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ZAR 7/2013 | 221 Hannah Tewocht, Halle* Die Neuregelung des Freizügigkeitsgesetzes/EU Herausgeber: Prof. Dr. Jürgen Bast, Radboud University Nijmegen Dr.Wolfgang Breidenbach, Rechtsanwalt, Halle Marion Eckertz-Höfer, Präsidentin des Bundesverwal- tungsgerichts,Leipzig Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, Universität Bremen Jürgen Haberland, Ministerialrat a. D., Berlin Prof. Dr. Kay Hailbronner, Universität Konstanz Prof. Barbara John, Ausländerbeauftragte a. D., Ber- lin Prof. Dr. Winfried Kluth, Universität Halle Dr. Otto Mallmann, Vorsitzender Richter am Bundes- verwaltungsgericht a. D., Potsdam Dr. Reinhard Marx, Rechtsanwalt, Frankfurt a. M. Thomas Oberhäuser, Rechtsanwalt, Ulm Cornelia Rogall-Grothe, Staatssekretärin, Bundesministe- rium des Innern, Berlin Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M., Universität Konstanz Wissenschaftlicher Beirat Vorsitzender: Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungs- gerichts Karlsruhe Nele Allenberg, Evangelische Kirche in Deutsch- land, Berlin Prof. em. Dr. Klaus J. Bade, Berlin Klaus Barwig, Akademie der Diözese Rotten- burg-Stuttgart, Stuttgart Dr. Roland Bell, Regierungsdirektor, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg Prof. Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin, Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und In- tegration, Berlin Dr. Gisbert Brinkmann, Ministerialrat a. D., Bundesmi- nisterium für Arbeit und Sozia- les, Bonn Dipl.-Volksw. Peter Clever, Ministerialdirektor a. D., Mit- glied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Berlin Prof. Dr. Hans-Joachim Cremer, Universität Mannheim Dr. Klaus Dienelt, Richter am Verwaltungsgericht, Darmstadt Katrin Gerdsmeier, Kommissariat der Deutschen Bischöfe, Berlin Prof. Dr. Thomas Groß, Universität Osnabrück Prof. Dr. Peter Knösel, Fachhochschule Potsdam Prof. Dr. Christine Langenfeld, Universität Göttingen Prof. Dr. Gertrude Lübbe-Wolf, Richterin des Bundesverfassungs- gerichts, Karlsruhe Dr. Ursula Mehrländer, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Dr. Hans-Ingo von Pollern, Regierungsdirektor, Regierungs- präsidium Tübingen Volker Roßocha, DGB-Bundesvorstand, Berlin Dr. Albert Schmid, Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge a. D., Nürnberg Prof. Dr. Albrecht Weber, Universität Osnabrück Prof. Dr. Andreas Zimmermann, Universität Potsdam 7/2013 33. Jahrgang · Seiten 221-264 ZAR Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Am 29.1.2013 trat das Gesetz zur Änderung des Freizügigkeits- gesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften in Kraft. Der vorliegende Beitrag stellt zunächst die Reformbe- dürftigkeit der alten Fassung des FreizügG/EU dar und unter- sucht im Anschluss, inwieweit die vorgenommenen Änderungen Abhilfe geschaffen haben. 1. Zur Reformbedürftigkeit des FreizügG/EU 1.1 Die Entstehung des FreizügG/EU Das FreizügG/EU 1 krankt seit seiner Entstehung an seiner Dis- krepanz zur Systematik und Terminologie der Freizügigkeits- richtlinie 2 . Die am 29.4.2004 verabschiedete sogenannte Frei- zügigkeitsrichtlinie trifft einheitliche Regelungen zum Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Ho- heitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhal- ten. Die Richtlinie sollte zu Rechtssicherheit und Rechtsklar- heit beitragen, ersetzte sie doch zahlreiche Einzelrechtsakte, die Sonderregelungen zu Fragen der Einreise, des Aufenthalts und der Aufenthaltsbeendigung im Kontext der Arbeitnehmerfreizü- gigkeit, der Dienstleistungsfreiheit, der Niederlassungsfreiheit sowie des allgemeinen Freizügigkeitsrechts aufstellten. 3 Zudem berücksichtigt die Richtlinie die bis zu ihrer Verabschiedung ergangene Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft und der allgemeinen Freizügigkeit. * Die Verfasserin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht von Prof. Dr. Winfried Kluth, Martin-Luther-Univer- sität Halle-Wittenberg. 1 Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern v. 30.4.2004, BGBl. I, 1950, zul. geändert durch G. v. 21.1.2013, BGBl. I, 86. 2 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienan- gehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/ EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/ EWG und 93/96/EWG, ABl. L 158, 77. 3 Ausführlicher zur Entstehungsgeschichte der Freizügigkeitsrichtlinie: Groß, ZAR 2006, 61; Frenz/Kühl, ZESAR 8/2007, 315; vgl. auch die folgen- den Dokumente: – Erster Vorschlag der Kommission v. 29.6.2001, KOM(2001) 257 endg., ABl. C 270 E/150 – Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem Vor- schlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und auf- zuhalten, E/150PE 319.238, A5-0009/2003 – Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie über das Recht der Unions- bürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, KOM (2003) 199 endg. vom 15.4.2003, 3 – Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 6/2004, vom Rat festgelegt am 5.12.2003, ABl. C 54 E/12.

Zeitschrift für Ausländerrecht /2013 · Öffentliches recht von Prof. Dr. Winfried Kluth, Martin-Luther-Univer- sität Halle-Wittenberg. 1 Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit

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zar 7/2013 | 221

Hannah Tewocht, Halle*

Die Neuregelung des Freizügigkeitsgesetzes/EU

Herausgeber:Prof. Dr. Jürgen Bast, Radboud University NijmegenDr.Wolfgang Breidenbach, Rechtsanwalt, HalleMarion Eckertz-Höfer, Präsidentin des Bundesverwal­tungsgerichts,LeipzigProf. Dr. Andreas Fischer-Lescano, Universität BremenJürgen Haberland, Ministerialrat a. D., BerlinProf. Dr. Kay Hailbronner, Universität KonstanzProf. Barbara John, Ausländerbeauftragte a. D., Ber­linProf. Dr. Winfried Kluth, Universität HalleDr. Otto Mallmann, Vorsitzender Richter am Bundes­verwaltungsgericht a. D., PotsdamDr. Reinhard Marx, Rechtsanwalt, Frankfurt a. M.

Thomas Oberhäuser, Rechtsanwalt, UlmCornelia Rogall-Grothe, Staatssekretärin, Bundesministe­rium des Innern, BerlinProf. Dr. Daniel Thym, LL.M., Universität Konstanz

Wissenschaftlicher BeiratVorsitzender: Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungs­gerichts KarlsruheNele Allenberg, Evangelische Kirche in Deutsch­land, BerlinProf. em. Dr. Klaus J. Bade, BerlinKlaus Barwig, Akademie der Diözese Rotten­burg­Stuttgart, StuttgartDr. Roland Bell, Regierungsdirektor, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg

Prof. Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin, Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und In­tegration, BerlinDr. Gisbert Brinkmann, Ministerialrat a. D., Bundesmi­nisterium für Arbeit und Sozia­les, BonnDipl.­Volksw. Peter Clever, Ministerialdirektor a. D., Mit­glied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, BerlinProf. Dr. Hans-Joachim Cremer, Universität MannheimDr. Klaus Dienelt, Richter am Verwaltungsgericht, DarmstadtKatrin Gerdsmeier, Kommissariat der Deutschen Bischöfe, BerlinProf. Dr. Thomas Groß, Universität Osnabrück

Prof. Dr. Peter Knösel, Fachhochschule Potsdam

Prof. Dr. Christine Langenfeld, Universität Göttingen

Prof. Dr. Gertrude Lübbe-Wolf, Richterin des Bundesverfassungs­gerichts, Karlsruhe

Dr. Ursula Mehrländer, Friedrich­Ebert­Stiftung, Bonn

Dr. Hans-Ingo von Pollern, Regierungsdirektor, Regierungs­präsidium Tübingen

Volker Roßocha, DGB­Bundesvorstand, Berlin

Dr. Albert Schmid, Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge a. D., Nürnberg

Prof. Dr. Albrecht Weber, Universität Osnabrück

Prof. Dr. Andreas Zimmermann, Universität Potsdam

7/201333. Jahrgang · Seiten 221­264ZAR Zeitschrift für Ausländerrecht

und Ausländerpolitik

Am 29.1.2013 trat das Gesetz zur Änderung des Freizügigkeits-gesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften in Kraft. Der vorliegende Beitrag stellt zunächst die Reformbe-dürftigkeit der alten Fassung des FreizügG/EU dar und unter-sucht im Anschluss, inwieweit die vorgenommenen Änderungen Abhilfe geschaffen haben.

