collingwood, der Notar, öffentlich und im Beisein der beiden Söhne das Testament von Lady An­ne. Sie hatte Simon Llewellyn als Er­ben von Arwenack eingesetzt."

„Warst du bei der Verlesung dabei, Amos?"

Der Hafenmeister nickte. „Das war schon merkwürdig", mur­

melte er. „Mister Collingwood war ziemlich bleich, verstört, und er zit­terte, während er las. Mehrmals ver­sagte ihm die Stimme. Wir dachten, die Trauer hätte ihn übermannt, denn er hatte zu Lady Anne immer ein fast freundschaftliches Verhältnis ge­habt. Er hatte Respekt und Hochach­tung vor ihr. Drei Tage später wurde er tot in seiner Kanzlei gefunden, sein Gesicht war bläulich verfärbt, als wäre Gift die Ursache seines Todes gewesen."

„Wer fand ihn?" fragte Hasard. „Sein Sekretär, Mister Briggs, ein

unbescholtener alter Mann." „Lebt er hier in Falmouth?" „Ja, Sir . . . " Amos stutzte. „Was ist?" „Ach, mir fiel nur ein, daß ich

Briggs in letzter Zeit kaum gesehen habe, Sir, immer nur flüchtig, mal abends, beim Einkaufen. Er hatte es immer eilig und nie Zeit für ein Ge­spräch. Er hat sich wohl ganz zurück­gezogen. Der Tod von Mister Colling­wood war ein schwerer Schlag für ihn. Und da ist noch etwas, Sir, was ich Ihnen sagen muß, auch wenn es nur ein Gerücht ist. Man erzählt sich, Lady Anne habe Sie zum Erben von Arwenack eingesetzt. Sie soll das Dienstboten gegenüber erwähnt ha­ben."

„Wann?"

„Wann, das weiß ich nicht genau, aber jedenfalls nach der Rückkehr ih­rer beiden Söhne, Sir, als die das im­mer wilder trieben. Sie verfiel von Tag zu Tag mehr."

„Starb sie eines natürlichen To­des?" fragte Hasard.

Amos blickte zu ihm auf und sagte vorsichtig: „Wie man's nimmt."

„Was heißt das?" „Na ja." Arnos druckste herum.

„Wir meinen alle, daß sie vor Gram starb, und das ist eigentlich kein na­türlicher Tod."

„Ich verstehe", murmelte Hasard. „Man schließt also aus, daß sie eines gewaltsamen Todes starb."

„Das ist korrekt, Sir." „Danke, Amos, das ist, glaube ich,

alles, was ich wissen wollte." „Werden Sie gegen die Kerle da

oben etwas unternehmen, Sir?" fragte Arnos neugierig.

„Umgekehrt wird ein Stiefel draus", sagte Hasard lächelnd. „Was werden meine Brüder unternehmen, nicht wahr? Schließlich war ich so vermessen, ihre Bluthunde zu töten."

„Ein Segen, Sir, das war eine gute Tat. Jetzt kann man wenigstens wie­der ruhig durch die Straßen gehen, ohne von den Bestien angeknurrt zu werden. Wir haben uns alle nicht mehr aus den Häusern getraut - zu­letzt vorgestern, da waren die Kerle mit den Bluthunden auf der Saujagd, und wir hatten Ruhe."

„Die ist euch wichtig, eh?" brummte Carberry ein bißchen aufgebracht. „Und da kneift ihr lieber den Schwanz ein und laßt euch von Strol­chen auf der Nase herumtanzen."

„Ed!" mahnte Hasard. „Ihr habt das Kämpfen gelernt. Würdest du

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dich in eine Backstube stellen und Brote backen?"

„Ich doch nicht!" entrüstete sich der Profos.

„Na also! Das gleiche sagt der Bäk­ker, wenn du von ihm verlangst, er möge eine Muskete nehmen und auf einen Menschen schießen oder ein Schiff entern."

Carberry massierte sein Ramm­kinn. „Weißt du, Sir, der Ärger mit dir ist immer der, daß du für jeden Topf den passenden Deckel findest. Ich glaube, ich muß bei dir mal Unter­richt nehmen."

Hasard blickte zu Old Donegal. „Gestern abend fand ich nicht den passenden Deckel."

Old Donegal reckte das Kinn. „Für gestern abend möchte ich mich ent­schuldigen, Sir. Es war ziemlich lau­sig, was ich da gesagt habe."

„Das gilt für Philip und mich auch, Sir", erklärte Hasard junior. „Wir bit­ten um Verzeihung."

Hasard war überrascht. Dann nickte er. „Gut, erledigt, Schwamm drüber, die Kriegserklärung der bei­den Seiten wird zurückgezogen und ist als nicht gegenständlich zu be­trachten."

„Wie du das wieder sagst, Sir." Der Profos strahlte. „Die Kriegserklä­rung ist als nicht gegenständlich zu betrachten. Muß ich mir merken, wenn mir mal wieder irgend so ein Streithammel auf die Zehen tritt. Du weißt ja, die haben es merkwürdiger­weise immer auf mich abgesehen."

Hasard nickte. „Ja, auf den from­men Pilger."

„Du sagst es, Sir." Auch der Profos nickte, und dies in aller Demut, wie es sich für einen Pilger gehört, der allem

entsagt hat und auf dem Pfad der Gottgefälligkeit wandelt.

Amos kicherte und kriegte jetzt Schluckauf.

Der Profos klopfte ihm den Rücken ab, sehr fürsorglich und auch vorsich­tig, was wiederum bewies, daß er gar nicht so ein fürchterliches Umgetüm war. Und er geleitete das Hafenmei­sterlein hilfreich auf die Pier, wo sich beide mehrmals voreinander ver­beugten und sich gegenseitig ihre Hochachtung versicherten.

Dann schlingerte Arnos los, das heißt, er legte seinen Kurs in Kurven an.

Seine Gemahlin befand sich immer noch im Krähennest, also auf Horch-und Beobachtungsposten oben am Fenster. Sie kriegte sich nicht mehr ein.

„Du hast dem Trunke gefrönt, Amos Whitman!" kreischte sie. „Komm sofort ins Haus, du Unhold! Auf der Stelle!"

Amos hatte seinen Schlingerkurs gestoppt und stand wackelnd da.

„Nein!" schrie er zum Fenster hoch und stampfte mit dem Fuß auf. Fast wäre er dabei umgefallen. „Nein­nein-nein!"

„Dann kriegst du heute keinen Ha­ferbrei zum Frühstück!" keifte Bene­dicta.

„Schmier dir deine Pampe in die Haare!" brüllte Amos. „Ich früh­stücke im ,White Horse' bei Debby, jawohl! Spiegeleier mit Speck!"

„Du gehst nicht zu dieser Schlampe!" kreischte Benedicta. „Oder wir sind geschieden!"

„Dann kannst du dich ja mit dei­nem Bettklopfer verheiraten!" schrie Amos. „Oder mit deiner Haferpampe. Ich frühstücke heute bei Debby Spie­

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geleier mit Speck - basta!" Und da­mit kurvte er nach links ab - in Rich­tung des „White Horse", wo die mol­lige Deborah, genannt Debby, schal­tete und waltete und für hungrige Mäuler und durstige Kehlen ein wah­rer Engel war.

Von Schlampe konnte überhaupt keine Rede sein. Im „White Horse" blinkte und blitzte es, das Geschirr und die Gläser waren pieksauber, auf den Dielen lag kein Stäubchen. Und Debby war eine hervorragende Kö­chin. Na ja, Witwe war sie auch, und mit dem einen oder anderen Gast schmuste sie ein bißchen, aber einen sündigen Lebenswandel konnte man ihr weiß Gott nicht vorwerfen.

Benedicta knallte das Fenster zu, daß es schepperte. Den Amos erschüt­terte das nicht. Er drehte sich nicht mal um.

Carberry kehrte an Bord zurück und erkundigte sich grinsend bei Old Donegal: „Wer ist Debby?"

Old Donegal grinste zurück und er­klärte dem Profos die Vorzüge und das Drumherum von Deborah, ver­witwete Tyndale.

„Die wäre was für dich, Ed", sagte er, „genau nach Maß und so." Was er mit „und so" meinte, führte er nicht näher aus.

Mit „und so" verband indessen der Profos in diesem Moment jenes Früh­stück, dem sich Arnos jetzt widmen wollte: Spiegeleier mit Speck. Diese waren auch für den Profos der Inbe­griff dessen, was ein Frühstück dar­stellen sollte, gewissermaßen die Krone eines Frühstücks. Und so glitt ein lüsternes Grinsen über sein zer­narbtes Gesicht.

Old Donegal deutete es falsch. Er

meinte, der Profos habe bereits Feuer gefangen.

Sei dem, wie es wolle, Philip Ha­sard Killigrew hatte nichts dagegen, daß drei Mannen bei Debby früh­stückten und sich ein bißchen umhör­ten. Vielleicht ließ ja auch Amos noch was raus. So stiefelten Old Donegal, Carberry und Big Old Shane ebenfalls zu Debby ins „White Horse", über dessen Eingangstür ein solches Tierchen, sehr bildhaft ge­schmiedet und weiß angestrichen, an einem kunstvoll verschlungenen Gal­gen aus Schmiedeeisen baumelte, wie das damals so üblich war.

„Ein weißer Schimmel", erklärte Old Donegal, und das war wieder das gleiche, als hätte er von einer „toten Leiche" gesprochen.

Carberry ächzte und sagte: „Ein Schimmel ist immer weiß, Donegal."

„Klar", sagte der. „Was glaubst du denn?" Und damit war der Fall für ihn abgehakt.

Carberry verzichtete auf einen Dis­put. Er wollte sich die Spiegeleier mit Speck nicht vermiesen. Sie betraten den „weißen Schimmel". Amos war bereits am Mampfen. Vor ihm stand ein Humpen Bier. Es duftete nach ge­bratenem Speck.

Na, das war eine Begrüßung. Debby flog Old Donegal um den

Hals,, ebenso Big Old Shane. Car­berry glotzte wie ein Mondkalb.

„Das ist unser Profos", stellte Old Donegal grinsend vor, „Edwin Car­berry heißt der Kerl. Wenn kleine Kinder ihn sehen, laufen sie weg, aber sonst ist er ganz in Ordnung und eine Seele von Ochse!"

Carberry hörte gar nicht hin. Er glotzte weiter und hatte seine Spie­geleier mit Speck vergessen. Oh, ap­

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petitlich war sie, diese Debby, Teufel-Teufel, und überall knackig. Und so!

Debby vollführte einen hübschen Knicks und säuselte: „Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mister Car­berry."

Carberry glotzte. „Zumindest eine Verbeugung wäre

angebracht, Ed!" motzte Old Done­gal. „Schließlich sind wir Gentle­men."

Da verbeugte sich der Profos. Er hatte das nicht sehr häufig geübt ­fast nie. Daß er nicht vornüberkippte, verhinderte Old Shane, der ihn wie­der am Kragen hochhievte und recht­zeitig zugepackt hatte. Jetzt hatte der Profos einen roten Kopf, was natür­lich damit zusammenhing, daß er den so tief nach unten gehalten hatte.

Oder etwa nicht? „Ein Gentlemen antwortet, wenn er

von einer Lady begrüßt wird", ta-. delte Old Donegal.

„Hä?" fragte der Profos. Seine Oh­ren waren jetzt auch rot.

„Du könntest sagen", belehrte ihn Old Donegal, „ich freue mich ebenfalls, Sie kennenzulernen, Ma­dam. Ich bin Ihr ergebener Diener und gestatte mir, Sie mit einem Hand­kuß zu begrüßen."

„Wie? Handkuß?" Allmählich fand der Profos in die Wirklichkeit zu­rück. Er blickte Debby an, vielmehr auf sie nieder, denn sie reichte ihm allenfalls bis zur Brust, wurde wieder verwirrt und stammelte: „Ich - ich freue mich auf Ihre - äh - Spiegeleier mit Speck, Madam."

Die beiden Kerle O'Flynn und Shane lachten wie alte Schlachtrös­ser. Debby kicherte und eilte in die Küche. Die drei Arwenacks setzten sich zu Amos.

Old Donegal blinzelte den Profos an. „Na, Ed? Habe ich übertrieben?"

„Wie?" „Ich meine, was Debby betrifft." „Weiß ich nicht", brummte der Pro­

fos und lauschte. Debby trällerte ein Liedchen in der

Küche. Es klang hübsch. Da konnte es einem warm ums Herz werden. Das Liedchen brach ab. Debby steckte den Kopf durch die Durch­reiche zwischen Küche und Schank-raum.

„Donegal und Shane auch Spiegel­eier mit Speck?" fragte sie.

„Natürlich!" rief Old Donegal. „Und für jeden ein Bierchen!"

„Das dunkle?" „Klar!" Debby verschwand, erschien im

Schankraum hinter dem Tresen, holte drei Humpen aus einem Regal und zapfte Bier aus einem Faß ab. Das ging gewissermaßen ruck-zuck und ohne viel Tam-tam. Debby war fix, außerdem geschickt und dabei noch anmutig. Der Profos glotzte wie­der.

„Ja-ja", sagte Old Donegal grinsend und stieß Old Shane mit dem Ellbo­gen an.

Der grinste gleichfalls und sagte: „Ja-ja."

„Wie?" fragte Carberry zerstreut. „Ach, nichts", sagte Old Donegal. Debby brachte die drei Humpen.

Der Profos empfing seinen zuerst. Old Donegal zog die linke Augen­braue hoch. Nanu! Hatte es auch bei Debby geklingelt?

„Danke, Madam", sagte der Profos artig.

„Sehr zum Wohle, Mister Car­berry", hauchte Debby und ent­schwand eilends in die Küche.

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Carberry ertappte Amos dabei, daß der Debby begehrlich hinterher­schaute, vornehmlich auf Debbys hübsche Beine.

„Laß das, Amos", sagte der Profos unwirsch. „Das gehört sich nicht."

Arnos kicherte. Er hatte prächtig ei­nen in der Krone.

„Ich liebe Debby", sagte er. „Sie weiß es nur noch nicht."

„Ist auch besser, daß sie's nie er­fährt", erklärte der Profos. „Die un­gestillte Liebe ist immer die heiße­ste."

Amos seufzte abgrundtief, und der Profos seufzte mit.

„Fürwahr, fürwahr", sagte Amos und seufzte noch einmal.

Das Bier war hervorragend. Der Profos putzte seinen Humpen leer ­auf einen Zug. Und dann schob er auch einen Seufzer hinterher. Und verkündete eine weitere Weisheit: „Liebe geht seltsame Wege!"

Old Donegal verschluckte sich fast, und Old Shane mußte ihm den Rük­ken abklopfen.

Indessen bestätigte Amos, daß Liebe seltsame Wege gehe, und fügte seinerseits mit einem Schluckauf hin­zu: „Ver-verschlungene Wege."

„Sehr verschlungen", sagte der Pro­fos und nickte bedeutsam, wobei er in die Tiefe seines Humpens starrte, als könne er dort die seltsamen und ver­schlungenen Wege der Liebe erken­nen. Der Blick in den Humpen brachte noch eine Weisheit zutage. Carberry murmelte: „Liebe geht auch durch den Magen."

Amos dachte an seinen Haferbrei, den sich Benedicta in die Haare schmieren sollte, und bestätigte auch diese Weisheit des Profosen mit ener­gischem Nicken und dem Zusatz:

„Doch bei Haferbrei flieht sie von hinnen."

Old Donegal und Big Old Shane wechselten Blicke, die in etwa besag­ten, daß sie sowohl ihren Profos als auch Arnos für reichlich bescheuert hielten.

Debby kreuzte wieder auf - mit ei­nem Tablett, auf dem drei Teller stan­den. Auf jedem Teller befanden sich drei Spiegeleier, knackig gebraten mit brauner Randkruste, und unter den Spiegeleiern dufteten krosse Speckscheiben. Am Rand der Teller lag jeweils eine Scheibe Graubrot.

