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Klaus Dera, Harald Kolbe Das Falschwörterbuch Begriffe begreifen Vorstand Gewerkschaftliche Bildungsarbeit 5. aktualisierte Auflage

Das Falschwörterbuch · Klaus Tänzer, Celler Kurier, 28. März 2010. 12 Das Falschwörterbuch Ideologie-Analyse des Zeitungsartikels Es handelt sich um einen Kommentar aus einer

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  • Klaus Dera, Harald Kolbe

    Das FalschwörterbuchBegriffe begreifen

    VorstandGewerkschaftliche

    Bildungsarbeit

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  • Klaus Dera, Harald Kolbe

    Das FalschwörterbuchBegriffe begreifen

    IG Metall Vorstand, FB Gewerkschaftliche Bildungsarbeit

    VorstandGewerkschaftliche

    Bildungsarbeit

  • Herausgeber: IGMetallVorstand,FBGewerkschaftlicheBildungsarbeit Wilhelm-Leuschner-Straße79,60329FrankfurtamMainGestaltung: KarstenMeier

    Fotos: KarstenMeier,GiselaStahl(S.44)

    Druck: DruckhausDresden

    1.–2.Tsd. Oktober20033.–4.Tsd. Januar20045.–6.Tds. Mai2007(gekürzt)7.–8.Tds. September2008(erweiterteNeuauflage)9.–10.Tds. Juli2010(aktualisiert)

    Prod.Nr.: 3126-30749

    „Die herrschende Politik steuert mit der Aushöhlung und dem Abbau der erreichten wohlfahrtsstaatlichen Stan dards auf eine neue Form autoritärer Leistungs gesell schaft zu. Soziale Risiken werden auf die einzelnen Menschen und damit vor allem auf die Schwa chen abgewälzt. Die Ungleichheit der sozialen und kulturellen Teil habechancen wird vertieft ...

    Die Gewerkschaften können die Interessen der Arbeit neh merinnen und Arbeitnehmer im Struktur wandel nur dann wirk sam vertreten, wenn sie für eine demo kra tische und soziale Alternative eintreten.“

    SolidaritätundFreiheit–LeitlinienderIGMetallzurgesellschaftlichenundgewerkschaftlichenReform,

    FrankfurtamMain,1989

  • Inhalt

    Inhalt.................................................................................................... 3 Vorwort................................................................................................. 5 Einleitung.............................................................................................. 7 Wassind„Ideologien“?......................................................................... 11

    Begriffe begreifen....................................................................................... 16„Börse“................................................................................................. 17„Chefsache“.......................................................................................... 19„Demokratisierung“.............................................................................. 21„Deregulierung“.................................................................................... 23„Dogmatiker“........................................................................................ 24„Eigenverantwortung“........................................................................... 25„Eliten“................................................................................................. 27„Europa“............................................................................................... 29„Exportweltmeister”.............................................................................. 31„Flexibilisierung“.................................................................................. 33„Freiheit“.............................................................................................. 34„Freiheit,Gleichheit,Brüderlichkeit !“..................................................... 36„Gegenmacht“...................................................................................... 38„Generationenvertrag“.......................................................................... 40„Gerechtigkeit”..................................................................................... 42„Gleichheit“.......................................................................................... 44„Globalisierung”................................................................................... 46„Humanität“.......................................................................................... 48„Individualisierung“.............................................................................. 50„Innovation“......................................................................................... 52„Leistungsträger”.................................................................................. 54„Lohnnebenkosten“.............................................................................. 56„Marktgesetze“..................................................................................... 58„Mehrwertsteuer“................................................................................. 60„Mitte“.................................................................................................. 62„Neoliberalismus“................................................................................. 64„Öffentlichkeit“..................................................................................... 66

  • „Privatisierung“.................................................................................... 68„Proletariat“.......................................................................................... 69„Reform“............................................................................................... 71„Sozialpartner“..................................................................................... 73„Sozialstaat“......................................................................................... 75„Staatsverschuldung“........................................................................... 77„Unternehmensphilosophie“................................................................. 79„Utopie“............................................................................................... 81„Volksvermögen“.................................................................................. 83„Wachstum“.......................................................................................... 85„Wählerwille“........................................................................................ 87„Wettbewerb“....................................................................................... 89„Wirtschaftsstandort“............................................................................ 91ZuguterLetzt:DasGutwörterbuch......................................................... 93

    Argumente und Hintergründe ........................................................................... 95

    „DerLiberalismusisttot“...................................................................... 96„StreikgehörtinsMuseum“.................................................................. 98

    WirtschaftsdemokratiealseineAlternativezum„Casino-Kapitalismus“....100

    Mondragon:EineglobaleKooperative........................................................ 110

    DemokratischeGrundwerteundsozialeKultur........................................... 114

    Daten und Fakten ............................................................................................. 129

    MitgliederbestanddesDMVundderIGMetall(1891–2010)................... 129 Produktion,Produktivität,Beschäftigte(1995–2008)........................... 130 EntwicklungderErwerbstätigkeit(1950–2008)..................................... 131 FaktengegenideologischePhrasen....................................................... 132 WerfinanziertdenStaat:Steuereinnahmen(1970–2007)...................... 135 SozialbudgetundSozialquote............................................................... 136

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  • LiebeKolleginnenundKollegen,

    „betriebsratsverseucht“ wurde 2009 von der Gesellschaft für deut-sche Sprache zum Unwort des Jahres gewählt. „Die Wahrnehmung vonArbeitnehmerinteressenstörezwarvieleUnternehmen,soheißtesinderBegründungder Jury, BetriebsrätealsSeuchezubezeichnen,sei indes„einsprachlicherTiefpunktimUmgangmitLohnabhängigen“.

    Es ist bestimmt kein Zufall – betrachtet man die zurückliegendenUnwörter – dass diese „verbalen Entgleisungen“ zunehmend aus derArbeitswelt kommen. Die Auseinandersetzungen im Wirtschafts- undArbeitsleben nehmen zu und ihr sprachlicher Ausdruck sagt viel überdasDenkenundschließlichauchdasHandelnderAkteureaus.Begriffewie: „Entlassungsproduktivität“, Humankapital“, „Ich-AG“, vorgeschla-gen waren auch: „überkapazitäre Mitarbeiter“, Belegschaftslasten“,„Personalentsorgung“,gebenvor,diePraxiszubeschreiben,verschleiernsie jedoch zugleich und klingen für betroffene Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmerkaltschnäuzigundzynisch.

    GewerkschafterinnenundBetriebsrätewissennurzugut,welcherealenFolgendiese„Begriffe“fürvieleMenschenhabenundunsereKolleginnenund Kollegen finden mit Sicherheit andere Worte dafür. Sie müssenKlartext reden, weil es bei Ihrer Arbeit auf Authentizität und Ehrlichkeitankommt.

    Einst war der Rationalisierungsprozess ein „Aufklärungsprozess“ dermenschlichen Zivilisation gegen die Ohnmacht herrschender TyrannenunddieÄngstevorbösenGötternundGeistern.Demokratie,BeteiligungundMitbestimmungsindletztlicheineFolgedavon,dassMenschenihreMündigkeit vor allem sprachlich zum Ausdruck gebracht haben. WennBetriebsräten heute „Rationalisierungsmaßnahmen“ angekündigt wer-den,istvonmenschlichemFortschrittjedochnichtmehrdieRede.Esgilt

    Vorwort

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    Das Falschwörterbuch

    also,gesellschaftlichenFortschritt,sowieRückschritt immerauch inderSprachezuerkennen.

    Betriebliche und gewerkschaftliche Interessensvertretungsarbeit ist inerster Linie gekennzeichnet von vielen Kommunikationsprozessen. ImDenken, Reden und im Gespräch mit anderen bilden wir Urteile undÜberzeugungen,diefürunseretäglicheArbeitwichtigsind,weilsieunsOrientierung geben. Die gewerkschaftliche Bildungsarbeit hat die Auf-gabe,geradeauchdiesprachlichenMissverhältnisseaufzudeckenundzuanalysieren.Esgehtdarum,dieWirklichkeitzuverbessernundebennichtzuverschleiern.

    DievorliegendefünfteunderweiterteAuflagedes„Falschwörterbuches“willdieseAufklärungsarbeitunterstützenundaufeinekritischeHaltungzumeigenenSprachgebrauchaufmerksammachen.

    IndiesemSinnewünscheichvielSpaßundvieleErkenntnissebeimLesen.

    Ulrike Obermayr

    LeiterindesFunktionsbereichsGewerkschaftlicheBildungsarbeitbeimVorstandderIGMetall

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    Begriffe begreifen

    DieAuseinandersetzungmitIdeologienisteinederwichtigstenAufgabenunserer gewerkschaftlichen Überzeugungsarbeit. Es gibt zum Beispieleine Behauptung, die seit Jahren in aller Munde ist. Sie lautet: „DieLohnnebenkostenmüssengesenktwerden!“Manchenickendannbedeu-tungsschwer.Tja,dieLohnnebenkosten,dawirdsicheretwasdransein,dennKostensenkenistschließlichimmergut.

    Aber was sind eigentlich „Lohnnebenkosten“? Für wen entstehen sieund warum? Wer zahlt sie? Welche Folgen hat ihre Senkung für wen?Wer profitiert davon und wer nicht? Diese Fragen sind keineswegs inallerMunde,obwohlsiedochzuallererstgestelltwerdenmüssten.

    DiesisteinBeispiel,wieIdeologiefunktioniert.UnklareundhalbwahreBegriffewerdenindieWeltgesetzt,umdiesogenannteöffentlicheMei-nung zu beinflussen. Je unverständlicher diese Begriffe für viele sind,umsoerfolgreicherkannmansieindieKöpfetrommeln,wennmansienurlautundoftgenugwiederholt.

    Eine der heutigen Ideologien ist der sogenannte Neoliberalismus, derunter dem Stichwort der „Globalisierung“ die ganze Welt und unseregesamtenLebensbedingungendenGesetzendesMarktesunterwerfenwill. In den vergangenen zwanzig Jahren hat diese Ideologie die Mei-nungsführerschaftindenöffentlichenMedienübernommen.NachdemZusammenbruch der sozialistischen Welthälfte sollten die Gesetzeder Marktwirtschaft weltweit durchgesetzt werden. Die Folge war einAbbau sozialer Standards in den entwickelten Industrienationen unddieDurchsetzungneoliberalerWirtschaftspolitikindensichamWestenorientierendenLänderndesehemaligenOstblocks.

    Heutescheintdiese Ideologievielfachbereits inFragegestelltzuwer-den.DieimmergrößerwerdendeKluftzwischenwachsenderArmutweiterTeilederBevölkerungundskandalösemReichtumeinigerWenigerhatvielen die Augen geöffnet für die unsozialen Folgen, die mit dem Neo-

    Einleitung

  • liberalismusverbundensind.UndnachderweltweitenKrisederFinanz-märkte ist die Durchsetzung ungebremster Marktgesetze öffentlich inMisskreditgeraten.TrotzdemistimmernochkeinePolitikinSicht,diedieser IdeologiewirksamEinhaltgebietet.Deshalbbleibtesweiterhinnotwendig,dasswirunsmitdenUrsachenundAuswirkungendesNeo-liberalismusauseinandersetzenundöffentlichGegenwehrentwickeln.

    MiteinigenoftverwendetenBegriffendieserIdeologiewollenwirunsindiesemHeftetwaseingehenderbeschäftigen.Dabeibeabsichtigenwirnicht,ein„FachbuchfürWirtschaftsexperten“vorzulegen.Esgibtbereits wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Neolibe-ralismus.WirwollenstattdessendenInteressenvertreterInnenindenBetrieben und unseren ReferentInnen in der Bildungsarbeit Argu-mentationshilfen für die Diskussion mit Kolleginnen und Kollegenanbieten.

    Wir haben eine Reihe von Begriffen ausgewählt, die – wie die bereitsgenanntenLohnnebenkosten–inderöffentlichenMeinungeineideolo-gische Funktion erfüllen und unsere gegenwärtigen Diskussionenbeeinflussen.NichtalledieserBegriffesindvonvornhereinideologisch,siewerdenabermanchmalideologischverkehrt,bisihreursprünglicheBedeutunginihrGegenteilverwandeltist.

    Ein Beispiel dafür ist unser noch bestehendes Sozialsystem, das vonverschiedenen Politikern und Wirtschaftsvertretern solange angegriffenund in seiner Bedeutung verdreht wurde, bis es schließlich zu demZerrbild einer „sozialen Hängematte für Faulpelze und Schmarotzer“ ver-unstaltetwordenist.UndandiesesZerrbildglaubendannsogarmanche,die ohne dieses Sozialsystem unter menschenunwürdigen BedingungenineinerderreichstenIndustrienationenderWeltexistierenmüssten.