1. Zur Reformbedürftigkeit des FreizügG/EU

1.1 Die Entstehung des FreizügG/EU

Das FreizügG/EU1 krankt seit seiner Entstehung an seiner Dis-krepanz zur Systematik und Terminologie der Freizügigkeits-richtlinie2. Die am 29.4.2004 verabschiedete sogenannte Frei-zügigkeitsrichtlinie trifft einheitliche Regelungen zum Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Ho-heitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhal-ten. Die Richtlinie sollte zu Rechtssicherheit und Rechtsklar-heit beitragen, ersetzte sie doch zahlreiche Einzelrechtsakte, die Sonderregelungen zu Fragen der Einreise, des Aufenthalts und der Aufenthaltsbeendigung im Kontext der Arbeitnehmerfreizü-gigkeit, der Dienstleistungsfreiheit, der Niederlassungsfreiheit sowie des allgemeinen Freizügigkeitsrechts aufstellten.3 Zudem berücksichtigt die Richtlinie die bis zu ihrer Verabschiedung

ergangene Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft und der allgemeinen Freizügigkeit.

* Die Verfasserin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches recht von Prof. Dr. Winfried Kluth, Martin-Luther-Univer-sität Halle-Wittenberg.

1 Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern v. 30.4.2004, BGBl. I, 1950, zul. geändert durch G. v. 21.1.2013, BGBl. I, 86.

2 richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des rates vom 29. 4.2004 über das recht der Unionsbürger und ihrer Familienan-gehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur aufhebung der richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, aBl. L 158, 77.

3 ausführlicher zur Entstehungsgeschichte der Freizügigkeitsrichtlinie: Groß, zar 2006, 61; Frenz/Kühl, zESar 8/2007, 315; vgl. auch die folgen-den Dokumente:

– Erster Vorschlag der Kommission v. 29.6.2001, KOM(2001) 257 endg., aBl. C 270 E/150

– Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem Vor-schlag für eine richtlinie des Europäischen Parlaments und des rates über das recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und auf-zuhalten, E/150PE 319.238, a5-0009/2003

– Geänderter Vorschlag für eine richtlinie über das recht der Unions-bürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, KOM (2003) 199 endg. vom 15.4.2003, 3

– Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 6/2004, vom rat festgelegt am 5.12.2003, aBl. C 54 E/12.

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4 Vgl. die Begründung des Gesetzgebers: BT-Drs. 15/420, 65 (101). zu den reformprozessen des deutschen ausländerrechts in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts statt vieler Bast, DÖV 2013, 214.

5 Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der zuwanderung und zur re-gelung des aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und ausländern vom 30.7.2004, BGBl. I, 1950.

6 Gesetz über Einreise und aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft i.d.F.d. Be-kanntmachung vom 31.1.1980, BGBl. I, 116.

7 Verordnung über die allgemeine Freizügigkeit von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 17.7.1997, BGBl I, 1810.

8 Frenz/Kühl, zESar 8/2007, 315 (323); Hailbronner, auslr (Stand: april 2013), FreizügG/EU, Vorb., rn. 44.

9 Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher richtlinien der Europäischen Union v. 19.8.2007, BGBl. I, 1969.

10 Prinzipiell müssen die Berechtigten ausweispapiere mit sich führen/ihre Identität und insbesondere die Staatsangehörigkeit eines Mit-gliedstaats nachweisen können. Für drittstaatsangehörige Familien-angehörige gilt, dass sie einen gültigen reisepass besitzen müssen und bei ihrer Einreise ein Einreisevisum verlangt werden darf.

11 Vgl. art. 7 rL 2004/38.12 Im Detail: BeckOK auslr/Tewocht (1. Edition) FreizügG/EU, § 2,

rn. 17–42.13 Vgl. EuGH, NVwz 2006, 1151 – Kommission/Bundesrepublik Deutsch-

land, insb. rn. 73. Weiterführend Peek, richtlinienumsetzung: Europa-rechtliche anforderungen und mitgliedstaatliche Praxis, 2010, 90 ff.

14 Dazu auch Hailbronner (Fn. 8), FreizügG/EU, Vorb., rn. 45.15 So auch der Hinweis von Dienelt, in renner, auslr, 9. aufl., FreizügG/

EU, Vorb., rn. 23; Brinkmann, in Huber, aufenthG, FreizügG/EU, § 1, rn. 12.

16 allg. zur richtlinienkonformen auslegung: Ruffert, in Calliess/ders., EUV/aEUV, art. 288 aEUV, rn. 77 ff.

17 allg. zum anwendungsvorrang: Ruffert (Fn. 16), art. 1 aEUV, rn. 16 ff.18 Die Studie wurde im Jahr 2008 von Milieu Ltd und dem Europa Institu-

te, Edinburgh University durchgeführt (Vertrag JLS/2007/C4/004-30-CE- 0159638/00-31) und ist im Internet unter http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/summary?doi=10.1.1.193.8605 abrufbar (zuletzt besucht am 12.6.2013).

19 Vgl. S. 9 des Dokuments (Fn. 18): c. Conclusions. Vgl. aber auch den ab-schlussbericht der Kommission, in dem die Umsetzung der richtlinie in der Union insgesamt als „enttäuschend“ eingestuft wird. Kein Mit-gliedstaat habe die rL in ihrer Gesamtheit wirksam und korrekt umge-setzt. Kein artikel der rL sei von allen Mitgliedstaaten wirksam und korrekt umgesetzt worden, KOM (2008) 840 endg., 4.

Konkretisierung erlassenen Sekundärrechtsakten resultieren, das FreizügG/EU also lediglich die sowieso unionsrechtlich bestehende Rechtslage abbildet, hat es der Gesetzgeber dem Rechtsanwender aber zumindest unnötig schwer gemacht, eben diese Rechtslage zu erkennen.14 In Zweifelsfällen sollte ein an-hand des FreizügG/EU gefundenes Auslegungsergebnis daher stets auf seine Vereinbarkeit mit der Richtlinie (und sonstigem Unionsrecht) hin überprüft werden.15 Bei Umsetzungsdefiziten ist eine richtlinienkonforme Auslegung vorzunehmen16 bzw. dem Anwendungsvorrang von Unionsrecht17 Geltung zu ver-schaffen.

1.3 Weitere Defizite

Neben der systematischen Problematik weist das FreizügG/EU auch nach den Änderungen aus dem Jahr 2007 zahlrei-che Umsetzungsdefizite auf. In der von der EU-Kommission in Auftrag gegebenen National Conformity Study zur Umset-zung der Freizügigkeitsrichtlinie in der Bundesrepublik18 wird Deutschland in der Summe zwar eine weitgehend korrekte Um-setzung bescheinigt, „which is respectful of the aim and spirit of the Directive“.19 Ludwig Krämer und Lukas Rass-Masson,

Parallel zu den Verhandlungen der Richtlinie auf europäi-scher Ebene fand in der Bundesrepublik eine „Gesamtrevision“ des Ausländerrechts statt, in deren Verlauf auch das Aufent-haltsrecht der Unionsbürger in Deutschland reformiert, ver-einheitlicht und neu gebündelt werden sollte.4 Das in diesem Zusammenhang als Art. 2 des sogenannten Zuwanderungsge-setzes5 verabschiedete Freizügigkeitsgesetz/EU trat am 1.1.2005 in Kraft und ersetzte das Aufenthaltsgesetz/EWG6 sowie die Freizügigkeitsverordnung/EG7. Es war bereits zu diesem Zeit-punkt reformbedürftig, da es zwar einige Grundprinzipien der zeitgleich beratenen Freizügigkeitsrichtlinie berücksichtigte, im Wesentlichen aber auf dem Rechtsstand der durch sie aufge-hobenen „alten Freizügigkeitsrichtlinien“ beruhte.8 Der Gesetz-geber ließ diesen Zustand zunächst fortbestehen, so dass die Umsetzungsfrist der Richtlinie (30.4.2006) verstrich, ohne dass die unionsrechtliche Ausgestaltung des Freizügigkeitsrechts ins deutsche Recht übernommen worden wäre. Erst im Jahr 20079 erfolgten entsprechende Änderungen des FreizügG/EU.

