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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch Über das sichere Herkunftsland Bosnien-Herzegowina
Autor und Regie: Rainer Schwochow Redaktion: Karin Beindorff Produktion: Dlf/Eigenproduktion 2017 Erstsendung: Dienstag, 30.05. 2017, 19.15 Uhr
Autor Frank Arnold Sprecher 1 Joachim Schönfeld Übersetzerin 1: Melina Cathlen Gawlich Übersetzerin 2: Larisa Nadja Schulz-Berlinhoff Übersetzerin 3: Begzada Anja Antonowicz Übersetzer 1: Dervo Sejdic Axel Wandtke Übersetzer 2: Ernad Maximilian Held
Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
© - unkorrigiertes Exemplar
2
2
Autor
Im Herbst 2016 finde ich in meinem Briefkasten einen Umschlag. Der Absender ist
anonym.
Musik
Ansage:
„Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“
Über das sichere Herkunftsland Bosnien-Herzegowina
Ein Feature von Rainer Schwochow
Autor
Wer hat es mir zugeschickt? Und vor allem – weshalb? Will mich jemand
aufmerksam machen auf ein Thema, das ihm auf den Nägeln brennt?
Diese Fragen gehen mir durch den Kopf, als ich das Papier lese.
Sprecher 1
Auswärtiges Amt.
Bericht im Hinblick auf die Einstufung von Bosnien und Herzegowina als sicheres
Herkunftsland.
Autor
Ich bin kein Spezialist für „Sichere Herkunftsländer.“ Gut, ich war zweimal in Bosnien
und habe die Geschichte einer Flüchtlingsfamilie recherchiert. Und ich war in
Afghanistan. Kurz nach meiner Rückkehr begann die Debatte darüber, ob das Land
am Hindukusch ‚teilweise als sicher‘ gelten könne. Was ich nun lese fällt deshalb auf
fruchtbaren Boden. Nach einer kurzen Suche im Internet finde ich denselben Bericht
des Auswärtigen Amtes - diesmal in einer jedem zugänglichen Variante. Im
Gegensatz zu dem mir zugeschickten Papier sind hier allerdings viele Stellen hinter
einem schwarzen Balken verborgen. So wie diese:
Sprecher 1
Punkt 2, Absatz 1. Asylrelevante Tatsachen: Staatliche Repressionen
Das weiterhin vorhandene Misstrauen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen
spiegelt sich, je nach örtlicher ethnischer Konstellation, auch im Verhältnis der
3
3
Staatsgewalt zu den Bürgern wieder. Dies kann im Verwaltungsalltag, insbesondere
auf Ebene der Gemeinden, zu gezielten Benachteiligungen bei Beschäftigung führen.
Dazu zählen z.B. die Besetzung von Stellen im Verwaltungsbereich nach ethnischen
Kriterien.
Autor
Offenbar soll die Öffentlichkeit nicht erfahren, was das Auswärtige Amt über den
Balkanstaat weiß. Ein Grund mehr, mich damit zu befassen. Zuerst finde ich eine
Stellungnahme des UNHCR – das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen – vom
Februar 2014:
Sprecher 1
„Zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Einstufung weiterer Staaten als
sichere Herkunftsstaaten“
Die deutsche Rechtslage genügt nicht europarechtlichen Vorgaben. Hinsichtlich der
Einordnung der genannten Staaten (Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Serbien)
als sicher - bestehen aus Sicht von UNHCR zumindest Zweifel.
Autor
Im Juli 2014 trat Innenminister Thomas de Maiziere ans Rednerpult im Deutschen
Bundestag.
O-Ton De Maiziere
Die Anhörung im Deutschen Bundestag hat unsere Einschätzung bestätigt, dass
diese drei Staaten als sichere Herkunftsstaaten angesehen werden können. Dort
drohen weder Verfolgung, noch Folter, noch unmenschliche Behandlung. Das gilt
auch in Bezug auf die Volksgruppe der Sinti und Roma.
Sprecher 1
Bericht des Auswärtigen Amtes zur Einstufung von Bosnien und Herzegowina als
sicheres Herkunftsland. Zusammenfassung: Angehörige der Roma sind in vielen
Belangen nach wie vor gesellschaftlich benachteiligt.
4
4
Autor
Ich suche Kontakt zu Roma aus Bosnien, die in Deutschland leben. Doch keiner
möchte etwas über seine Geschichte und seine Erfahrungen in ein Mikrofon
sprechen. Selbst wer kein laufendes Asylverfahren hat, scheint verängstigt. Kurz
entschlossen besteige ich im Januar 2017 das Flugzeug nach Sarajevo. Im Gepäck
das ungeschwärzte Dokument und ein paar Kontaktadressen.
O-Ton Melina
Übersetzerin 1
Ich bin natürlich keine typische Roma, oder besser gesagt, so, wie man sich in
Bosnien die Roma vorstellt. Die verbreitete Vorstellung ist, dass Roma nicht in die
Schule gehen, dass Romafrauen sehr jung heiraten. Aber ich bin zum Gymnasium
gegangen, habe studiert, also ich bin wirklich nicht typisch.
Autor
Visoko, eine halbe Autostunde von Sarajevo entfernt.
Melina Halilovic wollte mich unbedingt in einem Cafè treffen. In ihrem Büro sei es zu
eng, zu voll, zu ungemütlich.
O-Ton Melina
Übersetzerin 1
Generell ist es in Bosnien sehr schwer für Roma, weil sie überall diskriminiert
werden. Das beginnt mit Schimpfworten in der Schule. Du bist ein Zigeuner, du lebst
in einem Zigeunerhaus, du bist schmutzig und ähnliches. Das war für mich sehr
schwer, weil ich gar nicht so war. Als Kind von 8 oder 9 Jahren willst du sein wie alle
anderen, du willst spielen mit den anderen. Aber stattdessen musst du dir diese
Schimpfworte anhören. Heute arbeite ich mit Kindern, die immer noch die gleichen
Probleme haben. Aber die Diskriminierung kommt nicht nur von den andern Kindern,
sondern auch von den Lehrern.
