12
März 2013 Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne Herbert Böttcher Aufbruch in die Moderne? Kirchliche Reformgruppen erinnern an das II. Vatikanische Konzil, das vor 50 Jahren stattfand. In Frankfurt bot im Okto- ber 2012 eine „Konziliare Versammlung“ ein Forum, um über die Rolle der Kirche in der Gesellschaft nachzudenken. Die dort vertretenen Gruppen und Einzel- personen verbindet in ihren unter- schiedlichen Aktionsfeldern die Sehn- sucht nach einer anderen Welt und einer Kirche, die sich konsequenter in den Dienst des Evangeliums stellt. Für die „Botschaft der Konziliaren Ver- sammlung“ beinhaltet das Konzil den Aufbruch der katholischen Kirche „in die moderne, plurale Welt“. Sie wird zwar durchaus als eine Welt gesehen, „in der sich die Kluft zwischen Reichen und Armen immer mehr vergrößert“. Nicht reflektiert wird jedoch, dass diese Kluft nicht ein zu korrigierender Auswuchs der Moderne darstellt, sondern konstitutiv mit ihr verbunden ist. Die ‚Moderne’ als Durchsetzung des Kapitalismus Die ‚Moderne’ ist von der Durchsetzung des Kapitalismus nicht zu trennen. Genau deshalb ist die „Kluft zwischen Armen und Reichen“ der ‚Moderne’ nicht äußer- lich, sondern innerlich. Die gemessen an seiner Geschichte kurze und auf die nörd- liche Welthalbkugel beschränkte Phase eines sozial regulierten Kapitalismus hat den Blick für den inneren Zusammen- hang des Kapitalismus mit Armut, sozia- ler Spaltung und repressiver Gewalt ver- deckt. In der sich zuspitzenden Krise des Kapitalismus begegnet uns also nicht ein verzerrtes, sondern ein dem Kapitalis- mus gemäßes Gesicht. Wenn die Frank- furter Botschaft die „Zeichen der Zeit“ meint in der Suche nach „Alternativen zur neoliberalen Herrschaft von Kapital- und Gewinnsucht“ erkennen zu müssen, sind diese Zeichen verkannt. Liebe Leserinnen und Leser des Netz- Telegramms, das Netz-Jubiläum im vergangenen Oktober zeigte, dass unser Netz zwar leider keine Massen anzieht, aber von den aktiven Gruppen und Einzelmit- gliedern in seinem praktischen wie theo- retischen Tun gestärkt wurde: Es war Konsens, dass der oft beschriebene Spa- gat zwischen Praxis und Theorie weiter verfolgt werden solle. Mit diesem Netz- Telegramm wird dem Rechnung getra- gen und erneut versucht, anhand der Beispiele Fujian/China und Katholische Kirche das Wesen bzw. den Kern der Entwicklungen in der realen, ‚moder- nen’ Welt herauszuschälen. Durch die Beteiligung des Geschäfts- führers und von Herbert Böttcher an der Vorbereitung zu einer Ökumeni- schen Versammlung (s. erster Aufruf zur Mitwirkung) im kommenden Jahr versucht das Netz seine An- und Ein- sichten auch weiterhin stark in die Ökumene-Bewegung auf Bundesebe- ne einzubringen. Schließlich ist noch Herbert Böttchers Trauerrede anlässlich des Todes von Robert Kurz in diesem Telegramm abge- druckt, da dessen Veröffentlichungen besonderen Einfluss auf die Diskussio- nen im Netz hatten und haben. Eine gute Lektüre wünscht Ihnen und Euch Foto: Peter Geymayer Inhalt Kollabierende Moderne 1 Ökumenische Versammlung 4 Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12

Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne · Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12. NETZTELEGRAMM März 2013 Der neoliberale Kapitalismus

  • Upload
    doanque

  • View
    213

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne · Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12. NETZTELEGRAMM März 2013 Der neoliberale Kapitalismus

März 2013

Das II. Vatikanische Konzil unddie kollabierende Moderne

Herbert Böttcher

Aufbruch in die Moderne?

Kirchliche Reformgruppen erinnern andas II. Vatikanische Konzil, das vor 50Jahren stattfand. In Frankfurt bot im Okto-ber 2012 eine „Konziliare Versammlung“ein Forum, um über die Rolle der Kirchein der Gesellschaft nachzudenken. Diedort vertretenen Gruppen und Einzel-personen verbindet in ihren unter-schiedlichen Aktionsfeldern die Sehn-sucht nach einer anderen Welt und einerKirche, die sich konsequenter in denDienst des Evangeliums stellt.

Für die „Botschaft der Konziliaren Ver-sammlung“ beinhaltet das Konzil denAufbruch der katholischen Kirche „in diemoderne, plurale Welt“. Sie wird zwardurchaus als eine Welt gesehen, „in dersich die Kluft zwischen Reichen undArmen immer mehr vergrößert“. Nichtreflektiert wird jedoch, dass diese Kluftnicht ein zu korrigierender Auswuchs derModerne darstellt, sondern konstitutivmit ihr verbunden ist.

Die ‚Moderne’ als Durchsetzungdes Kapitalismus

Die ‚Moderne’ ist von der Durchsetzungdes Kapitalismus nicht zu trennen. Genaudeshalb ist die „Kluft zwischen Armenund Reichen“ der ‚Moderne’ nicht äußer-lich, sondern innerlich. Die gemessen anseiner Geschichte kurze und auf die nörd-liche Welthalbkugel beschränkte Phaseeines sozial regulierten Kapitalismus hatden Blick für den inneren Zusammen-hang des Kapitalismus mit Armut, sozia-ler Spaltung und repressiver Gewalt ver-deckt. In der sich zuspitzenden Krise desKapitalismus begegnet uns also nicht einverzerrtes, sondern ein dem Kapitalis-mus gemäßes Gesicht. Wenn die Frank-furter Botschaft die „Zeichen der Zeit“meint in der Suche nach „Alternativenzur neoliberalen Herrschaft von Kapital-und Gewinnsucht“ erkennen zu müssen,sind diese Zeichen verkannt.

Liebe Leserinnen und Leser des Netz-Telegramms,

das Netz-Jubiläum im vergangenenOktober zeigte, dass unser Netz zwarleider keine Massen anzieht, aber vonden aktiven Gruppen und Einzelmit-gliedern in seinem praktischen wie theo-retischen Tun gestärkt wurde: Es warKonsens, dass der oft beschriebene Spa-gat zwischen Praxis und Theorie weiterverfolgt werden solle. Mit diesem Netz-Telegramm wird dem Rechnung getra-gen und erneut versucht, anhand derBeispiele Fujian/China und KatholischeKirche das Wesen bzw. den Kern derEntwicklungen in der realen, ‚moder-nen’ Welt herauszuschälen.