1.2 Systematische Defizite

Systematik und Terminologie der Freizügigkeitsrichtlinie wur-den allerdings auch mit den Änderungen von 2007 nicht in das Gesetz übernommen. Die Richtlinie gewährleistet das Recht auf Ausreise aus jedem Mitgliedstaat (Art. 4 RL 2004/38), das Recht auf Einreise in jeden Mitgliedstaat (Art. 5 RL 2004/38), ein Recht auf Aufenthalt von bis zu drei Monaten (Art. 6 RL 2004/38) und ein Aufenthaltsrecht für mehr als drei Mona-te (Art. 7 RL 2004/38). Die drei erstgenannten Rechte gelten für jeden Unionsbürger und seine Familienangehörigen vor-aussetzungslos.10 Erst für den längerfristigen Aufenthalt wird zwischen unterschiedlichen Kategorien der Freizügigkeitsbe-rechtigung (Arbeitnehmer, Selbständige, Studierende, sonstige Nichterwerbstätige) unterschieden.11 Das FreizügG/EU befolgt diese Systematik nicht, sondern knüpft an verschiedene Arten der wirtschaftlichen Betätigung an und schlüsselt im Einzelnen sieben unterschiedliche Kategorien Freizügigkeitsberechtigter auf (§ 2 II Nr. 1–7 FreizügG/EU).12 Erst im Anschluss an die – vermeintlich – abschließende Reglung der Freizügigkeitsbe-rechtigung erfährt der Rechtsanwender im fünften Absatz der Vorschrift, dass es ein voraussetzungslos gewährleistetes Recht auf Aufenthalt in der Bundesrepublik für bis zu drei Monate gibt, das alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen be-günstigt.

Eine von der Systematik der Richtlinie abweichende Umset-zung ist grundsätzlich unschädlich, da europäische Richtlinien lediglich in Bezug auf ihr Regelungsziel, nicht aber hinsichtlich der gewählten Mittel der Umsetzung verbindlich sind (Art. 288 AEUV). Es ist allerdings das Gebot der vollständigen und ef-fektiven Verwirklichung von Unionsrecht zu beachten – auch systematisch bedingte Ungenauigkeiten und die daraus resul-tierende Rechtsunsicherheit können zur Unionsrechtswidrigkeit eines Umsetzungsaktes führen.13 Die abweichende Systematik ist also nicht per se unionsrechtswidrig. Insoweit wie die Ge-währleistungen des Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger un-mittelbar aus dem AEUV und den zu seiner Umsetzung und

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20 Vgl. die aufzählung auf den S. 9–12 des Dokuments (Fn. 18).21 allgemeine Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU vom 26.10.2009,

GMBl., 2070 (im Folgenden: aVV-FreizügG/EU). Während des Durch-führungszeitraums der National Conformity Study galten noch die Vorläufigen anwendungshinweise des Bundesministeriums des In-nern zum aufenthG und zum FreizügG/EU vom 22.12.2004 bzw. die Hinweise zu den wesentlichen Änderungen durch das Gesetz zur Um-setzung aufenthalts- und asylrechtlicher richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007 (Hinweise zum richtlinienumsetzungsgesetz) vom 2.10.2007.

22 Nr. 0.1.3. aVV-FreizügG/EU.23 Nr. 1.3 aVV-FreizügG/EU. ausführlicher zu diesen Fallkonstellationen:

Tewocht (Fn. 12), FreizügG/EU, § 1, rn. 30 ff.24 Vertiefend und differenzierend Peek (Fn. 13), 132 ff.25 Krämer/Rass-Masson (Fn. 18), 6.26 BGBl. I, 86.27 So die Begründung zum Gesetzentwurf, BT-Drs. 17/10746, 1.28 BT-Drs. 17/10746, 1.29 BT-Drs. 17/10746, 1.30 BT-Drs. 17/10746, 2.

umgesetzt. In solchen Fällen hilft auch der unmittelbare Rück-griff auf das Unionsrecht nicht weiter, da dieser – eben auf-grund des gewährten Umsetzungsspielraums – zu keinen klaren Ergebnissen führen würde.

Letztlich kann also die Administrative auch nicht einfach da-rauf verwiesen werden, sich stets unmittelbar auf Unionsrecht zu stützen, sie ist vielmehr auf eine entsprechende Normsetzung durch den deutschen Gesetzgeber angewiesen. Insoweit be-stand auch nach den Änderungen aus dem Jahr 2007 weiterhin Handlungsbedarf für den Gesetzgeber.

2. Das Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU vom 21.1.2013

Der Gesetzgeber ist tätig geworden und hat am 21.1.2013 das Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weite-rer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften26 verabschiedet. Das am 29.1.2013 in Kraft getretene Änderungsgesetz hat aber nicht etwa eine umfassende Reform des national geregelten Freizü-gigkeitsrechts zum Ziel, sondern soll lediglich „einzelne Vor-schriften der Richtlinie 2004/38/EG, die noch nicht angemessen umgesetzt worden sind, vollständig in das Freizügigkeitsgesetz/EU (...) übernehmen.“27 Zugleich sollen Bürokratiekosten ge-senkt werden.28 Systematik und Terminologie des Gesetzes blei-ben also nach wie vor erhalten, es werden nur punktuelle Ände-rungen und Ergänzungen vorgenommen. Insoweit besteht auch die grundsätzliche Problematik der systematischen Abweichung von Gesetz und Richtlinie fort.

Die wichtigsten Neuerungen sind:29

• die Schaffung einer Ermächtigungsgrundlage, derzufolge das Freizügigkeitsrecht in Fällen von Rechtsmissbrauch oder Be-trug verweigert, aufgehoben oder widerrufen werden kann;

• die Gleichstellung des eingetragenen Lebenspartners des Unionsbürgers mit dem Ehegatten des Unionsbürgers;

• die Abschaffung der Bescheinigung über das Aufenthalts-recht für Unionsbürger.

Im Übrigen werden „zur Klarstellung und Bereinigung von Un-stimmigkeiten weitere technische und redaktionelle Anpassun-gen (...) vorgenommen“.30

die Autoren der Studie, zählen allerdings 25 Fälle von „Non conformity due to gaps or incomplete transposition“ und sechs Fälle von „Incorrect or imprecise/ambiguous transpsition“.20 Die aufgeführten Umsetzungsdefizite sind nicht alle in gleichem Maß gravierend bzw. werden teilweise durch eine unionsrechts-konforme Behördenpraxis ausgeglichen. So weist die Bundes-regierung in den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum FreizügG/EU21 ausdrücklich darauf hin, dass das europäische Gemeinschaftsrecht im Kollisionsfall Anwendungsvorrang vor dem Freizügigkeitsgesetz/EU genieße, es sei denn, das nationale Recht enthalte günstigere Regelungen. Bei der Anwendung und Auslegung des nationalen Rechts sei das Gemeinschaftsrecht durch die zuständigen Behörden zu berücksichtigen.22 Beispiels-weise könnten sich unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH in bestimmten Fällen auch Deutsche und ihre dritt-staatsangehörigen Familienangehörigen auf das Gemeinschafts-recht über die Freizügigkeit berufen – entgegen dem Wortlaut des § 1 FreizügG/EU, der den Anwendungsbereich des Gesetzes auf Einreise und Aufenthalt von Unionsbürgern anderer Mit-gliedstaaten beschränkt.23