Flugs deckte Debby den Tisch mit Messer und Gabel und Serviette, und der Profos wurde wieder als erster bedient, was Old Donegal zu einem Hüsteln veranlaßte.

Debby spähte in des Profosen Hum­pen und hauchte: „Noch ein Bierchen, Mister Carberry?"

„Sehr gern, Madam, sehr gern", hauchte auch der Profos - er ver­suchte es zumindest, was mit seiner Reibeisenstimme ziemlich schwierig war und entfernt an das Knarren ei­nes alten Kistendeckels erinnerte. Debby schien es nicht zu stören. Sie zeigte eine sanfte Röte im Gesicht.

5.

Die Spiegeleier waren verputzt und alle vier Mannen beim dritten Hum­pen Bier angelangt, da erschienen im „White Horse" drei weitere Gäste ­nein, Gäste im guten Sinne dieses Wortes waren das nicht, eher Strolche oder Kerle, deren Benehmen darin bestand, sich rüpelig aufzufüh­ren. Sie sahen aus, als hätten sie sich bei Jahreswechsel zuletzt gewaschen,

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wenn überhaupt. Ihre Stiefel waren verdreckt, ebenso Hosen, Jacken und Hemden. Aus ihren verfilzten Haaren hätte man Fett ausbraten können. Ihre Visagen waren grob und bösar­tig, ihr Grinsen, als sie Debby muster­ten, war nichts weiter als schmierig.

„Die sind oben von Arwenack!" flü­sterte Amos entsetzt und wäre am liebsten unter den Tisch gerutscht.

Über Carberrys Gesicht glitt ein glückliches Grinsen.

Die drei Kerle walzten an die Theke, als gehöre der Schankraum ih­nen. Sie lümmelten sich an den Tre­sen und stierten Debby an, deren Ge­sicht versteinert, aber furchtlos war.

„Verschwindet!" sagte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen.

„Heute bist du dran, mein Täub­chen", sagte einer der drei Kerle, ein bulliger, schwarzhaariger Typ, „wir treiben's heute mit dir - alle drei! Du sollst mal sehen, was du jubelst. Aber erst wollen wir ein Bier und die Schnapsflasche haben. Und dann sollst du drei Weinfässer auf die Burg liefern, verstanden? Wenn du dich weiter weigerst, zu liefern, holen wir dich nach oben, und dann bedienst du nicht nur drei, sondern dreißig. Un­sere Sirs sind es leid, sich von dir auf der Nase herumtanzen zu lassen. Du hast zu kuschen, und wenn ich jetzt befehle, du sollst dich ausziehen und vor uns ein bißchen tanzen, dann hast du zu gehorchen, ist das klar?"

Carberry tauchte am Tresen auf ­links von den Kerlen. Big Old Shane rechts von ihnen. Sie stellten ihre Humpen auf die Theke.

Carberry sagte: „Bitte noch ein Bierchen für uns, Madam."

„Erst sind wir dran!" fauchte der Bullige. „Hau ab, du Scheißer, oder

du fliegst vor die Tür! Wer bist du überhaupt?" .

„Hau ihm doch gleich was auf die Schnauze!" sagte der Kerl neben ihm. Er hatte eine Tonnenfigur und Arme, die fast bis zu den Waden reichten.

„Na klar", sagte der dritte Kerl, ein Schlaks mit abstehenden Ohren. Sein rechtes Auge hatte ein Hängelid. „Die stören uns nur, wenn wir der Schlampe zeigen, wie gut wir's kön­nen!" Und er stieß ein meckerndes Lachen aus.

Es gefror ihm in der Visage, als er in Carberrys graue Augen blickte. Carberry stand neben ihm.

Und Carberry langte zu, ganz ruhig und bedächtig faßte er nach den Se­gelohren des Schlaksigen, der viel zu verdattert war, um zu reagieren, zog sie mit einem Ruck nach unten und stieß gleichzeitig sein rechtes Knie hoch.

Der Kopf des Schlaksigen flog ins Genick. Sein Unterkiefer stand schief, darum konnte er auch nicht brüllen, sondern nur gurgeln. Dann explodierte in seinem Magen die Faust Carberrys, und da pfiff der Schlaksige auf dem letzten Loch. Er klappte zusammen, ging auf die Die­len und würgte.

Der Tonnenmann, der in der Mitte der drei gestanden hatte, glotzte Car­berry an, schaute auf den Schlaksi­gen hinunter und dann wieder zu Car­berry. In seiner brutalen Visage zeigte sich ein Ausdruck, als verstehe er die Welt nicht mehr.

Inzwischen schmetterte Big Old Shane bereits dem Bulligen die Faust von oben auf den verfilzten Schädel, das heißt, er stauchte ihm den Kopf zwischen die Schultern und verbrei­terte ihm die Visage. Mit glasigen Au­

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gen und weichen Knien nippelte der Bullige nach unten ab, nahezu senk­recht. Als er wie auf einem Töpfchen saß, kippte er um.

Der Tonnenmann verstand die Welt immer noch nicht, was kein Wunder war, weil er das Gehirn einer Mücke hatte. Jetzt beäugte er den Bulligen, dann Big Old Shane, darauf den Schlaksigen und wieder den Pro­fos.

„Der ist schwachsinnig, Ed", sagte Old Shane.

„Das hilft ihm auch nichts", sagte der Profos grimmig. „Mitgefangen, mitgehangen."

„Ich mach dich hin!" grunzte der Tonnenmann, den offensichtlich nun­mehr die Erkenntnis geküßt hatte, warum seine beiden Kumpane abge­treten waren.

„Laß dir Zeit", sagte Carberry, „es eilt überhaupt nicht."

„Hä?" fragte der Tonnenmann. „Ich sagte, es eilt nicht", wieder­

holte der Profos. „Warum nicht?" „Der ist wirklich blöd", sagte Car­

berry zu Old Shane - und riß blitzar­tig den Kopf zur Seite, so daß die Faust des Tonnenmannes an ihm vor­beischoß - ins Leere. Der Kerl stand ihm fast auf den Zehen. Außerdem stank er nach Dreck, Schweiß und al­lerlei Unrat. Und ganz so blöd war er wohl doch nicht.

Der Profos glitt einen Schritt zu­rück, nahm Maß und feuerte den be­rühmten Hammer ab, punktgenau ans Kinn des Tonnenmannes. Der kreiselte davon, riß zwei Stühle und einen Tisch um und krachte auf die Bretter.

Der Profos drehte sich zu Debby um und sagte: „Was zu Bruch gegan­

gen ist, bezahlen wir selbstverständ­lich, Madam. Sie sollen keinen Scha­den haben."

„Danke, Mister Carberry." Debby lächelte und hatte zwei Grübchen in den Wangen.

„Ähem", räusperte sich der Profos, „was ich noch fragen wollte: Haben die Kerle Sie schon mal belästigt?"

Debby nickte. „Auf der Straße, aber da konnte ich entwischen. Ich sollte Weinfässer nach oben liefern, hatte mich aber geweigert, weil die Kerle gar nicht daran denken, zu be­zahlen. Außerdem wird alles nur noch schlimmer, wenn sie betrunken sind. Sie haben schon in den anderen Gasthäusern und Schenken Bier, Wein und Schnaps beschlagnahmt. Heute wäre ich dran gewesen. Ich hätte nicht geöffnet, wenn Amos nicht nach einem Frühstück gejam­mert hätte. Er hat mir erzählt, daß Kapitän Killigrew hier sei. Gehören Sie zu seiner Mannschaft?"

„Ja - wie Donegal und Shane." „Sie bleiben jetzt in Falmouth?"

Sie fragte es ganz vorsichtig - und eine kleine Hoffnung war herauszu­hören.

Der Profos blickte in ihre Augen. Sie hatten einen graugrünen Schim­mer, und er las etwas darin. Eine Bot­schaft. Da senkte er den Kopf.

„Also nicht", sgte sie leise, und da war Traurigkeit in ihrer Stimme.

Der Profos hob wieder den Kopf. „Es gibt immer eine Wiederkehr",

sagte er. „Ich glaube daran." „Dann ist es gut. Ich kann warten,

Edwin Carberry." „Danke - Debby." Und da lächelten sie sich an. Big Old Shane räusperte sich und

sagte: „Ein Bierchen wäre jetzt doch

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gut, wenn ich das störend bemerken darf."

„Du störst", brummte der Profos, „und die drei Kerle stören mich noch mehr. Bringen wir sie raus?"

Old Shane nickte. „Damit's nicht so stinkt."

Carberry grinste wild. „Draußen auf der Straße stehen Regentonnen, Shane. Was hältst du davon?"

„Ausgezeichnete Idee! Eine der be­sten in diesem Jahr!" Und schon bückte sich Old Shane und griff dem Bulligen ins Genick. Genauso packte er den Schlaksigen und zog mit den beiden los, je einen an der Seite, als seien das Mehlsäcke.

Der Profos verfuhr mit dem Ton­nenmann auf die gleiche Weise. Amos huschte zur Tür und hielt sie ihnen auf. Er glühte, der gute Amos, so auf­geregt war er. Na ja, der Rum und die Bierchen hatten auch dazu beigetra­gen.

Old Shane wandte sich nach rechts, der Profos nach links. Vor der näch­sten Regentonne verhielt er, wuchtete den Tonnenmann hoch und stopfte ihn kopfüber in die Tonne. Da war was los. Die Tonne war bis zum Rand voll. Der Kerl strampelte mit den Bei­nen, und als er kaum noch strampelte und die Luftblasen nicht mehr hochblubberten, zog ihn der Profos wieder aus der Tonne, stellte ihn vor sich hin, stemmte ihn an und wieder­holte die Prozedur, diesmal umge­kehrt mit den Füßen zuerst.

Er stauchte den Kerl in die Tonne, bis nur noch sein Schädel raus­schaute.

„Wenn du aussteigst, beiß ich dir dir Ohren ab!" fauchte er ihn an. „Du bleibst in der Tonne, bis dein Dreck aufgeweicht ist, verstanden?"

Weil der Kerl nur blöde glotzte, tauchte ihn der Profos noch mehr­mals unter. Der Kerl wurde immer dösiger. Carberry ließ ihn in der Tonne hocken und ging zu Old Shane.

Der war noch mit dem Schlaksigen beschäftigt, jenem, der verkündet hatte, sie würden der Schlampe zei­gen, wie gut sie's könnten. Er würde gar nichts mehr gut können, denn Old Shane kannte kein Erbarmen, nicht mit Kerlen, die die Absicht gehabt hatten, zu dritt eine Frau zu verge­waltigen.

Carberry schnappte sich den Bulli­gen, der immer noch glasige Augen hatte, und versenkte ihn kopfüber in der übernächsten Tonne. Als der Kerl es schaffte, sich aus der Tonne raus­zuwinden, stopfte ihn der Profos wie­der hinein, diesmal mit den Füßen zu­erst, und tunkte ihn wie den Tonnen­mann mehrmals unter.

„Na?" zischte er ihn an, als er ihn an den Haaren aus dem Wasser riß und schüttelte. „Wie fühlst du dich, du Scheißkerl? Erzähl's mal! Hast du noch Lust, es heute zu treiben? Willst du noch jemanden befehlen, sich aus­zuziehen? Und sollte nicht jemand ju­beln? Zeig mal, ob du jubeln kannst! Und du solltest jubeln, weil du mal gebadet wirst, du stinkende Wild­sau!" Und der Bullige wurde erneut untergetaucht, hochgerissen, unterge­taucht, hochgerissen. Mit zwei schal­lenden Ohrfeigen beendete der Pro­fos die Badeorgie.

Der Bullige war zu schwach, in der nächsten Stunde aus der Tonne zu kriechen, aber das war mit seinen bei­den Kumpanen nicht anders. Außer­dem versammelten sich jetzt Bürger bei den drei Tonnen. Und die brauch­ten nicht lange, um zu erkennen, was

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da für Strolche in den Tonnen hock­ten. Außerdem hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, daß der Seewolf wieder in Falmouth sei.

Es wurde gefährlich, jedenfalls für die drei Kerle. Denn die Volksseele kochte über.

Da donnerte auch schon Carberry: „Wer hier Selbstjustiz übt, der kriegt es mit uns zu tun - uns, das sind die Männer Kapitän Killigrews. Laßt die Kerle bis heute abend in den Tonnen, und dann jagt sie aus der Stadt. Ist das klar?"

„Jawohl, Mister", murmelten die tapferen Männer betreten, denn tap­fer waren sie erst, seit sie die drei Strolche wehrlos in den Tonnen ent­deckt hatten.

Carberry und Big Old Shane gingen ins „White Horse" zurück und wur­den mit zwei schäumenden Bieren empfangen. Old Donegal und Amos standen bereits an der Theke, und Old Donegal hatte auch schon bezahlt - das Frühstück, die Bierchen, die zu Bruch gegangenen Stühle und den Tisch.

Das paßte dem Profos überhaupt nicht, denn er hatte alles zahlen wol­len. Aber dann erinnerte er sich an seine Gurttasche innen, fummelte in ihr herum und fischte eine erbsen­große Perle von erlesenem Glanz her­aus. Die überreichte er Debby.

„Für dich", sagte er und wurde rot. Und als er merkte, daß er rot wurde, marschierte er raus, grußlos, ohne Verbeugung oder eine sonstige Höf­lichkeit.

„Was für ein Mann!" flüsterte Debby.

Soviel Bewunderung ging Old Do­negal nun doch gegen den Strich.

„Der Kerl hat manchmal ein Beneh­

men wie die Axt im Walde", sagte er grollend. „Haut einfach ab - päng!"

„Das verstehst du nicht, Donegal", sagte Debby lächelnd. Sie war rosig angehaucht.

„Du bist immer noch verdammt hübsch - Verzeihung, noch hübscher als früher", sagte Old Shane, der end­lich auch einmal Süßholz raspeln wollte.

„Danke, Shane, tut gut, so etwas mal zu hören. Außerdem möchte ich mich bei euch bedanken. Die Kerle wären erbarmungslos über mich her­gefallen."

„Dir zu helfen, war selbstverständ­lich", sagte Old Shane. „Diese drei Schmutzfinken werden dich kaum mehr belästigen. Trotzdem solltest du vorsichtig sein - bis das alles vor­bei ist."

Sie blickte ihn aufmerksam an. „Was heißt das - bis alles vorbei ist?"

„Wir waren in London", erwiderte Old Shane, „und ein alter Freund be­richtete uns vom Tod Lady Annes so­wie den Gerüchten, daß mit ihrem Te­stament etwas faul sei. Unser Kapi­tän hat die Absicht, das zu klären. Er, Dan O'Flynn - Donegals Sohn - und ich waren gestern abend schon oben, und Philip Hasard Killigrew ver­langte einen Einblick in das Testa­ment von Lady Anne. Die beiden Kil­ligrews hetzten die Bluthunde auf uns. Wir schossen die Biester nieder. Jetzt warten wir ab, wie's weitergeht. Weißt du etwas über diese ganze Ge­schichte?"