Autor
Diskriminierung ist eines der Wörter, das ich in den folgenden Tagen andauernd
hören werde. Und ich stelle dann immer die gleiche Frage: Was bedeutet das genau
im Alltag?
5
5
O-Ton Melina
Übersetzerin 1
Lehrer richten eine extra Klasse für Romakinder ein. Das funktioniert ganz einfach:
Die Kinder von armen Leuten und Roma kommen in die eine Klasse, und die Kinder
von Eltern, die Geld haben oder was zu sagen, kommen in eine andere. Und
außerdem gibt es die sogenannte positive Diskriminierung. Die Lehrer sagen: Gut,
ich gebe dir eine bessere Note, damit du in die nächste Klasse kommst. Dann kommt
das Kind in die nächste Klasse, vielleicht sogar auf die höhere Schule. Und so kann
es passieren, dass dort ein Kind sitzt, das nicht richtig lesen und schreiben kann.
Autor
Zu Hause hatte ich Berichte über Asylverfahren gelesen. Immer wieder wurde vor
Gericht darüber gestritten, ob bloße Diskriminierung für eine Anerkennung als
Flüchtling ausreicht. Der Frankfurter Rechtsanwalt für Ausländerrecht Dr. Reinhard
Marx schreibt in einem Aufsatz:
Sprecher 1
Als Fluchtgrund werden ernsthafte Verletzungen der Menschenrechte anerkannt.
Das kann bei systematischer Diskriminierung der Fall sein.
O-Ton Melina
Übersetzerin 1
Natürlich ist das nicht nur die Schuld der Schule, sondern auch die der Eltern. Viele
Romaeltern respektieren die Schule nicht und schicken ihre Kinder einfach nicht hin.
In Bosnien gibt es auch Gesetze, dass die Kinder in die Schule gehen müssen. Und
eigentlich müssten die Eltern auch Strafe zahlen, wenn sie ihre Kinder nicht
schicken. Aber die Polizei möchte wegen solcher Dinge keinen Ärger haben. Das
interessiert sie einfach nicht. Sie finden es unwichtig.
Sprecher 1
Analyse des Auswärtigen Amtes, Punkt 2, Absatz 1.3: Asylrelevante Tatsachen
Roma können – auch im Vergleich zu Angehörigen anderer Minderheiten – in
verschiedenen Bereichen nicht auf ausreichende Unterstützung staatlicher Stellen
6
6
hoffen.
Autor
Es gäbe noch vieles vom Gespräch mit Melina zu berichten. Über ihren Verein „Be
my friend“, der Romakindern und Romafrauen im Alltag hilft. Der Fördergelder aus
dem Ausland locker machte für die Frauen; die wiederum mit dem Geld eine eigene
Kuh kauften, aus der Milch Käse erzeugen und diesen auf den Markt verkaufen.
Kurzum: die Frauen konnten die absolute Abhängigkeit von ihren Männern beenden.
Das alles erzählt viel über den Alltag von Roma in Bosnien. Aber Antworten auf
meine Fragen sind das eher nicht.
O-Ton Melina
Übersetzerin 1
Manche Leute sagen, es ist doch gar nicht so schlimm hier, die Menschen sollen hier
bleiben. Aber ich bin Realistin, ich sage, wer sein Glück im Ausland finden kann, dem
sage ich, versuch dein Glück.
Autor
Im vergangenen Jahr haben 60 bis 80.000 junge Menschen Bosnien verlassen. Sie
glauben nicht mehr an eine Verbesserung ihrer Lebensumstände durch die Politik,
an Gerechtigkeit, sie glauben nicht mehr daran, dass die EU in ihrem Land etwas
zum Besseren bewegen wird.
Ehe ich mich von Melina verabschiede, stelle ich eine letzte Frage:
Ob sie mir eines der typischen Romaviertel zeigen könne?
O-Ton/Atmo Melina
Autor
Adam hat seine Kindheit als Flüchtling in Deutschland verbracht. Jetzt begleitet er
mich im Auftrag von Melina zur Romasiedlung. Am Stadtrand verlassen wir die
Hauptstraße. Der Weg führt den Berg hinauf. Je höher wir fahren, desto tiefer werden
die Löcher.
Wir passieren einen Berg aus Schrott, hoch wie ein Wohnhaus. Rostige Stahlträger,
Fahrradrahmen, Eisenrohre, Drähte. Wir parken. Als wir aussteigen, versinken wir im
7
7
Schneematsch. Zwei Kinder kommen neugierig heran, bleiben in sicherem Abstand
stehen, beobachten den Eindringling. Müssten sie jetzt nicht in der Schule sein,
denke ich.
Ein paar Meter weiter tauchen hinter der geöffneten Motorhaube eines Autos zwei
Männerköpfe auf, nehmen uns ins Visier. Adam geht auf die Männer zu, ich
verstecke mein Mikrofon, sehe mich um.
Atmo Stimmen
Autor
Wie ein verendetes Tier liegt ein VW-Transporter umgekippt auf der Seite. Ein Mann
mittleren Alters schlägt mit einem gewaltigen Vorschlaghammer auf die Bodenplatte
ein. Auf der anderen Seite des Wegs stapeln sich Kühlschränke, Stühle, Fernseher,
Getränkedosen, Plastiksäcke, Spielzeug. Alles wird zerlegt und auf verwertbare
Bestandteile untersucht. Was übrig bleibt, landet auf dem meterhohen Haufen von
Müll. Dazwischen spielen Kinder. Fünf Häuser mit halbhohen Mauern aus Stein,
unverputzt. Darüber Konstruktionen aus roh zusammengenagelten Brettern. Obenauf
Plastikplatten als Dachersatz. Große, aufgelegte Steine dienen als Befestigung. Wie
viele Menschen mögen hier leben? Fünfundzwanzig? Dreißig? Mehr? Eine
Sperrholzbude, abgedeckt mit wehender Plastikfolie: die einzige Toilette für die
kleine Siedlung. Als ich das Mikrofon aus der Tasche hole, verschwinden alle
Bewohner so schnell, als sei ich eine Bedrohung.