Durch die Beteiligung des Geschäfts-führers und von Herbert Böttcher ander Vorbereitung zu einer Ökumeni-schen Versammlung (s. erster Aufrufzur Mitwirkung) im kommenden Jahrversucht das Netz seine An- und Ein-sichten auch weiterhin stark in dieÖkumene-Bewegung auf Bundesebe-ne einzubringen.

Schließlich ist noch Herbert BöttchersTrauerrede anlässlich des Todes vonRobert Kurz in diesem Telegramm abge-druckt, da dessen Veröffentlichungenbesonderen Einfluss auf die Diskussio-nen im Netz hatten und haben.

Eine gute Lektüre wünscht Ihnen undEuch

Foto

: Pet

er G

eym

ayer

Inhalt Kollabierende Moderne 1

Ökumenische Versammlung 4

Was bewegt China 5

Netz-Jubiläum 9

Gedenken an Robert Kurz 9

Termine 12

Page 2: Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne · Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12. NETZTELEGRAMM März 2013 Der neoliberale Kapitalismus

NETZTELEGRAMM März 2013

Der neoliberale Kapitalismus Die Gestalt des neoliberalen Kapitalismusentspringt nicht dem Durchsetzungsvermö-gen einzelner von der Gier nach Kapital undGewinn getriebener Akteure, sondern ist derKrise des Kapitalismus geschuldet. Die Gren-zen seiner Entwicklungsmöglichkeiten sindoffensichtlich erreicht. Von der Konkurrenzzu ständig wachsender Produktivität getrie-ben ist er gezwungen, Arbeit als Quelle vonWert- und Mehrwert zu entsorgen. Die ganzekapitalistische Veranstaltung – von wirt-schaftlichen Investitionen über die Finan-zierung der sozialen und ökologischen Fol-gekosten bis hin zu immer neuen Kriegen –muss von schwindender Wertschöpfungfinanziert werden.

Mit seinen Programmen der Beschränkungvon Staatsausgaben sowie der Eröffnung neu-er Quellen der Geldvermehrung – von derDeregulierung der Finanzmärkte bis zu dendiversen Liberalisierungs- und Privatisie-rungsprogrammen – versucht der Neolibe-ralismus, die Krise des Kapitalismus zu kom-pensieren, und verschärft damit die „Kluftzwischen Armen und Reichen“ bis hin zurZerstörung von Lebensgrundlagen. Wer nurAlternativen zum Neoliberalismus sucht unddabei von der Rückkehr zu den Zeiten einesregulierten Kapitalismus träumt – und dasnoch global –, dürfte zwar auf der Phä-nomenebene durchaus „Zeichen der Zeit“erkannt haben, müsste sich jedoch vorwer-fen lassen, sie nicht hinreichend analysiertzu haben.

„Konkrete Schritte“ gegenAlternativlosigkeit?Der „neoliberalen Herrschaft von Kapital-und Gewinnsucht“ werden „konkrete Schrit-te“ entgegengesetzt, „um in unserer Welt einmenschenwürdiges und naturverträglichesLeben für alle zu ermöglichen“. Sie sollensich der Behauptung widersetzen, es „gebekeine Alternative zur kapitalistischen Welt-ordnung“. Immerhin wird nun von der „kapi-talistischen Weltordnung“ gesprochen. Esbleibt aber unklar, was mit Kapitalismusgemeint ist. Die parallele Rede von „Kapital-und Gewinnsucht“ lässt darauf schließen,dass die kritische Reflexion nicht so weit vor-dringt, dass der Kapitalismus als ein Systemerkennbar wird, das den Globus dem Gesetzdes irrationalen Selbstzwecks der Verwertungvon Kapital unterwirft, also eine abstrakteHerrschaft konstituiert, die unabhängig vomWillen der Akteure und ihrer möglichen Gierfunktioniert. Dann aber hätten diejenigen,

die von der Alternativlosigkeit reden, zumin-dest insofern recht, als es im Kapitalismus„keine Alternativen zur kapitalistischen Welt-ordnung“ gibt. Deshalb können alle konkre-ten Schritte in Gestalt von Kampagnenlob-byismus und Suche nach Alternativen inNischen des Systems im besten Fall – unddas wäre zu wünschen – etwas Not lindern,sind aber aus sich heraus noch keine Schrit-te in der gesamtgesellschaftlichen Suche nachAlternativen zum Kapitalismus.

Wer diese ernsthaft sucht, wird sich nichttheoriefeindlich an der Frage vorbei mogelnkönnen, was denn das ‚Wesen’ bzw. die Formdes Kapitalismus als Zusammenhang vonWare, Arbeit, Wert und Abspaltung der weib-lich konnotierten Reproduktion, Geld als Aus-druck des Werts, abstrakte Herrschaft, Marktund Staat, Objekt und Subjekt ausmacht.„Die moderne, plurale Welt“, in die das Kon-zil die katholische Kirche hat aufbrechen las-sen wollen, zeigt sich als eine Welt unter derHerrschaft und zugleich in der Krise desabstrakten Selbstzwecks der Vermehrung vonKapital durch die Verausgabung abstrakterArbeit.

Ihre postmoderne Pluralität entpuppt sichals Erscheinung von Vielfalt in der ‚Uniform’der Wert-Abspaltung. Die scheinbar aufge-klärte Vernunft verklärt die Irrationalität deskapitalistischen Selbstzwecks und der mitihm verbundenen Prozesse der Zerstörungzum höchsten Ausdruck der Vernunft. DieIrrationalität der Selbstzweckbewegung wirdzur ‚Rationalisierung’. Die Unterwerfungunter diesen Selbstzweck ist ‚eigenverant-wortlich’ zu leisten und wird so zur Selbst-Unterwerfung – getragen von der Einsicht inihre ‚Notwendigkeit’.

In diese „moderne, plurale Welt“ gilt es nichtaufzubrechen. Wer nach Alternativen sucht,muss aus ihrem Gefängnis ausbrechen. DemKonzil ist die zu unkritische Rezeption der‚Moderne’ jedoch nicht einfach vorzuwerfen.Vor 50 Jahren waren ihre Widersprüche undAusweglosigkeiten noch nicht so greifbar,wie sie es für uns heute sind. Zudem hattedie katholische Kirche insofern ‚Moderni-sierungsbedarf ’, als sie sich in einemgeschlossenen feudal orientierten Systemeingemauert hatte.