1.4. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf

Allerdings entbinden weder der Erlass von Verwaltungsvor-schriften noch eine unionsrechtskonforme Behördenpraxis den Gesetzgeber von seinen Aufgaben.24 Das gebieten neben den europarechtlich begründeten Umsetzungspflichten bereits die rechtsstaatlichen Prinzipen der Rechtssicherheit und der Rechts-klarheit – insbesondere wenn das unionsrechtskonforme Be-hördenhandeln nicht dem Wortlaut der Norm entspricht: Dem Rechtsanwender wird das FreizügG/EU mit der Maßgabe an die Hand gegeben, trotz der abweichenden Systematik von Gesetz und Richtlinie im Einzelfall zu prüfen und zu erkennen, ob das Gesetz die unionsrechtliche Rechtslage betreffend das Freizügig-keitsrecht korrekt wiedergibt. Die Verwaltungsvorschriften der Bundesregierung können hier helfen, haben aber – darauf ver-weisen auch Krämer und Rass-Masson25 – lediglich Hinweis-funktion. Entscheidend ist der Abgleich mit dem europäischen Primär- und Sekundärrecht in seiner Interpretation, die es durch den EuGH erfahren hat. Diese in höchstem Maß diffizile und komplexe Aufgabe kann nicht ausschließlich der anwendenden Behörde überlassen werden. Die Arbeit wird außerdem dadurch erschwert, dass das FreizügG/EU in einzelnen Details auch güns-tigere Regelungen trifft als in der Freizügigkeitsrichtlinie vorgese-hen. Das ist zulässig und rechtspolitisch durchaus begrüßenswert, stellt aber den Rechtsanwender vor das zusätzliche Problem, bei einer Abweichung zwischen FreizügG/EU und Unionsrecht fest-stellen zu müssen, ob es sich um eine Abweichung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Rechtsträgers handelt und ob der deut-sche Gesetzgeber an dieser Stelle bewusst eine günstigere Rege-lung geschaffen hat, die dann auch anzuwenden ist.

Hinzu kommen tatsächlich bestehende Regelungslücken, da europäische Richtlinien – dem Wortsinn „Richtlinie“ entspre-chend – den Mitgliedstaaten Umsetzungs- und Entscheidungs-spielräume überlassen. Diese muss der nationale Gesetzgeber ausfüllen, ansonsten würden unionsrechtliche Vorgaben nicht

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31 BT-Drs 17/10746, 9.32 Vgl. BT-Drs. 17/11105, 4.33 BT-Drs. 17/11105, 4 f.34 Wenngleich § 5 V FreizügG/EU a.F. teilweise auch als rechtsgrundlage

herangezogen wurde, um in Fällen, in denen das Freizügigkeitsrecht nie bestand (z.B. weil die vermeintlich freizügigkeitsberechtigte Person über die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats getäuscht hat), eine Nichtbestehensfeststellung vorzunehmen, vgl. VG Darmstadt BeckrS 2011, 56089.

35 Vgl. EuGH, FPr 2004, 18 – akrich; EuGH, NVwz 1998, 50 – Kol sowie Borrmann, zar 2004, 61 (64). Diese Interpretation legt auch der bereits zitierte Nr. 6.0.6 aVV-FreizügG/EU nahe.

36 So auch Hailbronner (Fn. 8), FreizügG/EU, § 2, rn. 105.37 OVG Berlin-Brandenburg, BeckrS 2011, 52251.38 Die vom OVG außerdem angestellte Überlegung, art. 35 rL 2004/38

verdränge den unionsrechtsimmanenten Missbrauchsvorbehalt gene-rell, ist allerdings nicht überzeugend, da der EuGH auch in anderen zu-sammenhängen – außerhalb des Freizügigkeitsrechts – regelmäßig hervorgehoben hat, dass das Gemeinschaftsrecht bei rechtsmiss-brauch nicht in anspruch genommen werden kann. Vgl. bspw. EuGH, EuzW 1999, 216 – Centros, rn. 24 mwN.

39 BT-Drs. 17/10746, 9.40 So auch Hailbronner (Fn. 8), FreizügG/EU, § 2, rn. 111.41 zum Scheineheverdacht im Kontext des aufenthG vgl. Nr. 27.1a ff.

aVV-aufenthG. Speziell zur Beweislastverteilung: Tewocht (Fn. 12), aufenthG, § 27, rn. 49 f. mwN.

wurde.34 Steht man auf dem Standpunkt, die nunmehr durch § 2 VII FreizügG/EU n.F. den deutschen Behörden eingeräum-te Möglichkeit der Feststellung des Nichtbestehens des Freizü-gigkeitsrechts sei lediglich deklaratorischer Natur – weil das Freizügigkeitsrecht in Missbrauchsfällen bereits aufgrund eines allgemeinen, dem Unionsrecht immanenten Missbrauchsvor-behalts nicht entstehe35 – so dient die entsprechende Feststel-lung zumindest dem öffentlichen wie auch privaten Interesse der Rechtssicherheit.36 Zudem sprechen einige Argumente auch für die konstitutive Natur der Nichtbestehensfeststellung und somit für die Notwendigkeit der Einführung einer entsprechen-den Ermächtigungsgrundlage (gesetzt die Prämisse, man will Handlungsmöglichkeiten in Fällen des Rechtsmissbrauchs zur Verfügung haben). So vertritt das OVG Berlin-Brandenburg die Ansicht, dass Art. 35 RL 2004/38 eine abschließende Regelung zu Fragen des Missbrauchs – insbesondere der Scheinehepro-blematik – enthalte: „Bei fehlender Umsetzung der Regelung darf der Ehegattennachzug zu einer Unionsbürgerin oder einem Unionsbürger mangels konkreter nationaler Rechtsgrundlage nicht mit der Begründung verweigert werden, dass es sich um eine Scheinehe handele.“37 Es sei auch kein Rückgriff auf einen generellen, unionsrechtsimmanenten Missbrauchsvorbehalt möglich, da Art. 35 RL 2004/38 u. a. auch Verfahrensgaran-tien aufstelle, die zwingend einzuhalten seien.38 Auch die vom Gesetzgeber formulierte, generelle Vermutung des Bestehens des Freizügigkeitsrechts39 spricht für die konstitutive Natur der Nichtbestehensfeststellung: der durch diese Vermutung entstan-dene Rechtsschein kann nur beseitigt werden, indem das förm-liche Verfahren nach § 2 VII FreizügG/EU n. F. durchgeführt wird.40

Unabhängig von der rechtlichen Qualifikation der Nicht-bestehensfeststellung werden die Behörden, die von § 2 VII FreizügG/EU n. F. Gebrauch machen, die folgenden Vorgaben zu berücksichtigen haben, die sich teilweise auch vom Vorgehen nach dem AufenthG unterscheiden41:

2.1 Maßnahmen in Fällen von Rechtsmissbrauch oder Betrug

Art. 35 RL 2004/38 ermächtigt die Mitgliedstaaten, Maß-nahmen zu erlassen, „die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug (…) zu verweigern, aufzuheben oder zu widerru-fen.“ Die Bundesrepublik hatte bislang keinen Gebrauch von dieser Möglichkeit gemacht, sieht sich aber – so die Gesetzes-begründung – zunehmend mit Rechtsmissbrauch im Zusam-menhang mit dem unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht kon-frontiert. Abfragen unter den Ländern hätten „eine nicht uner-hebliche Zahl von Fällen ergeben.“31 Aus diesem Grund wurde in § 2 FreizügG/EU ein siebter Absatz eingefügt, demzufolge das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts festgestellt werden kann, wenn feststeht, dass die betreffende Person das Vorliegen einer Voraussetzung des Rechts durch die Verwendung ge- oder verfälschter Dokumente oder durch Vorspiegelung falscher Tat-sachen vorgetäuscht hat (Satz 1). Gemäß Satz 2 kann für Fami-lienangehörige, die nicht Unionsbürger sind, das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts außerdem festgestellt werden, wenn feststeht, dass sie dem Unionsbürger nicht zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft nachziehen oder ihn zu diesem Zweck begleiten.