Atmo Frau
Autor
In der Tür eines der Häuser erscheint eine Frau. Die schwarzen Haare akkurat zu
einem Zopf gewunden, dicke Watteweste, auf dem Arm ein Junge, zwei Jahre mag
er sein. Sie winkt mich heran. Ein Blick zu Adam, der nickt mir zu. Während er bei
den Männern bleibt, gehe ich unsicher die wenigen Schritte zu der Frau. Sie redet
auf mich ein. Ihre Worte verstehe ich nicht, aber ihre Geste lädt mich ins Haus ein.
Musik
8
8
Autor
Auf Strümpfen betreten wir einen Vorraum, eng wie eine Höhle. Ein Kocher, zwei
Flammen, gespeist aus einer rostzerfressenen Gasflasche. Ein Kühlschrank, rostig
auch er. Die Frau öffnet die Tür. Der Inhalt ist übersichtlich: eine Colaflasche, ein
Brot, Milch. Sie zeigt auf sich, dann zieht sie mit der Hand einen Kreis. Das ist für alle
hier, will sie mir wohl sagen. Das angrenzende Zimmer, vielleicht drei mal vier Meter
groß, hat keine Tür. Ein jahrzehntealtes Buffet, eine durchgelegene Couch, ein
Fernseher. Auf dem Fußboden ein verschlissener Teppich. Hier schlafen alle
zusammen, zeigt sie mir mit ihren Händen, Eltern, Großeltern, fünf Kinder. Dann
deutet sie auf ein Foto an der Wand. Ein Mann, vier Kinder, sie selbst auf einem
Spielplatz. „Njemačka“, sagt sie. „Tri puta“. Und noch einmal: „Njemačka“, und zeigt
auf sich. „Njemačka dobro.“ Ich ahne, was sie meint. Dreimal waren sie in
Deutschland. Nun sind sie wieder hier.
Neben dem Zimmer eine Kammer. Es ist unmöglich, hineinzugehen. Der Raum ist
Ablageplatz für Stoffreste, Kleider, Decken, Tüll, Bettzeug. Ein wirrer Haufen,
mannshoch. „Njemačka dobro“, Deutschland gut, sagt sie noch einmal und greift
nach meinem Arm.
Atmosphäre Stimmen, außen
Autor
Schweigend verlasse ich das Haus. „Hast Du genug gesehen?“, ruft Adam. Ich nicke.
Was soll ich auch sagen? Ein Gruß zum Abschied, plötzlich sind die Gesichter nicht
mehr abweisend. Oder bilde ich mir das nur ein? Wortlos besteigen wir das Auto.
„Das waren die, zu denen wir Kontakt haben“, sagt Adam drinnen. „ Es gibt Viertel, in
die gehen auch wir nicht hinein.“
Musik
Autor
Armut allein ist kein Grund für Asyl nach deutschem Recht. Doch dass Menschen
solchem Elend entkommen wollen, das versteht jeder. Und wenn sie dann nach
abgelehntem Asylantrag zurückkehren müssen und es ihnen noch schlechter geht
als zuvor? Und wenn das in auffallender Weise eine Minderheit im Land betrifft?
9
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Sprecher 1
Bericht des Auswärtigen Amtes, Punkt 2, Absatz 1.3., Asylrelevante Tatsachen
Besonders problematisch sind Fragen der Aussiedlung und Unterkunft. Als
Rückkehrer leben Roma häufig in provisorischen Siedlungen mit unzureichenden
Versorgungsverhältnissen und mangelnder Hygiene. Nach Erkenntnissen der
Botschaft werden Roma oftmals bei der Förderung durch staatliche Stellen
schlechter behandelt als andere Rückkehrer.
Stadtatmosphäre Tuzla
O-Ton Larisa (bosnisch)
Übersetzerin 2
Die meisten Roma leben in einem speziellen Romadorf. Es gibt ein Programm, das
den Roma hilft, Häuser zu finden oder Gebäude, in denen sie leben können. Aber die
meisten Besitzer wollen keine Roma in ihren Häusern haben bzw. sie wollen sie nicht
mal in der Nähe.
Autor
Tuzla, eine der größten Industriestädte im Norden des Landes. Larisa Kovacevic
finde ich in einem kleinen Büro gleich hinter dem Stadtzentrum. Wer ihr Büro
aufsucht, kommt vorbei an einem ausgebrannten Hochhaus. Vor drei Jahren
stürmten aufgebrachte Bürger das Verwaltungszentrum der Stadt und setzten es in
Brand. Es war der erste Ausbruch offener Gewalt nach dem Krieg. Viele Menschen
setzten große Hoffnungen in den sozialen Aufstand.
Atmo Proteste
Autor
Den Arbeitern der Stadt wurden ein paar Zugeständnisse gemacht, grundsätzlich
blieb alles wie es war. Für die Roma sowieso.
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O-Ton Larisa (bosnisch)
Übersetzerin 2
Die meisten Roma ernähren sich mit Schrottsammeln, da sagen die anderen
Menschen: Die stinken oder sie könnten eine Krankheit bekommen und deshalb
wollen sie sie einfach nicht in der Nähe haben.
Autor
Das Telefon klingelt. Larisa nutzt die Unterbrechung nach dem Gespräch, um heißen
Tee und ein Video über die Arbeit ihrer NGO zu holen. „Bessere Zukunft für
Romafrauen“, so heißt die Organisation.
O-Ton Larisa (bosnisch)
Übersetzerin 2
Es gibt viele Probleme. Die Roma leben im Durchschnitt kürzer als der restliche Teil
der Bevölkerung. Sie bekommen Krankheiten und sterben daran einfach, weil sie
nichts über diese Krankheiten und die Behandlungsmöglichkeiten wissen. Die
meisten Roma haben ja keine Krankenversicherung. Viele Ärzte verlangen, dass sie
sie sofort bezahlen. Eigentlich können sie auch ohne Krankenversicherung zum Arzt
gehen, aber wenn sie eine Operation brauchen oder wenn sie im Krankenhaus
bleiben müssen, da geht gar nichts mehr.