Aggiornamento: Heutig-werden derKirche?50 Jahre nach dem Konzil kann Aggiorn-mento, also das Heutig-Werden der Kirche,

nicht einfach heißen, die Heutigkeit dermodernen bzw. postmodernen Welt zurNorm der theologischen Reflexion und derForderungen nach Kirchenreform zu machen.Es mag ja sein, dass Teile der kirchlichenHierarchie in vormodernen Kategorien den-ken und gerne in die scheinbar gute, alte vor-moderne Welt zurück wollen. Das Problemvon Reformgruppen und auch ‚moderner’Theologie ist eher die Bereitschaft, die Moder-ne unkritisch zu affirmieren und zur Normeines theologischen Denkens und reforme-rischen Handelns zu machen, die sich ‚aufder Höhe der Zeit’ wähnen. Aus Hans KüngsReferat bei der „Konziliaren Versammlung“quillt die unkritische Affirmation der Moder-ne aus allen Ritzen.

‚Heutig werden’ muss die Kirche 50 Jahrenach dem Konzil in kritischer Auseinander-setzung mit der Moderne und dem ihr inne-wohnenden Krisen- und Zerstörungspoten-tial. Sie ist jedoch nicht zu führen auf derGrundlage einer vermeintlichen Normativitäteiner vormodernen Gesellschaft, sondern inder kritischen Analyse der Widersprüche dermodernen kapitalistischen Gesellschaft, vorallem des Widerspruchs zwischen stofflichemReichtum und dem Zwang, Reichtum in dieWertform zu pressen und diesen so zu zer-stören, während die Armen verhungern. Auf-grund der vom Kapitalismus hervorge-brachten technischen Entwicklung und derdamit verbundenen Produktivität ständenhinreichend Möglichkeiten zur Verfügung,die Produktion ökologisch verträglich in denDienst der Befriedigung menschlicher Bedürf-nisse zu stellen. Dies scheitert jedoch dar-an, dass Reichtum im Kapitalismus nicht alsstofflicher Reichtum, sondern nur als Reich-tum in der Wertform zählt, also als abstrak-ter Reichtum, der in Geld verwandelt werdenmuss. Konsequenterweise wird stofflicherReichtum, der mangels Kaufkraft nicht inGeld verwandelt werden kann, vernichtet.

Ressourcement:‚Heutig-werden’ ausder kritischen Kraft der Quellen‚Heutig werden’ kann die Kirche nur, wennsie aus ihren biblischen Quellen lebt. DieStärke dieser Quellen liegt ja gerade darin,dass sie nicht dem ‚Heute’ entspringen, son-dern ein ‚subversives Gedächtnis’ tradieren,das die ‚heutigen’ Plausibilitäten nicht ein-fach bestätigt, sondern kritisch befragt undherausfordert. In der Begeisterung für dasAggiornamento der Kirche an die Modernedroht vergessen zu werden, dass das Konzilmit einer Besinnung auf die Quellen ver-

Page 3: Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne · Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12. NETZTELEGRAMM März 2013 Der neoliberale Kapitalismus

NETZTELEGRAMM März 2013

3

bunden ist, die in der Konstitution über das‚Wort Gottes’ (Dei verbum) – dem wohlumkämpftesten Text des Konzils – zum Aus-druck kommt.

Vor diesem Hintergrund wird ‚Ressource-ment’ (Zurück zu den Quellen) zu einemwichtigen Stichwort, um ein zentrales Anlie-gen des Konzils zu charakterisieren. Unterdiesem Aspekt geht es nicht darum, die Ver-gangenheit von der Norm der ‚modernen’Gegenwart her zu kritisieren bzw. auf ihrePlausibilität hin zu befragen. Es kommt zueiner Umverteilung der Beweislast. Der Ver-gangenheit – vor allem dem, was Menschenerlitten haben, was seinen Ausdruck in ihrenKlagen und Hoffnungen, in ihrem Suchennach Wegen der Rettung und Befreiunggefunden hat – wird ein Mitspracherecht inder Auseinandersetzung mit der Gegenwartund im Suchen nach Wegen in die Zukunfteingeräumt. So können Erfahrungen und Ein-sichten aus der Vergangenheit zu kritischenAnfragen an die Gegenwart und Orientie-rungen für die Zukunft werden.

Angesichts der Totalität des Krisenkapitalis-mus reicht es nicht, „eine prophetische unddiakonische Kirche“ zu fordern, wie es dieBotschaft der „Konziliaren Versammlung“tut. Sie allein bliebe in der Gefahr, in mora-lischer Skandalisierung und im reinen Sama-riterdienst stecken zu bleiben. Anzuknüpfenwäre vor allem an die apokalyptischen undmessianischen biblischen Traditionen. Emp-findsam für Krisen und Zerstörung durchsich totalisierende Herrschaft suchen sienach Perspektiven der Befreiung ‚jenseits’von Ägypten, von Babylon, von den griechi-schen Herrschaftssystemen, von Rom… Indiesem Horizont wäre prophetische Kritik zuformulieren und gleichzeitig der immer unver-zichtbare Samariterdienst zu tun.

Eine Kirche – getrennt von denQuellen?Es ist wohl kein Zufall, dass – entgegen denIntentionen des Konzils – die ‚modernen’Kirchen die Bibel nahe zu ‚los geworden’ sind.Ihre Fremdheit gegenüber der ‚modernenWelt’ scheint eine auch durch alle korrelati-ve Anpassung an moderne Plausibilitätenkaum zu überwindende Schranke. Die Bibelals eine gerade in ihrer Fremdheit unterbre-chende und zu kritischer Reflexion einladendeQuelle zu lesen, erscheint als zu anstrengendoder auch als ‚zu gefährlich’. Um so mehrwurde die Rückkehr des Konzils zum ‚WortGottes’ in der Theologie der Befreiung auf-

und Gewalt als Zentrum und Quelle der Kir-che lebendig zu halten. Ein monarchischesKirchenmodell bietet dafür jedoch ebensowenig einen angemessenen Rahmen wie dieOrientierung an einer vermeintlich „radika-len Demokratie“.

Nicht in der Fähigkeit zur ‚Modernisierung’,sondern in der Ungleichzeitigkeit ihres sub-versiven Gedächtnisses steckt die befreien-de Kraft der Kirche. Im Vertrauen auf dieWiderstandskraft ihrer Quellen – und analy-tisch begründet! – wäre es ‚an der Zeit’, die‚Wahrheit’ über die Welt, wie sie kapitalistischgeworden ist, zu sagen und ihr zu ‚widersa-gen’, weil in ihr keine Perspektive des Lebens– des Überlebens und Zusammenlebens inder Verbundenheit aller Menschengeschwi-ster – möglich ist. Dieses Nein wäre der Hori-zont für ein Ja zum Leben im Vertrauen aufden befreienden Gott, die messianische Hoff-nung und den Geist, der darin lebendig ist.