Die Notwendigkeit der Einführung solcher Missbrauchsklau-seln war umstritten. Die Bundestagsfraktionen von DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vertraten im Verlauf des Ge-setzgebungsverfahrens beispielsweise, dass es einer gesetzlichen Neuregelung zur Missbrauchsbekämpfung gar nicht bedürfe, da § 6 I FreizügG/EU (Verlust des Rechts auf Einreise und Auf-enthalt aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit) auch Missbrauchsfälle abdecke, bzw. – dem Hin-weis in Nr. 6.0.6 AVV-FreizügG/EU entsprechend – das Freizü-gigkeitsrecht in Missbrauchsfällen gar nicht entstehe und die betreffenden Personen sich daher auch nicht auf das FreizügG/EU berufen könnten.32 Eine ausdrückliche Missbrauchsrege-lung berge hingegen die Gefahr einer verschärften Prüfpraxis durch die Behörden.33

Die rechtspolitische Diskussion über Sinn und Unsinn von Missbrauchsklauseln, insbesondere im Hinblick auf das unter den Stichworten „Scheinehe“ und „Scheinvaterschaftsanerken-nung“ den familiären Beziehungen von Ausländern entgegen-gebrachte Misstrauen, sei an dieser Stelle ausgeblendet. Fest-zustellen ist aber, dass – entgegen der von der Opposition im Bundestag vertretenen Argumentation – der § 6 I FreizügG/EU nur den Fall regelt, dass das einmal entstandene Freizügigkeits-recht aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wieder verloren geht. In § 5 IV FreizügG/EU n. F. (zuvor: § 5 V FreizügG/EU) ist geregelt, dass wenn die Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts innerhalb der ersten fünf Jahre nach Be-gründung des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen, das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts festgestellt werden kann. Beide Normen erfassen nicht den Fall, dass das Freizü-gigkeitsrecht bereits gar nicht entstanden ist, weil über das Vorliegen seiner Voraussetzungen getäuscht wurde bzw. eine familiäre Beziehung nur zum Schein – ausschließlich zur Er-langung eines freizügigkeitsrechtlichen Vorteils – eingegangen

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Tewocht, Die Neuregelung des Freizügigkeitsgesetzes/EU | a B H a N D LU N G E N

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42 Mitteilung der Kommission zur Hilfestellung bei der Umsetzung und anwendung der rL 2004/38, KOM (2009) 313 endg. vom 2.7.2009, 18 f.

43 BT-Drs. 17/10746, 9.44 Erwägungsgrund 28 rL 2004/38.45 Mitteilung der Kommission zur Hilfestellung bei der Umsetzung und

anwendung der rL 2004/38, KOM (2009) 313 endg. vom 2.7.2009, 16.46 EuGH, zar 2013, 207 – O. und S., rn. 54; vgl. auch die Mitteilung der

Kommission zur Hilfestellung bei der Umsetzung und anwendung der rL 2004/38, KOM (2009) 313 endg. vom 2.7.2009, 17, Fn. 63.

47 Mitteilung der Kommission zur Hilfestellung bei der Umsetzung und anwendung der rL 2004/38, KOM (2009) 313 endg. vom 2.7.2009, 19.

48 Vgl. die Verweiskette: §§ 27 II iVm 28 I 5 iVm 30 I 1 aufenthG.49 §§ 27 II iVm 28 I 3 aufenthG.50 §§ 27 III iVm 27 III aufenthG.51 Dazu VG Darmstadt, Infauslr 2008, 340; Hofmann/Hoffmann,

HK-auslr, FreizügG/EU, § 3, rn. 19; Brinkmann (Fn. 15), FreizügG/EU, § 3, rn. 28; Hailbronner, Jz 2010, 398 (400 f); vgl. aber auch BT-Drs. 15/420, 103 sowie Nr. 3.6.0–3.6.3 aVV-FreizügG/EU.

52 So bspw. Hofmann/Hoffmann (Fn. 51), FreizügG/EU, § 3, rn. 19.53 So bspw. Dienelt (Fn. 15), FreizügG/EU, § 3, rn. 79 ff.54 Der anlässlich des Inkrafttretens des Lebenspartnerschaftsgesetzes

am 1.8.2001 eingefügte § 27a auslG sah die anwendung der Vorschrif-ten über den Ehegattennachzug zu ausländern auf eingetragene Le-benspartner vor.

55 BVerfGE 124, 199, zur Hinterbliebenenversorgung für arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes; BVerfGE 126, 400, zur Erbschafts- und Schenkungssteuer; BVerfG, NVwz 2012, 1304, zum beamtenrechtlichen Familienzuschlag; BVerfG, NVwz 2012, 1310, zur Grunderwerbssteuer; BVerfG, NJW 2013, 847, zur Sukzessivadoption; BVerfG, B. v. 7.5.2013, 2 Bvr 909/06, 1981/06 und 288/07, zum Ehegattensplitting.

56 § 4 S. 1 und 2 FreizügG/EU a. F.; § 4a I FreizügG/EU a. F.57 Vgl. die zusammenfassung: BT-Drs. 17/11105, 6.

(Art. 2 Nr. 2 lit. b RL 2004/38). Welchen Umfang die geforderte Gleichstellung von Lebenspartnerschaft und Ehe haben muss, galt als unklar: Genügt eine ausländerrechtliche Gleichstel-lung52 oder muss eine umfassende und allgemein geltende recht-liche Gleichstellung53 vorgenommen worden sein? In der Bun-desrepublik bestand die ausländerrechtliche Gleichstellung im Bereich des Familiennachzugs bereits seit 200154; eine allgemein geltende Gleichstellunganordnung von Ehe und Lebenspartner-schaft – beispielsweise im BGB oder im Lebenspartnerschafts-gesetz – gibt es aber nach wie vor nicht. Mittlerweile ist aber in nahezu allen Rechtsgebieten die (weitgehende) Angleichung der Rechtstellung von Lebenspartnern und Eheleuten erfolgt – eine Entwicklung, die durch sechs Urteile des BVerfG „angescho-ben“ wurde und zuletzt den Bereich Einkommensteuerrecht/Ehegattensplitting betraf.55 Insoweit muss spätestens nach der heutigen Rechtslage davon ausgegangen werden, dass die Vor-aussetzungen von Art. 2 Nr. 2 lit. b RL 2004/38 erfüllt sind und daher der (eingetragene) Lebenspartner des Unionsbürgers als freizügigkeitsberechtigter Familienangehöriger zu betrachten ist. Der deutsche Gesetzgeber hat diesen Schritt nachvollzogen und mit dem Änderungsgesetz vom 21.1.2013 § 3 VI FreizügG/EU a. F., der den Verweis ins AufenthG enthielt, aufgehoben, und den Lebenspartner in die Begriffsbestimmung des Famili-enangehörigen iSd § 3 II FreizügG/EU aufgenommen. Als Fol-geänderung wurde aus den übrigen Vorschriften des FreizügG/EU die gesonderte Bezugnahme auf den Lebenspartner gestri-chen,56 da er nunmehr vom Begriff des Familienangehörigen umfasst ist. Damit ist auch auf Ebene des Freizügigkeitsrechts die Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft vollzogen – ein Schritt, der von den Oppositionsfraktionen im Bundestag ausdrücklich begrüßt wurde.57

(allgemein)• Maßnahmen nach Art. 35 müssen gemäß Art. 35 S. 2 RL

2004/38 verhältnismäßig sein und den Anforderungen der Artikel 30 (Mitteilungs- und Begründungspflicht, Rechtsbe-helfsbelehrung) und 31 (Verfahrensgarantien) RL 2004/38 genügen.