    DabeigerätinderöffentlichenMeinungganzausdemBlick,dassunse-re Verfassung eine Sozialstaatsverpflichtung enthält, die auch heute

    Das Falschwörterbuch

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  • Begriffe begreifen

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    uneingeschränkt Gültigkeit hat, obwohl man über die konkrete Ausge-staltungnatürlichdiskutierenkann.

    Diesen merkwürdigen Entwicklungen unserer öffentlichen MeinungwollenwiranhandverschiedenerBeispieleetwas tieferaufdenGrundgehen.WirhabendieausgewähltenBegriffeeinmal„gegendenStrichgebürstet“, um ihre Bedeutung wieder in ihre ursprünglichen oderteilweise auch in neue Zusammenhänge zu stellen. Bei den einzelnenStichwortentreteneinigeWiederholungeninderArgumentationauf.DaslässtsichaufgrundderKonstruktioninsichabgeschlossenerKurztexteleidernichtimmervermeiden.

    DiesesHeftistkeinFach-Wörterbuch*.WirwollenstattdessenAnstößezum Selberdenken geben. Ideologien sind ja deshalb so hartnäckigundtückisch,weil ihnenmitrationalenAufklärungsversuchenoftnichtbeizukommen ist. Sie greifen teilweise tiefsitzende Vorurteile auf undarbeitenmitunklarenBegriffenundHalbwahrheiten.

    Manche Begriffe haben wir nur einmal etwas anders beleuchtet undüberlassendieSchlussfolgerungenunserenLeserinnenundLesern.Wirsind weder Besserwisser noch rechthaberische Ideologen. Die Textesind aber in jedem Fall Ausdruck unserer gesellschaftspolitischen Orien-tierungalsMitarbeiterderIGMetall.

    * HintergrundinformationenzudenhierangesprochenenThemenbietetdasBuch vonAlbrechtMüller:„DieReformlüge“,DroemerVerlag2004

  • Das Falschwörterbuch

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  • Ideologien sind ...

    „... Vorstellungen und Meinungen über die soziale und politische Wirk lichkeit der Gesellschaft, die den Anspruch der Wahrheit und Allgemein gültigkeit erheben, obwohl sie unwahre, halbwahre oder unvollständige Gedankengebilde sind.“

    LexikonderPolitik:GesellschaftundStaat,München1995

    Ideologie-Beispiel aus einer Tageszeitung

    Was sind „Ideologien“?

    Der Begriff „Freiheit“ wird in deutschen Landen immer weniger gewünscht, obwohl er nach Um fragewerten vor dem Datum der Deutschen Einheit mit Ab stand vorn lag. Inzwischen hat laut Allensbach die „Gleichheit“ der „Freiheit“ den Rang abgelaufen. Die Deutschen mögen‘s mehr heitlich bequem und plü schig nach dem beschau lichen Motto: „Der Staat wird‘s schon richten!“

    FürihrenHangzurpolitischenGemütlichkeitzahlendieDeutscheneinenhohenPreis,dennderStaatgreiftihnenfürdie ihmüberlassenenDienstleistungen gnadenlos in die Tasche.SelbstMenschenmitallenfallsmittelprächtigenEinkommenmüssenetwadieHälfteihressauerverdientenGeldes„VaterStaat“überlassen,derkeineswegsgütigist,sonderngierig.

    Nachdem die SED unter dem Namen „DieLinke“ firmiert, hat sich das Parteienspektrumnach links verschoben, wobei die SPD nahe-zu ihrer Identität beraubt wurde. Alle zuvorbeschlossenenReformen,diesichäußerstposi-tiv auf die Zahl der Arbeitsplätze auswirkten,wurden „kassiert“. Auch die CDU rückte unterFührung der „gelernten DDR-Bürgerin“ AngelaMerkeleinStücknachlinks.FrauMerkelwillals

    „Mutter der Nation“ für alle wählbar sein – ohneRücksichtaufdasCDU-Kernprofil...

    Und was wird aus dem Ideal der Freiheit?FreiheitistderTreibstoffjeglicherKreativität,allerInnovationenunddarumfüreineIndustrienationohne Bodenschätze wie Deutschland der uner-setzliche Basisrohstoff. Und plötzlich steht beiunsdieGleichheithöherimKursalsdieFreiheit

    – ein schlimmes Menetekel! Prof. Dr. Hans-OlafHenkel, einstiger Präsident des Bundesverban-desderDeutschenIndustrie(BDI),beklagt„dasPanoramaderErosionfreiheitlicherPositioneninDeutschland“. Der FDP attestiert Henkel immer-hin,siestehekonsequentzuihrem„freiheitlichorientiertenParteiprogramm“...

    DieLiberalenwurdennichtzuletztvonjungenMenschen gewählt, die gewaltige Lasten auf-gebürdet bekommen und sich fragen, wie siedieschulternsollen.DassdieScherezwischenBrutto-undNettoeinkommensichanderGrenzezum Sittenwidrigen bewegt, kann nicht überse-hen werden. Der demografische Faktor tut einÜbriges.EsgehtnichtumIdeologie,sondernumWirtschaftsdatenundnüchterneFakten...

    HeuteistderSozialstaatzumWohlfahrtsstaatverkommen.DerSozialetat frisstgutdieHälftedesgesamtenBundeshaushalts,derzweitgrößtePosten sind die Zinsen. So kann es nicht wei-tergehen.

    Liberale in Deutschland: Freiheit

    Begriffe begreifen

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    KlausTänzer,CellerKurier,28.März2010

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    Das Falschwörterbuch

    Ideologie-Analyse des Zeitungsartikels

    EshandeltsichumeinenKommentarauseinerregionalenWochenzeitung.KommentaredienennichtderInformation,sondernstellenMeinungenzuaktuellenSachverhaltendar.Siemüssendeshalbnichtobjektivsein.IhreAufgabeistes,dievermutetenAnsichtenundVorstellungenderLeserzubestärken,umihreBindungandasBlattzuerhaltenundzufördern.Manfindetgernin„seiner“ZeitungdieeigeneMeinungbestätigt.KommentaregebenalsoinderRegeldieherrschendeMeinungderLeserschaftwieder.

    Der Artikel stellt die Meinung des Autors zum Begriff „Freiheit“ dar. Erstelltfest,dassdieFreiheitinDeutschlandgefährdetsei,weildieBürgernachAussageeinesMeinungsforschungsinstitutsjetztmehr„Gleichheit“wünschen. Und die soll erreicht werden durch eine bessere Versorgungfür alle Bürger durch den Staat. Der Autor hält das jedoch für „bequemundplüschig“.

    EsgehörtaberzumWeseneinerDemokratie,füreinemöglichstgleiche,gerechteVersorgungallerBürgerzusorgen.Freiheit istohneGleichheitgar nicht möglich, denn ein hohes Maß an Ungleichheit schränkt not-wendigerweisedieFreiheitderwenigerBegütertenundBevorzugtenein.Wer sich zum Beispiel aus Geldmangel keine Urlaubsreise mehr leistenkann, ist in seiner Bewegungsfreiheit nun mal notwendigerweise ein-geschränkt. Und seine reichen Mitbürger genießen derweil auf teurenKreuzfahrtschiffendenDuftderFreiheitderMeere…

    Der Autor hat eine ganz andere Vorstellung von Freiheit. Ihm geht esnicht um die möglichst freie Entfaltung aller Bürger, sondern um diefreie Entfaltung der Wirtschaft. Deshalb wettert er gegen den „Versor-gungsstaat“, in dem die vorhandenen staatlichen Mittel zur sozialenVersorgungderBürgereingesetztwerden,zumBeispielfürihreBildung,ihre Absicherung im Krankheitsfall, ihre Versorgung bei ArbeitslosigkeitundihreAlterssicherung.OhnesolcheSicherungendersozialenExistenz

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    Begriffe begreifen

    gibtesfürdenEinzelnenkeineFreiheit,sondernNotundArmut.GeschenktbekommtmandieseDienstleistungenfürunsereFreiheitallerdingsnicht,sondernwirfinanzierensiemitunserenSteuern.

    DerAutorhältdiesdagegenfürvölligunnötig,dennschließlichkannjedereinMillionärwerden -verboten istes jedenfallsnicht.Realistisch istesaberauchnicht,dennderKuchenistlängstanwenigeGroßkonzernever-teilt.DievielenkleinenEinzelhändler,dieesmalgab,arbeitenheutemeistunterarmseligenBedingungenandenKassendergroßenSupermärkte,von denen sie zuvor niederkonkurriert und arbeitslos gemacht wordensind. Und so sieht es heute in fast allen Wirtschafts-, Industrie- undDienstleistungsbereichenaus.

    DavonscheintderAutorkeineKenntniszuhaben,dennerschimpftstatt-dessenmunterüberden„gierigenVaterStaat“,derseinenBürgernfürdienotwendigen Dienstleistungen „gnadenlos in die Tasche greift“. SchuldhabenseinesErachtens„dieLinken“,weildieseeinemöglichstgerechtestaatliche Absicherung der Bürger politisch anstreben. Erschreckt stellterfest,dasssichselbstdieCDU„einStücknachlinksbewegt“.NurdieFDPtrittnachseinerMeinungnochfürdieFreiheitein,wieersiesichvor-stellt.Unddiesiehtfolgendermaßenaus:„FreiheitistderTreibstoff…allerInnovationen… für eine Industrienation!“ sagt er. Und dazu ruft er auchgleichdenehemaligenPräsidentendesBundesverbandesderDeutschenIndustriealsunverdächtigenZeugenauf.

    Ihmgehtesalsonichtumeinefreiheitliche,sozialabgesicherteExistenzder demokratischen Staatsbürger, sondern um einen „Treibstoff für dieWirtschaft“.UnddenfindeterindenausseinerSichtunnötigenstaatli-chenDienstleistungenfürdieBürger.Empörtstellterfest:„DerSozialetatfrisstgutdieHälftedesgesamtenBundeshaushalts“,undmeintdazu,„sokannesnichtweitergehen“.DasGeldkanndochdieWirtschaftvielbessergebrauchen,glaubter.UndwenndadurchdieMehrheitderBevölkerung

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    Das Falschwörterbuch

    verarmtundinexistenzielleNotgerät,dannistdasnunmalderPreisderFreiheit.

    Diesen Preis zahlen wir aber bereits in immer weiter wachsender,gigantischerHöhe.DieFreiheitunsererWirtschafthates ihrermöglicht,in den vergangenen Jahren den größten Teil unseres gesamten Volks-vermögens in windigen, teilweise halbkriminellen Finanzgeschäften ver-schwinden zu lassen. Die Bundesregierung musste rund 600 MilliardenEuro unserer Steuergelder in die Finanz-Wirtschaft pumpen, um einenTotalzusammenbruch abzuwenden. Das ist etwa die doppelte Summeeines ganzen Bundeshaushalts. Dafür werden noch unsere Kinder mitihrenSteuergelderngeradestehenmüssen -diejenigendesKommentar-Autorsübrigensauch.

    Die Schere zwischen Brutto- und Nettoeinkommen wird sich wohl wei-terhin „an der Grenze zum Sittenwidrigen bewegen“, wie der Autorschreibt, denn der Staat wird diese Summen über Steuergelder wiederhereinschaffenmüssen.NuramRandeistnocherwähnenswert,dasssichdie Verantwortlichen dieser Krise in den Chefetagen der Banken unsereSteuergeldernuninMillionenhöheinihreprivatenTaschenschieben,unddasistallerdingssittenwidrig.ÜberdenWolken(derBevölkerung)mussdie „Freiheit“ wohl grenzenlos sein… von schamloser Bereicherung aufKostenderAllgemeinheitistsiedortabernichtmehrzuunterscheiden.

    DiesalleskonntejederZeitungsleser indenletztenJahrentäglichnach-lesen. Wie kommt es dann, dass ein Kommentator eines Provinzblattesso eindeutig die Interessen der „Wirtschaftseliten“ vertritt, zu denener selbst zweifellos gar nicht gehört? Wird er dafür reich belohnt oderhandeltessichumschlichteDummheit?Beides trifftsichernichtzu.ErgibtlediglichdiegegenwärtigherrschendeMeinungwieder,dietrotzderzerstörerischenFinanzkriseungebrochenweiterherrscht.Soetwasnennt

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    Begriffe begreifen

    man eine Ideologie, weil sie den realen gesellschaftlichen Daten undFaktenwidersprichtundtrotzdemweiterverbreitetwird.

    DieweitereHerrschaftdieserIdeologiebeginntbereitsheuteunserdemo-kratischesSystemzugefährden,indemsiedieGrundlagenunserersozial-staatlichenVerfassungimmerweiteraushöhlt.DemAutoristdavornichtbange,erfordertesgeradezu,indemerfeststellt:„HeuteistderSozialstaatzumWohlfahrtsstaatverkommen“.Wirhoffendagegen,dassunserdemo-kratischer Staat nicht noch weiter zu einem Selbstbedienungsladen fürdie Wirtschaftsführer auf Kosten der Bevölkerung verkommt, denn sokannesinderTatnichtweitergehen.