Autor
Kannst Du mir ein konkretes Beispiel erzählen, frage ich sie. „Kennen Sie nicht den
Film von Danis Tanovic?“ Sie meint den Film, der unter dem Titel „Aus dem Leben
eines Schrottsammlers“ bei der Berlinale den Silbernen Bären gewann. Er erzählt die
Geschichte eines Romapaares. Die Frau hatte eine Fehlgeburt. Für die
anschließende Behandlung sollte sie fast 1000 bosnische Mark bezahlen. Weil sie
das nicht konnte, wurde sie weggeschickt. Erst mit der Versicherungskarte der
Schwägerin wurde sie in einem anderen Krankenhaus behandelt. Nur durch einen
Betrug wurde ihr Leben gerettet.
O-Ton Larisa (bosnisch)
Übersetzerin 2
Das Problem mit der Krankenversicherung entsteht auf sehr einfachem Weg: Wenn
11
11
du arbeitslos wirst, dann hast du nur ein paar Tage Zeit, dich auf dem Amt zu
melden. Die meisten Roma aber melden sich nicht in dieser Zeit, und dann fällt die
Krankenversicherung weg. Darum kümmern wir uns, das ist eine unserer Aufgaben.
Aber wir können eben nur in Einzelfällen helfen. Das System können wir nicht
ändern.
Autor
Während Larisa erzählt, ändert sich ständig ihre Tonlage. Eben noch klingt sie müde
und resigniert, dann wieder sprüht sie vor Elan, springt auf, holt Unterlagen heran,
zeigt mir die Infobroschüre ihrer Organisation, berichtet von Erfolgen. Das Auf und
Ab gehört zu ihrem Alltag. Wie die Frage ihrer Finanzierung. Sie erhalten kein Geld
von der Stadt oder vom Staat, dafür Mittel von Care International und anderen
ausländischen Hilfsorganisationen.
Ein Gedanke kommt mir in den Sinn, den ich kaum auszusprechen wage:
Unterstützen diese Hilfsgelder den bosnischen Staat in seiner Ignoranz gegenüber
den Problemen der Roma, weil sich ja andere darum kümmern?
O-Ton Larisa (bosnisch)
Übersetzerin 2
Die Probleme beginnen schon damit, dass die Roma eine andere Hautfarbe haben.
Sie bekommen deshalb keine Arbeit, sie können nicht überall wohnen, weil sie keiner
dort haben will. Also es ist ein Gefühl der Unsicherheit im ganzen Alltagsleben,
sobald sie sich außerhalb ihrer eigenen Viertel bewegen. Es gibt für sie nur wenige
Arbeitsmöglichkeiten, außer eben das Sammeln von Schrott. Selbst wenn sie einen
Schulabschluss haben, es ist sehr schwer für sie, überhaupt eine Arbeit zu finden.
Schon gar nicht irgendwelche Stellen in öffentlichen Einrichtungen. Es ist einfach ein
Riesenproblem, dass man den meisten sofort ansieht, dass sie Roma sind. Dann ist
sofort die Diskriminierung da.
O-Ton Begzada
Übersetzerin 3
Ich hatte zwei Brüder, beide leben nicht mehr. Mein jüngerer Bruder ist an einer
Krankheit gestorben, als er noch ein Kind war. Der andere, der ältere, ist umgebracht
worden.
12
12
Autor
In Bijeljina, etwa 70 Kilometer nordöstlich von Tuzla, lebt Begzada Jovanovic.
O-Ton Begzada
Übersetzerin 3
Wir haben nie die genauen Umstände erfahren. Als mein Vater nach einem Jahr zur
Polizei ging, haben sie ihm gesagt, die Ermittlungen sind schon lange eingestellt.
Autor
Hatte die Polizei kein Interesse daran, den Mord aufzuklären, weil der Bruder ein
Rom war? Wer will das beweisen?
Wenn ein Flüchtling in Deutschland solche Geschichten erzählt, was denken die
Entscheider dann? Alles ausgedacht? Oder: Ein Einzelfall, der ja nicht den
Asylsuchenden selbst betrifft?
O-Ton Begzada
Übersetzerin 3
Es gab den Verdacht, dass derjenige ihn umgebracht hat, der ihn gefunden hat. Die
Polizei ist in sein Haus gegangen und hat alles durchsucht. Sie haben nichts
gefunden. Damit war der Fall für sie erledigt.
Autor
Mehr möchte Begzada darüber nicht erzählen. Wem würde es nützen, Vermutungen
anzustellen? So sei das hier in Bosnien. Die Behörden seien korrupt, darunter leiden
alle. Und die Roma eben mehr. Begzada wechselt schnell das Thema, weg von der
eigenen Geschichte, hin zur allgemeinen Lebenssituation der Roma.
Sie erzählen alle das Gleiche, denke ich. Warum nur vermeidet sie die konkreten
Beispiele? Hat sie Angst, jemanden zu beschuldigen? Könnte das Folgen für sie
selbst, für ihre Hilfs-Organisation haben? Sie scheint die Frage nicht zu verstehen.
Vielleicht will sie auch nicht verstehen.
Larisa in Tuzla immerhin hatte auf meine Frage geantwortet, wenn auch sehr vage.
13
13
O-Ton Larisa
Übersetzerin 2
Wir können fühlen, dass wir nicht sicher sind. Weil die Menschen hier immer noch
Negatives über die Minderheiten denken, über andere Religionen und so, und das ist
hier das größte Problem. Deshalb fühlen wir uns nicht sicher, nicht nur die Roma,
auch andere. Man kann das nur fühlen, das kann man nicht mit Tatsachen belegen.
Autor
Ich fahre zurück nach Sarajevo. Dort bin ich mit Dervo Sejdic verabredet. Er ist in
Bosnien eine Institution. Der Vater der Romabewegung gewissermaßen.