• Erst wenn feststeht, dass ein Fall von Missbrauch/Täu-schung vorliegt, kann das Nichtbestehen des Freizügigkeits-rechts festgestellt werden: die Beweislast für das Vorliegen einer Missbrauchskonstellation liegt bei den mitgliedstaat-lichen (Ausländer-)Behörden; Ermittlungen müssen unter Wahrung der Grundrechte durchgeführt werden.42

(bezogen auf Scheinehen)• Für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen gilt gene-

rell die Vermutung des Bestehens des Freizügigkeitsrechts.43

• Als Scheinehen gelten nur solche Ehen, die ausschließlich zu dem Zweck geschlossen wurden, die „Familienfreizügig-keit“ in Anspruch zu nehmen.44

• „Eine Ehe kann nicht als Scheinehe angesehen werden, nur weil mit ihr aus einwanderungsrechtlicher Sicht oder in an-derer Hinsicht ein Vorteil verbunden ist. Die Qualität der Beziehung ist für die Anwendung von Artikel 35 unerheb-lich.“45

• Es darf keine Rolle spielen, ob Personen, die ein familiäres Freizügigkeitsrecht geltend machen, in häuslicher Gemein-schaft zusammenleben.46

• „Laufende Ermittlungen bei Verdacht auf Scheinehe recht-fertigen keine Ausnahmen von den in der Richtlinie ver-brieften Rechten für Familienangehörige aus Drittstaaten (...).“47

2.2 Gleichstellung von Lebenspartnern und Ehegatten

Vor 2013 unterschied das FreizügG/EU zwischen Familienan-gehörigen und Lebenspartnern. Familienangehörige iSd § 3 II FreizügG/EU werden dem Unionsbürger, den sie begleiten bzw. dem sie nachziehen, in freizügigkeitsrechtlicher Hinsicht gleichgestellt. Ihr Recht auf Einreise, Aufenthalt, Arbeitsmarkt-zugang etc. richtet sich nach dem FreizügG/EU und entspricht (weitgehend) dem des Unionsbürgers. Auf Lebenspartner von Unionsbürgern sollten hingegen gemäß § 3 VI FreizügG/EU a.F. diejenigen Vorschriften des AufenthG angewendet werden, die auch für Lebenspartner von Deutschen gelten. Gemäß § 27 II AufenthG sind das (u. a.) die §§ 27 Ia, III, 28–31 AufenthG. Der Lebenspartner eines Unionsbürgers sollte also wie der Ehe-gatte eines Deutschen behandelt werden und musste dement-sprechend über deutsche Sprachkenntnisse verfügen48; zudem konnte sein Aufenthalt von der Sicherung des Lebensunter-halts49 bzw. dem Nichtvorliegen des Ausschlussgrunds der Un-terhaltsgefährdung50 abhängig gemacht werden.

Die Unionsrechtskonformität dieses Verweises ins AufenthG war umstritten51, sieht die Freizügigkeitsrichtlinie doch vor, dass Lebenspartner von Unionsbürgern als freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige gelten, wenn der Aufnahmemitgliedstaat die eingetragene Lebenspartnerschaft mit der Ehe gleichstellt

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58 art. 2 Nr. 2 lit. b rL 2004/38.59 § 1 I 1 LPartG: zwei Personen gleichen Geschlechts, die gegenüber dem

Standesbeamten persönlich und bei gleichzeitiger anwesenheit erklä-ren, miteinander eine Partnerschaft auf Lebenszeit führen zu wollen (Lebenspartnerinnen oder Lebenspartner), begründen eine Lebens-partnerschaft.

60 Nr. 27.2.2 aVV-aufenthG.61 Vertiefend: BeckOK auslr/Kurzidem (1. Edition), FreizügG/EU, § 5

rn. 1–4. 62 BT-Drs. 17/10746, 8, 11.63 So die Stellungnahme des DStGB, im Internet abrufbar unter: http://

www.dstgb.de → Schwerpunkte → Integration und zuwanderung → zuwanderungsfragen, aufenthaltsrecht → Stellungnahme zur Ände-rung des Freizügigkeitsgesetzes-EU.

64 Stellungnahme DStGB (Fn. 63).65 BT-Drs. 17/10746, S. 11.66 BT-Drs. 17/10746, S. 11, zu § 5a.67 BT-Drs. 17/10746, S. 11.68 Dazu: BT-Drs. 17/10746, S. 12.

Ausstellungsvoraussetzungen der Freizügigkeitsbescheinigung aus besonderem Anlass überprüft werden. Insoweit hat sich der Aufgabenbereich der Behörden nicht wesentlich verringert, er wurde – im Gegenteil – um die Variante der Prüfung des Vor-liegens des Freizügigkeitsrechts erweitert. Diese Änderung ist durch die Einführung der Missbrauchstatbestände in § 2 VII FreizügG/EU erforderlich geworden.65 Die Nachweisobliegen-heiten der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen wur-den nicht verändert.66

Die Aufenthaltskarte für drittstaatsangehörige Familienange-hörige von Unionsbürgern (§ 5 II FreizügG/EU a. F.) sowie ihre Ausstellungsmodalitäten werden beibehalten (jetzt: § 5 I Frei-zügG/EU n. F.). Ebenfalls beibehalten wurde die Möglichkeit für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, sich eine Bescheini-gung über das Bestehen des Daueraufenthaltsrechts ausstellen zu lassen (§ 5 VI FreizügG/EU a. F.; jetzt: § 5 V FreizügG/EU n. F.).

Klarstellend wurde § 5 IV 1 FreizügG/EU n. F. dahingehend abgeändert, dass die Aufenthaltskarte der Familienangehörigen in Fällen, in denen das Freizügigkeitsrecht nicht (mehr) besteht, „eingezogen“ und nicht – wie es bislang hieß – „widerrufen“ werden kann. Durch diese Änderung wird der deklaratorische Charakter der Aufenthaltskarte der (drittstaatsangehörigen) Familienangehörigen hervorgehoben, wird so doch deutlich, dass sie keinen widerrufsfähigen Verwaltungsakt darstellt.67 Eben diese Klarstellung erfolgte auch in § 6 I FreizügG/EU n. F.: Ist der Verlust des Freizügigkeitsrechts aus Gründen der öffent-lichen Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit festgestellt, wird die Bescheinigung über das Daueraufenthaltsrecht oder die Aufenthaltskarte oder die Daueraufenthaltskarte eingezogen.68

2.4 Weitere Änderungen

Die übrigen Änderungen sind weniger offensichtlich und meist redaktioneller oder klarstellender Natur bzw. Folgeänderungen. Auf einige sei an dieser Stelle gesondert hingewiesen: Bezogen auf den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts durch drittstaatsan-gehörige Familienangehörige von Unionsbürgern wurde § 4a I FreizügG/EU um folgenden Satz 2 ergänzt: „Ihre Familienan-gehörigen, die nicht Unionsbürger sind, haben dieses Recht, wenn sie sich seit fünf Jahren mit dem Unionsbürger ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben.“ Hintergrund

Der Status des Lebenspartners wird erlangt, indem die Partner eine eingetragene Partnerschaft, basierend auf den Grundlagen der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, eingehen. Zusätz-lich müssen auch „die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt (sein)“58, so dass für die Anerkennung einer nach ausländi-schem Recht geschlossenen Lebenspartnerschaft in der Bundes-republik prinzipiell auf die Voraussetzungen des Lebenspart-nerschaftsgesetzes abgestellt werden muss.59 Hierzu geben die Verwaltungsvorschriften zum AufenthG folgende Hinweise, die bezogen auf das FreizügG/EU entsprechend herangezogen werden können: „Nach ausländischem Recht geschlossene gleichgeschlechtliche Partnerschaften fallen unter den Begriff der „Lebenspartnerschaft“, wenn die Partnerschaft staatlich anerkannt ist und sie in ihrer Ausgestaltung der deutschen Le-benspartnerschaft im Wesentlichen entspricht. Eine wesentliche Entsprechung liegt vor, wenn das ausländische Recht von einer Lebensgemeinschaft der Partner ausgeht und insbesondere wechselseitige Unterhaltspflichten der Lebenspartner und die Möglichkeit der Entstehung nachwirkender Pflichten bei der Auflösung der Partnerschaft vorsieht.“60