Zu kritisieren wären die kirchlichen Anpas-sungsstrategien an die kapitalistische Gesell-schaft und ihre Strategien der Krisenverwal-tung – in Gestalt der Anpassung derSoziallehre an den Neoliberalismus, der Bei-hilfe zur Militarisierung durch Förderung desmilitärischen Heroismus mittels theologi-scher Überhöhung… und nicht zuletzt dieOrientierung auf eine marktförmige Event-und Wellness-Religion, die gestressten Indi-viduen – im Interesse kirchlicher Selbstbe-hauptung in der Konkurrenz der spirituellenAngeboten – ‚ein bisschen’ Entlastung imSklavenhaus anbietet, aber eine Reflexion desSklavenhauses und erst recht die Suche nachBefreiung verweigert.

Gegenstand der Kritik ist nicht einfach nureine neue Klerikalisierung, sondern vor allemihre Vermischung mit ‚moderner’ Event- undErlebnisorientierung. Diese Mischung istAusdruck einer „infantilen Neudefinition desKatholischen“ (René Buchholz). Unter kon-sequentem Verzicht auf gesellschaftliche undtheologische Reflexion kann es sich mit denBedürfnissen der in der Krise immer mehrbelasteten Menschen nach schneller Entla-stung amalgamieren. Dass dabei die Fragenach der Wahrheit aufgegeben wird, musssolange nicht belasten, als sie in der Treuezum Lehramt ‚aufgehoben’ ist. So kann ‚Rela-tivismus’ zugleich beklagt und inszeniert wer-den.

genommen und in der Perspektive der Opti-on für die Armen sowie in der Auseinander-setzung mit den Erfahrungen von Unrechtund struktureller Gewalt weitergeführt. Genaudies ebnete den Weg zu einer kritischen Sichtder Moderne von den Opfern und der Kehr-seite der vermeintlichen Geschichte des Fort-schritts her. „Auf dem Konzil spürte man denImpuls, sich vor der modernen Welt nicht zuschämen und die Mittel der Moderne zubenutzen, um den christlichen Gott glaub-würdiger zu machen. In Medellin (bei derersten Versammlung der Bischöfe Lateina-merikas 1968, H.B.) spürte man den Impuls,sich vor den Armen nicht zu schämen undden Tadel der Schrift zu hören: ‚Euretwegenwird der Name Gottes unter den Völkern gelä-stert.’“1

In der Zweidrittelwelt zeigte die Moderneimmer schon ihr katastrophisches Gesichtder Zerstörung. Aus der Zweidrittelwelt wan-dern Krisen und Katastrophen in die Zentrender modernen kapitalistischen Welt, währendZerstörung und Sterben in vielen Teilen derZweidrittelwelt mmer dramatischere und bar-barischere Formen annehmen. Es wäre alsoan der Zeit, dass sich die Kirchen diesenZusammenhängen stellen und dabei die eige-nen Quellen neu buchstabieren. So könntensie neu lernen, dass der Name Gottes gelä-stert wird, wo der Globus und das Leben vonMenschen dem abstrakten Selbstzweck derVerwertung des Werts geopfert werden.

Eine andere Kritik an der Kirche

Aus dieser Perspektive kann eine auf die Rol-le der Hierarchie verkürzte Kirchenkritik über-wunden werden. „Radikale Demokratie“, wiesie der Frankfurter Text fordert, würde bür-gerlich-kapitalistische Herrschaft zum Modellfür die Kirche machen. Diese gründet abernicht in einem ‚allgemeinen Willen’, der denkapitalistischen Verwertungsprozess vor-aussetzt2 und gerade deshalb – ganz nachRousseau – vom ‚Willen aller’ zu unter-scheiden ist. Sie bleibt eingebunden in eineTradition, in der Gottes Geschichte mit denMenschen als Geschichte der Befreiung ausUnrecht und Gewalt, aus Leid und Tod, ihrenAusdruck findet. Das Amt der Leitung hatdie Aufgabe, diese Geschichte in der Kirchein Solidarität mit den Opfern von Unrecht

1 Jon Sobrino, Der „Kirche der Armen“ war auf demZweiten Vatikanischen Konzil kein Erfolg beschieden,in: Concilium 3/2012, 296 – 305, 304.

2 Vgl. Robert Kurz, Es rettet Euch kein Leviathan,Erster Teil, in Exit! Krise und Kritik der Warengesell-schaft, 7/2010, 26 – 74.

Page 4: Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne · Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12. NETZTELEGRAMM März 2013 Der neoliberale Kapitalismus

NETZTELEGRAMM März 2013

4

Auf Initiative des Ökumenischen Netzes inDeutschland hat sich 2012 eine Gruppe vonMenschen aus der bundesweite Ökumenezusammengefunden, um eine ÖkumenischeVersammlung für den deutschsprachigenRaum im Jahr 2014 vorzubereiten. Ziele derVersammlung sind eine tiefgründige Kritikder modernen kapitalistischen Verhältnisseund der Rolle der Kirchen in diesem Prozess,die Vermittlung dieser Kritik im inner-, aberauch außerkirchlichen Bereich sowie der Ver-such einer Skizzierung einer nicht-waren-förmigen, sozial wie ökologisch zukunfts-fähigen Gesellschaftsordnung.

Der Konziliare Prozess ist nicht tot. Nach wievor gibt es in den evangelischen Landeskir-chen Gre mien, die sich seine Fortführungzur Aufgabe gemacht haben. Und in vielenInitiativen und Gruppen ist die Orientierungan den weltweiten Problemen, unter denenMenschen und Welt leiden, lebendig geblie-ben. Die vom 30.4.- 4.5.2014 in Mainz statt-findende Ökumenische Versammlung (ÖV2014), die von zahl reichen katholischen, evan-gelischen und der Ökumene zugehörigenBasisgruppen getragen wird, unter stützt die-se Arbeit, indem sie gemeinsam den Konzi-liaren Prozess zu aktualisieren und zu ver-tiefen versucht.

Er wurde 1983 bei der Vollversammlung desWeltkirchenrates in Vancouver als dauerhaf-ter Lern prozess für Christen und Kirchen kon-zipiert. Damals hielten die Christen in Euro-pa die Friedensfrage (NATO-Nachrüstung)für die größte theologische Herausforderung.Die Kirchen des Südens betrach teten hinge-gen die Frage nach gerechten Beziehungenals elementar. Auch die Nachhaltigkeits fragewurde drängend. Und so schloss man inSeoul einige Jahre später einen „Bund gegen-seitiger Ver pflichtung auf Gerechtigkeit, Frie-den und Bewahrung der Schöpfung“.