O-Ton Dervo Sejdic
Übersetzer 1
Dieser Staat ist - die meiste Zeit sagte ich - es ist ein Frankensteinstaat. Weil wir 13
Kantone, 13 Verfassungen, 13 Regierungen haben, wir haben so eine große
Administration. Wer kann das bezahlen? Niemand. Das ist der Grund, weshalb
Bosnien und Herzegowina die Kredite nur für die Bezahlung der Administration
verwendet. Nicht für die Entwicklung der Wirtschaft oder aller anderen Dinge. Warum
gehen die jungen Leute aus Bosnien weg? Sie beenden die Schule und dann finden
sie keine Arbeit. Sie können sich nicht regulär um einen Job bewerben. Weil wir
haben kriminelle bosnische Bosse in den Unternehmen.
Autor
Wir treffen uns im UNITIC-Business Center. Jene zwei Wolkenkratzer, die Mitte der
80er-Jahre errichtet wurden. Momo und Uzeir hießen sie im Volksmund, nach zwei
Figuren aus einer Comedy-Show im Radio. Der eine ein Bosniake, der andere Serbe.
Zu dieser Zeit, im alten Jugoslawien, lebten Serben, Kroaten, Bosniaken und all die
anderen Völker noch friedlich zusammen. Zusammen auch mit der Minderheit der
Roma. „Das war die beste Zeit für uns.“, sagt Dervo im einem Mix aus Englisch und
Bosnisch.
14
14
O-Ton Dervo Sejdic
Übersetzer 1
Bosnien ist kriminell und korrupt im gesamten Staatsapparat. Das ist das größte
Problem. Du hast Kriminelle und Korrupte in der Administration, in der Polizei, jeder
ist korrupt. Auch in den Medien ist vieles korrupt. Viele aus der Polizei, aus dem
Staatsapparat, aus den Unternehmen müssten ins Gefängnis wegen krimineller
Machenschaften. Und welche Folgen hat das? Natürlich, jeder denkt, dass das
Leben außerhalb von Bosnien besser ist als hier.
Autor
Dervo benötigt eine Zigarettenpause. Er schiebt das Mikrofon beiseite und erzählt ein
wenig über sich: Über seine Kindheit ohne Ängste und Ausgrenzung, in Visoko, der
kleinen Stadt nahe Sarajevo; über seine Arbeit als Polizist in Sarajevo vor und nach
dem Krieg, die eine gute Arbeit gewesen sei, ohne Diskriminierung, ohne Korruption.
Zumindest bis nach dem Krieg. Über seine Frau, die den Krieg nicht überlebte; über
seine Kinder, die er nach dem Tod der Mutter nach Deutschland und Holland
brachte, damit sie in Sicherheit aufwachsen könnten.
O-Ton Dervo Sejdic (bosnisch)
Übersetzer 1
Die Situation ist in ganz Bosnien schlecht, Schule, medizinische Versorgung, für alle
drei offiziellen Bevölkerungsgruppen, aber die Situation für die Roma ist dann immer
noch ein Stückchen schlechter. Die Stadt hat gerade ihre Unternehmen privatisiert.
Das, was früher städtisch war und jetzt privatisiert wurde, hat ein Krimineller
übernommen. Diese Firma beschäftigt keine Roma. Die Arbeitsplätze in dieser Firma
bekommen nur Familienangehörige vom Direktor.
Autor
Mehr als 10 Jahre ist es her. Damals reichte Dervo Sejdic seine Klage beim
Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein. Er wollte die eigene
Regierung zwingen, die Verfassung innerhalb eines Jahres zu ändern. Was dort mit
Zustimmung der Unterzeichnerstaaten des Friedensvertrages festgelegt war, wollte
Dervo nicht länger hinnehmen. Das Dokument von Dayton trägt auch die Unterschrift
Deutschlands.
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15
O-Ton Dervo Sejdic
Übersetzer 1
Die grundlegendste Form der Diskriminierung besteht darin, dass für das
Präsidentenamt nur Bosnier, Kroaten oder Serben kandidieren können. Keine andere
Nationalität. Im Parlament von Bosnien ist die gleiche Situation. Nur Serben, Bosnier
oder Kroaten kannst du wählen. Keine anderen Nationalitäten.
Autor
Dervo blieb nicht allein mit seiner Klage. Jacob Finci schloss sich für die jüdische
Bevölkerung an. Auch sie eine Minderheit, kleiner als die Roma zwar, aber die
Verfassung schränkte ihre passiven Wahlrechte auf gleiche Weise ein. Der Spruch
des Gerichtes wurde als Sejdic-Finci Urteil bekannt.
O-Ton Dervo Sejdic
Übersetzer 1
Die haben bestätigt, dass Bosnien diskriminierende Gesetze hat und Bosnien muss
das verändern. Aber seitdem ist kaum etwas passiert. Das einzige war, dass ich ein
bisschen Öffentlichkeit in den Medien bekommen habe. Das ganze Urteil von
Straßburg hat nichts gebracht. Vielleicht ist es sogar schlimmer geworden. Wenn die
Roma danach ins Rathaus gegangen sind, weil sie irgendeine Sache für sich klären
wollten, wegen Wohnung oder so, dann haben sie dort gesagt: Geh zu deinem
Dervo. Sejdic hat einen Prozess angestrengt, dann soll er dir helfen.
O-Ton Kraske
Ja, das mit den Minderheiten - ich meine, da muss man natürlich auch sagen, da
haben die Schöpfer von Dayton auch leider - nennen wir‘s mal so - Mist gebaut.
Autor
Marion Kraske, die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajevo, treffe ich in ihrem
Büro.
16
16
O-Ton Kraske
Das heißt, das ganze System Dayton ist ja diskriminatorisch. Das haben wir ja jetzt
durch inzwischen drei Gerichtsurteile seitens des europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte dokumentiert, das ist ja nicht nur Sejdic-Finci, sind ja noch zwei
andere dazugekommen.
Autor
Schon als Kind fuhr sie mehrfach nach Bosnien. Zu der Zeit war das Land noch ein
Teil von Jugoslawien. Ihre Tante lebte dort, war verheiratet mit einem Serben.
Später, als Journalistin, beschrieb sie die politische Entwicklung in dem kleinen
Balkan-Land. „Wollen wir zuerst ohne Mikrofon sprechen?“, fragt sie. „Dann kann ich
schärfer formulieren.“ Doch die Vorsichtsmaßname dauert nur wenige Minuten.