  • Auf den folgenden Seiten haben wir ausgewählte Stichworte aus dersogenannten öffentlichen Meinung zusammengestellt und interpretiert.Begriffebegreifenheißt,dieseStichworteeinmalandersbetrachten,bisihrmanchmalverborgenerSinnzumVorscheinkommt.

    Unsere Sprache dient eigentlich dazu, dass wir uns mit ihrer Hilfegemeinsamverständigen.Aberoftwirdsieauchdazumissbraucht,etwaszu verschleiern. Das ist meistens dann der Fall, wenn der ÖffentlichkeitirgendetwasUnangenehmesmitgeteiltwerdensoll,wozumanaberihreZustimmungbenötigt,umesumsetzenzukönnen.

    EinaktuellesBeispielistderBegriffReform.Damitsollerreichtwerden,daßdieLeserdenEindruckgewinnen,daßzumBeispieldieRentenoderunserSozialsystemdurchReformenverbessertwerden.DasistabernichtderFall.EsgehtimGegenteildarum,dieÖffentlichkeitzuüberzeugen,daßdieRentengekürztundunserSozialsystemeingeschränktwerdensoll.MitdemBegriff„Reform“wirddiesesZielvernebeltundunkennt-lichgemacht.

    Es erfordert manchmal ein wenig Übung, um diese verschleierndenBegriffe ausfindig zu machen und ihre wahre Bedeutung zu erkennen.Die folgendenBeispielekönnenalsÜbungsmaterial dienen,umselbstweitere Begriffe zu untersuchen. Die Sprache unserer Medien ist volldavon,manmussnurrichtighinschauen...

    Begriffe begreifen

    Das Falschwörterbuch

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  • Früher kam im Fernsehen vor der Tagesschau das Sandmännchen –heuteerscheintdorteinBörsenmännchenundverkündetdieaktuellenDAX-Werte. Das sind die Börsenkurse der 30 profitabelsten Aktien-gesellschaften in Deutschland. Das Unternehmen Volkswagen hat z.B.400MillionenAktienzu2,56Euro(daswareneinmal5DM)druckenlassenundzumVerkaufangeboten.

    ImJahr2006musstemananderBörsefüreineAktie50Eurobezahlenund im Jahr 2008 kostet sie 200 Euro. Wenn jemand 2006 eine Aktiegekauft und 2008 wieder verkauft hat, gibt das einen Gewinn von 150Eurooder300Prozent.DagegenistderGewinninHöhevon1,25Euro,denVWproAktiealsDividendeausschüttet,uninteressant.DasKaufenund Verkaufen von Aktien ist viel interessanter, weil durch das Aus-nutzenvonKursunterschiedeneingrößererProfiterzieltwerdenkann.

    VonderVW-AktiewurdenimJahr2006250Millionenverkauftundwie-dergekauft;derUmsatznurmitdiesenAktienbetrug50MilliardenEuro.Der Umsatz aller an deutschen Börsen gehandelten Aktien erreichte2007 die Summe von 5.800 Milliarden Euro, wie das Deutsche AktienInstitutbekanntgab.

    Allerdings werden an der Börse nicht wirklich neue Werte geschaffen.Lediglich die Preise der Aktien werden hier täglich neu ausgehandelt.DasdahinterstehendeUnternehmenwirddadurchnichtwertvolleroderbeiKursverlustwertloser.DerWertderProduktionsanlagen(sogenannteSachanlagen)beträgtbeiVWungefähr20MilliardenEuro,derPreisderAktiendagegenfast80MilliardenEuro.

    Spekulieren wir einmal ein bisschen. Wir haben 200 Euro gespart,kaufen Anfang 2006 eine VW-Aktie für 50 Euro und verkaufen Ende2006 wieder für 100 Euro. Ergebnis: 50 Euro Gewinn. Der Käufer hatebenfalls 200 Euro gespart und verkauft wiederum Mitte 2007 für 150Euro.Ergebnis:50EuroGewinn.WirspekulierenaufnochhöhereKurse,

    „Börse“

    Begriffe begreifen

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  • kaufenfür150EuroundverkaufenAnfang2008für200EuroundzwarandenerstenKäufer,derebenfallsaufhöhereKursespekuliert.Erkauftfür 200 Euro und hofft, dass er für 250 verkaufen kann. Wir haben zudiesemZeitpunktfür200EuroAktiengekauftundfür300Euroverkauftund besitzen jetzt zusammen mit unseren Restersparnissen 300 Euro.Der andere Käufer hat für 300 Euro gekauft und für 150 verkauft undbesitztjetzteinBarvermögenvon50EurosowienochunverkaufteAktienzumPreisvon200Euro.UnserGewinnistnichtsanderesalseinTeilderErsparnissedesanderenKäufers.SomitistdieBörseersteinmalnichtsweiteralseinMarktplatzfürüberschüssigesGeld,dassspekulativange-legtwirdundwoderGewinndeseinenderVerlustdesanderenist.

    Wasist,wennkeinKäufergefundenwird,derzuhöheremPreiskaufenwill?DannmussmanimZweifelauchmitVerlustverkaufen.Dasistz.B.2007passiert,alsdieDAX-Kurseum16Prozentfielen,was83MilliardenEuroVerlustbedeutete.Dieeinzigen,dieauchdabeinochgewinnen,sinddie Banken und die Börsenmakler. Sie verdienen an jeder Transaktionca. ein Prozent Provision, das waren gut 50 Milliarden Euro im letztenJahr.ImÜbrigenistdieBörsesoziemlichdaseinzigeHandelsgeschäft,bei dem keine Umsatzsteuer gezahlt werden muss, denn sie wurde1991abgeschafft,umden„FinanzplatzDeutschland“fürKapitalanlegerattraktiverzumachen.SolcheinegroßzügigeRegelunggibtesnurnochbeigemeinnützigenundmildtätigenVereinen.BeieinerSteuervonnur0,5Prozenthättees2007zusätzlicheEinnahmenvon29MilliardenEuroergeben.

    Das Falschwörterbuch

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  • „Chefsache“

    WenninderPolitikirgendeinProblemzurChefsacheerklärtwird,dannfindendasvieleBürgermeistsehrberuhigend.EndlichnimmtdieSachemal jemand indieHand!Genaubesehen istdasaberallesanderealsberuhigend. Es bedeutet nämlich, daß die demokratische Meinungs-bildung über Lösungen des Problems beendet ist und dass nun „derChef“entscheidet.

    Begriffe begreifen

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  • Manche glauben, dass es eben manchmal nicht anders geht. Auch imBetrieb muß ja schließlich irgendwer eine Entscheidung treffen, sonstläuft doch nichts, oder? Betriebe sind allerdings auch nicht demokra-tisch organisiert, sondern unterliegen der Entscheidungsgewalt derEigentümer.Wasdortwiegetanwird,entscheidenletztendlichsieundniemandsonst.

    Dawirabernichtmehr ineinerSklavenhaltergesellschaft leben,müs-sen dieser Entscheidungsgewalt Grenzen gesetzt werden. Denn sonstkann es passieren, dass die Beschäftigten bei geringstem Lohn unterunmenschlichen Bedingungen arbeiten müssen, wie es früher auchwirklichderFallwar.DeshalbhabendieGewerkschafteninjahrzehnte-langenKämpfenArbeitsschutz-undBetriebsverfassungsgesetzedurch-setzenmüssen.

    UndinderPolitikistesnichtanders.DemokratieistkeinGeschenkdesHimmels,sondernauchsiemussteinmehralshundertjährigenKämp-fenmühsamerstrittenundimmerwiederverteidigtwerden–bisheute.Auch jetzt versuchen die Wirtschaftsführer wieder, die bestehendenRechteundMitbestimmungsgesetzezurückzudrängenundauszuhebeln.

    WersichPolitiknurnachdemFührerprinzipvorstellenkann,dersolltesichmal mit der Geschichte des letzten deutschen „Führers“ beschäftigen.Demokratie ist ein mühsamer Prozess der Entscheidungsfindung, aberdazu gibt es keine wirklich wünschenswerte Alternative. DemokratenlehnenautoritäreChefsache-Ideologengrundsätzlichab.UnddarummussauchunsereWirtschaftweiterdemokratisiertwerden.

    Das Falschwörterbuch

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  • DieIGMetallhat in ihrerSatzungdieDemokratisierungderWirtschaftalspolitischesZielformuliert.VielekönnensichjedochnichtsKonkre-tes darunter vorstellen. Manche glauben, mit dem Betriebsverfassungs-gesetz sei dieses Ziel bereits erreicht. Andere glauben sogar, dassdiesesZielnichtrealisierbarseiunddeshalbunsinnigist.

    DasZielderDemokratisierungumfasstaberdiegleichberechtigteMit-bestimmung bei wichtigen wirtschaftlichen Unternehmensentscheidun-gen,dieesbisheutenochnichtinvollemUmfanggibt.DiebestehendenMitbestimmungsregelungen ermöglichen den Kapitalbesitzern im Streit-falleimmernochdieletzteEntscheidung.

    DasistVielennichtbekannt,unddeshalbmachensieoftdieGewerkschaftenund die Betriebsräte auch für Unternehmensentscheidungen verantwort-lich,diediesegarnichtbeeinflussenkönnen.IndenmeistenFällenmüssensie sich damit begnügen, lediglich die Folgen dieser Entscheidungen fürdie Beschäftigten sozial verträglich zu gestalten. Das hat dem AnsehenderMitbestimmunginderÖffentlichkeitgroßenSchadenzugefügt.DieIGMetallhataber in ihrerSatzungganzkonkreteVorstellungenentwickelt,wiesiedieseDemokratisierungumgesetztsehenwill.Erstensdurcheinevollgültige Mitbestimmung bei Unternehmensentscheidungen und in derGesamtwirtschaft. Zweitens durch die Errichtung von Wirtschafts- undSozialräten. Drittens durch die Überführung von marktbeherrschendenUnternehmeninGemeineigentum.

    Dies sind politische Forderungen, von denen bis heute noch keineeinzige verwirklicht worden ist. Ganz im Gegenteil: Die Politik über-lässt heute unter den Schlagworten >Deregulierung und >PrivatisierungimmermehrehemalsstaatlichorganisierteDienstleistungen(Post,Bahn,Energieversorgung usw.) der Privatwirtschaft. Das Ergebnis ist, dassdort tausende von Arbeitsplätzen wegrationalisiert worden sind unddass gleichzeitig diese Dienstleistungen für die Verbraucher immer

    „Demokratisierung“

    Begriffe begreifen

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  • teurer werden, denn die Wirtschaft will schließlich Gewinne damitmachen.

    Das Ziel der Demokratisierung der Wirtschaft ist also ein politisches Pro-gramm, mit dem der gegenwärtigen Politik des > Neoliberalismus eindemokratischesAlternativmodellgegenübergestelltwird.Wennwirdiezukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft nicht weiterhin allein derWirtschaftüberlassenwollen,müssenwirdiesesProgrammwiederwirk-samvertreten,indenBetrieben,inderRegionundinderÖffentlichkeit.

    IGMetall-Satzung(Auszug),Frankfurt/Main2008

    Das Falschwörterbuch

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  • 23

    Begriffe begreifen

    „Deregulierung“

    Auch manche Kolleginnen und Kollegen unterstützen eine Deregu-lierung. Wörtlich bedeutet es: Regeln abbauen. Wer fühlt sich heutenicht übermäßig „reguliert“? Durch Vorschriften, Ämter, Bürokratie,durchVorgesetzteusw.

    DiesindabermitdiesemStichwortnichtgemeint.Eshandeltsichviel-mehrumeinepolitischeForderungdes> Neoliberalismus.DerstrebtdenAbbaumöglichstallerstaatlichenEinflussnahmenaufdieWirtschaftan,dennwirlebenbekanntlichindersogenanntenfreienMarktwirtschaft.

    EsgibtabernocheineandereBezeichnungfürunserWirtschaftssystem,nämlich die Soziale Marktwirtschaft. Nun weiß aber jeder, der schoneinmaleinenWirtschaftsbetriebvoninnenerlebthat,dassesdortkei-neswegsbesonderssozialzugeht.UndeineMarktwirtschaft,diedurchimmermehrTechnikimmermehrMenschenarbeitslosmacht, istallesanderealssozial.

    Menschenwürdige Arbeitsbedingungen, ein Recht auf eine Berufsaus-bildung und auf Arbeit müssen also durch demokratische Einfluss-nahmen erst in der Wirtschaft durchgesetzt werden, wie z. B. durchBetriebsverfassungsgesetze und andere Arbeitsschutzgesetze. Ohnediese Regulierung wären die einzelnen Beschäftigten der Wirtschaftletztendlichhilflosausgeliefert.

    Deregulierung ist also bei genauer Betrachtung ein ideologischerKampfbegriff, mit dessen Hilfe die Befreiung der Wirtschaft von allensozialenGesetzgebungenpolitischdurchgesetztwerdensoll.