„Nicht mehr als alle hier", sagte Debby. „Allerdings habe ich viel dar­über nachgedacht, daß Francis Col­lingwood, der Notar von Lady Anne, an einem Abend hier bei mir zu Gast war. Er saß dort drüben an dem Tisch

Einen längeren Brief erhielten wir von M L , straße ,5060Bergisch­Gladbach 2. Er schreibt: Hallo, Seewölfe-Redaktion! Nach nunmehr über zehn Jahren Leserschaft Ihrer wirklich guten Romanserie möchte ich heute einmal schreiben, um mich auch zu Ihrer Serie zu äußern. Angefangen hat alles vor elf Jahren wäh­rend meiner Lehrzeit in München. Damals bekam ich durch Zufall ein Heft der Seewöl­fe in die Finger - dabei handelte es sich um ein Heft, welches noch von einem englischen Seeoffizier im Stile von Hornblower erzähl­te. Ab der Nummer zwölf fing ja damals die eigentliche Seewölfeserie an. Seitdem bin ich also dabei. Mich faszinierte immer der Zyklus Eurer Se­rie, denn ich konnte oft nicht den nächsten Erscheinungstermin erwarten, so gespannt war ich auf das nächste Heft. Dies ist auch der Grund, warum ich in letzter Zeit etwas um die Seewölfe zu bangen begann. Die Serie drohte für mich etwas in das Jerry-Cotton-Milieu abzurutschen. Die einzelnen, abgeschlossenen Geschichten des Mittel­meerzyklus' waren zwar auch nicht so schlecht, aber dadurch wurde ein gehöriger Teil der Spannung aus der Serie genom­men. Ich finde also, daß eine gesunde Mi­schung aus Zyklus - auch ruhig wieder ei­nes längeren - und abgeschlossenen Einzel­romanen der Reihe gut zu Gesicht steht. Bei den sogenannten Gummizyklen -wie sie oft kritisiert werden -fällt mir spontan nur ei­ner ein, nämlich das Inselspringen der See­wölfe in dem Südseezyklus bei der zweiten Weltumsegelung. Ich bin also voll für die Idee des Zyklus, da dabei die Autoren auch mehr Zeit und Gele­genheit haben, die Personen um die Seewöl­fe zu erläutern. Überhaupt sind die Autoren der Serie meiner Meinung nach wahre Künstler im Erfinden von Themen gewor­den, die sich um unsere ,Helden" drehen. Es ist für mich deshalb unverständlich, warum sich manche Leser dagegen wehren, die See­

wölfe als Entdecker wirken zu lassen. Man muß die Serie schließlich und endlich immer in ihrem geschichtlichen Konsens sehen ­und immer nur böse Piraten und Halsab­schneider wird auf die Dauer wohl auch et­was langweilig, oder?

Die Spannung in der Serie liegt wohl nicht in der sogenannten „Action", sondern wohl eher im eigentlichen Romanstoff. Ich per­sönlich finde es sehr gut, daß Ihr bei Eurer Geschichte der Seewölfe nämlich gut auf die Schilderung von banaler Brutalität ver­zichten könnt. Eine Enthauptungsszene, wie sie während des Irlandzyklus' einmal kurz bei einem Enterkampf geschildert wurde - ich glaube, es war Sam Roskill in einem Heft irgendwo in den vierziger Num­mern -, ist seitdem zum Glück nicht wieder vorgekommen. Ich glaube, es gibt auch so ge­nug Brutalität in unserem Alltag. Und ich glaube auch, Ihr könnt mit Recht darauf stolz sein, daß wohl noch nie ein Heft Eurer Serie auf den Index für jugendgefährdende Schriften gekommen ist.

Die Seewölfe-Crew ist für mich eine sehr ausgewogene Mischung der Temperamente und sollte, bitte schön, nicht durch einen Ro­mantod dezimiert werden. Denn nach so vielen Jahren ist man ja schon praktisch „per du" mit den einzelnen Crewmitglie­dern, auch wenn Old Donegal inzwischen wohl schon fast hundert Jahre alt ist, denn die ersten Hefte spielten ja schon in den sech­ziger Jahren des 16. Jahrhunderts. Aber, wie gesagt, es ist ja doch eine Roman­serie mit fiktiven Personen, die durchaus das Recht haben, ewig jung zu bleiben. Denn, so meine ich, niemand sollte aus der Crew wegen Altersgründen ausscheiden. Also, laßt die Seewölfe noch recht lange ihre Abenteuer auf den damals noch sauberen Meeren erleben... (wird fortgesetzt)

Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren

Auf der linken vorigen Seite 34 stellen wir unseren Lesern unter A einen Typ eines französischen Luggers vor, der als Fischer- und Lastfahrzeug seit dem Mittelalter an der Kanalküste und rund um die Bretagne sehr verbreitet war. Aus diesem Typ entwickelte sich der Chasse-Marée, was soviel wie „Seejäger" heißt. Von der Bauart her weist er Ähnlichkeiten mit der holländischen Yacht auf. Der Chasse-Marée erfreute sich bei Schmugglern großer Beliebtheit, was wiederum dazu führte, daß auch der französische Zoll mit diesen Seglern ausgerüstet wur­de - eben um die Schmuggler zu jagen, die ihnen mit ihren schnel­len Luggern immer wieder entkommen waren. Dann setzte auch im 18./19. Jahrhundert die französische Kriegsmarine diese Segler ein, und zwar vorwiegend als Depeschenboote. Während der Na­poleonischen Kriege wiederum baute man große Chasse-Marées zu Kaperschiffen um und bestückte sie mit acht bis zehn Kanonen. Die Besatzung zählte 40-50 Mann. Die Nummern bedeuten: 1 Fock, 2 Großsegel, 3 Treiber, 4 Vor­Toppsegel, 5 Groß-Toppsegel, 6 Treiber-Toppsegel, 7 Klüver, 8 Fockmast, 9 Großmast, 10 Treibermast, 11 Bugspriet, 12 Fock­rah, 13 Großrah, 14 Treiberrah, 15 Vor-Toppsegelrah, 16 Groß-Toppsegelrah, 17 Treiber-Toppsegelrah und 18 Treiberbaum. Auf der rechten Seite 35 zeigen wir einen Segelschiffstyp, der all­gemein mit „Kutter" bezeichnet wird (B). Dieser mit Gaffelsegeln geriggte einmastige Segler entwickelte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts bei den meisten nordeuropäischen Küstenstaaten zum Wachschiff und Aviso, das heißt Spähschiff oder Aufklärer, zum Teil mit Drehbassen ausgerüstet. Abgesehen davon wurde der Kutter natürlich auch als Lastensegler, aber auch als Fischerei­fahrzeug eingesetzt. Die Nummern bedeuten: 1 Jager, 2 Klüver, 3 Stagfock, 4 Großse­gel, 5 Gaffeltoppsegel, 6 Mast, 7 Stenge, 8 Großbaum, 9 Gaffel und 10 Bugspriet.

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- allein." Debby deutete zu einem kleineren Tisch, der für zwei Perso­nen vorgesehen war. „Er hatte geges­sen, und ich stand bei ihm, weil er be­zahlen wollte. Da erschienen die bei­den Killigrews und sagten, sie hätten etwas Geschäftliches mit ihm zu be­sprechen, am besten in Collingwoods Kanzlei. Er wirkte verstört und be­zahlte mehr, als das Essen kostete. Ich wollte ihm Geld zurückgeben, aber er winkte ab und sagte, er brauche das Geld nicht mehr. Am nächsten Morgen fand ihn sein Sekre­tär tot in der Kanzlei."

„Ziemlich windig", sagte Old Shane nachdenklich. „Sie gehen mit dem Notar in die Kanzlei, und am nächsten Morgen wird er dort tot auf­gefunden. Ausgerechnet diese beiden Mistkerle waren vermutlich Colling­woods letzte Besucher. Was hältst du davon, Donegal?"

„Ziemlich eindeutig", entgegnete Old Donegal, „aber vor einem Ge­richt ist das noch kein Beweis. Sie werden erklären, daß der Notar noch lebte, als sie ihn verließen. Jetzt be­weise du ihnen mal das Gegenteil."

„Er hat zu Debby gesagt, er brauche das Geld nicht mehr. Das heißt, er rechnete damit, daß die bei­den Kerle ihn umbringen."

„So legst du das aus", sagte Old Do­negal, „er kann auch was anderes ge­meint haben - zum Beispiel, daß er genug Geld hat und auf das Wechsel­geld verzichten kann."

„Und darum ist er verstört, eh?" „Ich gebe dir ja recht, Shane", er­

klärte Old Donegal, „das stinkt bis zum Himmel, aber es reicht nicht aus, um die beiden Kerle als Mörder zu entlarven. Für uns ist das, was Debby uns eben erzählt hat, allenfalls ein

weiterer Hinweis, daß wir auf der richtigen Spur sind, mehr nicht."

Sie verabschiedeten sich von Debby, bedankten sich noch einmal für das vorzügliche Frühstück und marschierten nach draußen. Die drei Lumpenkerle saßen still und leidend in den Regentonnen, umringt von Schaulustigen, denen die Schaden­freude schier aus den Augen hüpfte.

„Sie werden sich in den Tonnen ver­kühlen", sagte Old Donegal.

„Richtig, das ist auch der Zweck der Übung", sagte Old Shane. „Wer zu hitzig ist, muß abgekühlt werden, und zwar gründlich. In diesem Fall findet zusätzlich eine äußere Reini­gung statt, die dringend geboten war. Die Kerle müssen uns noch dankbar sein, daß wir ihren Dreckpanzer nicht mit Eisenfeilen abgeraspelt haben. Natürlich hätte man sie da nur mit langen Kneifzangen anfassen kön­nen."

„Sie werden uns nicht dankbar sein", sagte Old Donegal und blieb vor der Tonne stehen, in welcher der schwarzhaarige Bullige hockte, mit dem sich der Profos beschäftigt und dem er einige Freundlichkeiten ge­sagt hatte.

Der Kerl schnatterte mit den Zäh­nen und hatte bläuliche Lippen.

„Schön warm, nicht?" fragte Old Donegal.

„Ich - ich frie-iere", brachte der Kerl mit bibbernden Lippen heraus.

Old Donegal tunkte den rechten Zeigefinger ins Regenwasser, prüfte die Temperatur und donnerte: „Red keine Stuß, Kerl! Das Wasser ist so warm, daß deine Läuse ein Schwitz­bad nehmen. Als ich so alt war wie du, habe ich im Winter jeden Tag in Eislöchern gebadet, die ich mir vor­

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her hacken mußte. Also erzähl hier nichts!"

„Ich - ich ster-be-be", jammerte der Kerl.

„Das wäre ein wahrer Segen für die Menschheit", sagte Old Donegal un­gerührt. „Und du solltest beten und den großen Kapitän im Himmel um Vergebung deiner Schandtaten bit­ten. Er wird mit dir nicht einverstan­den sein und dir den Weg zum Höllen­feuer weisen, wo du dich wieder auf­wärmen kannst. Dessen bin ich si­cher. Und noch etwas, du lausiger Schmierlappen: Bedanke dich bei deinen beiden Sirs da oben auf Arwe­nack, daß du hier in der Tonne sitzen darfst, du tust das stellvertretend für sie, und das sollte dich jubeln lassen, statt hier herumzugreinen."

„Vom Jubeln hält der nicht mehr viel", sagte Old Shane grimmig. „Laß uns weitergehen, Donegal, sonst er­säufe ich den Kerl noch. Mir steigt die Galle hoch, wenn ich daran denke, was diese Lumpen mit Debby anstel­len wollten."

„Was wollten sie denn mit Debby anstellen?" fragte einer der umste­henden Männer.

Old Shane musterte ihn. Er kannte den Mann nicht.

„Sie wollten ihr Gewalt antun", er­widerte er.

„Verdammt! Wie lange lassen wir uns das noch gefallen?" rief der Mann hitzig und schaute sich um.

„Das hätten Sie sich schon früher fragen müssen, Mister", sagte Old Shane, „aber jetzt sind wir dran ­und Sie halten sich raus!"

„Wieso das denn?" fragte der Mann empört. „Wer sind Sie überhaupt? Ich habe Sie hier noch nie gesehen."

„Ich bin hier geboren, Mister. Mein

Name ist Shane. Ich war früher ein­mal Waffenmeister und Schmied auf Arwenack. Jetzt fahre ich unter Kapi­tän Killigrew."

Der Mann trat zwei Schritte zu­rück. „Den man den Seewolf nennt?"

„So ist es, Mister", erwiderte Shane ruhig. „Und damit dürfte Ihnen wohl klar sein, warum Sie und alle anderen hier in Falmouth sich herauszuhalten haben. Sie haben sich bisher die Übergriffe und den Terror dieser Horde gefallen lassen, ohne dagegen etwas zu unternehmen. Sie haben ge­kuscht, statt den Strolchen die Zähne zu zeigen. Jetzt bereinigen wir diese Sache auf unsere Weise, und ich warne Sie alle, uns dabei in die Quere zu geraten. Habe ich mich deutlich ge­nug ausgedrückt?"

„Jawohl, Mister Shane", sagte der Mann hastig. „Entschuldigen Sie bitte."

„Keine Ursache", brummte Old Shane und kehrte mit Old Donegal an Bord zurück.

6.

Eine Stunde später wollte der Hauptmann der Bürgerwehr, Victor Norton, Kapitän Killigrew sprechen. Hasard empfing ihn auf dem Achter­deck der Schebecke. Norton war ne­ben seiner ehrenamtlichen Tätigkeit bei der Bürgerwehr noch der stellver­tretende Bürgermeister von Fal­mouth - ein hagerer, etwas nervöser Mann, der eher unsicher wirkte, wenn man bedachte, daß ihm die Bür­gerwehr unterstand.

„Was führt Sie zu mir, Mister Nor­ton?" fragte Hasard höflich, nachdem

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man ein paar Floskeln getauscht hatte.

„Ich - ich habe von Ihrem Besuch in Falmouth gehört, Sir", erwiderte Norton verlegen, „äh - Sie wissen ja, daß sich so etwas bei uns schnell her­umspricht, nicht wahr?"

„Das ist mir bekannt", sagte Ha­sard etwas gedehnt, „nichts bleibt lange geheim, einer flüstert es dem anderen zu, ob genau oder ungenau, das sei dahingestellt. Und so entsteht das Gerücht, zum Beispiel jenes, was mit dem Erbe von Arwenack zusam­menhängt. Ich nehme an, Sie wollten mich deshalb sprechen."

„So ist es, so ist es, Sir", sagte Nor­ton. „Ich - ich wollte Sie im Namen der Bürgerwehr und aller Bürger von Falmouth darum bitten, oben auf Ar­wenack für reinen Tisch zu sorgen und unsere Stadt von dieser Pest zu befreien!" Nun war's heraus, und Norton atmete sichtlich auf.

„Da muß ich mich doch sehr wun­dern, Mister Norton", sagte Hasard. „Sie schieben mir eine Funktion zu, die mir nicht zusteht, denn ich bin nicht der Friedensrichter. Dessen Aufgabe wäre es, den Gerüchten nachzugehen, beziehungsweise zu un­tersuchen, ob zum Beispiel der Notar Collingwood eines natürlichen oder unnatürlichen Todes gestorben ist. Stimmen Sie darin mit mir überein?"

„Das ist es doch, Sir!" rief Norton unglücklich. „Natürlich wurde der Friedensrichter vom Sheriff über den Tod des Notars unterrichtet, aber seitdem ist nichts geschehen. Der Tod wurde nicht weiter untersucht, ob­wohl der Arzt einwandfrei feststellte, daß der Tod durch Einwirkung von Gift eintrat. Wir glauben alle, daß der Friedensrichter die Absicht hat, diese

Sache zu verschleppen. Er zählt zu dem engeren Freundeskreis der bei­den Killigrew-Söhne."

„Ah? Das ist interessant", sagte Ha­sard, „das war mir bisher nicht be­kannt. Wie heißt denn der Friedens­richter?"

„Jeremy Toole, Sir." Hasard blickte zu Old Shane und

Old Donegal. „Habt ihr von dem schon mal was gehört?"

Die beiden schüttelten verneinend die Köpfe.

„Ich auch nicht", murmelte Hasard, „scheint kein Mann aus Cornwall zu sein."

„Das ist richtig, Sir", sagte Norton. „Toole stammt aus Devonshire. Wer­den Sie uns helfen?"