O-Ton Kraske
Es kann nicht sein, dass das Land aufgeteilt wird nur unter drei Ethnogruppen. Und
da müssen wir auch wegkommen, müssen eigentlich diese Aufsplittung, die müssen
wir beenden. Weil die richtet Schaden an, und die führt auch dazu, dass das Land
sich eigentlich als normaler Staat nicht weiterentwickeln kann.
Autor
Marion Kraske springt auf und läuft zu ihrem Schreibtisch. Sie sucht nach Papieren
über die aktuelle Lage in Bosnien. Redet aus der Entfernung mal mit mir, mal mit
ihrer Sekretärin. Im Kopf versuche ich, meine bisherigen Gespräche zu resümieren.
Da sind die Verletzungen von Menschenrechten, die Benachteiligungen von
Minderheiten. Sie alle sind im Einzelfall schwer nachzuweisen, solange die
Betroffenen darüber nicht reden wollen. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite
ist da ein Staat, der beim genauen Hinsehen nicht viel mehr ist als eine Fassade.
O-Ton Kraske
Wir haben jetzt 21 Jahre nach Ende des Krieges, also seit dem Friedensschluss von
Dayton, und man sieht, dass das Land in gewisser Weise backsliding ist, also sich
nicht nach vorn entwickelt, sondern wieder zurück entwickelt. Wenn man sieht, dass
die politische Elite, wenn wir sie denn mal so nennen wollen, es nicht geschafft hat,
für wesentliche Bereiche dieses Landes z.B. Ministerien zu schaffen. Also
17
17
wesentliche Aufgaben eines Staates werden hier gar nicht übernommen. Wir müssen
festhalten, dass die politische Elite hier ganz andere Dinge betreibt, nämlich den
Nationalismus betreibt, um eine Separation, eine Segregation des Landes aufrecht
zu erhalten oder noch weiter zu vertiefen, sie benutzen diesen Nationalismus 21
Jahre nach Kriegsende immer noch, um die Bevölkerung gezielt zu teilen…
Sprecher 1
Bericht des Auswärtigen Amtes, Punkt 2, Absatz 2, Asylrelevante Tatsachen:
Besonders in wenig entwickelten ländlichen Gebieten kann es zu gesellschaftlicher
Diskriminierung gemischt-ethnischer Ehepaare und Familien kommen.
O-Ton Ernad (bosnisch)
Übersetzer 2
Ich lebe mit einer christlich-orthodoxen Frau. Ich selber bin Moslem. Vor drei Jahren
haben wir geheiratet. Für meine Freunde war meine Entscheidung sehr sonderbar.
Denn das Problem in Bosnien ist, dass die Leute zuerst gucken, was die anderen
sagen werden.
Autor
Ernad Matej lebte bis vor wenigen Jahren in Goražde, einer kleinen Stadt 50
Kilometer südlich von Sarajevo. Er ist in die Hauptstadt gezogen, weil er dem
„Problem“ entkommen wollte, wie er es immer wieder nennt.
O-Ton Ernad (bosnisch)
Übersetzer 2
Ihre Familie nämlich hat unsere Mischehe und mich nicht akzeptiert. Und weil dort
alle so denken, hat meine Frau keine Arbeit gefunden. Sie ist Psychologin. Und in
Bosnien haben wir kaum gut ausgebildete Psychologen.
Autor
Ernad hat seinen 5-jährigen Sohn zum Gespräch mitgebracht. Er wollte ihm „das
Problem“ ersparen. Auch deshalb sei er weggegangen aus Goražde. Denn in
Bosnien gehört jeder Mensch zu einer Minderheit, der nicht im Mehrheitsgebiet lebt.
Sarajevo sei da eine Ausnahme.
18
18
O-Ton Ernad (bosnisch)
Übersetzer 2
Nach dem Krieg war ich der erste in Goražde, der eine Mischehe mit einer anderen
Nationalität eingegangen ist. Ich war während des Krieges in der Stadt, war Soldat in
der bosnischen Armee. Ich kämpfte zusammen mit Serben, mit Orthodoxen. Aber ich
habe nie gesehen, dass es ein Problem gab, mit anderen Nationalitäten Kontakt zu
haben, egal, welcher Religion sie angehörten.
O-Ton Kraske
Das hat es immer hier gegeben, diese binationalen Ehen. Das war ja eigentlich das,
was Jugoslawien ausgemacht hat. Und dass das nicht mehr möglich sein soll, das
hat wirklich mit dieser politischen künstlichen Aufheizung seitens der politischen
Eliten zu tun.
O-Ton Ernad (bosnisch)
Übersetzer 2
In den kleinen Städten hast du das Problem. Das sind ethnisch reine Städte. Die
jungen Leute dort haben nie mit Menschen einer anderen Ethnie Kontakt gehabt.
Zum Beispiel Rogatica in Ostbosnien, dort haben Jugendliche einen Text
geschrieben darüber, was sie über Gleichaltrige der anderen Nationalitäten denken.
Einer schrieb, dass er 18 Jahre alt ist und noch nie einen Gleichaltrigen von einer
anderen Nationalität getroffen hat. Es gibt in Rogatica einfach keine Moslems in der
Schule. Die Moslems sind während des Krieges alle von dort weggegangen. Ein paar
wenige sind zurückgekommen, aber das sind fast nur Alte. Das ist der einfache
Grund, weshalb diese Menschen keine Kontakte mit andern Nationalitäten haben,
keine Freundschaften. Natürlich auch, weil die Eltern denken, dass solche Kontakte
nicht gut sind.
O-Ton Kraske
Egal, um welches Thema es geht, es wird immer ethnopolitisch aufgeheizt. Es ist gar
nicht möglich, nur über die Schaffung von Jobs zu sprechen, ohne dass nicht
irgendeine Partei wieder versucht, das entlang dieser ethnopolitischen Trennlinien
auszudeuten.