Die 1983 identifizierten Herausforderungenan den christlichen Glauben bestehen nachwie vor. Sie sind größer, vielfältiger undbedrohlicher geworden. Die ÖV 2014 wird

eine gründliche Analyse der „Zeichen derZeit“ vornehmen. Vielfach gebündelte Kri-sen verstärken sich gegenseitig: Überlebens -bedrohender Klimawandel, nicht nachhalti-ges Wirtschaftssystem, Spekulation mit Landund Nahrungs mitteln, mörderischer Hun-ger, zunehmender Reichtum und wachsen-des Elend, zerstörte Sozial systeme und Soli-darstrukturen, innerseelische Verwüstungen.Das ganze Leben wird von der Marktideolo-gie beherrscht; sie ist zur Staatsreligiongeworden. Militärische Konfliktlösungen eta -b lieren sich als selbst verständlich und zeh-ren die vorhandenen Ressourcen zurBekämpfung von Armut und Klimawandelund zur Förderung von ziviler Konfliktbear-beitung auf. Die Strukturen des Todes tri-umphieren, der neoliberale Wachstums-Kapi-talismus fühlt sich unangreifbar.

Wer die Kühnheit besitzt, dagegen anzuge-hen, muss sich gut wappnen. Soziale Bewe-gungen weltweit haben begonnen, in der Aus-einandersetzung mit den überdominantgewordenen kapitalistischen Grund lagen derModerne die klare Unterscheidung zwischenGott und Götzen zu treffen. Der Wider standgegen die zerstörerischen Kräfte des Todesmuss aus den Quellen des Lebens schöpfen,die daraus zu gewinnende Weisheit und Weg-weisung vermag den "Regen über dürremLand" zu bringen, wie es in den Psalmenheißt. Die ÖV 2014 wird auf die biblischenVerheißungen und Erfahrungen zurückgrei-fen und sie vergegenwärtigen. Neue, Mutmachende Formen gelebten Christ- undKirche seins werden vor-, kirchenreformeri-sche Visionen dargestellt. Feministische Ein-sichten sollen für eine neue Kultur des Frie-dens fruchtbar gemacht werden. Sie gebenImpulse für die Gestaltung unserer Zukunft.

Unsere Suche gleicht einem Pilgerweg. Wirgehen ihn zusammen mit Menschen aus derganzen Welt, die sich in der Verpflichtung aufGerechtigkeit, Frieden und Bewahrung derSchöpfung auf den Weg gemacht haben. Wirwollen festhalten an den Übereinstimmun-gen, die bereits in der welt umspannenden

Gemeinschaft der Kirchen gewachsen sind.Dazu zählen die Vollversammlungen desÖkumenischen Rates von Vancouver 1983bis Busan 2013 und die ökumenischen Ver-sammlungen von Basel 1989 über Seoul 1991bis zur Ökumenischen Friedenskonvokation2011 in Kingston. An deren Ergebnissen wol-len wir anknüpfen. Heute geht es primär umeine die ökumenische - ebenso wie diezivilisations kritische Zivilgesellschaft bewe-gende Frage: Wie können wir und alle ande-ren gut leben? Im globalen Süden kleidet siesich in befreiungstheologische Visionen unddas Leitbild des "buen vivir". Deshalb lautetdas Motto der ÖV 2014: „Die Zukunft, dieWir meinen - Leben statt Zerstörung“.

Wer über die weiteren Planungen informiertwerden und mitmachen möchte, wende sichan:

Lic. Theol. Peter Schönhöffer M.A. c/o Ökumenisches Netz, Löhrstraße 51,56068 Koblenz, Tel. 0261 29681691, Mail: [email protected] (im Aufbau): www.oev2014.de

Impressum:

Netz-Telegramm März 2013

Informationen des Ökumenischen Netzes Rhein-

Mosel-Saar

Redaktion: Dominic Kloos, Geschäftsstelle des

Ökumenischen Netzes,

Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar e.V.

Löhrstr. 51 · 56068 Koblenz

Tel.: 0261 – 29681691

e-mail: info(at)oekumenisches-netz.de

Bankverbindung: Sparkasse Koblenz,

Kto. 40 001 877, (BLZ 570 501 20)

Die Arbeit des Ökumenischen Netzes wird geför-dert durch Mitgliedsbeiträge, Zuschüsse vonBrot für die Welt/Evangelischer Entwicklungs-dienst, aus den Kirchen sowie aus Spenden.

Auflage: 750 März 2013

Layout: Elke Wetzig, Köln

Druck: Knotenpunkt e.V., Buch

URL der verwendeten Creative-Commons-Lizenz:

http://creativecommons.org/licenses/by-nc-

sa/3.0/

Einladung zur Mitwirkung

Page 5: Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne · Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12. NETZTELEGRAMM März 2013 Der neoliberale Kapitalismus

NETZTELEGRAMM März 2013

5

Was bewegt China? Dominic Kloos

Versuch einer theoretischen Einordnung der kapitalistischenEntwicklungen in China.Ein Beitrag zur Arbeit des AK RLP – Fujian „Keine Partnerschaft ohne Sozialstandards“

Diese inhaltlichen Grundlagen haben dazugeführt, dass der Arbeitskreis Rheinland-Pfalz– Fujian „Keine Partnerschaft ohne Sozial-standards“ (www.ak-rlp-fujian.de) sog. real-politische Ansätze gegenüber der Landesre-gierung formuliert hat, um die Kooperationzwischen Rheinland-Pfalz und Fujian auf zivil-gesellschaftlicher Ebene zu verbessern. EineBegegnungsreise Anfang 2012 hat zudemermöglicht, direkte Kontakte mit chinesischenPartnerInnen aufzubauen und miteinander zubesprechen, wie Lebensbedingungen verbes-sert werden könnten und politisch-ökonomi-sche Entwicklungen einzuschätzen seien.

Letzteres soll an dieser Stelle versucht wer-den: Wie sind die Entwicklungen Chinas in

Die Arbeits- und Lebensbedingungen dermin. 220 Mio. WanderarbeiterInnen in Chi-na (ca. 8,5 Mio. davon in Fuijian) sind trotzVerbesserungen in den letzten Jahren weitervon sozialer Unsicherheit, nicht-existenzsi-chernden Löhnen, Benachteiligungen vonFrauen, Stigmatisierungen und Millionen‚zurückgelassener’ Kinder geprägt. Das The-ma Arbeitsmigration in China und die Situa-tion der WanderarbeiterInnen in der rhein-land-pfälzischen Partnerprovinz Fujian sindin einer SÜDWIND-Studie von Dr. SabineFerenschild und Tobias Schäfer sowie demDokumentarfilm „Bewegung in China“, der2012 für den deutschen Menschenrechtsfil-mpreis nominiert wurde, detailliert aufgear-beitet.1

den letzten 35 Jahren, die wirtschaftlicheDynamik und die wachsende Kluft zwischenArm und Reich sowie Land und Stadt ineinem übergeordneten Zusammenhang ein-zuschätzen?