    Übrigens:AuchineinerdereguliertenWirtschaftwürdekräftigreguliert,dannallerdingsnurnochdurchdieWirtschaftsführerselbst.DienennendasjedochnichtRegulierung,sonderndannheißtes„effektivesQuali-tätsmanagement“.Daraufmussmanerstmalkommen!

  • EinDogmatikeristjemand,derunumstößlicheGewissheitenvertrittundsichnichtdarinbeirrenlässt.UrsprünglichkommtdieserBegriffausderKirchengeschichte. Ein Dogma ist ein feststehender Glaubenssatz. WernichtanGottglaubt,kannkeinChristsein.

    HeutewirdderBegriff„Dogmatiker“besondersgerninderPolitikver-wandt. Meist wird er auf jene gemünzt, die an bestimmten Theorien fest-halten und nicht jede neue Theorie oder jede Form von Modernisierungalleinschondeshalbfürrichtighalten,weilsiegerademodernerscheint.

    Als Dogmatiker gelten also Vertreter bekannter Theorien, wenn diesepolitisch nicht mehr erwünscht sind, und zwar unabhängig davon,ob die Theorien richtig oder falsch sind. Nicht als Dogmatiker geltendagegen diejenigen, die neue und politisch erwünschte Theorien ver-treten,undzwarauchunabhängigdavon,obdieTheorienrichtigoderfalschsind.Wasgerademodernist,kanndochnichtfalschsein,oder?

    Undsokommtes,dasszumBeispielMarxistenDogmatikersind,radi-kale Vertreter des >Neoliberalismus aber nicht. Denn der Marxismusist längst überholt, der Neoliberalismus dagegen neu, wie sein Namebereitsbehauptet.Dassdiese„neue“TheoriejedocheinZurückindieZeitendesFrühkapitalismuspredigtunddamit inhöchstemMaßedog-matischist,bleibtdenMeistenverborgen.

    Heute gelten zum Beispiel diejenigen als Dogmatiker, die unser LandfüreinensozialenRechtsstaathalten–wasesnachunsererVerfassungauch tatsächlich ist – und deshalb unser Sozialsystem verteidigen.KeineDogmatikersinddagegenjene,diejedensozialenSchutzabbauenund eine marktradikale Ellenbogengesellschaft errichten wollen. Aberwie bereits gesagt, der Neoliberalismus, der dieses Ziel anstrebt, isteineneueTheorie.UndwermagsichschongegenNeuessperren?Ver-mutlichdochnurwiederdieselängstüberholten„Dogmatiker“.

    „Dogmatiker“

    Das Falschwörterbuch

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  • Die Bürger müssen wieder mehr Eigenverantwortung übernehmen,sagen unsere Politiker. Und um die Bürger dabei ein wenig zu unter-stützen, wird das Gesundheitssystem eingeschränkt, die Arbeitslosen-unterstützungwirdabgebautunddieRentenwerdengekürzt.Dafür istderBürgernunselbsteigenverantwortlich.Kranke,ArbeitsloseundAltemüssenebensehen,wiesiezurechtkommen.Allerdingskannjedermalkrankundarbeitsloswerden,undaltwerdensowiesoallemal.

    Da fragen sich natürlich manche Bürger: Wieso müssen eigentlichnur wir mehr Eigenverantwortung übernehmen? Unser Land ist dochein sozialer Rechtsstaat! Wir können doch nicht ganze Bevölkerungs-gruppen langsamverkommen lassen.Wirsinddocheineder reichstenIndustrienationenderWelt!

    Soistes.DieUnternehmensgewinnesteigenseitzwanzigJahrenimmerweiter, und zahlreiche Unternehmerfamilien haben bereits Privatver-mögenvonmehrerenMilliardenEurozusammengeschaufelt.MiteinemTeildavonkönntemanzumBeispielalleRentnermühelosernähren,unddieReichenbliebenimmernochreichgenug.

    Dastimmtdochirgendetwasnicht,oder?DieseSuperreichenbrauchennämlichimmerwenigerSteuernzuzahlen,undihrePrivat-Konzernewer-dennochmitstaatlichenSubventionen–alsomitunserenSteuergeldern– reichlich gefüttert. Wieso müssen die Reichen keine Verantwortungübernehmen? Zum Beispiel dadurch, dass sie einen Teil ihres bereitsunermesslichen Reichtums zur Finanzierung unseres Sozialsystemsbeisteuern.

    Wiesomüssensiedaseigentlichnicht?Offenbarnurdeshalb,weildieNichtreichen das alles mit sich anstellen lassen, ohne wirklich Wider-standzuleisten.Denndazumüsstemanjairgendetwastun.Damüssteman wirklich mehr Eigenverantwortung zeigen! Zum Beispiel dadurch,dassmansichandemWiderstandderGewerkschaftenundandererVer-bändegegendenAbbauunseresSozialstaatsbeteiligt.

    „Eigenverantwortung“

    Begriffe begreifen

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  • SolangedieNichtreichenkeinesichtbareGegenwehrgegendieseunso-ziale Umverteilung unseres Volksvermögens organisieren, werden siewohlauchweiterhinimmerärmerwerden.Soistdasnunmal,wennsiekeine aktive Eigenverantwortung für die Vertretung ihrer berechtigtenInteressenübernehmenwollen!

    Das Falschwörterbuch

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  • FrühergehörtenzuunserenEliteneinmalDichterundDenker.Siemüssenwohl mittlerweile ausgestorben sein. Heute zählen zu unseren ElitenstattdessendieMacherundLenkerinWirtschaftundPolitik.

    DasmussGründehaben.Hatesauch.DennBildungundKultur,dieein-maldieZugehörigkeitzudenElitenunsererGesellschaftgekennzeich-nethaben,sindheutezueinerFreizeitbeschäftigungfürdieFreundedesGutenundSchönenherabgesunken.Washeutealleinzählt,istLeistung!

    Weil sich Leistung ja bekanntlich lohnen muß, gehören deshalb zuunseren heutigen „Eliten“ nur noch diejenigen, die über mindestensfünfstelligeMonatseinkommenverfügen.Dassindabernurdiekleinen> „Leistungsträger“, als die ja unsere Eliten heute etwas treffenderbezeichnetwerden.

    DiewirklichenElitenhabenweitmehr.Jahres-EinkommenvonmehrerenMillionen Euro gelten in den elitären Top-Managerkreisen keineswegsals unanständig, sondern als Elite-Visitenkarte. Und die Elite-Zuge-hörigkeit bei unseren Kapitalbesitzern beginnt erst an der Milliarden-grenze.DieallerfeinsteElitehatdieseGrenzenichtnureinmal,sondernbereits mehrmals überschritten, wie etwa die Elite-Brüder Albrecht(Aldi-Märkte).

    Dahabenwiresdochweitgebracht,oder?MitdemDichtenundinsbe-sondere mit dem Denken ist es aber bei uns nicht mehr weit her. WerkönntedennschonauchnureineneinzigenAngehörigenunsererheu-tigen Eliten als einen „Denker“ benennen? Aber man kann eben nichtalleshaben...

    „Eliten“

    Begriffe begreifen

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  • Die Top-Jahresgehälter leitender Angestellter in Deutschland ...

    JosefAckermann(DeutscheBank) 9,9Mio€

    JürgenGroßmann(RWE) 9,2Mio€

    PeterLöscher(Siemens) 7,1Mio€

    MartinWinterkorn(Vokswagen) 6,6Mio€

    WolfgangReitzle(Linde) 6,2Mio€

    Quelle:SüddeutscheZeitung,20.03.2010

    ... sind „Peanuts“ gegenüber dem Privatvermögen des deutschen Geldadels.

    KarlAlbrecht(AldiSüd) 23,5Mrd$

    MichaelOtto(Otto-Gruppe) 18,7Mrd$

    TheoAlbrecht(AldiNord) 16,7Mrd$

    SusanneKlatten(BMW,Altana) 11,1Mrd$

    AugustvonFink(Investmentbankier) 7,3Mrd$

    Quelle:Forbes-Liste2010

    Das Falschwörterbuch

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  • „Europa“

    EingeeintesEuropa–daswarnachzweiWeltkriegendereuropäischenNationen einmal eine erstrebenswerte Vision. Heute ist diese VisionWirklichkeit. Leider ist daraus für die meisten eine Schreckensvisiongeworden.Wieistesdazugekommen?

    ZunächsterfreutensichvieleandengeöffnetenGrenzen.Endlichkeinelästigen Warteschlangen mehr! Und nach der Einführung des Euro warauch der unbequeme Geldumtausch nicht mehr nötig. „Freie Fahrt fürfreieBürger“jubeltenmanche.

    Dannstelltesichheraus,dassderEuroinWirklichkeitein„Teuro“war,wie er auch bald genannt wurde. Und mit der immer weiteren ÖffnungEuropasfürdieehemaligenOstblockländerkamennunArbeitskräfteinsLand,diebereitwaren,ihreArbeitskraftfüreinenBruchteilderbeiunsüblichen Löhne anzubieten. Viele Unternehmen sahen auch plötzlichkeinen Grund mehr, ihre Produktion unbedingt in unseren Landes-grenzendurchzuführen,wennesanderswoinEuropabilligergeht.

    Sohattensichvieledie„VisionEuropa“eigentlichnichtvorgestellt.Unddeshalb wurden sie bei der geplanten Einführung einer gemeinsameneuropäischen Verfassung gar nicht mehr gefragt. In der mehrhundert-seitigenVerfassungsollnämlichunterderHandeineneoliberale WirtschaftspolitikfürganzEuropafestgeschriebenwerden.DieRegierungendermeistenLänderentschiedendasderEinfachheithalberlieberuntersich.

    In Frankreich und Holland führte man dagegen einen VolksentscheidüberdieVerfassungdurch,unddieBevölkerungstimmteaufgrundderbisherigenErfahrungenauchpromptdagegen.DieunsozialeneoliberalePolitik hatte nämlich bereits die Arbeitslosigkeit und Armut in vielenLänderngesteigert.

    Begriffe begreifen

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  • Und nun? Ganz einfach, dachten sich die erschrockenen Regierungen.Sie nannten die geplante und durchgefallene Verfassung einfach in„Vertrag“um,densieweiterhinohneBefragungdesVolkesabschließenwollten. Die Iren hatten diesem undemokratischen und handstreichar-tigenVerfahrenzunächsteinEndegesetzt.TrotzdemwolltendieRegie-rungeneinfachweitermachenunddieIrenoffenbarsooftwählenlassen,bissieendlich„richtig“wählen.

    Hoffentlichwirdjetzt jedemklar,wemdasgeeinteEuropawirklichdie-nensoll.EsdienteinzigundalleindemKapitalundnichtdenBürgern.DieFolgensindSozialabbau,LohndumpingundStandortverlagerungenzuhauf. Und mittlerweile verbietet es der Europäische Gerichtshofeinigen Ländern bereits, die Einhaltung von Tariflöhnen und sozialenMindeststandards einzufordern. Auch das Streikrecht soll eingeschränktwerden, weil es den „freien Kapitalmarkt“ behindert. Europa droht zueiner Schreckensvision zu werden, wenn die Bürger keine sozialenGrundrechtedurchsetzen!

    Das Falschwörterbuch

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  • Mehrere Jahre stand Deutschland an der Weltspitze mit exportiertenGütern und Waren. Das ist mehr als erfreulich, denn es zeigt schließ-lich, dass wir eine der reichsten Industrienationen der Welt sind. Selt-samerweise steht dies in einem merkwürdigen Gegensatz zu der seitJahrenvertretenenöffentlichenMeinung,dasswir„unserenGürtelengerschnallenmüssen“.

    BeiunssollendieLohnnebenkostenzuhochsein,unserSozialsystemist scheinbar nicht mehr finanzierbar, den Bürgern wird mehr Eigen-verantwortungabgefordert,ArbeitnehmerwerdenzurLohnzurückhaltungaufgefordert,Rentnersollenlängerarbeiten,weilsiescheinbarnurGeldkosten, obwohl sie im Laufe ihres Berufslebens dieses Geld über ihreRentenversicherung selbst finanziert haben, Schüler und Studierendesollen für Bildung selbst aufkommen, Arbeitslose sollen auch für nureinenEuroetwasleistenundsofort...

    Dies alles wird damit begründet, dass wir im Zuge der Globalisierungkonkurrenzfähigbleibenmüssten.Dasistsicherrichtig,denneinrumä-nischer Arbeiter kann für weniger Geld seine Arbeit anbieten als eindeutscherArbeiter.DieLebenshaltungskosteninRumäniensindnunmalgeringeralsinDeutschland,derLebensstandarddementsprechendauch.

    Richtig konkurrenzfähig sind wir also erst dann, wenn der Lebens-standard in Deutschland auf den Stand von Rumänien heruntergedrücktwird.Sonst–sieheNokia!UnserePolitikerarbeitenauchheftigdaran.Mit dem Abbau unseres Sozialsystems wird der Lebensstandard derBevölkerung gesenkt und unsere Wirtschaft wird von der ehemaligensolidarischen Beteiligung am Sozialsystem befreit, damit ihr keine„unnötigen“Kostenentstehen.