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O-Ton Ernad (bosnisch)
Übersetzer 2
In den kleineren Städten ist nicht nur das Problem der Nationalität größer, dort ist
auch der Einfluss der Politik deutlicher sichtbar. Die Politik entscheidet, wer einen
Job bekommt. Wenn du nicht in der richtigen Partei bist, dann bekommst du keine
Arbeit. Das ist so. Im öffentlichen Sektor bestimmt die Politik.
O-Ton Kraske
Insgesamt haben wir hier das Phänomen eines gekaperten Staates. Sämtliche
Ressourcenzugänge sind verteilt. Die politischen Parteien sehen zu, dass sie die
Posten nach Proporz in irgendeiner Form verteilen. Hier werden Cousinen, Cousins
oder auch Ehefrauen bedacht. Herr Izetbegovic hat z.B. ohne Ausschreibung - seine
Frau in die Klinikleitung eines Hospitals hier gebracht, d.h. insgesamt das staatliche
System wird benutzt als Selbstbedienungsladen, als Selbstbereicherungsladen für –
ja, die eigenen Familien, für die Parteiangehörigen, und eben für Freunde und
Bekannte.
Autor
Wonach habe ich gesucht in Bosnien? Nach Belegen dafür, dass Deutschland die
Augen vor systematischen Menschenrechtsverletzungen in diesem Land verschließt?
Belege dafür, dass der Bericht des Auswärtigen Amtes beweist, dass man es besser
weiß? Dafür, dass die Einstufung Bosniens als sicheres Herkunftsland nichts als ein
Vorwand ist, um Flüchtlinge los zu werden?
Was habe ich gefunden? Menschen, die diskriminiert werden, die unter elenden
Bedingungen leben. Menschen in Hilfsorganisationen, die in Einzelfällen wichtige
Arbeit leisten. Die aber auch vorsichtig sind und deshalb gern im Allgemeinen
bleiben. Vielleicht wollen sie einfach das Wenige, was sie besitzen, nicht verlieren?
O-Ton Kraske
Die NGO-Leute, das ist halt nen bisschen das Dilemma, die sagen, wir sind NGOs,
und wir wollen nicht part of the game sein, weil die natürlich alle dieses schmutzige
Politikgeschäft ablehnen. So. Aber dann sag ich immer: Ja, Leute, ihr werdet es aber
dann auch nicht ändern können. Die sind alle sehr stark auf Projektgelder aus, aber
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es fehlt das strategische Konzept dahinter, was will ich denn eigentlich politisch
erreichen? Eigentlich natürlich nen politischen Change, aber das will keiner von
denen, weil die verdienen hier drei- oder viermal mehr als normale Leute, und für die
ist das natürlich mit der Projektarbeit fein.
Autor
Zurück in Deutschland habe ich mehr Fragen als Antworten.
Ich habe Menschen getroffen, die keinen Ausweg sehen aus der allgegenwärtigen
Arbeitslosigkeit, der Korruption, der Macht einer scheinbar unangreifbaren Elite, die
die politischen Ämter fest in ihren Händen hält. Setzen sie alle Hoffnung darauf, dass
die Europäische Union und allen voran Deutschland die Misere im Land beenden
hilft?
O-Ton Hellbach
Also einen Masterplan in diesem Sinne gibt es nicht. Ich meine, wir haben es mit
souveränen Ländern zu tun, denen wir nicht vorschreiben können, was genau sie tun
sollen.
Autor
„Sprechen sie in Berlin mit Martin Hellbach.“, hatte mir Marion Kraske in Sarajevo
gesagt. Er war einige Jahre als deutscher Botschafter in Bosnien. Jetzt ist er im
Auswärtigen Amt zuständig für die Länder des westlichen Balkan.
O-Ton Hellbach
Was ich immer versucht habe den Menschen zu vermitteln ist: Deutschland und die
Europäischen Unionen stehen zu dem in Thessaloniki im Jahr 2003 gegebenen
Versprechen. Es gibt eine Perspektive auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union
für die Länder des westlichen Balkan.
Autor
Martin Hellbach ist ein vorsichtiger Mann. Das zugesagte einstündige Gespräch
möchte er zu großen Teilen lieber ohne Mikrofon führen. „Sie können ja doch nur
wenig für ihre Sendung verwenden“, ist seine Begründung. Für die Frage nach dem
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sicheren Herkunftsland sei das Innenressort zuständig. Ins Mikrofon spricht er lieber
über das große Ganze. Irgendwie kommt mir das sehr vertraut vor.
O-Ton Hellbach
Voraussetzung dafür ist eine Annäherung an die Standards der EU, das setzt
Transformation voraus. Die EU kann Anreize setzen, und kann - was sie auch tut -
diese Transformation massiv mit finanziellen Mitteln und mit Expertise unterstützen.
Sie kann diesen Ländern diesen Prozess aber nicht völlig abnehmen.
O-Ton Brand
Ich hab immer mehr den Eindruck, dass die politische Klasse in Bosnien und
Herzegowina viel über Europa und Reformagenda redet, aber sehr an eigene
Interessen denkt. Und damit auch viel für Bosnien und Europa verspielt.
Autor
Es gibt nicht viele Vertreter der Parteien in Deutschland, die sich auskennen mit dem
Westbalkan allgemein und Bosnien Herzegowina im Besonderen. Das Mitglied der
Linkspartei in der Parlamentariergruppe für Bosnien Herzegowina lässt mir
ausrichten, dass er selbst nie im Land gewesen sei und wenig sagen könne.
Immerhin finden sich bei den großen Parteien Abgeordnete, die sich auskennen. Von
der CDU ist das Michael Brand.
O-Ton Brand
Gleichzeitig muss ich auch sagen, dass Deutschland und Europa sich viel stärker
engagieren müssen, auch viel konsequenter sein müssen, denn wir erleben ja
gerade so etwas wie einen Stellvertreterkonflikt in Bosnien-Herzegowina, so wie es
seit Jahrhunderten war, dass große Mächte versuchen, Politik zu machen auf dem
Rücken des Landes.
Autor
Michael Brand hat nach dem Krieg ein Jahr in Sarajevo studiert. Seitdem reist er
immer wieder in das Land, privat und als Politiker.