Die folgenden Erläuterungen greifen auf denwertabspaltungskritischen Ansatz zurück,der insbesondere von Robert Kurz und Ros-witha Scholz entwickelt wurde.2

Standortkonkurrenz – Steigerungdes relativen und absolutenMehrwertsDie ‚Reise nach China’ beginnt in den 1960erJahren in Deutschland: Seit jenem Jahrzehntund verstärkt in den 1970ern, 80ern und90ern hat die immerwährende Konkurrenzim Kapitalismus zu einer starken Produktiv-kraftentwicklung3, d.h. zu einer dynamischenwirtschaftlichen Entwicklung, geführt. Dabeimussten die Unternehmen auf immer mehrTechnologie setzen, ‚maschinisieren’ und‚computerisieren’. Die mikroelektronischeRevolution der 1970/80er Jahre veranlasstbis heute steigende Investitionen in Sach-kapital bei gleichzeitigem Abbau von Arbeits-plätzen. Zudem nahm die Sättigung derMärkte im ‚globalen Norden’ zu und derunternehmerische Handlungsspielraum wur-de durch nationalstaatliche Regulierungen(gerade im Bereich Arbeitsrecht) eingeengt.

Diese Begrenztheit führte auf staatlicher bzw.transnationaler Ebene zu Liberalisierungs-und Deregulierungsmaßnahmen, wodurchneue Märkte erreicht und arbeitsintensiveProduktion in sog. Billiglohnländern ausge-lagert werden konnten. Auch mussten diezunehmenden Investitionen in Sachkapitalfinanziert werden. Deshalb wurde der Finanz-

1 Vgl. Sabine Ferenschild/Tobias Schäfer (2012): Chi-na in Bewegung. Herausforderungen für deutsch-chi-nesische Partnerschaften; Sabine Ferenschild (2012):Geld verdienen in der Stadt, Geld ausgeben auf demDorf, in: Dominic Kloos (Hg.): Solidarität in Bewe-gung. Partnerschaften in Rheinland-Pfalz, Koblenz2012, http://www.ak-rlp-fujian.de/Zeitung_Partner-schaften.pdf; Lina Gross/Oliver Heinen/DominicKloos: Bewegung in China. Das Problem der Arbeits-migration in Fujian, http://www.ak-rlp-fujian.de/migra-tion.html.

2 Vgl. Robert Kurz (22006): Marx lesen. Die wichtig-sten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert,Frankfurt a.M.; ders. (2003): Weltordnungskrieg. DasEnde der Souveränität und die Wandlungen des Impe-

rialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Hon-nef; ders. (2012): Geld ohne Wert. Grundrisse einerTransformation der politischen Ökonomie, Berlin;Roswitha Scholz (22009): Das Geschlecht des Kapi-talismus, Bad Honnef.

3 Technik/Technologie, Fähigkeiten der Arbeitskräfteund des Managements, jene zu organisieren, sowieRohstoffe, Energiequellen und Infrastruktur sind lautVolkswirtschaftslehre die wichtigsten Produktivkräf-te. Im Marxschen Verständnis sind Produktivkräftenoch weiter gefasst: Sie umfassen alle natürlichen,technischen, organisatorischen und geistig-wissen-schaftlichen Ressourcen, die der Gesellschaft in ihrerjeweiligen Produktionsweise zur Reproduktion zurVerfügung stehen.

Foto

: Lin

a G

ross

, C

C-B

Y-N

C-S

A 2

.0

Page 6: Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne · Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12. NETZTELEGRAMM März 2013 Der neoliberale Kapitalismus

NETZTELEGRAMM März 2013

6

lionen Menschen gefördert und andererseitsparallel dazu eine kaum wiedergutzuma-chende Zerstörung der Natur, eine wach-sende Kluft zwischen (immer noch hunder-ten von Millionen) Armen und Reichen undeine kaum mehr zu regulierende soziale Unsi-cherheit für den Großteil der Menschengeschaffen.

Die Auslagerung von Produktion nach Chi-na bedeutete zunächst eine Steigerung desabsoluten Mehrwerts. Dort, wo es keineUmsetzung von Arbeitsrechten gibt (selbstwenn sie auf dem Papier als Gesetz stehen),sind Arbeitsbedingungen menschenunwür-dig und kann Arbeitszeit quasi beliebig ver-längert werden. Aber selbst bei leichten Ver-besserungen der Arbeitsbedingungen wie inden letzten Jahren in China, wird versucht,durch andere Möglichkeiten den Mehrwertzu erhalten und zu steigern; z.B. durch Lei-harbeit, die auch in China in den letzten Jah-ren stark zugenommen hat – 2011 waren etwa60 Mio. Menschen davon betroffen, also ca.20% aller ArbeitnehmerInnen.

Da der chinesische Markt zurzeit noch nicht„ausgereizt“ ist, d.h. noch viel verkauft wer-den kann, und im globalen Maßstab (gera-de im Landesinneren von China) noch gün-stig produziert werden kann sowie gleichzeitigdie chinesischen Exporte durch die enormeVerschuldung der USA weiterhin weltweitstarken Absatz finden, ist die weitere Ausla-gerung von verarbeitender Industrie (Beklei-dung, IT, Fahrzeuge etc.) in andere Länderbisher noch relativ unbedeutend.

Trotzdem kann man die Tendenz feststellen,dass die Beschränkungen der absolutenMehrwertproduktion, z.B. in Form vonArbeitsgesetzen (Arbeitsvertragsgesetz von2008), zugenommen haben und die Bedeu-tung der relativen Mehrwertproduktion nunauch in China stark gewachsen ist. Da Chi-na seit den marktwirtschaftlichen Reformender späten 1970er und frühen 1980er Jahrenicht nur ein reines Zuliefererland wenigerProdukte für den Weltmarkt war, sondernauch komplexe Industrien aufgebaut hat, hat

sektor dereguliert. Die globalen Leistungs-bilanzunterschiede und Defizitkonjunkturen(gerade zwischen den USA und China oderNord- und Südeuropa)4 wurden dadurchexorbitant. Folge davon sind auch die aktu-ellen Dauerkrisen mit desaströsen sozialenAuswirkungen, die aber an dieser Stelle nichtweiter behandelt werden.

Wegen der Schranken der relativen Mehr-wertproduktion5, an die der fortgeschritteneKapitalismus also schon vor etwa 40 Jahren inEuropa stieß, wurde Produktion u.a. nach Chi-na ausgelagert. China hatte im Vergleich zuDeutschland einen Standortvorteil durch diewesentlich niedrigeren Löhne. Vor 35 Jahrenstartete hier die Dynamik der absoluten Mehr-wertproduktion6 voll durch. Genauso von Vor-teil war in China auch, dass durch typischeIndustrialisierungsmaßnahmen der staatska-pitalistischen Kommunistischen Partei (KP),auch real-existierender Sozialismus genannt,bereits eine gute Infrastruktur (Straßen, Elek-trizität, Bildungsniveau etc.) vorhanden war.Das Land konnte durch diese komparativenVorteile und die Entscheidung der chinesischenMachthaber, Land und Markt zu öffnen, Indu-strie verschiedenster Art ansiedeln. Damit setz-te die KP wegen ihres Standortvorteils auf dieDynamik nachholender Entwicklung.