„Nun, Mister Norton", erwiderte Hasard, „ich möchte mich so legal wie möglich verhalten, zumal ich im Um­gang mit Friedensrichtern sehr eigen­tümliche Erfahrungen sammelte. Ge­holfen habe ich Ihnen schon, als wir gestern abend die Bluthunde von Ar­wenack erschossen. Das kann ich so­gar vor Gericht vertreten, denn die Hunde wurden auf uns gehetzt, was bereits einen Rechtsbruch darstellt, denn ich hatte meine Brüder um nichts weiter als eine Einsicht in das Testament Lady Annes gebeten. Die­ses Testament scheint mir eine Art Angelpunkt für alles zu sein. Sie wer­den verstehen, daß ich es mir nicht mit Gewalt aneignen kann. Wie sagt man? Kommt Zeit, kommt Rat. So möchte ich es halten. Sollten in Fal­mouth ungesetzliche Dinge passie­ren, stehen meine Mannschaft und ich Ihnen selbstverständlich zur Ver­fügung. Genügt das als Antwort?"

„Ja, Sir, ich danke Ihnen sehr herz­lich - und jetzt ist mir etwas wohler."

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Sie reichten sich die Hände, und Ben Brighton geleitete den Haupt­mann der Bürgerwehr von Bord.

Er kehrte nachdenklich aufs Ach­terdeck zurück, wobei er eher zufällig über das achtere Schanzkleid blickte, seinen Kapitän mit einem Riesensatz ansprang und auf die Planken riß.

Das Krachen eines Schusses schall­te über den Hafen.

Eine Kugel klatschte in den Besan­mast, dort, wo Hasard gestanden hatte.

Mit einem röhrenden Brüllen fe­derte Big Old Shane an die achtere Drehbasse an Steuerbord, schwenkte sie herum und feuerte.

Der Mann wurde erwischt, bevor er zwischen zwei Schuppen am Rande der Pier verschwinden konnte. Die Ladung traf ihn im Fluchtlauf voll ins Kreuz und schmetterte ihn gegen die Schuppenwand, so daß ein paar Bretter zerbarsten.

Old Shane setzte übers Schanzkleid weg auf die Pier und stürmte zu dem Kerl. Dichtauf folgten ihm Carberry und Dan O'Flynn, die Pistolen in den Fäusten.

Der Kerl lag auf dem Bauch, sein Rücken war zerfetzt. Old Shane drehte ihn grob mit dem Stiefel um.

Der Kerl starrte zu ihm hoch, ein verzerrtes Grinsen im Gesicht.

„Wer gab dazu den Befehl?" brüllte Old Shane. „Spuck's aus, bevor du zur Hölle gehst!"

„Leck mich. . ." Das war alles. Die Augen des Mannes wurden stumpf, sein Kopf fiel zur Seite.

Old Shane fluchte. „Da hast du allen Grund zu", sagte

Dan O'Flynn kühl. „Mußtest du die Drehbasse nehmen?. Wir hätten ihn auch so erwischt, und dann hätten

wir erfahren, wer den Mordauftrag erteilte."

„Wer wohl?" fauchte Old Shane. „Die beiden Lumpenkerle da oben! Wer denn sonst!"

„So? Hast du das schriftlich?" „Nein!" brüllte Old Shane. „Habe

ich nicht!" „Mann, reg dich ab, Shane", sagte

Carberry. „Es ist nun mal passiert und nicht mehr zu ändern. Ich hätte genauso wie du auf den Kerl gebal­lert - und wenn ich 'ne Culverine ge­nommen hätte. Hinterher ist man im­mer schlauer, so schlau wie unser Klugscheißer Dan O'Flynn."

Dan wollte zu einer geharnischten Erwiderung ansetzen, aber da keuchte der Bürgerwehrhauptmann heran. Vermutlich waren das Kra­chen der Muskete und der Drehbasse die ersten Schüsse, die er jemals ge­hört hatte. Er war sehr bleich.

„Ist er - ist er tot?" fragte er. „Mausetot", erwiderte der Profos.

„Kennen Sie den Kerl?" Norton nickte und starrte scheu auf

den Toten. „Er stand oben auf Arwe­nack im Sold. Ein ganz übler Bursche. Glauben Sie, daß ihn die Killigrews beauftragten?"

„Wir können ihn leider nicht mehr fragen", sagte Dan O'Flynn gallig und warf Old Shane einen schrägen Blick zu.

„Das war ein Mordversuch", sagte Norton mit wichtiger Miene. „Das muß untersucht werden, jawohl!"

„Von wem?" fragte Dan spöttisch. „Vom Friedensrichter, der mit den Killigrews befreundet ist?"

„Ach so." Norton schaute belem­mert drein.

„Kümmern Sie sich um die Lei­che?" fragte Dan sachlich. „Die kann

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ja hier nicht liegenbleiben, nicht wahr?"

„Ich benachrichtige den Totengrä­ber", sagte Norton hastig. „Die Sache ist klar. Es war Notwehr, als Sie zu­rückschossen."

„Das ist nicht korrekt, Mister Nor­ton", sagte Old Shane bissig. „Ich er­schoß den Mann auf der Flucht, nach­dem er auf Kapitän Killigrew ge­schossen hatte. Falls mich jemand da­für einsperren will - ich stehe zur Verfügung. Damit das klar ist."

„Niemand will Sie einsperren, Mi­ster Shane", versicherte Norton. „Der Kerl hatte genug Dreck am Stecken."

Sie trennten sich. Carberry hatte die Muskete des

Heckenschützen gefunden, die dieser weggeworfen hatte. Er zeigte sie Old Shane und deutete auf den einge­brannten Stempel im Schaft. Es war das Wappen der Killigrews: ein dop­pelköpfiger Adler mit ausgebreiteten Schwingen.

Er kannte das Wappen und sagte: „Also doch ein Beweis, Shane. Das Pusterohr stammt aus der Waffen­kammer von Arwenack. Stimmt's?"

„Das stimmt", erwiderte Old Shane, „aber ein Beweis ist die Waffe trotzdem nicht. Die da oben werden behaupten, der Kerl habe die Mus­kete geklaut und auf eigene Faust ge­handelt."

„Richtig", sagte Dan O'Flynn, „trotzdem ist die Muskete ein Corpus delicti, und wir nehmen sie mit an Bord."

„Ein was?" fragte der Profos. „Ein Corpus delicti", wiederholte

Dan, „der Gegenstand oder das Werk­zeug eines Verbrechens."

„Sag das doch gleich", knurrte der Profos. „Immer dieses Gesabbel in

anderer Sprache. Ist das Grie­chisch?"

„Lateinisch." „Aha!" An Bord überreichte der Profos sei­

nem Kapitän die Muskete und er­klärte: „Das ist das Corpus Dingsda, Sir, wenn du weißt, was ich damit meine. Ist bei dir alles in Ordnung, Sir?"

„Ich bin noch in einem Stück", sagte Hasard und rieb sich den linken Ellbogen, auf den er gestürzt war, als Ben Brighton ihn umgerissen hatte. „Dank Bens tatkräftiger Unterstüt­zung. Norton war bei euch. Kennt er den Kerl?"

Carberry nickte. „Gehört zu denen da oben - wie die Muskete. Sie hat das Killigrewwappen."

Hasard lächelte ungezwungen. „Ja, Freunde, jetzt geraten die Dinge in Bewegung." Er schaute zu Old Shane: „Blick nicht so biestig drein, mein Al­ter! Ich hätte genauso wie du geschos­sen."

„Das sag mal dem jüngeren Mister O'Flynn", brummte Old Shane.

„Der war doch schon immer vor­laut", sagte Hasard, und da konnten sie endlich wieder lachen.

Ja, die Dinge gerieten in Bewegung. Gegen Mittag erschien wieder ein Be­sucher an der Stelling der Schebecke und verlangte, den Kapitän zu spre­chen. Dieses Mal war es ein dürrer, langer Mensch mit einem Geierge­sicht und stechenden Augen.

Gary Andrews ging die Wache an der Stelling, und er fragte in höfli­cher Form: „Wen darf ich bitte mel­den?"

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„Jeremy Toole, Friedensrichter!" schnappte der Dürre.

„Bitte zu warten, Mister Toole", sagte Gary und blieb breitbeinig auf der Stelling stehen.

Bill flitzte nach achtern, um den Kapitän zu Wahrschauen.

„Muß das sein?" beschwerte sich Jeremy Toole.

„Was meinen Sie damit, Mister Toole?"

„Daß ich hier warten muß. Ich habe nicht viel Zeit."

„Sie hätten sich ja vorher anmelden können, Sir", entgegnete Gary An­drews.

„Erlauben Sie mal!" sagte Jeremy Toole erregt. „Ich habe es nicht nötig, mich irgendwo anzumelden. Ich bin Friedensrichter!"

„Das sagten Sie bereits, Sir." „Unverschämtheit! Wie heißen

Sie?" „Gary Andrews, Sir." „Beruf?" „Zur Zeit Beantworter von dußli­

gen Fragen, Sir", sagte Gary mit küh­ler Sachlichkeit. „Ich bin bei Ihnen nicht vorgeladen und stehe auch nicht vor Gericht. Sie haben sich hier nach der Bordetikette zu richten, und die besagt, daß Sie zu warten haben, bis der Kapitän entscheidet, ob er mit Ihrem Besuch einverstanden ist oder nicht. Diese Etikette gilt sogar für Ihre Majestät, die Königin, und sie hielt sie ein, als sie Kapitän Killigrew in London an Bord unseres Schiffes besuchte. Was für Ihre Majestät gilt, dürfte auch für Sie gelten."

Das Geiergesicht war ein einziges Fragezeichen mit einem offenen Maul als Punkt darunter.

Dann bewegte sich das Maul wie­der: „Ihre - Ihre Majestät war in Lon­

don an Bord dieses Schiffes? Zu ei­nem Besuch Killigrews?"

„Richtig, sie besuchte Kapitän Kil­ligrew, und zwar an derselben Tower-Pier, wo sie ihn vor zehn Jahren zum Ritter geschlagen hatte."

„Sie lügen, Sie Kerl, Sie!" tobte der Geiergesichtige. „Ich werde Sie we­gen Belügens eines Friedensrichters züchtigen und ins Gefängnis sperren lassen.. ."

„Gar nichts werden Sie." Hasard war an der Durchgangsluke an Steuerbord der Kuhl aufgetaucht. „Ich bin der Kapitän dieses Schiffes, Philip Hasard Killigrew. Was wollen Sie von mir?"

„Sie sprechen!" fauchte Jeremy Toole.

„Bitte sehr, wenn Sie sich aufs Ach­terdeck bemühen wollen", sagte Ha­sard kühl.

Gary Andrews trat zur Seite und ließ den Geiergesichtigen passieren. Der polterte über die Stelling an Bord und folgte Hasard aufs Achter­deck. Dort deutete Hasard auf den Einschlag im Besanmast.

„Sehen Sie das?" fragte er. „Ja. Was soll das?" „Da steckt eine Kugel drin. Sie galt

mir", erwiderte Hasard, „abgefeuert von einem Mann, der nach Aussage des stellvertretenden Bürgermeisters Norton im Sold der Killigrews auf Arwenack steht." Hasard griff nach der Muskete, die am Schanzkleid lehnte. „Hier ist die Tatwaffe. Sie weist im Schaft den Stempel mit dem Wappen der Killigrews auf, stammt also aus der Waffenkammer der Burg. Ich fordere Sie auf, diesen Mordanschlag zu untersuchen. Der Mann handelte nicht auf eigene Faust, sondern im Auftrag. Er kannte

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mich nicht, und ich kannte ihn nicht ­er hatte also einen Auftrag. Von wem, Mister Friedensrichter?"

„Äh - das weiß ich doch nicht. Ich habe auch keine Zeit, mich um solche Lappalien zu kümmern. Da hat ir­gendein Verrückter geschossen ­ähem. Was ich Ihnen mitteilen wollte: Sie haben Falmouth sofort zu verlas­sen, weil Sie ein Unruhestifter sind ­ähem. Sie haben gestern abend acht wertvolle Jagdhunde der Herren auf Arwenack brutal niedergeschossen, was dem Gesetz nach als ein unglaub­licher Rechtsbruch aufzufassen ist ­ähem. Die Gentlemen auf Arwenack haben sich nach Rechtsberatung mit mir gnädigerweise bereit erklärt, auf eine Anzeige und Bestrafung zu ver­zichten. Allerdings verlangen sie ­wie ich bereits ausführte - daß Sie Falmouth sofort zu verlassen haben."

„Ihr Rechtsempfinden scheint deut­lich gestört zu sein", sagte Hasard ge­lassen. „Außerdem verdrehen Sie die Tatsachen. Diese Jagdhunde, die Bluthunde sind, wurden von den be­sagten Gentlemen auf mich gehetzt, als ich lediglich nach dem Testament meiner Pflegemutter, Lady Anne Kil­ligrew, gefragt hatte. Diese Frage steht mir als Killigrew zu, wie Sie in Ihrer Eigenschaft als Friedensrichter wissen sollten. Und ich verlasse diese Stadt nicht eher, bis ich das Testa­ment gesehen habe."

„Ähem - bitte sehr, hier ist es!" Und damit zog der Geiergesichtige eine Schriftrolle aus seinem Umhang und reichte sie Hasard.

Der war nun doch verdutzt, weil er damit nicht gerechnet hatte.

„Lesen Sie!" sagte der Geiergesich­tige mit näselnder Stimme und von oben herab. „Und dann verschwinden

Sie, bevor hier Mord und Totschlag passiert."

Hasard blickte den Dürren scharf an. „Ist der nicht schon passiert, Too­le?"

„Wieso?" stieß der Dürre hervor. „Haben Sie den seltsamen Tod des

Notars Collingwood schon unter­sucht?" fragte Hasard..

„Das war Selbstmord!" „Ach ja? Standen Sie daneben, als

der Notar gezwungen wurde, Gift zu nehmen?"

„Das ist eine ungeheuerliche Be­hauptung!" schrie Jeremy Toole.

„Der Sie mal nachgehen sollten, Mi­ster Friedensrichter", sagte Hasard ätzend, „ich habe zum Beispiel einen Zeugen, der bekunden kann, mit wem der Notar in der Todesnacht in seiner Kanzlei zusammen war. Kennen Sie auch diesen Zeugen?"

„Alles erstunken und erlogen! In­teressiert mich nicht!"

„So? Interessiert Sie nicht? Sind Sie als Friedensrichter nicht ver­pflichtet, jeder, aber auch jeder Spur nachzugehen, die zur Wahrheitsfin­dung beitragen könnte? Wem dienen Sie eigentlich? Dem Recht oder Ihren Killigrewfreunden da oben auf Arwe­nack?"

„Das brauche ich mir nicht länger bieten zu lassen!" brüllte Jeremy Toole hochrot im Gesicht.

„Sie werden sich wundern, was ich Ihnen noch alles zu bieten habe, Mi­ster Friedensrichter", sagte Hasard. „Das ist alles schon sehr merkwürdig. Da bezeichnen Sie einen Mordan­schlag auf mich als Lappalie, aber das Erschießen von acht Bluthunden ist für Sie ein unglaublicher Rechts­bruch. Offenbar hat das Leben dieser Bestien, die auf Menschen gehetzt

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werden, bei Ihnen einen höheren Stel­lenwert als ein Menschenleben. Ich schätze, ich werde bei meiner Rück­kehr nach London Ihre Majestät, die Königin, darüber in Kenntnis setzen, wie hier ein sogenannter Friedens­richter sein Amt und das Recht hand­habt."