    Nun könnte man eingeschüchtert einwenden: Wie konkurrenzfähig müs-senwirdenneigentlichnochwerden?WirgehörendochbereitszudenExportweltmeistern!Ja,schon–aberdawollenwirdochauchbleiben!

    „Exportweltmeister”

    Begriffe begreifen

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  • Und das geht nur, wenn wir den Gürtel noch enger schnallen. UnsereWirtschaftweißaberbereitsjetztschonnichtmehr,wohinmitdemvie-lenGeld.DeshalbhatsiedasjenigeGeld,dassienichtbenötigt,einigenBankenzumVerzockenaufdenFinanzmärktenanvertraut.Dassesdortin Milliardenhöhe verschwunden ist, kann passieren. Da wird wohl derSteuerzahleraushelfenmüssen.

    NatürlichmachtsichauchunsereManagement-EliteihreGedanken,wiesie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben kann. Wenn auf demWeltmarkteinangesehenerManagermindestenseinpaarMillionenproJahrverdient,dannkannmandeutscheManagernichtmiteinpaarHun-derttausendabspeisen.SoeinHungerleideristwirklichnichtkonkurrenz-fähig!UnddeshalbsinddieManagementgehälterbeiunsbereitsknappan zweistellige Millionenhöhe geklettert, während die Bevölkerungimmerweiterverarmt.

    Das Falschwörterbuch

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  • Wernichtflexibelist,giltalsstarrundunbeweglich.UnsereWirtschaftmuß immer flexibler werden, weil die Konkurrenz auf dem Weltmarktbekanntlichnichtschläft.

    GegenFlexibilisierungistalsonichtseinzuwenden.Sokönntebeispiels-weise unsere Wirtschaft flexibel alternative Energienutzungskonzeptefürden IndividualverkehrentwickelnunddamitweltweitdieNasevornhaben.Hieristsieaberäußerststarrundunbeweglich.

    Viel beweglicher zeigt sich unsereWirtschaft, wenn es darum geht, denBeschäftigten mehr Flexibilität abzu-verlangen.SiesollenmöglichstsiebenTage in der Woche rund um die Uhrverfügbar sein, aber natürlich immernurdann,wennsiegebrauchtwerden.

    Bei der Flexibilisierung der Arbeits-organisation hat unsere Wirtschaftauch gute „Erfolge“ aufzuweisen. MitTeilzeitarbeitsmodellen und Just-in-time-Logistik werden die Beschäftig-ten und die mittelständischen Zulie-ferfirmensoflexibelausgepresst,dasssieinvielenFällenbereitsnurnochumsnackteÜberlebenkämpfen.Müssteesdagegen nicht Schutzgesetze geben?Sicher,aberdaswäredochbürokratischundunflexibel,oder?

    „Flexibilisierung“

    „Die Verwandlung des Heinz K.“MontageeinesTeilnehmersimSeminar„ZukunftderArbeit“

    Begriffe begreifen

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  • „Freiheit“

    Freiheit umfasst immer auch die Freiheit der Andersdenkenden. Mitdieser Feststellung von Rosa Luxemburg wird treffend zum Ausdruckgebracht,dassFreiheitnuraufdemBodenhumanerundsozialerTole-ranzundGerechtigkeitwachsenkann.

    Heute wird Freiheit aber oft ganz anders begriffen. Freiheit ist, wennjeder tun und lassen kann, was er will – auch auf Kosten anderer. SoetwasnenntmanabereigentlichnichtFreiheit,sondernrücksichtslosenEgoismus!SeinzynischesMottolautet:Wennjederfürsichselbstsorgt,istdochfürallegesorgt.

    DiesevölligeVerkehrungdesBegriffsvonFreiheitindasGegenteilmussGründe haben. Wenn wir unsere Gesellschaft etwas genauer betrach-ten,dannsinddieseGründeschnellausfindiggemacht.Siebetrachtetsich nämlich selbst als die sogenannte Freie Welt, im Gegensatz zumSozialismus, der sich bereits aus der Geschichte verabschiedet hat.Unter dem Stichwort der Globalisierung wird nun die ganze Welt zurFreien Welt. In diesem Paradies herrscht jetzt nur noch Freiheit, alsoaucheinefreieMarktwirtschaft.

    Soviel Freiheit war nie! Wer sich jetzt immer noch nicht frei fühlt, hatselberschuld. Jetztgiltuneingeschränkt„freieFahrt für freieBürger“!UndwerdaimWegsteht,hätteebenschnellgenugzurSeitespringenmüssen.

    Diese Freiheit ist nichts anderes als das uneingeschränkte Recht desStärkeren, das bereits einmal in der Steinzeit gegolten hat. Diese „Frei-heit“ ist asozial, weil sie jeden niederwalzt, der nicht mithalten kann.UnddasgiltnichtnurfürdieAlten,dieKranken,dieBehinderten.

    „Leben! Einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald, ist unsere Sehnsucht!“

    NazimHikmet

    Das Falschwörterbuch

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  • Niedergewalzt werden auch Millionen abhängig Beschäftigter, diewährendihrerArbeitvonFreiheitnurträumenkönnen,solangesieüber-hauptnocheinehaben.DerArmutsberichtderArbeiterkammerBremenvon2003weistaus,dassrundzwanzigProzentderbeschäftigtenArbeit-nehmeranderArmutsgrenzeleben.UnddenvierMillionenArbeitslosengehtesmitsamtihrenFamiliennochschlechter.

    Die abhängig Beschäftigten haben natürlich die Freiheit, sich wenig-stens außerhalb der Arbeit ein bisschen frei fühlen zu dürfen. ZumBeispiel abends in der Disco, im Kleingarten oder wo auch immer. Amnächsten Morgen ist dann wieder Schluss mit lustig. Wem das nichtpasst,derbehältdasbesserfürsich.Sonstkannesihmpassieren,dasser„freigesetzt“wird!

    Trotz allem Freiheits-GeredeunsererWirtschaftsideologen istdieMassederBevölkerungvonFreiheitimmerweiterentfernt.

    Begriffe begreifen

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  • DieseberühmteParolederFranzösischenRevolutionvon1789wardaspolitischeProgrammdesBürgertums.NachdemdieArbeiterklasse(dasProletariat) in die Geschichte eintrat, wurden alle drei Ziele der Revo-lutionabervonderehemalsrevolutionären,bürgerlichenKlasseradikalbeschnitten.EsbedurfteeinesJahrhundertsderKlassenkämpfe,bisdieArbeiterbewegung die ursprünglichen bürgerlichen GesellschaftszielegegendasBürgertumselbstdurchsetzenkonnte.

    Deutschland hat ein Grundgesetz, das sich gegenüber der Wirtschafts-ordnung neutral verhält. Demokratie wird keineswegs mit Kapitalismusgleichgesetzt.DieGrundgesetzartikelenthalten:DieSozialpflichtigkeitdes Eigentums, die Möglichkeit der Enteignung zum Wohle der Allge-meinheit,dieÜberführungvonNaturschätzenundProduktionsmittelninGemeineigentum(GrundgesetzArt.14und15).

    SeitderneoliberalenRevolutionmitBeginnder80erJahrekommteszueinerparadoxenLage:Freiheit,Gleichheit,BrüderlichkeitstehenerneutzurDiskussion,dieGesellschaftfällterneutvor1789zurück.DieFreiheitdesWählenswirdreduziert,weildieParteiensichsoähnlichsind,dassoft nur noch der öffentliche Sympathiewert des jeweiligen KandidatendieWahlentscheidet.ImmergrößerwirddieParteiderNichtwähler.

    Die im Sozialstaat angestrebte > Gleichheit wird nicht nur abgebaut,sondern die Ungleichheit wird geradezu ein politisches Programm.Bestenfalls soll es noch um Chancengleichheit gehen, wobei längstbekannt ist, dass dies meist nur eine Illusion ist. Die Ungleichheitder Eigentums- und Besitzverhältnisse soll sich „positiv“ auswirken,damit die, die unten sind, sich bedingungslos anpassen. Von mate-rieller Gleichheit ist seit langem nicht mehr die Rede. Steigen sollendie Managergehälter, nicht die Löhne! Und das, obwohl die Jahresein-kommenvonManagerndieMillionengrenzeoftbereitsmehrfachüber-schreiten.

    „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit !“

    Das Falschwörterbuch

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  • Brüderlichkeit (bzw.Schwe sterlichkeit) istunsererGesellschaftso fremd geworden, dassscheinbar nur noch Pastorendamit etwas anfangen können.DerZerfallderIndustriearbeiter-Milieus trägt auch dazu bei,Brüderlichkeit zu vergessen. DieAusgrenzung von immer mehrMenschen aus der Arbeits-gesellschaft, die Entstehungeinerneuen„Unterschicht“,deraggressive Angriff gegen dieArbeitslosen, all dieses ist dasGegenprogramm von Brüder-lichkeit.

    Viele fühlen sich heute hilflosgegenüber der neoliberalenPolitik. Wenn die Betroffenensich aber freimachen von derIllusion,diepolitischenParteienallein würden ihre Interessenvertreten, und wenn sie dieGewerkschaften wieder stär-ker als Gegenmacht begreifen,dann könnte auf längere Sichtauch gegen die herrschendePolitik eine neue Gesellschaftin Form einer modernen Wirt-schaftsdemokratieentstehen.

    Begriffe begreifen

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  • DieGewerkschaftenbetrachtensichtraditionellalsGegenmachtzudenInteressen der Kapitalbesitzer. Seit den Modernisierungsdebatten stehtdiesetraditionelleDefinitioninderKritik.

    Mit dem sozialen Wandel, so wird argumentiert, hätte sich auch diegesellschaftliche Orientierung der Mitglieder stark verändert. HeutewürdevorallemKooperationsfähigkeitvondenGewerkschaftenerwartet.EsgingenichtmehrumgrundsätzlicheInteressengegensätze,sondernumeinekooperativeAushandlungaktuellerbetrieblicherKonflikte.

    DasErgebnisdieserDebattenistgegenwärtignochoffen.LetztendlichgehtesdabeiumdieFrage,obsichdieGewerkschaftenvonihrenpoli-tischen und gesellschaftlichen Positionen verabschieden und sich nurnochaufihrebetrieblichenAufgabenkonzentrierensollten.

    Wenn die Gewerkschaften aber nicht mehr als eine gesellschaftlicheGegenmacht wahrgenommen werden, dann werden sie auch in denBetriebenwohlkaumeinedurchsetzungsfähigeKraftdarstellen.

    Die Medien verkünden bereits teilweise schadenfreudig, dass denGewerkschaften die Mitglieder in Scharen davonlaufen. Wie sieht esaber wirklich aus? Natürlich sinken bei ständigem ArbeitsplatzabbautendenziellauchdieMitgliederzahlen.DieGewerkschaftenhabenaberrund sechs Millionen Mitglieder. Es gibt in Deutschland keine einzigeauch nur annähernd so starke gesellschaftspolitische Organisation,wenn man von den Kirchen und den Autofahrern einmal absieht, dieaberkeineeinheitlichepolitischePositionvertretenkönnenundwollen.

    Alleindie IGMetallhatmitweitüberzweiMillionenMitgliedernmehrMitglieder als alle demokratischen Parteien zusammen! Eine solchegesellschaftspolitische Kraft müssen ihre Gegner natürlich möglichstkleinreden. Das ist verständlich. Viel weniger verständlich ist es aber,wennauchindenGewerkschaftenteilweiseDiskussionengeführtwer-den,alsgebeesbereitssogutwiekeineMitgliedermehr.

    „Gegenmacht“

    Das Falschwörterbuch

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  • Unabhängigdavon,obsichdieGewerkschaftenzukünftigweiterhinaufihre gesellschaftspolitische Funktion oder nur noch auf betriebliche Auf-gaben konzentrieren: Ohne ein Bewusstsein ihrer eigenen Stärke undKraftwerdensie inderöffentlichenMeinungwohlkeinenennenswerteRollemehrspielen.

    Begriffe begreifen

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  • Der sogenannte Generationenvertrag sieht folgendermaßen aus: DiejungeGenerationerwirtschaftetdieRentefürdieältereGeneration.Unddiese hat sie – als sie noch jung war – wiederum für die noch ältereGenerationerwirtschaftet.

    Davonhatsieheuteselbstabernichtsmehr.

    Dastimmtdochirgendwasnicht,oder?WennjedeGenerationihrganzesArbeitslebenlangfleißigdieRentenkassengefüllthat,woistdenndanndasganzeschöneGeldgeblieben?Natürlichwärees theoretischmög-lich,dasseineGeneration ihreRentedurchKrieg,WeltwirtschaftskriseoderInflationverlorenhabenkönnte.DasistaberinderBundesrepublikDeutschlanderfreulicherweisenichtderFall.