Dynamik nachholenderEntwicklung, oder: Der Wert alsForm des Reichtums

Nach der real-sozialistischen Planwirtschafthat die Integration Chinas in den globalenKapitalismus durch die Freisetzung von Pro-duktivkräften einen enormen Produkti-vitätsfortschritt im Vergleich zum vorherigenEntwicklungsstadium und damit eine Ent-fesslung von Reichtum hervorgebracht. Dieskonnte zum einen vor allem durch Ausbeu-tung der Arbeitskräfte geschehen und hatzum anderen die soziale Spaltung der Gesell-schaft und Umweltzerstörung vorangetrie-ben. Trotz der immer noch proklamiertensozialistischen Ideale, die im Kern nichtsanderes sind als eine andere, nachholende,staatskapitalistische Modernisierungsvari-ante7, hat sich China in den letzten 35 Jah-ren der global vorherrschenden Dynamikeiner marktwirtschaftlich orientierten Moder-nisierung unterworfen.

In der Konkurrenz zu anderen Staaten hatsich China in den letzten Jahrzehnten beson-ders ‚erfolgreich’ dem Fetisch der Waren-produktion und des Geldes unterworfen unddadurch einerseits eine unglaubliche Dyna-mik mit gestiegenem Wohlstand für viele Mil-

4 Vgl. zur Erläuterung von Defizitkonjunkturen amBeispiel der Eurokrise Tomasz Konicz (2010): Kri-senmythos Griechenland, http://www.heise.de/tp/artikel/32/32551/1.html.

5 Definition Mehrwert: Der Wert wird gemessen in derArbeitszeit, die im gesellschaftlichen Durchschnitt zuseiner Produktion nötig ist. Während Maschinen nurden Wert auf das Produkt übertragen können, der inihnen vergegenständlicht ist, kann die Arbeit Mehr-Wertschaffen. Dies liegt in der Eigenschaft begründet, dasssie über die Zeit, die zu ihrer eigenen (Re-)Produktionnötig ist (notwendige Arbeitszeit) hinaus eingesetzt wer-

den kann und so Mehr-Wert schaffen kann. Der Mehr-Wert ist also der Wert, der durch den Einsatz der Arbeitüber die notwendige Arbeitszeit hinaus, also durch Mehr-Arbeit geschaffen wird.

Definition relative Mehrwertproduktion: Durch Produkti-vitätsfortschritt aufgrund des Einsatzes von Technolo-gie kann die notwendige Arbeitszeit reduziert werden.Während die notwendige Arbeitszeit sinkt, steigt – beigleicher Warenmenge – die Zeit für die Mehr-Arbeit unddamit der Mehrwert. In weniger Zeit wird also das Glei-che oder in der gleichen Zeit mehr produziert. Der rela-tive Mehrwert entspringt also aus der Verkürzung der

Arbeitszeit und dem sich damit verändernden Größen-verhältnis zwischen notwendiger Arbeit und Mehr-Arbeit.

6 Absoluter Mehrwert ist der Mehrwert, der durch dieVerlängerung des Arbeitstages erzielt wird, währenddie notwendige Arbeitszeit gleich bleibt.

7 Vgl. Robert Kurz (2010): Es rettet Euch kein Leviat-han. Thesen zu einer kritischen Staatstheorie, Teil 1,in: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft,7/2010, S. 26-74; ders. (2011): Es rettet Euch keinLeviathan. Thesen zu einer kritischen Staatstheorie,Teil 2, in: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft,8/2011, S. S. 109-162.

Foto

: Lin

a G

ross

, C

C-B

Y-N

C-S

A 2

.0

Page 7: Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne · Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12. NETZTELEGRAMM März 2013 Der neoliberale Kapitalismus

NETZTELEGRAMM März 2013

7

es sich der globalen Konkurrenz ausgesetztund durch den Produktivitätsfortschritt gibtes nun auch in China die Tendenz, dass derStandortvorteil in Sachen billiger Produkti-on für transnationale Unternehmen peu àpeu verloren geht. Das heißt, dass auch Chi-na sich mit großen Schritten der innerenSchranke des Kapitalismus nähert.

Die innere Schranke desKapitalismus – auch in China?„Den wichtigsten fundamentalen Widerspruch,der die kapitalistische Produktionsweise kenn-zeichnet, bildet (…) das konkurrenzvermittel-te Bestreben zur Pro duk tivitätssteigerung inder kapitalistischen Warenproduktion. DurchRationalisierungsmaßnahmen, die durch wis-senschaftlich-technischen Fortschritt ermög-licht werden, können in einem Betrieb mehrWaren durch weniger Arbeiter hergestellt wer-den. Hieraus resultiert eine Reduktion desvariablen Kapitals (Lohnarbeit) gegenüberdem konstanten Kapital (Maschinen und Roh-stoffe) im Produktionsprozess (...). Das Kapi-tal, dessen Substanz die Lohnarbeit bildet, istsomit bestrebt, die Lohnarbeit aus dem Pro-duktionsprozess zu verbannen, und somit sei-ne eigene Substanz zu untergraben. (...) Marxhat für diesen mit einem tendenziellen Fall derProfitrate einhergehenden autodestruktivenProzess die geniale Bezeichnung des ‚pro-zessierenden Widerspruchs’ eingeführt“.8

Die von der Konkurrenz erzwungene Pro-duktivkraftentwicklung führt dazu, dass derAnteil des Sachkapitals (Maschinen usw.) imZuge der Verwissenschaftlichung der Pro-duktion gegenüber dem Anteil der Arbeits-kraft immer größer wurde und wird. Um auchnur eine einzige kapitalproduktive Arbeits-kraft anwenden zu können, musste immermehr Sach-Kapital mobilisiert werden, dieKapitalintensität der Produktion stieg. Damitwuchsen die Vorauskosten für die Kapital-verwertung in einem Maße an, dass sieimmer weniger aus den laufenden Gewinnenfinanziert werden konnten. Die Folge diesernotwendigerweise immer kapitalintensiver-en Produktion war eine historische Expansi-on des Kreditsystems auf allen Ebenen. Umaktuellen Mehrwert produzieren zu können,musste in stetig wachsendem Ausmaß aufzukünftigen Mehrwert in Form des Kreditsvorgegriffen werden. Dieser Widerspruch waraushaltbar, solange die Kredite aus laufen-der realer Mehrwertproduktion bedient wer-den konnten. Laut Robert Kurz ist die mikro-elektronische Revolution seit Ende der 1970erJahre ein entscheidender Baustein, der die-sen inneren Selbstwiderspruch im Kapitalis-