„Sie bluffen ja nur!" „Irrtum, mein Lieber." Und jetzt

zog Hasard zwei Schriftstücke aus dem Wams, wobei er die Schriftrolle achtlos unter seinen Gurt schob. „Hier habe ich einen Kaperbrief Ih­rer Majestät, der vor zehn Jahren ausgestellt wurde und noch heute gilt. Und hier ist ein Schreiben Ihrer Majestät vom April diesen Jahres, in dem sie mich bittet, mich für einen bestimmten Auftrag zur Verfügung zu halten. Lesen Sie, Mister Friedens­richter, damit Sie kapieren, daß ich nicht bluffe. Meine Beziehungen zur Krone und Ihrer Majestät sind enger, als Sie denken."

Der Dürre las die beiden Schrift­stücke, und es war nicht zu verken­nen, daß er blaß und blässer wurde.

Und auch Hasard beschäftigte sich mit dem, was das Testament seiner Mutter darstellen sollte. Es trug das Datum vom 10. April 1598. Lady Anne war zwei Tage später, am 12. April, gestorben.

Hasard stutzte. Er konnte sich nicht vorstellen, daß

Lady Anne dieses Testament aufge­setzt hatte - jedenfalls nach allem, was ihm bisher bekannt war. Denn wenn sie unter ihren beiden Söhnen gelitten hatte, dann mußte sie „ihr Haus" früher bestellt haben, zumin­dest in jenen Monaten seit der Rück­kehr ihrer beiden Söhne, in denen sie erkannt hatte, was aus den beiden

Kerlen für Monster geworden waren, Monster, die soffen und hurten und randalierten und noch schlimmer als ihr Erzeuger waren.

Und dann fiel Hasards Blick auf die Unterschrift seiner Pflegemutter, die er sehr genau kannte. Denn er hatte immer das so kunstvoll verschlun­gene „A" als Anfangsbuchstaben des Vornamens von Lady Anne staunend bewundert. Dieses „A" jedoch war nicht kunstvoll, sondern gekünstelt.

Es war eindeutig gefälscht, auch wenn die anderen Buchstaben ent­fernte Ähnlichkeit mit Lady Annes Unterschrift hatten.

Wer hätte das schon nachprüfen können!

Er ließ das „Testament" sinken und blickte zur Burg hoch.

Siehe da! Auf dem Burgturm, von dem er

hatte stürzen sollen, standen zwei Fi­guren und starrten mit Spektiven auf die Schebecke hinunter. Hasard hob langsam und deutlich zwischen bei­den Händen das „Testament" hoch ­und zerriß es in der Mitte. Die beiden Teile ließ er los. Sie segelten auf die Planken.

Die beiden Figuren verschwanden geradezu blitzartig.

7.

„Was tun Sie da?" schrie der Dürre mit gellender Stimme. „Das ist bös­willige Vernichtung einer verbrieften Urkunde!" Er schnappte nach Luft und hatte hektische Flecken auf den Wangen.

„Das ist weder eine Urkunde noch ein Testament, sondern eine Fäl­schung", sagte Hasard eisig. „Die Un­

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terschrift meiner Mutter ist ge­fälscht, Mister Friedensrichter. Da sitzen Sie ganz schön in der Tinte ­Sie und diese beiden Schurken da oben auf Arwenack. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was bei Testamentsurkunden üblich ist? Es gibt ein Original, und es gibt eine vom Notar und vom eine Erbschaft Hinterlassenden beglaubigte Ab­schrift des Originals. Wo ist zum Bei­spiel die Abschrift von diesem Testa­ment, das ich als Fälschung bezeich­nete? Und wo sind die beiden echten Urkunden? Fragen Sie doch mal die beiden Gentlemen da oben auf Arwe­nack. Vielleicht wissen die eine Ant­wort. Ich jedenfalls bleibe in Fal­mouth, bis das geklärt ist. Und selbst­verständlich wünsche ich Ihnen viel Erfolg, wenn Sie jetzt an die Arbeit gehen. Leider werden Sie dabei im Schmutz herumwühlen müssen. Pas­sen Sie auf, daß nicht auch Ihre Fin­ger dabei schmutzig werden. Oder sind sie es schon?"

Der Dürre, käsig im Gesicht, bückte sich nach den beiden zerrissenen Tei­len des sogenannten Testaments und huschte grußlos von Bord.

„Den könnte ich doch in den Arsch treten!" knurrte Hasard wild hinter ihm her. „Friedensrichter! Einen Dreck ist der! Das genau sind die Burschen, die selbst das Recht bre­chen und Unschuldige hinter Gitter oder an den Galgen bringen. Und wenn du diese Burschen anfaßt, sind sie schleimig wie Aale und gleiten dir aus der Hand, verdammt noch mal! Die sind schlimmer als diese drecki­gen Schurken da oben, die sogar zu blöd sind, ein Testament zu fälschen! Am zehnten April ist das Testament aufgesetzt, am zehnten April dieses

Jahres! Als Lady Anne längst wußte, was ihre eigenen Söhne für Scheiß­kerle waren! Und dem Oberschurken Simon Llewellyn vermacht sie Arwe­nack - zwei Tage vor ihrem Tod! Es ist nicht zu fassen!" Und Hasard knallte die rechte Faust in die linke Handfläche. Es klang wie ein Pisto­lenschuß. Ja, er war mächtig in Fahrt, dieser Philip Hasard Killigrew.

„Sir", sagte der Profos sehr bedäch­tig und freundlich, „ich habe hier ein Buddelchen mit Rum. Vielleicht tust du dich ein bißchen atzen nach all dem Ärger. Rum ist immer gut für so was."

Nun ja, da langte Kapitän Killig­rew zu und „atzte" sich. Es tat ihm wirklich gut, vor allem tat ihm gut, daß der Profos so besorgt um ihn war, aber nicht nur der Profos. Sie alle grinsten ihm zu, als wollten sie ihm auf die Schulter klopfen und sa­gen: Laß es man gut sein, Alter, alles halb so schlimm. Und überall wird nur mit Wasser gekocht, aber das weißt du ja selbst, weil du es uns oft genug eingetrichtert hast, wenn die ­na, du weißt schon - am Dampfen war.

„Gut?" erkundigte sich der Pfofos liebevoll.

„Sehr gut, Ed, danke." Hasard wischte sich über den Mund und reichte die Flasche zurück - das „Buddelchen". Der Profos, klotzig und wüst, wie er war, liebte manch­mal die Verniedlichungen. Und wenn er sie brachte, paßten sie immer.

„Da sind wir doch schon ein ganzes Stück weiter", sagte Ben Brighton zu­frieden. „Jedenfalls verdichten sich die Gerüchte zu Tatsachen, die selbst dieser sogenannte Friedensrichter nicht mehr ignorieren kann. Jetzt

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sitzt er in der Zwickmühle. Diese Sache zu verschleppen, das kann er sich nicht mehr leisten."

„Da bin ich mir nicht so sicher", meinte Hasard. „Außerdem fragt sich, wie weit er in diese Machen­schaften verwickelt ist. Kennt er die Wahrheit? Fest steht nur, daß er die Kerle da oben abschirmt, beziehungs­weise ihre Interessen vertritt. Wahr­scheinlich haben sie ihn geschmiert."

„Diese Schmiere hält nicht ewig", sagte Ben Brighton. „Sie hält vor al­lem dann nicht, wenn es dem Ge­schmierten selbst an den Kragen geht. Daß du ihm unter die Nase ge­rieben hast, wie gut deine Beziehun­gen zur Krone sind, hat ihm über­haupt nicht geschmeckt. Vermutlich war ihm das neu. Jetzt hat er Angst, daß du diese Beziehungen gegen ihn einsetzt."

„Backen und Banken!" brüllte Mac Pellew, der aus der Kombüse getre­ten war.

Damit wurde das Gespräch unter­brochen.

,.Schrei nicht so!" fuhr ihn der Pro­fos an. „Wir sind hier nicht auf See, wo uns keiner hört. Was gibt's denn heute?"

„Kakerlakenpudding mit gedünste­ten Kuhfladen in Vanillesauce!" schnappte Mac Pellew und war schon wieder sauer, weil ihn kaum etwas mehr aufbrachte als diese ewige Fra­gerei nach dem Speisezettel.

„Schöner Schweinkram", erklärte der Profos.

„Du brauchst ja nichts zu essen", sagte Mac spitz, „zumal du dir heute morgen den Bauch mit Spiegeleiern und Speck vollgeschlagen hast - bei der süßen Debby!" Und Mac

schwenkte kokett die Hüften hin und her. „Trallala-trallala!"

Klar doch, daß Old Donegal bereits getratscht und hinter vorgehaltener Hand die Kunde verbreitet hatte, der Profos sei seit ihrem Besuch im „White Horse" in Liebe entflammt. Und jetzt lauerten die Kerle grin­send, wie der Profos reagieren würde.

Tat der aber nicht. Er betrachtete nur sein „Mäckilein" von oben bis un­ten, schüttelte unmerklich den Kopf, legte die Hände auf den Rücken, drehte sich gelangweilt um und schritt zum Schanzkleid an Back­bord, wo er sich in den Anblick der Falmouth Bay versenkte.

Mac stand ziemlich dämlich da. Dann mußte er das Essen austeilen

und war muffiger denn je - vor allem deswegen, weil ihn so etwas wie Neid plagte. Das hing mit seiner Einbil­dung zusammen, sich selbst für „den Liebling aller Frauen" zu halten - ein Quell ständiger Heiterkeit für die Ar­wenacks, aber auch ein ewiges Rätsel, weil Mac erstaunlicherweise eben doch „Erfolge" beim Umgang mit der holden Weiblichkeit vorzuweisen hatte.

Natürlich gab es nicht den Kakerla­kenpudding und so weiter, sondern herrliche Lammkoteletts mit Bohnen und Kartoffeln. Letztere hatten Fran­cis Drake und John Hawkins nach England gebracht, wo sich die Knol­lengewächse immer weiter ausbreite­ten und an Beliebtheit gewannen.

Am frühen Nachmittag meldete sich ein dritter Besucher an der Stel­ling der Schebecke. Dort hatte inzwi­schen Matt Davies die Wache über­nommen.

Der Besucher war ein kleines Männchen - eher eine kleine, graue

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Maus, die angesichts von Matts Ha­kenprothese offenbar am liebsten gleich wieder davongehuscht wäre.

Aber weil Matt freundlich grinste, fragte das Männchen: „Ist das - ist das hier das Schiff von Kapitän Kil­ligrew?"

„Das ist richtig, Mister", sagte Matt, „dies ist das Schiff von Kapitän Killigrew. Wenn ich mich nicht täu­sche, liegt auch kein anderes Schiff hier an der Pier - mit Ausnahme der Fischerfahrzeuge."

Das Männchen schaute sich um und bestätigte Matts Feststellung.

„Ja", sagte das Männchen, „Sie ha­ben recht, hier ist kein anderes Schiff." Dann trat das Männchen von einem Fuß auf den anderen und fragte vorsichtig, ob denn der Kapi­tän Killigrew anwesend und, bitte sehr, zu sprechen sei. Er selbst heiße Joshua Briggs und habe dem Kapitän Killigrew etwas zu übergeben. Das sagte das Männchen alles sehr um­ständlich und zögernd, wobei es sich dauernd umschaute, sehr unruhig und nervös, was Matt wieder an ein Mäuschen erinnerte, das jeden Mo­ment einen jagenden Kater erwartet.

Matt hatte fast Mitleid mit dem Mäuschen und ließ Hasard wahr­schauen, daß ihn ein Mister Briggs sprechen wolle.

Philip junior holte das Männchen von der Stelling ab und brachte es in die Kapitänskammer. Dort befanden sich außer Hasard zur Zeit noch Ben Brighton, Dan O'Flynn und Old Shane.

Hasard stand auf, stellte sich vor und begrüßte das Männchen, das ihm an Größe knapp über den Bauchna­bel reichte. Natürlich war er über­rascht, denn den Namen Briggs hatte

er vom Hafenmeister gehört, und die­ses Männchen mußte demnach der Sekretär des verstorbenen Notars ge­wesen sein. Er hatte sowieso schon überlegt, ob er diesen Mann aufsu­chen solle, um ihm einige Fragen zu stellen.

Das Männchen schaute zu ihm hoch, aufmerksam und doch verle­gen.

„Sind Sie wirklich Kapitän Killi­grew?" fragte es. „Ich meine Philip Hasard Killigrew, Sir, jenen Philip Hasard Killigrew, der einmal auf Ar­wenack gewohnt hat und Falmouth im Jahre fünfzehnhundertsechsund­siebzig verlassen haben soll."

„Das ist korrekt, Mister Briggs", sagte Hasard lächelnd. „Bitte setzen Sie sich."

Briggs setzte sich, ebenso die ande­ren.

Das Männchen rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her und stellte eine weitere Frage, als brauche es Ge­wißheit, daß der riesige Mann wirk­lich Kapitän Killigrew sei: „Bitte sehr, Sir, sagen Sie mir noch, in wel­chem Monat Sie Falmouth verließen. Wissen Sie das noch?"

„O ja, Mister Briggs", erwiderte Ha­sard, „das war im Oktober des von Ih­nen genannten Jahres."

„Sehr gut", lobte das Männchen. „Und wer war damals Hafenmeister, bis ihn der zweite Hafenmeister Amos Whitman ablöste?"

„Mac Sullivan", erwiderte Hasard und mußte nun doch lachen. „Bitte, Mister Briggs, wenn Sie Zweifel an meiner Identität haben, brauchen Sie sich nur bei Amos Whitman zu erkun­digen. Er hat mich erkannt. Übrigens erwähnte er Sie auch bei unserem Ge­spräch heute morgen. Sie waren Sek­

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retär bei Mister Collingwood, dem Notar von Lady Anne. Ich hätte Sie heute aufgesucht, weil ich den Ein­druck habe, daß mit dem Testament einiges nicht stimmt, zumindest mit dem Testament, das mir der Frie­densrichter heute zeigte. Es wurde am zehnten April aufgesetzt. Ist das alles richtig?"

„Deswegen bin ich hier, um zur Klärung beizutragen, Sir", sagte Jo­shua Briggs und zitterte ein bißchen. „Ich habe unter einem furchtbaren Druck gelebt, seit Mister Colling­wood verschieden ist. Ich bin kein sehr tapferer Mann und hatte Angst . . ."

„Darf ich Ihnen einen Wein anbie­ten, Mister Briggs?" unterbrach ihn Hasard.

„Danke, nein, Sir, ich trinke keinen Alkohol", sagte das Männchen. „Also: Lady Anne Killigrew erschien am einunddreißigsten Dezember letz­ten Jahres in unserer Kanzlei und wünschte, ihren Letzten Willen auf­zusetzen. Im Beisein Lady Annes dik­tierte mir Mister Collingwood den Wortlaut, aus dem klar und unmiß­verständlich hervorging, daß Lady Anne ihren Sohn Philip Hasard Kil­ligrew zum Gesamterben von Arwe­nack einsetzte. Ich schrieb das Origi­nal und danach eine Abschrift des Originals, und beide Schriftstücke wurden von der Erblasserin und Mi­ster Collingwood unterzeichnet, wie das im Erbrecht vorgeschrieben ist. Die Abschrift nahm Lady Anne an sich, das Original verblieb bei Mister Collingwood, wurde versiegelt und eingeschlossen. Am Abend des zehn­ten April erschienen die beiden ande­ren Söhne Lady Annes in der Kanz­lei, und ich hatte mich auf ihren

Wunsch hin zu entfernen. Ich ging nach Hause, denn in der Kanzlei gab es nichts mehr zu tun. Am nächsten Tag war Mister Collingwood sehr ner­vös und fahrig, und er sagte, wenn er eines unnatürlichen Todes sterben sollte, dann möge ich nichts unterneh­men, sondern warten, bis vielleicht ei­nes Tages Philip Hasard Killigrew, der tatsächliche Erbe von Arwenack, nach Falmouth zurückkehre." Das Männchen griff innen in seine Jacke und holte ein Päckchen heraus. „Und dann sollte ich Ihnen Sir, diesen ver­siegelten Umschlag übergeben. Er be­fand sich seitdem in einem Versteck in meiner Wohnung - das hatte Mi­ster Collingwood so angeordnet." Er überreichte Hasard den Umschlag.