    Undüberhaupt:WerhatdiesenVertrageigentlichmalunterschrieben?Natürlich niemand. Es handelt sich nur um so ein Wort, sonst nichts.EssolldenGenerationenweismachen,dassletztlichnursieselbstauf-grund dieses „Vertrags“ für ihre Alterssicherung verantwortlich sind.UnddieserVertragfunktioniertheutenichtmehrsorichtig.Dakannmanhaltnichtsmachen!

    AberwarumfunktioniertdieserVertragheutenichtmehr?Ganzeinfach!Die Alten wollen heute immer älter werden. Das heißt, dass sie immermehr kosten. Und die Jungen wollen alle nicht mehr arbeiten, weil siekeinen Ausbildungsplatz gefunden haben. – Alles klar? So verwandeltman Betroffene in Schuldige, die das dann möglicherweise auch nochglauben.Undsolangesiedastun,werdensiesichauchweiterhingegen-einanderausspielenlassen,anstattgemeinsamdiewirklichSchuldigenausfindigzumachen.

    DieganzeDiskussionberuhtaufeineraufdenerstenBlicklogischen,inWirklichkeitabervölligfalschenArgumentation.Sieberuhtaufdemein-

    „Generationenvertrag“

    Das Falschwörterbuch

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  • prägsamenBild,dassimmermehrRentnervonimmerwenigerBeschäf-tigten finanziert werden müssen. Dabei wird bewusst ausgeblendet,dass nicht die Anzahl der Beschäftigten, sondern ihre Produktivitätüber die Menge der Güter und Werte entscheidet. Deutlich wird dieserZusammenhangbeiderVersorgungderBevölkerungmitLebensmitteln.Warennochvor100Jahren80%derBevölkerungalsLandwirtenotwen-dig, um die restlichen 20% mit zu versorgen, reichen heute auf Grundder gestiegenen Leistungsfähigkeit 4% dafür aus. Mit immer wenigerMenschen wird also immer mehr produziert. Es kommt letztlich daraufan,obdieproduziertenWertenurprivatalsProfitandieEigentümerderUnternehmen oder solidarisch in die Sozialsysteme und damit an alleverteiltwerden.

    Die Ursache dieser Auflösung unseres „Generationenvertrags“ ist alsovoralleminunseremWirtschaftssystemausfindigzumachen.Beistei-genden Unternehmensgewinnen werden immer weitere Arbeitsplätzeabgebaut,dieeinmaldieRentenfinanzierthaben.Undgleichzeitigwer-dendie>Lohnnebenkostengesenkt, also der Anteil der UnternehmenanderFinanzierungunseresSozialsystems,zudemauchdieRentegehört.Ja,aberwarumsagtdenndaseinemkeiner?Ja,warumwohlnicht?

    Begriffe begreifen

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  • DerehemaligeSPD-PolitikerErhardEpplerhateinmalfestgestellt:„Werin einem Land, in dem ein ehemaliger Vorstandsvorsitzender mit denZinsen seiner Abfindung ein halbes Dutzend Bundeskanzler besoldenkönnte,dasThemaVertei lungsgerech tig keit fürüberholterklärt,musseineigentümlichesVerhältniszurWirklichkeithaben.“

    Leideristnichtersichtlich,anwenHerrEpplerseineAussagegerichtethat. An den politischen Gegner? Oder könnte er seine eigene Parteigemeint haben? Sie hat nämlich in ihrer Regierungszeit Überlegungenangestellt,wiemandenBegriffGerechtigkeit„neudefinieren“könnte.ZwarweißjedesSchulkind,wasGerechtigkeitbedeutet,unserePolitikeraber offenbar nicht so richtig. Deshalb möchten sie nun eine eigeneBedeutungdiesesBegriffserfinden.

    Weshalb?WeilalleParteienbehaupten,auf irgendeineWeise fürmög-lichstmehrGerechtigkeitzusorgen.AnderssindMehrheitenbeiWahlennichtzugewinnen.LeidermüssendieWählernachderWahloftfeststel-len, dass die gewählte Partei unter Gerechtigkeit etwas ganz anderesversteht,alsesallebisherimmergetanhaben.DamussalsodringendKlarheit geschaffen werden. Wie wäre es mit folgender Definition:Gerechtigkeit ist, wenn jeder bekommt, was ihm zusteht, nämlich denReichenvielunddenArmennichts!

    „Gerechtigkeit”

    Das Falschwörterbuch

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    „Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich ... Daher ist der Begriff der sozialen Gerechtigkeit in einer markt wirt schaftlichen Ordnung völlig sinnlos.“ FriedrichAugustHayek(1899–1992)

    BegründerdesNeoliberalismus,Interviewinder„Wirtschaftswoche“vom06.03.81

  • Dasistdochwenigstensverständlich!ObaberdieStimmenderwenigenReichengenügenwürden,umeineMehrheitfürdiesesWahlprogrammzuerzielen,istmehralszweifelhaft.UnddarumwirdeswohlweiterhinbeiWahlversprechenbleiben,dieerstnachderWahl„neudefiniert“werden.

    DievonErhardEpplerangesprocheneVerteilungsgerechtigkeitsiehtbeiunsgegenwärtigfolgendermaßenaus:50%derdeutschenBevölkerungsind an unserem vorhandenen Volksvermögen mit weniger als zweiProzentbeteiligt.Siehabenalsopraktischnichts.UnddieTendenz istnichtetwaansteigend,sondernweitersinkend.

    Im Gegensatz dazu verdienen einzelne Manager mittlerweile bis zu 60Millionen im Jahr, und verschiedene Unternehmerfamilien verfügenüberzweistelligeMilliardenvermögen.Vielleichtsolltemaneinmalaus-rechnen,wievielhunderttausendArbeitslosenfamiliensiedavonjährlichalleinmitihrenZinsenmiternährenkönnten.

    WerdiesenZustandnoch fürvereinbarmitdemGrundgesetzhält,dasunser Land als einen „demokratischen und sozialen Bundesstaat“ be-zeichnet,dermusswirklicheineigentümlichesVerhältniszurWirklich-keitundeinennocheigentümlicherenBegriffvonGerechtigkeithaben.

    Begriffe begreifen

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  • „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, so lautete einmal die Parole derbürgerlichen Revolution. Mit der Gleichheit scheint es jedoch schwie-rigerzuseinalsangenommenwurde.

    NachdembürgerlichenGesetzsindzwaralleMenschengleich,aberinderPraxisistdavonwenigzuspüren.EinfranzösischerSchriftstellerhateinmal festgestellt: „Unser Gesetz behandelt alle gleich. Es verbietet den Armen wie den Reichen, unter unseren Brücken zu schlafen!“

    Deshalb ist es bis heute eine ungelöste Aufgabe geblieben, diesenAnspruchzuverwirklichen.AuchbeiunshateseinmaleinepolitischeBewegung gegeben, um die Gleichheit zu verwirklichen. „GleicheChancen für alle!“ forderten die damals regierenden Parteien in ihrerBildungspolitik.DamalsbesuchtennurrundsechsProzentderArbeiter-kindereineHochschule,obwohldieArbeiterschaftnocheineMehrheitinderBevölkerungdarstellte.

    „Gleichheit“

    Das Falschwörterbuch

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  • HeutehatsichtrotzzwischenzeitlicherErfolgeandieserZahlnichtvielgeändert.DennmittlerweileistdieöffentlicheMeinungumgeschwenkt.Jahrelang malten konservative Politiker das Gespenst einer „sozialis-tischen Gleichmacherei“ an die Wand, bis Bildung auch in der öffent-lichenMeinungwiederalseinVorrechtfürauserwählte>Elitenbegriffenwurde.

    Heute hat sich die Meinung durchgesetzt, dass sich „Leistung wiederlohnenmuss“.VonGleichheitistschonlangekeineRedemehr.ImGegen-teil, selbst die Gerechtigkeit steht auf dem Prüfstand. Gegenwärtigbereiten unsere Politiker die öffentliche Meinung darauf vor, dass derBegriff Gerechtigkeit heute „neu definiert werden“ müsse! Auf dasErgebnisdieserDefinitionsbemühungendarfmangespanntsein.

    Vielleicht wird Gleichheit nach dieser Gerechtigkeitsdebatte ja zukünftigdarinbestehen,dassesWenigengleich gutundVielengleich schlechtgeht! Allzu abwegig ist diese These jedenfalls nicht, wenn man genauhinhört.

    Begriffe begreifen

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  • Dashörtsichdochrichtigrundan,oder?DadenktmanandieGlobus-kugeln auf dem Schrank des ehemaligen Klassenzimmers, die man abundzumalrotierenließ,umauchentlegeneWeltgegendenzuerkunden.

    Sogemütlichgehtesleidernichtzu,wennheutevonGlobalisierungdieRedeist.EsistvielmehreinkünstlichgeschaffenerBegriff,derdieAus-dehnung der Marktwirtschaft auf die ganze Welt bezeichnen soll. Dieswurde erst mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Welthälfte zuBeginnder90erJahremöglich.

    Einige neoliberalen Ideologen verkündeten damals das „Ende derGeschichte“.Damitwolltensiedeutlichmachen,dassdieZeitderAus-einandersetzungzwischendenSystemenbeendetistundnundasPara-diesaufErdenverwirklichtwerdenkann.Darausistnichtvielgeworden,wiewirheutebereitswissen.

    „Globalisierung”

    Das Falschwörterbuch

    46

  • Mit Hilfe teilweise massiver Einflussnahme durch den InternationalenWährungsfond(IWF)wurdenLänderderehemaligenDrittenWeltunddernun zugänglichen Ostblockländer mehr oder weniger gezwungen, ihreWirtschaft den Regeln der Marktwirtschaft anzupassen. Anders warenFördermittel des IWF nämlich nicht zu bekommen. Einige Länder, wiezum Beispiel Argentinien, sind durch diese Einflussnahme finanziellruiniertworden.InsbesondereinSüdamerikawächstdeshalbeinzuneh-menderWiderstandgegendieneoliberaleWirtschaftspolitik.

    Einige ehemalige Ostblockländer machten sich selbst daran, ihre Vor-stellung einer „freien Marktwirtschaft“ zu verwirklichen. InsbesondereinRusslandbeganneinemehrjährigeZeit,indersicheinzelnePersoneneinen geradezu unermesslichen Reichtum zusammenrafften. Und auchinDeutschlandwurdedieehemaligeDDR„privatisiert“.Dasheißt,dassdasganzeLandmitseinemVolksvermögen(Immobilien,Firmen,Liegen-schaftenusw.)anReiche–meistausdemWesten–verkauftwurde.Undda auf diesem Wege von dem ehemaligen Volksvermögen nichts mehrübrig geblieben ist, muss der deutsche Steuerzahler nun den „AufbauOst“bezahlen.

    Globalisierung heißt also richtig: „Weltweite Durchsetzung der Markt-wirtschaft“. Damit werden nationale Wege einer eigenständigen Wirt-schaftsform weitgehend verhindert und manche Nationen in den Ruinoder inneueAbhängigkeitengezwungen.Ökonomenhaben fürdiesenVorgang ein Fachwort, nämlich „Imperialismus“. Das hört sich zwarnichtsogemütlichan, trifftaberdengegenwärtigenZustandrichtiger.EinParadiesaufErdenistdasjedenfallsnicht.

    Begriffe begreifen

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  • Es ist eine Grundanforderung an jede Gesellschaft, dass sie sich anhumanen,alsoanmenschlichenRegelnorientiert.SogardiealtenSkla-venhaltergesellschaften haben schon Regeln aufgestellt, nach denendieversklavtenMenschenzubehandelnwaren,umsiearbeitsfähigzuerhalten.

    HeuteistnatürlichdieHumanitätvielweiterentwickelt.„DieWürdedesMenschen ist unantastbar“, heißt es in unserem Grundgesetz. DamitsindalleMenschengemeint,auchdieArmen,dieKranken,dieBehin-derten,dieAltenusw.

    DeshalbisteseinunfassbarerVerstoßgegenunserGrundgesetz,wennheuteeinangehender JungpolitikeraltenMenschendasRechtabspricht,menschlichbehandeltzuwerden.SiesollennachseinerMeinungkeinenotwendigeHüftgelenksoperationmehrbekommen,weildasnurunnö-tigGeldkostet.DieJugendkönnediesesGeldvielbessergebrauchen,meinterwohl.

    DieAltenhabenaber inderRegel ihrLebenlanggearbeitetundsomitaucheinLeben langfleißigSteuernbezahlt,z.B.auchzurFinanzierungihrer Altersversorgung und für die Schulbildung der Jugend. Das kannmanvondenJungennochnichtbehaupten,siehabenbishermeistnurGeldgekostet.