2.3 Abschaffung der Freizügigkeitsbescheinigung

Als dritte wesentliche Änderung des FreizügG/EU ist die Ab-schaffung der sogenannten Freizügigkeitsbescheinigung hervor-zuheben. Bislang galt gemäß § 5 I FreizügG/EU a. F. der Grund-satz, dass freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen mit Staatsangehörigkeit eines EU-Mit-gliedstaates von Amts wegen unverzüglich eine Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht ausgestellt wird. Diese Bescheinigung hatte lediglich deklaratorischen Charakter, da das Freizügig-keitsrecht unmittelbar dem AEUV entspringt und zudem eine generelle Freizügigkeitsvermutung zu Gunsten von Unionsbür-gern besteht.61 Um Bürokratiekosten sowie den Verwaltungs-aufwand zu senken, wurde die Freizügigkeitsbescheinigung durch Aufhebung des § 5 I FreizügG/EU abgeschafft.62 Dieser Schritt wurde allgemein und nicht zuletzt auch vom Deutschen Städte- und Gemeindebund (DStGB) begrüßt, ist die Freizügig-keitsbescheinigung in der Praxis doch entgegen den Maßgaben des Unionsrechts „gewissermaßen zu einer Art Aufenthalts titel aufgewertet (worden), so dass Unionsbürger im Zuge der Be-arbeitung ihres Antrags z. B. auf Sozialleistungen (...) aufge-fordert werden, ihr Freizügigkeitsrecht durch die Vorlage einer aktuellen Freizügigkeitsbescheinigung nachzuweisen. Aufgrund dessen ist bei den Ausländerbehörden eine signifikante Zahl an Vorsprachen von Unionsbürgern festzustellen.“63 Ein Wegfall der Bescheinigung werde „entscheidend dazu beitragen, den Vorgaben der Richtlinie 2004/38/EG in der Verwaltungspraxis besser gerecht zu werden und eine Konzentration der Auslän-derbehörden auf ihre kontinuierlich wachsenden Kern aufgaben zu ermöglichen.“64 Inwieweit sich diese Hoffnung bewahrheitet, bleibt abzuwarten, sieht doch § 5 III FreizügG/EU n. F. vor, dass künftig das „Vorliegen“ oder der „Fortbestand“ des Freizügig-keitsrechts „aus besonderem Anlass überprüft werden (kann)“. Nach alter Rechtslage konnte lediglich der Fortbestand der

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69 § 4a I FreizügG/EU a. F.: Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und Lebenspartner, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bun-desgebiet aufgehalten haben, haben (...) das recht auf Einreise und aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht).

70 ausführlicher: Tewocht (Fn. 13), FreizügG/EU, § 4a, rn. 12–16 mwN.71 Laut Gesetzesbegründung dient die Änderung der Umsetzung von art.

16 II rL 2004/38. Dazu ist anzumerken, dass es dem nationalen Gesetz-geber überlassen ist, günstigere regelungen als in der richtlinie vorge-sehen, zu treffen. Somit war dieser gesetzgeberische Schritt nicht zwingend unionsrechtlich vorgegeben.

72 Im Detail: Hailbronner (Fn. 8), FreizügG/EU, § 4a, rn. 25 ff.73 Vgl. EuGH, BeckEurS 1985, 119193 – Diatta sowie aus der jüngsten

rechtsprechung: EuGH, zar 2013, 207, 209 rn. 54 – O. und S. (mit anm. Pfersich).

74 Dazu BT-Drs. 17/10746, 12.75 BT-Drs. 17/10746, 12.76 Unionsbürger und ihre Familienangehörigen sind verpflichtet, den

Pass oder Passersatz sowie die aufenthaltskarte, die Bescheinigung des Daueraufenthalts und die Daueraufenthaltskarte den mit der aus-führung dieses Gesetzes betrauten Behörden auf Verlangen vorzule-gen, auszuhändigen und vorübergehend zu überlassen, soweit dies zur Durchführung oder Sicherung von Maßnahmen nach diesem Gesetz erforderlich ist.

77 BT-Drs. 17/10746, 12.

Personalausweises und nicht – wie in Bezug auf Unionsbürger in § 8 I Nr. 1 lit. b FreizügG/EU a. F. formuliert – durch Aushän-digung seines Personalausweises. Eine entsprechende Wortlaut-anpassung des § 8 I FreizügG/EU soll sicherstellen, „dass Unionsbürger nicht schlechter gestellt werden als Deutsche unter vergleichbaren Bedingungen“.75 Gemäß § 10 I FreizügG/EU handelt der Unionsbürger ordnungswidrig, wenn er gegen die in § 8 I Nr. 1 lit. b FreizügG/EU normierte Vorlagepflicht verstößt oder er entgegen § 8 I Nr. 3 FreizügG/EU ein dort genanntes Dokument nicht oder nicht rechtzeitig vorlegt. Die zweite Variante – der Verstoß gegen die in § 8 I Nr. 3 FreizügG/EU normierten Pflichten76 – konnte bislang nicht als Ordnungs-widrigkeit geahndet werden. Da für eine solche Regelung jedoch praktischer Bedarf bestehe und man die Ordnungswidrigkeit – entsprechend des für deutsche Staatsangehörige geltenden § 32 I Nr. 1 iVm § 1 I PassG – auf die Verletzung der Pflicht zur Vor-lage der Dokumente beschränkt habe, schließe diese Neuerung auf unionsrechtskonforme Weise eine Regelungslücke.77

3. Zusammenfassende Bewertung des Änderungsgesetzes

Es hat sich gezeigt, dass das Gesetz zur Änderung des Freizü-gigkeitsgesetzes/EU „minimalinvasiv“ arbeitet. Die oben auf-gezeigte Grundproblematik der abweichenden Systematik von Richtlinie und Gesetz bleibt bestehen. Der Gesetzgeber hat le-diglich punktuell nachgebessert und sich dabei nicht zwingend zu Gunsten der freizügigkeitsfreundlichsten Regelungsalterna-tive entschieden. Die Herstellung der Richtlinienkonformität bzw. die Umsetzung des Diskriminierungsverbots werden im Einzelfall herangezogen, um eine Verschlechterung der bislang bestehenden Rechtslage zu begründen. Sofern eine solche Ent-scheidung tatsächlich Richtlinienkonformität herstellt, ist sie europarechtlich nicht zu beanstanden. Das Vorgehen der Bun-desrepublik ist aber durchaus widersprüchlich. So wird einer-seits die Herstellung von Richtlinienkonformität herangezogen, um die punktuelle Besserstellung von Unionsbürgern nach dem

dieser Ergänzung ist die Mehrdeutigkeit der alten Formulierung des § 4a I FreizügG/EU, aus der nicht hervorging, ob es für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts durch den drittstaatsange-hörigen Familienangehörigen erforderlich ist, dass dieser sich fünf Jahre lang als Familienangehöriger eines Unionsbürgers in der Bundesrepublik aufgehalten hat, oder ob es genügt, dass er sich überhaupt fünf Jahre lang rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.69 Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm sprachen eher für die weniger restriktive, letztgenannte Auslegungsvariante.70 Durch den neuen Satz 2 stellt der Gesetz-geber klar, dass er der restriktiveren, erstgenannten Auslegungs-variante (die auch der Formulierung in Art. 16 II RL 2004/38 entspricht) den Vorzug gibt:71 Familienangehörige von Unions-bürgern, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaa-tes besitzen, erwerben nur dann ein Daueraufenthaltsrecht iSd § 4a I FreizügG/EU (Art. 16 RL 2004/38), wenn sie sich fünf Jahre lang als Familienangehörige eines Unionsbürgers im Bun-desgebiet aufgehalten haben.

Eine weitere Änderung von § 4a FreizügG/EU erfolgte im vierten Absatz der Vorschrift: Unionsbürger können unter be-stimmten Voraussetzungen das Daueraufenthaltsrecht bereits vor Ablauf des an sich notwendigen fünfjährigen rechtmäßi-gen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat erwerben, wenn es sich bei ihnen um ehemals erwerbstätige Unionsbürger han-delt, die aus dem Erwerbsleben ausscheiden (§ 4 II FreizügG/EU; Art. 17 I RL 2004/38).72 In einem solchen Fall sollen auch die Familienangehörigen dieses Unionsbürgers das Dauer-aufenthaltsrecht erwerben – vorausgesetzt, sie halten sich mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat auf (Art. 17 III RL 2004/38). § 4a IV FreizügG/EU a. F. stellte aber die zusätzli-che Anforderung auf, dass die betreffenden Familienmit glieder bereits bei Entstehen des Daueraufenthaltsrechts des Unions-bürgers ihren ständigen Aufenthalt bei ihm gehabt haben müs-sen und war insoweit nicht richtlinienkonform. Der Gesetzge-ber hat jetzt Abhilfe geschaffen und § 4a IV FreizügG/EU n. F. wie folgt formuliert: „Die Familienangehörigen eines Unions-bürgers, der das Daueraufenthaltsrecht nach Absatz 2 erwor-ben hat, haben ebenfalls das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie bei dem Unionsbürger ihren ständigen Aufenthalt haben.“ Zum Tatbestandsmerkmal des ständigen Aufenthalts bei dem Unionsbürger ist anzumerken, dass es großzügig auszulegen ist, geht doch die Richtlinie lediglich von einem „Aufenthalt mit (dem Unionsbürger) im Hoheitsgebiet des Aufnahmemit-gliedstaats“ aus. Zudem schützt das Unionsrecht die „Familien-freizügigkeit“ generell, ohne dass familiäre Beziehungen durch das Bestehen einer häuslichen Lebensgemeinschaft untermauert werden müssten.73