Hasard nahm ihn entgegen und sagte: „Danke, Mister Briggs. Sie sind ein tapferer Mann, denn unter den gegebenen Umständen mußten Sie täglich damit rechnen, daß Ihnen die beiden Killigrews Gewalt antun, falls sie irgendwie erfahren haben sollten, daß Sie die beiden echten Te­stamente geschrieben haben. Vermut­lich - könnte ich mir denken - hat Mi­ster Collingwood diese Tatsache den beiden verschwiegen oder sogar ge­sagt, er habe das Testament geschrie­ben, und zwar nur eins."

„Das ist richtig Sir", erwiderte das Männchen bescheiden. „Genau das sagte ich mir auch. Und darum war ich gar nicht tapfer, sondern hatte nur noch Angst. Sie wurde immer größer, je wilder sich die beiden Kil­ligrewsöhne aufspielten. Ich bin wirklich kein Held, aber ich wollte auch das Vermächtnis Mister Colling­woods erfüllen. Er war ein wirklicher Gentleman, auch wenn er das falsche Testament öffentlich verlesen hat.

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Ich glaube, er mußte es - sie zwangen ihn dazu."

Hasard nickte und erbrach das Sie­gel des Umschlags. Er enthielt zwei Schriftstücke - einen Brief an ihn und das Original des Testaments vom 31. Dezember 1597. Hasard öffnete den Brief und las ihn.

Dann ließ er ihn sinken, nickte und sagte: „Es ist so, wie ich vermutete. Mister Collingwood bittet mich um Verzeihung, er habe der Gewalt nach­geben und ein neues Testament auf­setzen müssen - zugunsten Simon Llewellyn Killigrews, der gedroht habe, ihm die Kehle durchzuschnei­den. Er schreibt weiter, die beiden Killigrews seien im Besitz der Ab­schrift des richtigen Testaments ge­wesen, und er habe ihnen verschwie­gen, daß es noch ein Original gebe. Ebenso habe er ihnen verschwiegen, daß Mister Briggs die beiden echten Exemplare geschrieben habe. Weiter ist interessant, daß meine Brüder, wie sie Mister Collingwood hohnla­chend erklärten, die Abschrift, die sie für das Original hielten, aus dem Ge­heimfach in der Schreibschatulle ih­rer Mutter entwendeten. Diese Ab­schrift verbrannten sie im Kamin bei Mister Collingwood. Die Unterschrift Lady Annes unter dem falschen Te­stament wurde von Simon Llewellyn gefälscht, bevor sie die Abschrift ver­brannten. Am Schluß seines Briefes bittet mich Mister Collingwood noch einmal um Verzeihung, aber er habe aus Todesangst nicht anders handeln können. Außerdem hätten sie ge­droht, ihn umzubringen, sollte er je­mals versuchen, sie zu hintergehen und diese Sache aufzudecken. Das ist alles."

„Das reicht auch", knurrte Old

Shane erbittert. „Und sie haben es nicht bei der Drohung belassen, son­dern ihn sicherheitshalber dann mit Gift umgebracht. Was wirst du jetzt tun?"

„Zum Friedensrichter gehen", sagte Hasard, „und ihm die beiden Schriftstücke vorlegen. Mal sehen, wie er darauf reagiert. Begleitest du mich?"

„Selbstverständlich." Ben Brighton räusperte sich. „Ihr

solltet auch Dan und vielleicht noch Ed mitnehmen, Sir - denke an den Heckenschützen. Möglicherweise ver­sucht auch der Friedensrichter eine krumme Tour."

„In Ordnung", sagte Hasard und wandte sich dem Männchen zu: „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Mister Briggs. Denn ohne diese Schriftstücke wäre es schwer gewor­den, die Wahrheit herauszubringen. Was halten Sie davon, bei uns an Bord zu bleiben, bis die ganze Ge­schichte vorbei ist? Hier bei uns sind Sie sicher, und wir können Ihnen eine Kammer zur Verfügung stellen - zu essen gibt's auch."

„Da bin ich Ihnen sehr dankbar, Sir", sagte das Männchen, „ich nehme Ihr Angebot an. Ich glaube, ich hätte mich nicht mehr in meine Wohnung zurückgetraut."

Hasard lächelte. „Sie brauchen nichts mehr zu befürchten, Mister Briggs. Jeder Mann von uns steht für Sie ein, und das ist keine leere Re­densart. Mister Brighton, der Erste Offizier, wird Ihnen die Kammer zu­weisen und jeden Wunsch erfüllen, den Sie haben."

„Im Moment habe ich nur einen Wunsch", sagte das Männchen schüchtern.

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„Und welchen?" erkundigte sich Hasard.

„Schlafen, Sir! Ich habe seit Wo­chen nicht mehr richtig schlafen kön­nen, weil ich immer Angst hatte, die Kerle würden bei mir einbrechen."

„Dann marsch in die Kammer!" sagte Hasard lächelnd. „Und schlafen Sie gut und so lange, wie Sie wollen, Mister Briggs."

Ben Brighton nahm sich des Männ­chens an und verfrachtete es in die leere Kammer im Achterdeck, Philip junior besorgte das Bettzeug und be­zog die Koje in der kleinen Kammer.

Als die vier Männer von Bord gin­gen, schnarchte Joshua Briggs be­reits, aber das war nicht mit der Schnarcherei Old Shanes oder Car­berry s zu vergleichen - bewahre! Es war eben das Schnarchen einer Maus - einer Maus, die ein tapferes Herz hatte, auch wenn sie sich nicht für heldenmütig hielt.

8.

Amos Whitman hatte sie zum Haus des Friedensrichters gebracht, einem recht aufwendigen Gebäude mit Gar­ten und Blick über die Falmouth Bay.

Es ging auch herrschaftlich zu, denn ein Butler empfing die vier Männer, einer von jener Sorte, die vor lauter Vornehmheit kaum noch aus den Augen schauen konnte.

„Sie wünschen?" fragte er und blickte in weite Fernen, jedenfalls an den vier Männern vorbei, denn die trugen die Kleidung von Seeleuten, und so etwas brauchte man nicht wei­ter in Augenschein zu nehmen. Man brauchte es überhaupt nicht zu sehen. Außerdem näselte der Kerl.

„Mein Name ist Killigrew", sagte Hasard, „ich möchte Mister Toole sprechen."

Der Butler inspizierte weiter die unendlichen Fernen und näselte: „Be­suchszeit für Bittsteller ist am Mitt­woch nächster Woche um zehn Uhr. Vorher ist bei mir ein schriftliches Gesuch einzureichen. Derzeit emp­fangen wir keine Bittsteller."

„Soll ich ihm eine runterhauen, Sir?" fragte der Profos mit grollen­der Stimme.

Hasard lächelte. „Bitte noch nicht, Mister Carberry. Ich möchte mal ab­warten, wann diese Trantüte auf­wacht. Sie hätte nämlich schon beim Namen ,Killigrew' aufwachen und merken müssen, daß man die Killi­grews nun wirklich nicht in die Kate­gorie von Bittstellern einstufen kann."

Der ferne Blick rückte näher und heftete sich schließlich auf Hasard, und endlich zuckte der so vornehme Butler zusammen, denn Kälte über­fiel ihn, Gletscherkälte, die einzig aus den eisblauen Augen funkelte, die ihn musterten.

„Verzeihung, Mister", murmelte er, nun offenbar verstört. „Wie war Ihr Name?"

„Killigrew", sagte Hasard, „Philip Hasard Killigrew, vor genau zehn Jahren von Ihrer Majestät, der Köni­gin zum Ritter geschlagen und daher von Ihnen mit ,Sir' anzureden, Mi­ster."

„Das - das wußte ich nicht, Sir", stotterte der Butler.

„Das ist richtig", sagte Hasard, „Sie konnten es nicht wissen, aber Sie hät­ten beim Namen ,Killigrew' aufhor­chen müssen. Verkehren meine bei­den Brüder Simon Llewellyn und

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Thomas Lionel nicht in diesem Haus?"

„Nein, Sir, das müßte ich wissen", erwiderte der Butler, und sein Blick hatte schon längst die Ferne verloren. „Mister Toole hingegen fährt sehr oft mit dem Einspänner nach Arwenack hinüber, um den Gentlemen einen Be­such abzustatten." Er hüstelte dis­kret.

„Warum hüsteln Sie?" „Oh!" Der Butler zeigte Erschrek­

ken. „Darüber möchte ich nicht spre­chen, Sir. Es geziemt sich nicht."

„Er kehrt betrunken von solchen Besuchen zurück", sagte Hasard sachlich, „und vermutlich bringt er auch eine Hure mit, nicht wahr?"

Da senkte der Butler in aller Demut den Kopf und flüsterte: „So ist es, Sir, und ich halte das nicht für gut, weil die Leute schon darüber tuscheln. Schließlich sind wir ja Friedensrich­ter."

„Wir ist gut, dachte Hasard amü­siert und beschickte den Profos mit einem Blick, der besagte, er möge mit dem Feixen aufhören. Und der Pro­fos zeigte auch sogleich eine todern­ste Miene.

Der Butler hüstelte wieder, trat zur Seite und sagte: „Bitte, Sir, wenn Sie und die Gentlemen sich nun in die Halle begeben könnten? Ich werde Mister Toole von Ihrem Busuch in Kenntnis setzen, mit Verlaub."

Sie betraten die Halle, und der But­ler entschwand hinter einer getäfel­ten Tür, von denen es in der Halle acht gab. In der Halle hingen keine Hirschgeweihe oder Waffen, sondern die Ölgemälde geiergesichtiger Män­ner, deren Ähnlichkeit mit Jeremy Toole unverkennbar war.

„Eine Galerie von Schurken", mur­melte Dan O'Flynn angewidert.

Hasard nickte. „Aber von solchen mit weißen Westen, weil sie sich nie haben erwischen lassen - für mich die gefährlichste Sorte."

„Was sich erstmals ändern ließe", sagte Dan O'Flynn.

Da lächelte Hasard wieder. „Ich glaube, du mußt noch viel lernen, Mi­ster O'Flynn."

„Wieso?" „Weil diese Geier Aale sind, darum.

Das sagte ich doch schon. Sie glit­schen dir aus der Hand. Sie sind nicht zu packen.. ."

Jeremy Toole tauchte aus der Tür auf, durch die der Butler entschwun­den war.

„Was wollen Sie denn schon wie­der?" quengelte er. „Meine Zeit ist wirklich sehr bemessen. Ich habe dringliche Fälle zu bearbeiten, die keinen Aufschub dulden."

„Der Mord an Mister Collingwood duldet auch keinen Aufschub", sagte Hasard grob.

„Wie bitte?" „Sie haben richtig gehört, Toole.

Darf ich Sie bitten, das von mir zer­rissene sogenannte Testament zu ho­len? Sie hatten es aufgehoben und mitgenommen. Sie haben es doch noch?"

„Natürlich. Aber was soll das?" „Ich will Ihnen Gelegenheit geben,

es mit dem echten Testamant zu ver­gleichen", sagte Hasard.

Jeremy Toole war offensichtlich verwirrt. Dann eilte er davon - durch besagte Tür - und kehrte nach nur knapp einer Minute mit den beiden Teilen des Testaments zurück.

Hasard nahm sie wortlos in Emp­fang, trat zu einem Tisch, auf dem

KAPTAIN STELZBEIN 2009

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eine Bibel lag, deponierte dort die bei­den Teile, holte das echte Testament aus dem ärmellosen Lederkoller und legte es neben die beiden Teile. Dann winkte er Toole heran.

„Vergleichen Sie bitte die Daten", sagte er.

Das tat der Friedensrichter. Er beugte sich vor und beäugte die bei­den Stellen. Dann richtete er sich wie­der auf, deutlich überrascht.

„Das eine ist ja älter", sagte er, „vom letzten Jahrestag sogar."

„Richtig", sagte Hasard, „vom letz­ten Jahrestag. Und vielleicht haben Sie die Güte, auch einen Blick auf den Namen des Erben zu werfen."

Toole las und murmelte: „Philip Hasard Killigrew."

„Ebenfalls richtig", sagte Hasard. „Und zwei Tage vor ihrem Tod, näm­lich am zehnten April, ändert Lady Anne ihren Letzten Willen und setzt in einem neuen Testament ihren Sohn Simon Llewellyn zum Erben von Ar­wenack ein."

Der Friedensrichter gestattete sich ein Kichern.

„Das passiert sehr häufig", erklärte er von oben herab.

„Wie häufig das passiert, kann ich nicht beurteilen", entgegnete Hasard freundlich, „aber vielleicht werfen Sie jetzt einen Blick auf das ,A' von Anne im ersten Testament und auf das ,A' im anderen Testament."

Der Friedensrichter beugte sich wieder vor und betrachtete die beiden Stellen abwechselnd und sehr lange. Ja, er ließ sich Zeit, sehr viel Zeit.

Und dann erklärte er rundweg: „Ich sehe da keine Unterschiede."

„Wollen Sie keine sehen, oder sind Ihre Augen schlecht?" fragte Hasard spöttisch.

„Ich habe sehr gute Augen", sagte Jeremy Toole pikiert. „Ähem - und woher haben Sie dieses ältere Testa­ment? Vielleicht ist es gefälscht, nicht wahr?"

„Da muß ich Sie enttäuschen, mein Lieber", sagte Hasard und zog den Brief des Notars Collingwood aus dem Koller. „Die Erklärung steht hier drin. Bitte lesen Sie." Er reichte dem Dürren den Brief.

Der Friedensrichter las, seine Lip­pen bewegten sich dabei und wurden immer verkniffener. Und deutlich war zu sehen - hier stimmte diese Re­densart - wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Er suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Schließlich warf er den Brief auf den Tisch. Hasard nahm ihn gelassen an sich, ebenso das erste Testament Lady Annes.

Er sagte: „Kommen Sie mir jetzt nicht damit, daß ich Ihnen gefälschte Dokumente unterschiebe, Toole. Den Brief von Mister Collingwood hätte ich schon gar nicht fälschen können. Er stammt übrigens - wie auch das echte Testament - von Mister Briggs, dem Sekretär, der mir beides vor kur­zem überreichte. So, und jetzt fordere ich Sie auf, Simon Llewellyn und Tho­mas Lionel Killigrew in Haft zu neh­men, und zwar wegen Mordver­dachts, Urkundenfälschung und Erb­schleicherei. Sie sind vor ein Gericht zu stellen und aufgrund ihrer Verge­hen nach den gesetzlichen Regeln zu verurteilen."

„Unmöglich!" brauste Jeremy Toole auf. „Unmöglich! Das geht nicht! Das sind alles an den Haaren herbeigezogene Verdachtsmomente, die - die - ähem - unmöglich stim­men können. Diese beiden Beschul­digten sind ehrenwerte Gentlemen,

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ohne Fehl und Tadel, denn ich kenne sie und kann mir darüber ein Urteil erlauben."

„Na klar", höhne Hasard, „ein Ur­teil mit vernebeltem Kopf, wenn Sie betrunken und mit einer Hure von Ar­wenack in Ihr Haus zurückkehren!"

Der Friedensrichter zuckte zusam­men. „Wer sagt das?"

„Das hat sich herumgesprochen, mein Lieber", erwiderte Hasard, „darüber wird getuschelt, und das steht Ihnen gar nicht gut zu Gesicht, denn das Volk erwartet von einem Friedensrichter, daß er eine achtbare Persönlichkeit darstellt - die Königin übrigens auch. Sie hält überhaupt nichts von saufenden, hurenden und korrupten Beamten. Und erfährt sie davon, dann pflegt sie mit einem ei­sernen Besen den Saustall auszufe­gen - am Towergalgen haben schon ganz andere Friedensrichter mit des Henkers Tochter Hochzeit gefeiert, da wären Sie nicht der erste. Und glauben Sie nur nicht, Cornwall sei am Ende der Welt. Ich bin in knapp drei Tagen mit meinem Schiff in Lon­don, um Bericht zu erstatten, und ich bin nicht gewohnt, ein Blatt vor den Mund zu nehmen, in Ihrem Falle schon gar nicht."