    Dieses Geld könnte doch viel besser angelegt werden, oder? Weshalbsollte eine Gesellschaft Jugendliche großziehen, die möglicherweise auf-grund fehlender Arbeitsplätze auch noch als Erwachsene nur unsersauer verdientes Geld kosten? Wäre es da nicht viel sinnvoller, dieseJugendlicheneinfachihremSchicksalaufderStraßezuüberlassen,wiees in vielen Ländern der so genannten dritten Welt tatsächlich der Fallist? Unsere Medien rüsten bereits zu einem „Krieg der Generationen“.Dannwirdesauchbaldwiedersoweitsein,dassunsereGesellschaftüber„unwertesLeben“diskutiert,wieesimNationalsozialismusderFallwar.

    „Humanität“

    Das Falschwörterbuch

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  • Einhumane,menschlicheGesellschaftmussalsoauchheuteimmerwiederneuerkämpftwerden,z.B.gegenWirtschaftsideologen,dieMenschennurdannalsMenschengeltenlassen,solangesie„etwasleisten“.SovielHumanitätgabesbereitsindenSklavenhaltergesellschaften!

    Begriffe begreifen

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  • Soziologenhabenfestgestellt,dasssichunsereGesellschaftimmer weiter individualisiert.Das heißt, dass immer mehrMenschen allein leben undsichvonbestehendenOrgani-sationen – Kirchen, Parteien,Verbändenusw.–verabschie-den. Das Reich der individu-ellenFreiheitwirdalsoimmergrößer.

    Naschön,wirdmanchersagen,wenn jeder für sich selbstsorgt,istdochfürallegesorgt!Schön wärs, aber die Wirk-lichkeit sieht anders aus. Mitder zunehmenden AuflösungderZusammengehörigkeitver-schwinden auch die gemein-samensozialenWerte,dieunserLandeinmalzusammengehaltenhaben.Wasübrigbleibt,istderpureEigennutz–aufKostenanderer.

    IndenBlütezeitenderneoliberalen„Freiheits“-Ideologenfuhrenindeut-schenGroßstädtenschwarzeEdellimousinenherummitdemAufkleber:„EureArmutkotztmichan!“Schadeeigentlich,dassdiesewirklichehr-licheAussagemittlerweileausdemStraßenbildverschwundenist. SovielindividualistischeEhrlichkeitkönntenwirheutegutgebrauchen.

    Die Privatisierungs- und Deregulierungspolitik der letzten Jahre hatnämlich mittlerweile bald die letzten Reste unseres sozialen Gemein-wesensanprivateUnternehmenverscherbeltunddamitdeneinzelnen

    „Individualisierung“

    Das Falschwörterbuch

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  • Bürger gezwungen, individuell „mehr Eigenverantwortung zu tragen“.Bildung,Gesundheit,Energie-undAltersversorgungusw.sindnurnochdenjenigenohneEinschränkungmöglich,dieesbezahlenkönnen.Undwer da nicht mehr mithalten kann, der sollte wissen, was die anderenvonihmhalten.

    Vielleicht könnte das wenigstens dazu führen, dass die Verlierer inunseremReichderFreiheitendlichwiedersolidarischzueinanderfindenundgemeinsamihreInteressenvertreten.Siesindnämlichkeineindivi-duellenEinzelpersonen,sondernmittlerweilezueinemunübersehbarenMillionenheer angewachsen. Der Armutsbericht der Bundesregierungweistaus,dassrundeinViertelunsererBevölkerungalsarmzubezeich-nen ist, und der größte Teil des Restes hat auch nicht viel mehr. VonsovielArmutmöchtenwohlauchdieBesitzerschwarzerEdellimousinenheutenichtmehr„angekotzt“werden.Verständlichalso,wennsieihrenAufkleberheutenichtmehröffentlichspazierenfahren...

    Solangeaberdie Individualisierten in immergrößererZahlzuhauseblei-ben, wenn es darum geht, eine andere Politik zu wählen, wird sichwohl auch nicht viel ändern. Die Reichen sind zwar in der Minderheit,aber offenbarnichtnur reicher,sondernauchklüger. IhregemeinsamenInteressenvertretensie jedenfallsgutorganisiertunddeshalbäußersterfolgreichgegendenganzenRestderindividualisiertenBevölkerung!

    Begriffe begreifen

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  • Innovationklingtsympathisch.InnovationensindmeisttechnischeNeue-rungen, Erfindungen, die die Produktion revolutionieren. Von derDampfmaschinebiszumOttomotor,vomTelefonbiszumPCfindenwirinderTechnikgeschichteunzähligeInnovationen.

    Zur Durchsetzung einer Innovation muss oft die Produktionsweiseverändertwerden.Kurz: technischeErfindungensindkeineanonymenMächte, sondern die Gesellschaft entscheidet, welche Innovation inwelchem Maße sie akzeptiert und welche sie verwirft. So sollte eseigentlichsein,abermeistentscheidenalleindieKapitalbesitzer!

    AberauchdieInnovationfürsichbetrachtetwirftProblemeauf.Allgemeingesagt:DiemeistenInnovationenzielennuraufMarktanteile,dieeszueroberngilt.WennMedikamentenichtbezahltwerdenkönnen,werdensie auch nicht „entdeckt“. Damit ist die Nachfrage der sogenanntenDritten Welt gemeint, aber auch die Nachfrage von Minderheiten inunsererGesellschaft.StattalsoetwasNeueszuentwickeln,verdoppelnvieleInnovationennurdenbestehendenWarenbestanddurchgleichartigeProduktemitanderenNamen.

    Oft löst auch eine technische Erfindung zwar ein Problem, aber alsNebenwirkung tritt ein neues auf, das wiederum durch eine weiteretechnische Innovation behoben werden muss, wodurch leider andereNebenwirkungenentstehenusw.DurchdenDruckderKonkurrenzisteskaummöglich,dieseKettezuunterbrechen.

    Immer wieder berichten Fachzeitschriften von Innovationen, die jah-relang verschleppt wurden, weil sie den regelmäßigen Profit gestörthätten, etwa den FCKW-freien Kühlschrank oder das Entwickeln vonMotoren, die weniger verbrauchen oder die mit Wasserstoff fahrenkönnen.

    „Innovation“

    Das Falschwörterbuch

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  • Innovationenmüssendeshalb immerdaraufhinüberprüftwerden,wel-chen Gewinn sie für die Gesellschaft erbringen und nicht nur für Kapi-talbesitzer.

    Begriffe begreifen

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  • Leistungmusssichwiederlohnen!SolautetederSlogan,mitdemeineunserer großen „Volksparteien“ die Bevölkerung davon überzeugenwollte,dassReiche–alsounsere„Leistungsträger“–kaumnochSteuernbezahlensollten,weilsichjasonstihreLeistungnichtmehrlohnt.

    Da drängt sich natürlich die Frage auf, welche Leistung die Reicheneigentlich für ihren Reichtum erbringen. Sicher haben sie irgendwasgeleistet, sonst wären sie nicht reich. Viele haben sich zum Beispieleinen Wohn- oder Firmensitz in einem Steuerparadies geleistet, damitsichihreLeistungauchwirklichlohnt.Anderesindzwarhiergeblieben,aber sie haben die Politiker davon überzeugt, dass sie leider keineArbeitsplätzeschaffenkönnen,wennsieSteuernbezahlensollen.Einsgehtnur,dasmussmandocheinsehen.

    Die Firma Siemens beispielsweise hat jahrelang so gut wie gar keineSteuern mehr abgeführt. Offenbar brauchte sie das Geld dringendals Schmiermittel in ihren zahlreichen Korruptionsaffairen, die heutebekannt geworden sind. Und als Gegenleistung für die eingespartenSteuernhatdieFirmaindergleichenZeit tausendevonArbeitsplätzenabgebaut.DieseLeistunghatsichalsowirklichgelohnt!

    AndereFirmenwieNokiahabendieehrlichgezahltenSteuergelderdesRestes unserer Bevölkerung geschenkt bekommen, damit sie bei unsArbeitsplätzeschaffen.Dashabensieauchgetan,bisdieSteuergelderaufgebraucht waren. Wenige Tage später haben sie ein anderes Landgefunden, dessen Steuergelder sie sich einverleiben können. Da kannmanhaltnichtsmachen,habenmittlerweiledieGerichtedenempörtenBürgernbescheinigt.

    AuchindenBankensindhochkarätigeLeistungsträgertätig.Siehabendas von den Arbeitnehmern mühsam erwirtschaftete Volksvermögenin windige Aktiengeschäfte gesteckt, um damit noch mehr Kapital zuerwirtschaften. Diese Leistung hat sich leider nicht gelohnt, wie wir

    „Leistungsträger”

    Das Falschwörterbuch

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  • heute wissen. Die erworbenen Aktienoptionen haben nur noch Alt-papierwert, und so sind mehrere Milliarden Euro verspielt worden. Fürden Schaden dürfen nun die Steuerzahler aufkommen, und zu denengehörenbekanntlichnurdieNichtreichen.

    Aufgrund dieser Leistungen unserer Leistungsträger werden die Rei-chenimmerreicherundderRestderBevölkerungimmerärmer.DarumsollauchunserSozialsystemabgebautwerden.DennwenndieReichenkeineSteuernmehrzubezahlenbrauchenunddieArmenkeineSteuernmehrbezahlenkönnen–ja,wosolldenndadasGeldfüreinfunktionie-rendesSozialsystemherkommen?

    Begriffe begreifen

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  • Nicht nur Unternehmer fordern heute eine Senkung der Lohnneben-kosten,sondernauchmancheBeschäftigte.OffenbarsindsiederMei-nung, dass damit ihre Löhne – also ihre Existenzgrundlagen – bessergesichert werden. Die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus. DazumußmansichdenBegriffgenaueranschauen.

    LohnnebenkostensindderFinanzierungsanteilderUnternehmenandersozialen Sicherung der Beschäftigten, also an ihrer Renten-, Gesund-heits- und Arbeitlosenversicherung. Aus rein betriebswirtschaftlicherSichthandeltessichhieralsoumKostenfürdasUnternehmen.Ausgesell-schaftlicher Sicht sind diese Kosten aber der Anteil der UnternehmenamSozialsystem.WerdiesenAnteilsenkenwill,willerreichen,dassdieArbeitnehmerihresozialeSicherungbeiKrankheitundimAlterweitge-hendodervölligselbstbezahlen.

    Die gegenwärtige Politik setzt diesen Sozialabbau bereits seit Jahrenpraktischum.DurchdenAbbauderLeistungenimGesundheitswesen,bei der Arbeitslosenunterstützung und bei der RentenfinanzierungwerdenfürdieUnternehmendieLohnnebenkostengesenkt.UndfürdieBeschäftigten wird ihre soziale Sicherung immer teurer. Schon heutekönnensichvieleFamilienimKrankheitsfallenurnochdieallernötigsteGrundversorgungleisten.

    SenkungderLohnnebenkostenmussalsorichtigheißen:Umverteilungunseres Volksvermögens in private Unternehmertaschen durch AbbauunseresSozialsystems.Wersoetwasfordernwürde,könnteabersichernichtmitöffentlichemBeifallrechnen.AlsomussmandieseForderungebensobenennen,dasssiekaumjemandrichtigversteht.Danngeht’s!

    Die Auswirkungen dieser Umverteilung nehmen heute bereits drama-tische Auswüchse an, die aber auch kaum jemand richtig begreift.WährenddieUnternehmereinkommenseitrundzwanzigJahrenständigsteigen und verschiedene Unternehmerfamilien Privatvermögen von

    „Lohnnebenkosten“

    Das Falschwörterbuch

    56

  • mehreren Milliarden Euro angehäuft haben, sind mehrere MillionenArbeitnehmer-Haushalte überschuldet, sie werden also bis an ihrLebensende von diesem Schuldenberg nicht mehr herunter kommenkönnen.SchöneneueWelt!LeidernurfüreinpaarWenige.

    Begriffe begreifen

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  • Unsere Gesellschaft wird zunehmendnicht mehr von Politikern, sondern vonMarktgesetzenregiert.Zumindestenswei-senunserePolitikerimmerwiederdaraufhin, dass es zu den Marktgesetzen„keine Alternative“ gibt. Da fragt sichbereitsmancher,wozuwirsieeigentlichbrauchen–nichtdieMarktgesetze,son-derndiePolitiker.

    Aber was sind eigentlich diese geheim-nisvollen Marktgesetze? Ganz einfach,wereinenMarktplatzkennt,kenntauchdie Marktgesetze. Dort bieten vieleHändlerihreWarenan,undwerzuteuerist,beidemwirdnichtgekauft.Deshalbmüsste eigentlich alles immer relativbillig bleiben, denn wer am billigstenverkauft, verkauft am meisten und dieanderennichts.

    Genauso einfach sind die Marktgesetzeauf der Seite der Käufer. Wenn vieleKäufer über viel Geld verfügen, könnensie entsprechend viel kaufen, wenn siewenig Geld haben, können sie entspre-chendwenigkaufen.Leideristvondiesen„Gesetzen“ nicht mehr das geringste zubemerken. Alles wird immer teurer unddie Käufer werden gleichzeitig immerärmer.IrgendetwasstimmtalsonichtandiesenMarktgesetzen.