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O-Ton Brand
Auf Grund der Unfähigkeit der politischen Klasse in Bosnien Herzegowina, dazu
haben wir beigetragen, weil wir den Bosniern mit der Dayton Verfassung eine
Verfassung an die Hand gegeben haben, man muss sagen, ihnen an die Füße
gegossen haben, und es ist schwierig, wenn man sagt, pass auf: Lauf mal und ich
betonier die Füße dabei. Und deswegen brauchen wir auch Änderungen bei der
Daytonverfassung.
O-Ton Juratovic
Man hat, als man das Dayton-Abkommen gemacht hat, ein bisschen vielleicht der
Naivität verfallen, zu glauben, dass irgendwann sich die vernünftigen Kräfte vor Ort,
die friedenstiftende, die Zivilgesellschaft usw., dass die sich durchsetzen, und dass
sie dann tatsächlich einen Staat aufbauen, eine bürgerliche Gesellschaft, so wie wir
sie hier haben. Also das aufgebaut ist auf Werte, und Menschenrechte usw. Das ist
nicht passiert.
Autor
Josip Juratovic war sehr erfreut über meine Anfrage für ein Gespräch. Er, der
gebürtige Jugoslawe, nach heutigem Recht Kroate, sitzt für die SPD im Bundestag.
Natürlich ist der Westbalkan sein Thema.
O-Ton Juratovic
Wenn sie in Bosnien und Herzegowina aus einer Mischehe kommen, ganz gleich,
welcher Art, ich rede noch gar nicht von Juden und von Roma, aus einer Mischehe,
haben sie kein Recht. Und für mich ist das rassistisch.
O-Ton Brand
Wir haben kein Land in der europäischen Union, in Europa, wo ein Jude nicht
Staatspräsident werden kann. In Deutschland würde man eine solche Verfassung
rassistisch nennen. Das ist ein Ergebnis dieser Dayton-Verfassung. Und deswegen
müssen wir an die Grundkonstruktion ran: Dayton verändern und gleichzeitig müssen
wir die klaren Signale setzen an die Nationalisten wie Herrn Dodik in Bosnien
Herzegowina, dass wir es nicht akzeptieren werden, wenn Grenzen auf dem Balkan
im Jahr 2017 wieder neu gezogen werden sollen. Das führt zu einem Krieg, denn die
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Forderung ist ja da. Und die Ankündigung, dass man die serbischen Gebiete in
Bosnien von Serbien, Montenegro, Kosovo, miteinander vereinigen will.
Autor
Trotz allem hat der Christdemokrat Michael Brand genau wie Sozialdemokrat Josip
Juratovic für die Einstufung Bosniens als sicheres Herkunftsland gestimmt. Weil es
keine systematische Verfolgung gebe, sagen beide.
O-Ton Juratovic
Was unter die Räder geraten ist, das ist die Demokratie, so wie wir sie verstehen. Ich
bin ja im Widerstand gegen die Kommunisten gewesen. Und ich dachte, in meinem
Leben es gibt nichts Schlimmeres als Diktatur. Es gibt noch etwas, was viel
Schlimmer ist. Das ist die Anarchie. Man hat - und da müssen wir von Europa
handeln - man hat schlicht und einfach - Freiheit, hohes Gut, hoher Wert der
demokratischen Gesellschaft - hat man Freiheit zu Anarchie umgewandelt. Hat man
Freiheit zum Recht des Stärkeren umgewandelt. Und alle tolerieren das.
Autor
Offenbar sind die Probleme des Landes bekannt in Deutschland.
Nur, was folgt daraus?
O-Ton Brand
Wir haben die im Stich gelassen während des Krieges, die letzten 20 Jahre ziemlich
ideenlos und auch lustlos das Thema angefasst, Hauptsache, es brennt nichts
Heißes an. Aber so ist kein Frieden zu machen.
Autor
„Bosnien ist ein souveränes Land“, sagte Martin Hellbach im Auswärtigen Amt.
Ein souveränes Land, in dem noch immer der sogenannte Hohe Repräsentant im
Namen der Vereinten Nationen die Einhaltung des Abkommens von Dayton
überwacht. Theoretisch. In der Praxis sind ihm seit Jahren die Hände gebunden. Weil
Deutschland und die Europäische Union dies so beschlossen haben.
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O-Ton Hellbach
Man wendet sich an die Internationale Gemeinschaft und sagt, macht mir bitte
Hoffnung. Wir müssen gelegentlich auch sagen, dass Entwicklung in diesen Ländern
kann nur aus diesen Ländern heraus geschehen. Wir können diese Entwicklung nicht
ersetzen.
Autor
Ob Michael Hellbach, der Balkan-Experte aus dem Auswärtigen Amt, jemals mit
Dervo Sejdic gesprochen hat? Ich weiß es nicht.
O-Ton Dervo Sejdic (bosnisch-englisch-Mix)
Übersetzer 1
Bosnien hat letztes Jahr seinen Antrag auf Beitritt abgegeben für die EU. Die EU hat
ein Dokument mit 3.000 Fragen zurückgegeben, was wir auf diesem Weg in die
Gemeinschaft alles machen müssen.
Wieviel Jahre hatten unsere Politiker Zeit, diese Fragen zu klären? Ich glaube nicht,
dass sie überhaupt positive Antworten auf die Fragen der EU geben wollen. Wenn
Bosnien und Herzegowina Mitglied in der EU würde, dann müssten sie die deren
ökonomische und soziale Regeln übernehmen. Und dann kämen die politisch
Verantwortlichen alle ins Gefängnis. Deshalb wollen sie nicht in die Europäische
Union. Ich bin kein Optimist.
Musik
Absage:
„Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“
Über das sichere Herkunftsland Bosnien-Herzegowina
Ein Feature von Rainer Schwochow
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2017.
Es sprachen: Frank Arnold, Cathlen Gawlich, Nadja Schulz-Berlinghoff, Anja
Antonowicz, Axel Wandtke, Maximilian Held und Joachim Schönfeld
Regie und Produktion: Rainer Schwochow
Redaktion: Karin Beindorff