„Was soll ich denn tun?" jammerte der Friedensrichter.

„Weiter nichts als Ihre Pflicht", sagte Hasard eisig. „Oder stecken Sie in der Sache mit drin?"

Jeremy Toole sackte sozusagen in sich zusammen und flüsterte: „Ich ­ich habe damit nichts zu tun - und ­und habe davon nichts gewußt. Sie ­sie haben mich eingeladen und waren sehr freundlich zu mir . . . "

„Auch mit Geldgeschenken, nicht wahr?" unterbrach ihn Hasard.

„J-ja, auch damit - bitte, Sir, ich möchte nicht, daß Sie - daß Sie das der Königin melden." Die Stimme des Dürren war kaum noch zu hören.

„Was Sie möchten, interessiert mich einen Dreck", sagte Hasard an­gewidert. „Hier geht es darum, daß ich Ihnen das Beweismaterial gelie­fert habe, das ausreicht, zwei Verbre­cher zu verhaften und vors Gericht zu stellen. Wenn Sie dieser Aufgabe als Friedensrichter nicht gewachsen sind, dann brauchen Sie das nur zu sagen. Dann hole ich mir von der Königin die Genehmigung, Sie zu feuern, das heißt, Sie zu verhaften und vor das Gericht der Krone zu bringen - wegen Amtsmißbrauchs, Bestechlichkeit, Begünstigung von Verbrechern und was der Dinge mehr sind. Das reicht schon, um Ihre Zu­kunft knapp und schmerzlich zu be­enden."

„Ich - ich soll die Killigrews ver­haften? Jetzt gleich?"

„Ja!" brüllte ihn Hasard an. Ihm riß die Geduld, und er hatte es satt, diesem winselnden und greinenden Kerl noch länger zuzuhören. Irgend­wann war auch bei ihm die Grenze des Ertragbaren erreicht. Und dann wurde er gefährlich.

„Wer - werden Sie mich begleiten, lieber Sir?"

„Ich stehe neben Ihnen", sagte Ha­sard verächtlich.

„Gut, dann will ich meine Pflicht tun", wisperte der Friedensrich­ter. Und er fügte kaum hörbar hinzu: „Ich verfluche den Tag, an dem ich mich auf die Killigrews eingelassen habe."

„Da hätten Sie schon längst drüber nachdenken sollen", sagte Hasard trocken.

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Sie fuhren mit einer Kutsche und vierspännig hinüber nach Arwenack.

Das Volk staunte, als die Kutsche durch Falmouth rappelte. Wie gesagt, Gerüchte waren manchmal schneller als der Wind, und es hatte sich längst herumgesprochen, daß der Friedens­richter das Schiff der Seewölfe hatte aus dem Hafen weisen wollen. Und jetzt saßen der Kapitän Killigrew zu­sammen mit dem Friedensrichter und drei Männern aus der Crew in ein und derselben Kutsche - auf dem Weg hinauf nach Arwenack!

Was ging da vor?

Natürlich war das Burgtor wie in der Nacht verrammelt. Auf dem rech­ten Turmsöller am Tor standen zwei Kerle und beglotzten die Kutsche, aus der fünf Männer stiegen, darun­ter der Friedensrichter. Der Kutscher blieb auf dem Bock und wendete die Kutsche, während sich die fünf Män­ner dem Tor näherten und zehn Schritte davor stehenblieben.

Jeremy Toole hatte sich erstaunli­cherweise sehr schnell gefaßt. Mit energischer Stimme rief er zu den bei­den Kerlen hoch: „Ich will die beiden Burgherren sprechen - sofort, ver­standen?"

„Jawohl, Sir!" rief der eine zurück und verschwand vom Söller.

Der andere glotzte weiter und schien keineswegs freudiger Stim­mung zu sein. Er sah so aus, als habe er dunkle Wolken am Himmel ent­deckt, solche mit Blitz und Donner.

Hasard blickte sich um. Die Hunde­kadaver waren verschwunden. Wahr­scheinlich waren die Krähen schon über sie hergefallen und hatten den

üblichen Krach veranstaltet, der ei­nem ganz schön an die Nerven gehen konnte. Da hatte man sich wohl be­quemt, die Kadaver unter die Erde zu bringen.

„Wenn die jetzt auf mich schießen", murmelte der Friedensrichter unbe­haglich.

Hasard stand rechts neben ihm. Sie hatten ihn in ihrer Mitte.

„Glaube ich nicht", sagte er. „Sie sind zwar dumm, aber so dumm nun auch wieder nicht. Auf Sie zu schie­ßen, wäre gleichbedeutend mit dem Todesurteil."

„Sie werden sich nicht verhaften lassen", sagte Jeremy Toole.

„Auch gut", sagte Hasard unge­rührt, „dann haben Sie das Recht, mit polizeilicher Gewalt gegen sie vorzu­gehen. Wenn Sie die polizeiliche Ge­walt an uns delegieren, dann werden wir schon dafür sorgen, daß die Kerle hinter Schloß und Riegel kommen."

„Damit bin ich einverstanden", murmelte Jeremy Toole.

Sie warteten noch etwa fünf Minu­ten. Dann tauchten Simon Llewellyn und Thomas Lionel auf dem Söller auf. Ja, sie hatten sich verändert, aber nicht zum Positiven. Ihre Ge­sichter waren aufgedunsen, verwü­stet, gemein. Mit ihren aufgeworfe­nen Lippen hatten sie schon immer wie Ferkel ausgesehen. Jetzt glichen sie eher tückischen Wildsäuen.

Als sie Hasard entdeckten, fluchten sie.

Simon Llewellyn brüllte: „Was willst du, Jeremy? Du solltest den Ba­stard zum Teufel jagen, das hattest du uns heute vormittag versprochen, als wir dich in deinem Stadtoffice aufsuchten!"

„Im Namen der Krone", rief der

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Friedensrichter, „muß ich Sie, Mister Simon Llewellyn Killigrew, und Sie, Mister Thomas Lionel Killigrew, ver­haften! Ich fordere Sie auf, sich zu er­geben. Vor einem Gericht wird festzu­stellen sein, ob Sie des Mordes an Francis Collingwood, des Mordver­suchs an Philip Hasard Killigrew, der Urkundenfälschung verbunden mit Erpressung und der Erbschleicherei schuldig sind!"

„Du spinnst wohl, du Idiot!" tobte Simon Llewellyn. „Hast du dich von dem Bastard einwickeln lassen? Der will sich doch nur Arwenack unter den Nagel reißen, dieser hergelau­fene Niemand, dieses Stück Dreck.. ."

„Sie haben ein gefälschtes Testa­ment vorgelegt, Mister Killigrew!" rief der Friedensrichter schneidend. „Dafür gibt es Beweise! Geben Sie auf, und verschlimmern Sie diese üble Sache nicht noch . . . "

„Du Schwein hast uns hintergan­gen!" heulte Thomas Lionel. „Wir ha­ben dir hundert Pfund übergeben..."

Wieder unterbrach der Friedens­richter. „Diese hundert Pfund habe ich bereits der Kirche gespendet!"

Die beiden Brüder auf dem Söller stimmten ein Hohngelächter an. Sie tanzten sogar herum und klopften sich grölend auf die Schenkel. Das war wohl eben der beste Witz, den sie je gehört hatten.

„Der Kirche gespendet!" brüllte Si­mon Llewellyn. „Ich lach mich tot! Geh zum Teufel, du Arschkriecher! Hau a b . . . "

„Ich fordere Sie zum letzten Male auf, sich zu ergeben!" schrie der Frie­densrichter hochrot im Gesicht. „Soll­ten Sie sich weigern, werde ich meine polizeilichen Machtmittel einsetzen

und Sie mit Gewalt aus Arwenack herausholen. Das gilt ebenso für alle Ihre Burgsöldner! Sie haben Fal­mouth lange genug terrorisiert. Da­mit ist jetzt Schluß! Das ist mein letz­tes Wort!"

Simon Llewellyn bückte sich und riß eine Muskete hoch. Als er sie auf Jeremy Toole anlegte, krachte ein Schuß. Hasard hatte ihn abgefeuert.

Die Kugel aus dem Drehling prallte gegen den Lauf der Muskete und schlug seinem Bruder den Schaft an den Schädel. Simon Llewellyn tau­melte und ging in Deckung. Ebenso Thomas Lionel. Helden waren sie noch nie gewesen.

„Feuert auf sie!" brüllte Simon Lle­wellyn aus der Deckung. „Legt sie um, die Schweine! Macht sie hin!"

Niemand schoß. Die fünf Männer gingen zur

Kutsche und stiegen ein. Die Kutsche rollte den Weg abwärts.

Auf dem Söller heulten und tobten die Killigrewbrüder und forderten ihre Kerle auf, endlich zu schießen. Da feuerten auch ein paar. Es waren Pflichtschüsse, weit über die Kutsche gezielt.

Denn den Kerlen schwante was. Ih­nen schwante, daß es nun mit dem Le­ben in Saus und Braus auf Arwenack vorbei war. Im Namen der Krone hat­ten die beiden Burgherren verhaftet werden sollen. Im Namen der Krone! Nein, damit wollten sie nichts zu tun haben. Und da war von Mord die Rede gewesen.

Am Ende der Burgmauer wurde eine Leiter nach unten gelassen. Drei, vier Kerle erschienen auf der Mauer­krone, kletterten hastig die Leiter hinunter, nahmen die Beine in die

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Hand und schlugen sich seitwärts in die Büsche.

„Die Ratten verlassen das sinkende Schiff", sagte Hasard grimmig.

„Sollen wir die Kerle verfolgen, Sir?" fragte der Profos.

Hasard winkte ab. „Was soll's, Ed? Die rennen, bis ihnen die Socken qualmen. In Falmouth lassen die sich nicht mehr blicken."

„Aber woanders", knurrte der Pro­fos.

„Mag sein, aber es geht um die bei­den Oberschurken, nicht um die Handlanger", sagte Hasard.

„Furchtbar", murmelte der Frie­densrichter und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Das mit Ihrer Kirchenspende habe ich gern gehört", sagte Hasard zu ihm. „Sind Sie sich sicher, daß Sie das Geld schon übergeben haben, Mi­ster Toole?"

„Ähem - das werde ich nachher so­fort tun, Sir."

„Ich bitte darum", sagte Hasard, „denn ich möchte nicht, daß von Ih­nen schlecht gesprochen wird. Aber eine solche Spende wird für alle ein Vorbild sein, und man wird Sie be­wundern, daß Sie so großzügig sind, nicht wahr?"

„Ja", sagte der Friedensrichter ge­quält.

Der Profos grinste wieder vor sich hin und erhielt prompt einen Puff von Hasard.

Sie erreichten den Marktplatz von Falmouth und stiegen aus. Auf Vor­schlag Hasards ließ Jeremy Toole Victor Norton, den Hauptmann der Bürgerwehr, holen. Gleichzeitig eilte Dan O'Flynn zum Hafen mit dem Auftrag an Ben Brighton, zwanzig Arwenacks bewaffnet zum Markt­

platz zu schicken, aber die Schebecke natürlich gefechtsklar zu halten und scharf aufzupassen. Und, bitte sehr, Ferris Tucker möge ein Sortiment Flaschenbomben mitbringen.

9.

Hasard dachte gar nicht daran, die Burg bei Tage anzugreifen. Er setzte dabei auch auf die Zermürbungstak­tik, abgesehen davon, daß er eine Ge­fährdung von Menschenleben ver­meiden wollte. Diese beiden Lumpen da oben waren das nicht wert.

Aber er ließ von den Männern der Bürgerwehr, vermischt mit seinen Arwenacks, einen unsichtbaren Ring um die Burg bilden. Sie wurde also belagert.

Die Männer hatten die Anweisung, jene Kerle, die von der Fahne gingen, durchzulassen, allerdings mit der Aufforderung, aus Falmouth zu ver­schwinden.

Tatsächlich tauchten kleckerweise im Verlauf des Tages an die zwanzig Kerle außerhalb der Mauern auf und waren heilfroh, daß es ihnen nicht an den Kragen ging.

Das passierte nur an der Stelle, wo der Profos in Deckung lag. Da waren es zwei von diesen Halunken, die das Weite suchten und nun ausgerechnet an den Profos gerieten, der eine Stinkwut hatte. Er dachte nämlich noch an die drei Kerle, die über seine Debby hatten herfallen wollen.

So war ein Denkzettel fällig, den der Profos für angemessen hielt. Smoky, der sich bei ihm befand, hatte auch nichts dagegen. Im Gegenteil. So empfingen die beiden Kerle eine Abreibung nach Art der Seewölfe, die

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schließlich mit einem gewaltigen Tritt in den Hintern ihren gebühren­den Abschluß erhielt.

Selbigen hielten sich die Kerle dann jammernd, als sie davontorkel­ten.

„Das war schön", sagte der Profos zufrieden.

„Sehr schön", bestätigte Smoky und linste begierig über die Deckung, ob vielleicht noch ein paar von diesen verlausten Hurensöhnen auftauch­ten.

Das war aber leider nicht der Fall. Im übrigen hatten sie aus diesen

beiden Kerlen herausgeklopft, daß le­diglich noch drei Kumpane den bei­den Burgherren die Treue hielten. Na ja, mit richtiger Treue hatte das wohl nichts zu tun, aber die Burgherren hatten ihnen versprochen, ihnen diese „Treue" fürstlich zu belohnen, und die drei Kerle waren so blöde, das zu glauben.

Der Profos schickte einen Melder zum „Gefechtsstand", der dem Kapi­tän Killigrew mitteilen sollte, wie stark die „Burgmannschaft" jetzt noch war.

Ganze fünf Mann! Hasard griff trotzdem noch nicht

an. Er wartete den Abend ab. Da wa­ren die Arwenacks zum Sturm bereit. Ehrensache, daß sie Arwenack stür­men wollten. Das ließen sie sich nicht nehmen. Da konnte die Bürgerwehr ruhig Gewehr bei Fuß stehen und mal studieren, wie die Kerle Kapitän Kil­ligrews so etwas anpackten.

Da schlichen sich diese Männer nämlich gegen zehn Uhr abends an die Mauer, bewaffnet mit Enterhaken und Jakobsleitern. Sie hatten ihre Ge­sichter geschwärzt und sahen aus wie die Teufel.

Um zehn Uhr stieg am Fuß der Burg eine Rakete mit einem infernali­schen Jaulen in den Himmel, abge­feuert von Al Conroy. Die Rakete zer­platzte über der Burg in Hunderte von roten und gelben Sternen, die nach allen Seiten stoben, sich senkten und die Burg mit einem magischen Licht beleuchteten.

Gleich darauf stiegen noch zwei Ra­keten in den Nachthimmel - mit dem gleichen Effekt.

Kaum verloschen die Sterne, da flo­gen die Enterhaken hoch, krallten sich in die Zinnen, und schon kletter­ten die ersten Arwenacks nach oben wie die Affen, vertäuten die mitge­schleppten Jakobsleitern für die Ka­meraden und sprangen auch schon in den Hof hinunter.

Philip Hasard Killigrew setzte als erster seiner Männer auf, sprang hin­ter einen abgestellten Kastenwagen, den Radschloßdrehling im Hüftan­schlag, und blickte sich sichernd um.

Der Hof war menschenleer. Kein Schuß fiel. Die Burgfenster mit ihren Läden waren verschlossen. Ebenso die Eingangstür.

Hatten die beiden Bastarde irgend­eine Schweinerei vor?