    „Marktgesetze“

    Das Falschwörterbuch

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  • Dasistauchnichterstaunlich,denndasganzeBildstimmtnicht.UnsereWirtschaft funktioniertkeineswegswieeinGemüsemarkt. ImLaufederKonzentrationsprozesse der letzten Jahrzehnte sind so gut wie allekleineren Händler und Gewerbetreibende von immer weniger Großen„wegkonkurriert“ worden. Am besten lässt sich das am ehemaligenEinzelhandelverfolgen,dermittlerweilenurnochvonwenigenGroßkon-zernenbeherrschtwird.

    DieseKonzentrationsprozessehabensichinallenWirtschaftsbereichendurchgesetzt. InderEnergiewirtschaftsprichtmanbereitsvon„Kartel-len“,diedenMarktbeherrschenunddiePreisewillkürlichmiteinanderabstimmen können. Das wird von ihnen natürlich bestritten, aber derKunde weiß es besser. Auch die Benzinpreise werden auf geheimnis-volleWeiseanjedemUrlaubsanfangimmerteurer,obwohlnatürlichvonPreisabsprachenkeineRedeseinkannunddarf.Absprachensindauchgarnichtnötig,wennsichdieÖlkonzerneauchwortloseinigsind!

    SeitderGlobalisierungwirdnundieganzeWeltdiesengarnichtmehrfunktionierenden sogenannten „Marktgesetzen“ unterworfen. ImmergrößereKonzernebeherrschenweltweiteMärkte,aufdenenvoneinemhalbwegs ausgewogenen Verhältnis zwischen Angebot und Nachfragekeine Rede mehr sein kann. Wenn deutsche Käufer nicht mehr genugGeld haben, die Waren deutscher Konzerne zu bezahlen, dann werdensieebenimAuslandverkauft.UnddeshalbwarenwirindenletztenJah-ren>Exportweltmeister!

    Begriffe begreifen

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  • Die Konsumenten haben sich mittlerweile an diesen kleinen Zuschlagauf ihren Rechnungen gewöhnt. Ärgerlich ist nur, dass dieser klei-ne Zuschlag im Laufe der Zeit immer höher wird. Etwas anderes istaber eigentlich noch sehr viel ärgerlicher. Das muss man aber erstherausfinden.

    Bekanntlich produzieren die Wirtschaftsunternehmen aufgrund der ArbeitihrerMitarbeitereinenMehrwert,ausdemsiedannihrenGewinnschöp-fen. Wenn dem nicht so wäre, gäbe es für keinen Kapitalbesitzer einenvernünftigen Grund, sein schönes Kapital in eine hässliche Fabrik zustecken,anstattesinSausundBrauszuverjubeln.

    Wie dieser Mehrwert genau entsteht, darüber gibt es komplizierteTheorien.Sovielistabersicher:EinfertigesAutoz.B.istmehrwertalsdieSummeseinerTeile,sonstkönnteeskeinenGewinnabwerfen.AußerdiesenTeilenistdemProduktabernurnocheineshinzugefügtworden,nämlichdieArbeitskraftderBeschäftigten.Diesinddafürentlohntwor-den,undihrLohnistimPreisdesProduktsbereitsenthalten.

    Das Produkt muss aber trotzdem noch mehr Wert enthalten als dieSumme seiner Teile und der aufgewendete Arbeitslohn, denn sonstkönnte ja immernochkeinGewinndabeiherausspringen.Dieser rechtgeheimnisvolle Mehrwert kann also nur entstanden sein, wenn dieBeschäftigten noch mehr Wert produziert haben, als ihnen durch denLohnvergütetwurde.

    Undso istes inderTat.Umdasallerdingsgenauzubelegen,müssenkomplizierteBerechnungenangestelltwerden,dieindieserkurzenFormnicht möglich sind. Wir können uns an dieser Stelle damit begnügen,erfreutfestzustellen,dassesbishernochkeinemWirtschaftstheoretikertrotz aller ernsthaften Bemühungen gelungen ist, das Gegenteil zubeweisen.

    „Mehrwertsteuer“

    Das Falschwörterbuch

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  • Die Regierungen der großen Industrienationen haben sich also vorJahren einmal dazu durchgerungen, diesen zwar schwer ausfindig zumachenden,abertrotzdemaugenscheinlichvorhandenenMehrwertmiteiner Steuer für die Unternehmen zu belegen, da er ja bekanntlich dieQuelleallenReichtumsist.DerBegriffMehrwertsteueristalsokeinideolo-gischerBegriff,sondernerbeschreibterfreulichklargenaudas,wasermeint.

    Die Unternehmen haben jedoch für dieses Problem, dass sie nun eineMehrwertsteuer bezahlen sollen, eine verblüffend einfache Lösunggefunden: Sie setzen seitdem diese Steuer schlicht und einfach aufdieRechnung!Dastunsiezwarmit ihrenanderenSteuernletztendlichauch, aber hier weisen sie die Käufer ausdrücklich darauf hin. Und sokommtes,dassheutedieVerbraucher–alsowiralle–auchnochdieMehrwertsteuerfürdieUnternehmenbezahlen...

    AberwarumschreitetdenndaderGesetzgebernichtein,wirdsichjetztmancher fragen. Ja, warum eigentlich nicht? Ganz einfach: Dem Staatkann es letztlich egal sein, wer diese Steuer bezahlt, wichtig ist nur,dasssiebezahltwird.UndsolangedasalleBeteiligtenwiderspruchslosmitsichanstellenlassen,istdochallesinOrdnung,oder?

    Natürlich kann sich der Einzelne gegen diesen unfassbaren ZustandalleinnichtzurWehrsetzen.DashättelediglichzurFolge,dassihmdieProduktedannebennichtverkauftwürden.Gegenwehristnurpolitischmöglich, indem zum Beispiel Steuern nur an der Quelle abgeschöpftundnichtaufAndereübertragenwerdendürfen,wieeshierderFallist.Aber politische Lösungen werden erst dann sichtbar, wenn sich eineBevölkerungsmehrheitendlichfürihreeigenenInteresseneinsetzt.

    Begriffe begreifen

    61

  • 62

    Das Falschwörterbuch

    „Mitte“

    Unsere großen so genannten Volksparteien erheben den Anspruch, die„Mitte“ unserer Bevölkerung zu vertreten. Das hört sich auf den erstenBlickganzeinsichtigan,dennParteien,diesichselbstzu„Volksparteien“ernannthaben,können jakeineextremenAußenseiterpositionenvertre-ten,wennsiemehrheitlichgewähltwerdenwollen.

    Andererseits müssen mit diesem Begriff bestimmte Wählerschichtenangesprochenwerden,dennsiesollenjafürdienötigeStimmenmehrheitsorgen.Weroderwasistdasalso,diese„Mitte“?ZunächstistdaandiesogenannteMittelschichtzudenken.EsistderjenigeTeilderBevölkerung,dersichzwischendenReichenunddenArmenbefindet.DieZugehörigkeitzudieserSchichtwirdstatistischaneinemmittlerenEinkommengerech-net,hinzukommennochGruppen,diezwardarunterliegenkönnen,aberaufgrundihresBildungsstandsoderihresgesellschaftlichenStatusdazuzählen.

    Nunzeigtsichaber,dassdiesetraditionelle„Mittelschicht“sogarnichtmehrauszumachenistundauchnichtübereinegemeinsamepolitischeOrientierung verfügt, wie es in der Vergangenheit teilweise einmal derFall war. In der Soziologie wird diese Entwicklung als ein zunehmendesAuseinanderdriften unterschiedlicher „Milieus“ beschrieben. Es äußertsich zum Beispiel in der wachsenden Ablösung von gesellschaftlichenGroßinstitutionenwieKirchen,ParteienundVerbändenundinderzuneh-mendenIndividualisierungderpersönlichenLebensgestaltung,derWerteundNormen.AuchökonomischbefindetsichdieehemaligeMittelschichtineinemProzessderAuflösung,zumBeispieldurchdasAbsinkenausderSelbständigkeit ehemaliger kleiner Handwerks- und Gewerbebetriebe inabhängigeBeschäftigungsverhältnisseodergarindieArbeitslosigkeit.

    DerBegriff„Mitte“bezeichnetalsoimmerwenigereinebestimmte,ehe-malsrechtgroßeGruppe.ZählteinIndustriearbeiterheutevielleichtdes-halbzurMitte,weilereinenArbeitsplatzhat,währendMillionenanderer

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    Begriffe begreifen

    dasHeerderArbeitslosenausmachen,dienichtzurMittegezähltwerden?OderfängtdieMitteerstbeidenhöherenAngestelltenan?EinebestimmteWählerschichtistmitdieserMittealsonichtausfindigzumachen.

    Wie kommt es dann, dass die selbsternannten Volksparteien diesegeheimnisvolle „Mitte“ immer dringender beschwören? Mit der realengesellschaftlichenSituationderBevölkerunghatdasoffenbarwenigodernichtszutun,esmussandereGründehaben.„Mitte“hörtsichzunächsteinmal ein wenig heimelig und gemütlich an. Wer möchte nicht dazugehören, mittendrin möglichst? Je schärfer die Gesellschaft in Arm undReichgespaltenwird,umsomehrsehnensichvielenacheinerwieauchimmer gearteten „Mitte“. Und wenn eine Partei verspricht, diese Mittezuvertreten,danngehörtmangerndazu.NachderWahlwirdmanmeisteinesBesserenbelehrt,aberändernkannmanesnichtmehr.

    EinweitererGrundfürdasBeschwörender„Mitte“istdasBestrebenderselbsternanntenVolksparteien,andereParteieninsAbseitszudrängen.Wer Mitte sagt, meint die „Mehrheit“. Und wer möchte schon gern zuMinderheiten gehören? Minderheiten haftet ein Verlierer-Image an, einAußenseiterdasein. Mehr noch: Politisch wird eine Außenseiterpositionschnellundgernals„Extremismus“gebrandmarkt.Dortversammelnsichdie Utopisten oder Ewiggestrigen, die die Realitäten nicht zur Kenntnisnehmenwollen,kurz–dieSpinner.

    „Mitte“istalsoeinwahltaktischraffiniertausgeklügelterBegriff,umdenWählernzusuggerieren,nurimSchoßderMehrheitsichervorextremenVeränderungenseinzukönnen.Erbietetsoetwaswieeine„Heimat“an.Alle anderen politischen Positionen werden damit ausgegrenzt und insgesellschaftlicheAbseitsgeschoben.„DieMitte“isteinzentralerBegriffder politischen Indoktrination und Ideologie gegen notwendige gesell-schaftlicheVeränderungen.

  • „Neo“ heißt neu, „liber“ heißt frei. Das Wort bedeutet also so etwasähnlicheswie„NeueFreiheit“.Liberalistjemand,deralleAnderennachihreneigenenWünschenlebenlässtundihnennichtsaufzwingenwill.NeoliberalismusistalsoetwassehrErstrebenswertes,oder?

    Leider bedeutet dieser Begriff aber etwas ganz anderes. Es ist einerder zentralen Kampfbegriffe der modernen Wirtschafts-Ideologen, mitderenHilfesieunseregesellschaftlicheWirklichkeitunkenntlichmachenwollen.Umdasherauszufinden,mussmansichdiesenBegriffgenaueransehen.

    Wie jeder weiß, leben wir in der sogenannten Freien Marktwirtschaft.Das ist natürlich auch ein ideologischer Begriff. Unsere Wirtschaft istschließlichdieLebensgrundlagedergesamtenBevölkerung.Wersiefürfreierklärt,willdamiterreichen,dassunsereGesellschaftkeineRechteanihrhat,sonderndassnurdieKapitalbesitzerinderWirtschaftalleinbestimmen.DiesinddannfreiinihrenEntscheidungenundmüssenaufdiearbeitendeBevölkerungkeineRücksichtnehmen.Undsoistesheuteweitgehendauch.

    Deshalb ist es das Ziel jeder demokratischen Gesellschaft, demokra-tischeGesetzeauchinderWirtschaftdurchzusetzen,zumBeispieldurchBetriebsverfassungs-undArbeitsschutzgesetze.Eshatsichnämlichinder Vergangenheit gezeigt, dass die Menschen sonst unter unmenschli-chenBedingungenihrtäglichesBrotinderWirtschaftverdienenmüssen.

    Diese Arbeitnehmer-Schutzgesetze sollen nach dem Willen der Kapital-besitzerwiederabgebautwerden.IhrArgumentlautet,dassdurchdieseGesetze ihreeigene > Freiheiteingeschränktwürde.Somusses ineinerdemokratischen Gesellschaft auch sein, damit nicht nur einige ReichevonunseremWirtschaftssystemprofitieren!

    „Neoliberalismus“

    Das Falschwörterbuch

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  • Damit die Masse der Bevölkerung diese Forderung der Wirtschafts-ideologenmöglichstnich