§ 6 I FreizügG/EU wurde um den Hinweis erweitert, dass die Feststellung, das Freizügigkeitsrecht bestehe aus Gründen der öffentlichen Gesundheit nicht, nur bei bestimmten Krankhei-ten und auch nur dann, wenn die fragliche Krankheit inner-halb von drei Monaten nach der Einreise auftritt, erfolgen kann (§ 6 I 3 FreizügG/EU n. F.).74

Zu guter Letzt sei noch auf die Änderungen bei den Ausweis-pflichten hingewiesen: Ein deutscher Staatsangehöriger genügt gemäß § 1 I 2 PassG seiner Ausweispflicht durch Vorlage seines

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78 BT-Drs. 15/420, 103.79 Vgl. dazu auch KOM (2008) 840 endg., 6.80 Nr. 36.2.2.9 aVV-aufenthG.81 EuGH, zar 2013, 114 – Rahman (mit anm. Pfersich).82 Die Kommission hat bereits in ihrem abschlussbericht zur Umsetzung

der richtlinie vom 10.12.2008 festgestellt, dass die Bundesrepublik art. 3 II rL 2004/38 „nicht zufriedenstellend“ umgesetzt hat, vgl. KOM (2008) 840 endg., 4, Fn. 10.

83 EuGH, zar 2013, 114 – Rahman (mit anm. Pfersich), rn. 22.84 EuGH, zar 2013, 114 – Rahman (mit anm. Pfersich), rn. 21, 24.85 ausschussdrucksache 17(4)583 B, abgedruckt in: BT-Drs. 17/11105, 5.

nicht den Anforderungen der Richtlinie genügt.82 Zwar bleibt es den Mitgliedstaaten überlassen, wie sie die „Erleichterung“ für die Einreise und den Aufenthalt der bestreffenden sonstigen Familienangehörigen ausgestalten. Sie müssen aber sicherstel-len, dass ein entsprechender Antrag auf Familienzusammen-führung auf einer eingehenden Untersuchung der persönlichen Umstände des Familienangehörigen beruht und bei Ablehnung entsprechend begründet wird.83 Insoweit besteht eine Rege-lungsverpflichtung der Mitgliedstaaten. Die zu treffende Re-gelung muss dem Wortsinn „erleichtern“ gerecht werden und eine gewisse Bevorzugung gegenüber den Anträgen anderer Drittstaatsangehöriger vorsehen.84 Diesen Anforderungen wird § 36 II AufenthG, der sich gleichermaßen auf sonstige Familien-angehörige von Drittstaatsangehörigen und Unionsbürgern er-strecken soll und eine Familienzusammenführung nur zur Ver-meidung außerordentlicher Härten zulässt, offensichtlich nicht gerecht. Es verwundert daher, dass das Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes nicht zum Anlass genommen wurde, auch in dieser Hinsicht Richtlinienkonformität herzustellen – insbesondere weil ein entsprechender Änderungsantrag der Fraktion DIE LINKE vorlag.85

4. Fazit

Im Ergebnis kann das Konzept des Gesetzes zur Änderung des FreizügG/EU nicht überzeugen. Das Prinzip der „Flickschus-terei“ wurde auch im 7. Jahr nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Freizügigkeitsrichtlinie fortgeführt, und es wurden längst nicht alle Umsetzungsdefizite beseitigt. Dieses gesetzgeberische Vorgehen ist in europarechtlicher wie in verfassungsrechtlicher Hinsicht fragwürdig. Wünschenswert und auf lange Sicht auch effektiver wäre eine grundsätzliche Reform des FreizügG/EU, verbunden mit einer Anpassung an Terminologie und Systema-tik der Freizügigkeitsrichtlinie.

FreizügG/EU, über die unionsrechtlichen Vorgaben hinaus, „zu-rückzuschrauben“. Damit einher geht wohl auch die Abkehr von der ursprünglichen gesetzgeberischen Intention, wie sie bei der Entwicklung des FreizügG/EU, beispielsweise in Bezug auf das anfänglich in § 2 V FreizügG/EU geregelte Daueraufent-haltsrecht formuliert wurde: „Absatz 5 gewährt ein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach mindestens fünfjährigem stän-digem Aufenthalt im Bundesgebiet unabhängig vom weiteren Vorliegen des gemeinschaftsrechtlichen Aufenthaltsrechts. Das Freizügigkeitsgesetz/EU geht insoweit deutlich über die gegen-wärtigen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben hinaus. Absatz 5 berücksichtigt die mit der Dauer des Aufenthaltes regelmäßig stärker werdenden Bindungen der Kernfamilie im Aufnahme-mitgliedstaat.“78

Auf der anderen Seite ist die Freizügigkeitsrichtlinie nach wie vor nicht vollständig ins deutsche Recht umgesetzt – insoweit scheint das Interesse an der Richtlinienkonformität des Frei-zügG/EU nicht besonders ausgeprägt zu sein. Auch nach den Änderungen vom Januar 2013 bleiben Umsetzungsdefizite. Dabei handelt es sich einerseits um kleinere Ungenauigkeiten – wenngleich auch diese im Einzelfall durchaus rechtliche Rele-vanz entfalten können. So sieht Art. 13 II lit. a, b, c RL 2004/38 vor, dass in Fällen von Scheidung bzw. Wegzug oder Tod des Unionsbürgers, die Familienangehörigen ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat beibehalten. § 3 V FreizügG/EU be-zieht dieses Bleiberecht im Fall einer Scheidung aber lediglich auf den Ehegatten (bzw. für den Fall der Auflösung der einge-tragenen Lebenspartnerschaft auf den Lebenspartner) und nicht auf alle Familienangehörigen. Ein weiteres Beispiel: Art. 7 III RL 2004/38 sieht vor, dass Arbeitnehmer und Selbständige unter bestimmten Umständen – z. B. wenn sie unfreiwillig ar-beitslos werden oder wegen eines Unfalls oder einer Krankheit vorübergehend arbeitsunfähig sind – die Erwerbstätigeneigen-schaft beibehalten. Gemäß § 2 III FreizügG/EU behalten die Betreffenden lediglich ihr Freizügigkeitsrecht bei. Die nationa-le Regelung ist enger und daher im Einzelfall ungünstiger, fol-gen aus der Erwerbstätigeneigenschaft doch neben dem Frei-zügigkeitsrecht noch weitere Vorteile, wie u. a. ein besonderer Ausweisungsschutz trotz der Inanspruchnahme von Sozialhilfe (Art. 14 IV lit. a RL 2004/38).79

Neben diesen eher unauffälligen Ungenauigkeiten besteht zu-mindest ein offensichtliches Umsetzungsdefizit: Art. 3 II lit. a, b RL 2004/38 verlangt, dass bestimmten sonstigen Familien-angehörigen und Partnern von Unionsbürgern, die nicht in den Kreis der in Art. 2 Nr. 2 RL 2004/38 definierten Kernfamilie fallen, Einreise und Aufenthalt zu „erleichtern“ sind. Diese Vor-gabe findet keine Entsprechung im FreizügG/EU. Es findet sich lediglich in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 36 Auf-enthG (Nachzug der Eltern und sonstiger Familienangehöriger) der Hinweis, dass § 36 AufenthG auch auf sonstige Familienan-gehörige von Unionsbürgern Anwendung finden kann. Damit solle aber keine Erweiterung des Anwendungsbereichs der Norm einhergehen, lediglich bei der Ausübung des pflichtgemä-ßen Ermessens sei die familiäre Beziehung zum Unionsbürger zu berücksichtigen.80 Spätestens seit der EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Rahman81 ist aber klar, dass dieses Vorgehen