Sekunden später befanden sich alle Arwenacks im Hof. Hasard ließ das Burgtor öffnen. Jetzt strömte die Bürgerwehr in den Hof, verblüfft darüber, daß nicht ein einziger Schuß gefallen war.

Hasard ärgerte sich: Al Conroy hätte sich die drei Raketen sparen können. Ihm, dem Seewolf, war es auf die Blendwirkung angekommen. Das war völlig unnötig gewesen. Niemand hatte vom Wehrgang oder vom Hof aus die Burg verteidigt, geschweige

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denn aufgepaßt, ob der Gegner zum Sturm ansetzte.

„Verrückt", murmelte Hasard. Old Shane stand bei ihm und

lauschte. „Das geht mir zu glatt", sagte Ha­

sard wütend. „Was soll das?" „Der Pulverturm!" zischte Old

Shane und raste los. Hasard wirbelte herum - und da

sah er die Zündschnur. Der Klotz von Steinbau stand an der nördlichen Burgmauer. Dort befanden sich die Pulvervorräte der Feste - in Fässern übereinander gestapelt. Die Zünd­schnur verschwand unter der wuchti­gen Tür im Inneren des Turms. Sie hatte leise geknistert. Das hatte Old Shane gehört.

„Den Hof räumen!" brüllte Hasard. „Raus, Arwenacks! Gleich fliegt der Pulverturm in die Luft . . . !" Und er stürmte zu Big Old Shane, der sich wie ein Berserker immer wieder ge­gen die Tür warf.

„Weg, Shane!" brüllte Hasard. „Ich zerschieße das Schloß!"

Shane glitt keuchend zur Seite. Hasard feuerte den Drehung leer.

Das Schloß wurde zerfetzt. Sie rissen die Tür auf - und Hasard warf sich mit einem Panthersatz über die bren­nende Zündschnur, deren Flämm­chen noch einen halben Yard von dem Pulverfaß entfernt waren, in das die Schnur führte.

Er erstickte die Flämmchen. Old Shane riß die Schnur aus dem Faß. Hasard rappelte sich auf.

„Du meine Fresse", murmelte Old Shane und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Daß er dabei die Kohle verschmierte, vergaß er. „Das wäre ein Massaker geworden, wie es schlimmer nicht hätte sein können.

Ich schätze, wir wären alle draufge­gangen."

„Sind wir aber nicht. Big Old Shane hat aufgepaßt, der alte Shane, der im richtigen Moment an den verdamm­ten Pulverturm dachte. Mann, bin ich ein Idiot! Ich hätte das einkalkulieren müssen."

Carberry kreuzte an der Tür auf. „Wann fliegt denn das Ding nun in

die Luft?" erkundigte er sich freund­lich.

Das war mal wieder die passende Frage zum richtigen Moment. Hasard und Old Shane konnten wieder la­chen, und wie sie lachten, und sie lachten noch, als sie aus dem Turm traten.

Der Profos schaute konsterniert drein. „Weiß gar nicht, was es da zu lachen gibt. Mit solchen Pulvertür­men ist nun wirklich nicht zu spaßen, habe ich mir sagen lassen." Und er äugte vorsichtig in den Turm.

Die beiden Riesen lachten immer noch.

Die Arwenacks erschienen zögernd und blickten sauer drein.

„Die wollten uns verulken", sagte Smoky. Mit „Die" meinte er seinen Kapitän und den alten Shane, diesen Riesen aus grauer Vorzeit. „Hab ich einen Schrecken gekriegt! Ich glaube, mir flattert immer noch die Hose."

„Wir haben die Zündschnur noch rechtzeitig erwischt", sagte Hasard lachend.

„Wir nicht, er", sagte Old Shane. „Er hat sich draufgeworfen, dieser Sohn der Hölle. Und euch hat er da­vor bewahrt, in den Himmel geblasen zu werden. Nun lacht mal wieder, Freunde! Wir sind auch so furchtbar fröhlich."

„Na, mir reicht's", brummelte

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Smoky. „Ich sah unser schönes Wai­senhaus schon davonfliegen - und mich hinterher."

„Dann wollen wir das Waisenhaus mal knacken", sagte Hasard. „Ich schätze, unsere Freunde sitzen im Weinkeller und warten auf den gro­ßen Krach."

Das „Knacken" besorgte Ferris Tucker. Er brach die Burgtür aus den Angeln, sehr zur Verdrossenheit Smokys, der sich darüber be­schwerte, daß nun eine neue Tür ge­zimmert werden müsse.

„Kannst du mir mal sagen, wie wir sonst hineingelangt wären?" bollerte ihn Ferris Tucker an.

„Man hätte einen Schlüssel besor­gen können", meinte Smoky wütend. „Die schöne Tür!"

„Du hast Sorgen!" fauchte Ferris Tucker.

Sie drangen in die Halle ein und blieben abrupt stehen. Hier sah es aus wie in einem Schweinestall. Offenbar hatte man wochenlang nicht mehr saubergemacht. Gelüftet hatte man auch nicht. Der Mief stand wie eine Mauer im Raum. Klebrige Weinpfüt­zen bedeckten den Steinboden. Im Kamin quoll die Asche über. Scher­ben lagen herum, zerschlagene Wein­flaschen, abgenagte Knochen, Reste von Gemüse. Die Teller auf dem Rie­sentisch waren nicht abgewaschen, Fliegen tummelten sich darüber, Schaben liefen davon - und da flitz­ten Mäuse in ein Mauerloch.

„Du meine Güte", murmelte der Profos fassungslos. „So was habe ich noch nicht gesehen."

Hasard stieg die Kellertreppe hin­unter, den Drehling wieder schußbe­reit. Old Shane folgte ihm, dann Fer­ris Tucker mit einer Laterne.

Sie hatten es oben schon gehört. Die Kerle grölten unten im Keller herum. Hasard hatte recht gehabt.

Die Tür zum Weinkeller war ver­schlossen.

Hasard ließ einen Rammbock ho­len. Sie schafften es mit zwanzig Mann hoch, die Tür mit einem Ramm­stoß aufzubrechen. Sie flog nach in­nen.

Die fünf Kerle waren völlig betrun­ken. Sie grinsten blöde und mit ver­glasten Augen.

„Jetzt bin ich dran", sagte der Pro­fos und krempelte die Hemdsärmel hoch. „Ich habe da meine Erfahrun­gen. Zuerst werden die Kerle in die Regentonnen gesteckt. Und dann werden sie Reinschiff machen. Das werden sie lernen, diese Schweine­priester!"

Das war's dann auch. Allerdings brauchte der Profos

keine Regentonne, sondern die Kerle wurden abwechselnd hinunter in den Burgbrunnen gelassen. Das gab ein Heulen und Wehklagen schaurigster Art, aber auch das trieb der Profos ihnen aus - mit Maulschellen, ver­steht sich. Und er legte sich da keiner­lei Zurückhaltung auf. Die Kerle wur­den Zug um Zug ernüchtert.

Und dann schrubbten und putzten sie die ganze Nacht, erbarmungslos angetrieben vom Profos und einigen Helfern.

Carberry gab erst Ruhe, als am Morgen Halle und Nebenräume sowie die Zimmer im oberen Stockwerk blitzten und blinkten und kein Stäub­chen mehr zu sehen war. Auch die Fenster waren geputzt. Überall herrschte wieder Ordnung, die Räu­me waren gelüftet, die Feste Arwe­nack erstrahlte im alten Glanz.

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Die fünf Kerle standen mit weichen Knien im Hof, nunmehr mit Hand­schellen versehen. Der Bürgerwehr­hauptmann war bereit, sie unter Be­wachung in das Gefängnis von Fal­mouth zu bringen.

Hasard trat vor seine Brüder und musterte sie aus eisigen Augen.

„Hat sich das alles gelohnt?" fragte er.

Simon Llewellyn hätte ihm gern vor die Füße gespuckt, aber das traute er sich nicht - das Ungetüm von Profos starrte ihn drohend an.

„Wer hat Mister Collingwood das Gift gegeben?" fragte Hasard.

„Simon!" stieß Thomas Lionel her­vor. „Er war es! Ich wollte das nicht. . ."

„Halt's Maul, du Dummkopf!" fuhr ihn Simon Llewellyn an.

„Er hat es ihm gewaltsam einge­trichtert!" greinte Thomas Lionel. „Das kann ich beschwören . . . "

„Lüge!" brüllte Simon Llewellyn. Und da feuerte ihm der Profos eine Maulschelle.

„Ich schätze, ihr habt das Ende eu­res Weges erreicht", sagte Hasard müde.

„Ich will aber nicht sterben", wim­merte Thomas Lionel.

„Das wird das Gericht entschei­den", sagte Hasard, „und wenn es euch zum Tode verurteilt, dann sterbt wenigstens wie Männer, aber nicht wie Waschlappen. Auf dem Namen Killigrew liegt genug Schande."

Sie begriffen es nicht. Und es war sinnlos, bei ihnen an so etwas wie Ehre oder Anstand zu appelieren. Sie wußten nicht, was das war. Sie hatten nach ihren eigenen Gesetzen gelebt, und das waren die Gesetze der Ge­

walt, an der sie letztlich nun auch zu­grunde gingen.

„Bringt sie hinunter ins Gefäng­nis", sagte Hasard und wandte sich ab. Er konnte den Anblick ihrer Fer­kelvisagen nicht mehr ertragen.

Bereits am nächsten Tag wurden Simon Llewellyn und Thomas Lionel vors Gericht gestellt. Jeremy Toole, der Friedensrichter, hatte es mächtig eilig, diese Sache hinter sich zu brin­gen.

Hasard nahm an der Gerichtsver­handlung nicht teil. Die belastenden Dokumente - den Brief des Notars Collingwood sowie das echte Testa­ment von Lady Anne - hatte er dem Friedensrichter für die Dauer der Verhandlung als Beweismaterial zur Verfügung gestellt.

Einzig Big Old Shane, Old Donegal und Dan O'Flynn gingen zur Ver­handlung.

Simon Llewellyn wurde zum Tod am Galgen verurteilt. Das Urteil wurde am selben Tage vollstreckt.

Thomas Lionel wurde zu lebens­länglicher Zwangsarbeit verurteilt ­abzuleisten im Bodwin-Moor von Cornwall.

Der Tod am Galgen war grausam, aber vermutlich hatte Simon Llewel­lyn das bessere Los gezogen, auch wenn es sein Leben beendete. Denn das Bodwin-Moor war die Hölle. Dort starben die Sträflinge täglich meh­rere Tode.

Hasard nahm Old Shanes Bericht von der Verhandlung und den Urtei­len mit unbewegtem Gesicht und kommentarlos zur Kenntnis. Er

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spürte nichts, nicht einmal Genugtu­ung.

Arwenack - dieses Kapitel seines Lebens war nunmehr endgültig abge­schlossen.

Am Nachmittag rief er die Stadt­räte, den Bürgermeister, den stellver­tretenden Bürgermeister und den Friedensrichter auf dem Hof von Ar­wenack zusammen.

„Gentlemen", sagte er, „ich habe Ih­nen einiges mitzuteilen, das mit Ar­wenack zusammenhängt. Sie wissen, daß ich vor zweiundzwanzig Jahren diese Feste und Falmouth verließ, und ich hatte nie die Absicht, jemals zurückzukehren, geschweige denn, ir­gendwelche Erbansprüche zu stellen. Ich stelle sie auch heute nicht. Lady Anne entschied, mich als Erben ein­zusetzen. Ich gebe dieses Erbe an Sie weiter - unter der Voraussetzung, daß Sie Arwenack in ein Zuhause für kornische Waisenkinder umgestal­ten, bewirtschaften und in Ordnung halten. Fassen Sie das als eine Art Leihgabe auf, wobei ich mich von Zeit zu Zeit darüber erkundigen werde, wie Sie diesen meinen Wunsch erfüllen. Sie werden Treuhänder sein. Außergewöhnliche Unkosten werde ich Ihnen ersetzen. Für den Umbau erhalten Sie von mir eine Summe von tausend Pfund. Ich bitte den Friedensrichter, Mister Toole, zu­sammen mit dem Stadtrat darüber eine Urkunde aufzusetzen, in der Ihre Pflichten und Rechte als die neuen Burgherren genau fixiert sind. Das ist das, was ich Ihnen sagen wollte ­natürlich mit der abschließenden Frage, ob Sie gewillt sind, Arwenack in diesem Sinne zu übernehmen."

Die ehrenwerten Gentlemen waren

so verblüfft, daß sie zunächst keine Antwort fanden.

Jeremy Toole faßte sich als erster und trat einen Schritt vor. Er sagte mit bebender Stimme: „Sir, Sie be­schämen uns. Und wir wären Lum­pen, wenn wir dieses großherzige An­gebot nicht annehmen würden!" Er wollte noch weitersprechen, aber die Gentlemen begannen bereits zu ju­beln.

Und das war ja nun eine Zusage ­doch etwa so, wie sich das Hasard im stillen gewünscht hatte.

Er hob die Hände und rief: „Bitte um Ruhe, Gentlemen! Ich habe noch etwas zu sagen. Ihr Dank gebührt nicht mir, der ich das Erbe ablehnen wollte, sondern diesem Mann dort!" Er wies auf Smoky. „Das ist Mister Smoky, unser Decksältester, der eine Vollwaise war und weiß, wie diesen elternlosen Kindern zumute ist. Er hatte die Idee, daß aus Arwenack ein Waisenhaus werden soll, ein Zuhau­se, kein Käfig!"

Da ließen die ehrenwerten Gentle­men den Mister Smoky hochleben, und es hätte nicht viel gefehlt, daß sie Hasard und ihn auf ihren Schultern durch Falmouth trugen.

Zum Glück brachten der Kutscher und Mac Pellew die gefüllten Wein­gläser, mit denen auf die Schenkung angestoßen werden sollte. Da ging es dann noch hoch her auf Arwenack, aber nicht im Stil der Killigrew-Fer­kel.

Am nächsten Tag lösten die Arwe­nacks die Leinen, um nach London zurückzusegeln. Eine Menschen­menge stand auf der Pier, jubelnd

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und winkend. Und da war ganz vorn auch eine rotblonde Frau - sie schwenkte ein riesiges Tuch, weiß, mit roten Karos drin.

Old Donegal stieß den Profos an. „Das ist Debby mit ihrem Kopfkis­

senbezug, Ed", sagte er grinsend. „Weißt du, was das bedeutet?"

„Daß sie mir ewige Liebe schwört", sagte der Profos und winkte wild. Aber sein Gesicht war sehr weich. Und etwas traurig...

Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 621

Die Pilgerschiffe von Burt Frederick

Es geschah, als die beiden Gruppen der Arwenacks nur noch wenige Schritte von der Bordwand der „Discoverer" an der Towerpier entfernt waren, wo sich die wütenden Aus­wanderer gestaut hatten - die „Discoverer" war eins von den drei Pilgerschiffen, die in die Neue Welt segeln sollten. Und Philip Hasard Killigrew hatte den Befehl der Königin, die Auswanderer ans Ziel zu bringen. Doch der Ärger bahnte sich bereits in London an. Steine prasselten gegen die Beplankung der „Discoverer", die ersten flogen übers Schanzkleid, hinter dem die Crew in Deckung gegangen war. Nur ein Decksmann, der sich nicht schnell genug abduckte, wurde am Kopf getroffen. Er schrie auf, faßte sich mit beiden Händen an die blutige Stirn und stürzte nach kurzem Torkeln auf die Decksplanken. Weitere Steine flogen. Ein schwarzhaariger Decksmann tauchte mit wutverzerrtem Ge­sicht hinter dem Schanzkleid auf und brachte eine doppelläufige Pistole auf die Auswan­derer in Anschlag...

ex libris KAPTAIN STELZBEIN

PABEL VERLAG GmbH Februar 1988