mus zum Zerreißen bringt. Arbeit, die rea-len Mehrwert produzierte, wurde in neuerhistorischer Dimension wegrationalisiert. Dieseitdem verstärkt stattfindenden Produkti-onsverlagerungen widersprechen dem nicht,denn sie sind überwiegend keine Erweite-rungsinvestitionen, sondern eben nur verla-gerte Produktion, die mit Zeitverzögerungebenfalls technologisch revolutioniert wer-den9 – und genau diese Tendenz ist aktuellin China sichtbar, wo vermutlich auch ver-mehrt und verschärfte Krisen eintreten wer-den, insbesondere wenn die USA ihre aufPump finanzierten Importe chinesischerWaren reduzieren sollten. Durch Rationali-sierungsmaßnahmen und mehr Investitio-nen in Sachkapital wird auch in China dieSubstanz der Kapitalproduktion, nämlichArbeit, tendenziell untergraben.10 Wenn manschließlich noch die wegbrechende energe-tische Basis und Endlichkeit der verfügbarenRessourcen (Peak Everything) hinzunimmt,zeigt sich auch in China – mit Zeitverzöge-rung –, dass der globale Kapitalismus aufseine innere Schranke zuschreitet.

Abhängigkeit des Staates vomVerwertungsprozessDer Produktivitätsfortschritt verbunden mitdem ArbeitnehmerInnenkampf für verbes-serte Bedingungen und damit das ‚Zulaufen’

auf die innere Schranke des Kapitalismus ver-schärft auch in China die Standortproble-matik: Die globale Konkurrenz zwischenUnternehmen zwingt ihre Nationalstaaten,sie zu unterstützen. Es wird um Märkte undRohstoffe auf allen Kontinenten gebuhlt,Raubbau an der Natur betrieben, wenn nötigrepressiv gegen KritikerInnen vorgegangenund im äußersten Notfall würde auch dasMilitär bereitstehen – China ist größterRüstungsimporteur und hat sein Militär suk-zessive modernisiert. All das geschieht zurWachstumssteigerung. Der Staat, nach sei-ner innerkapitalistischen Wende von einemstaats- hin zu einem marktwirtschaftlich aus-gerichteten Kapitalismus, wird auch in die-ser Situation versuchen, die Wertform wei-terhin aufrecht zu erhalten; nur warum kanner nicht anders?

Da die materielle Basis eines Staates seineSteuereinnahmen sind und sein in der Regelgrößter Ausgabenposten die Sozialausga-ben, ist der Staat auf einen einigermaßenprosperierenden Kapitalismus angewiesen,denn nur dann fließen ausreichend Steuernund halten sich die Sozialausgaben in Gren-zen. Insofern muss jede Regierung, ganz egalwelche Vorstellungen die einzelnen Politike-rInnen oder die Partei/en haben, sich darumkümmern, dass die Kapitalakkumulation, alsodie Verwertung und Vermehrung von Kapi-

8 Tomasz Konicz (2012): Europa in der Krise,http://www.jungewelt.de/2012/01-14/026.php.

9 Vgl. Sabine Ferenschild (2010): Abschnitt aus einemVortrag von Dr. Sabine Ferenschild mit dem Titel „Die Krise der Wirtschaft verstehen“ am 15.9.2010 inWittlich.

10 Vgl. Tomasz Konicz (2013): Automatisierungs-schub. Im kommenden Jahr wird die VR China zumweltweit wichtigsten Absatzmarkt für Industrierobo-ter aufsteigen, in: junge Welt, 15. Februar 2013, Nr.39, S. 9.

Foto

: Lin

a G

ross

, C

C-B

Y-N

C-S

A 2

.0

Page 8: Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne · Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12. NETZTELEGRAMM März 2013 Der neoliberale Kapitalismus

NETZTELEGRAMM März 2013

8

tal, gelingt. Und auch der so mächtige Staatin China ist von Kapitalinteressen abhängig,um seine Legitimation zu behalten. In sei-ner vorherigen, sozialistischen Variante warenes nicht die Steuern der privaten Unterneh-men, sondern die Waren- und damit Wert-produktion der staatseigenen Unternehmen,die die Ausgaben des Staates finanzierte.Diese staatskapitalistische Version stieß aller-dings an die Grenzen ihrer Finanzierbarkeit.Dadurch öffnete der Staat sich einem ‚privatorganisierten’ Kapitalismus, der eine größe-re Dynamik bzw. Produktivkraftentwicklungversprach.

Kapitalismus kann nur in der Polarität vonMarkt und Staat existieren. Insofern sind diebeiden Pole zwei Seiten derselben Medaille,können also nicht voneinander getrennt wer-den. Markt und Staat können nur gemein-sam – wenn auch durchaus in Spannungen– existieren. Der Staat ist also in seiner demo-kratischen, sozialistischen oder diktatori-schen Form immer ‚ideeller Gesamtkapita-list’ (Friedrich Engels). Dabei zeigen diebeiden Beispiele China und Chile unter Pino-chet, dass es nicht entscheidend ist, welche‚Klasse’ an der Macht ist. Auch widerlegendiese beiden Beispiele die vielfach vertrete-ne These vom Zusammenhang von Markt-wirtschaft und Demokratie. Zwar kann es

Unterschiede – sowohl was Gleichheit alsauch Freiheit angeht – zwischen dem ehe-maligen real-existierenden Sozialismus undden vornehmlich ‚bourgeois’ geführten Staa-ten geben, aber durch das Ersetzen einerKlasse durch eine andere ist die Wertformbzw. Warenproduktion nicht überwunden.Es handelt sich dabei nur um eine juristisch(andere Eigentumsform – staatlich vs. pri-vat) veränderte Version der gleichen Form,die in den beiden genannten Fällen von derharten Hand des Staates aufrecht erhaltenwurde bzw. wird. Verändert wäre also ledig-lich die Verfügungsgewalt über die Waren-produktion, nicht aber die Warenproduktionselbst. Insofern muss neben der Warenpro-duktion und der Marktwirtschaft auch derStaat abgeschafft werden, um ein Leben frei-er Individuen in freier Vereinigung zu ermög-lichen.11

Wertabspaltung

„Die Dynamik des Kapitalismus ist allein ausder Logik des Werts nicht verstehbar. Dennauch im Kapitalismus müssen Kinder erzo-gen, Haushaltstätigkeiten und Pflegetätig-keiten verrichtet werden. Der Bereich der Pro-duktion ist nicht ohne den Bereich derReproduktion zu haben.“12 Der Wert und dieAbspaltung gehen aus dem jeweils anderen

hervor, sie stehen in einer dialektischen Bezie-hung, wobei die Abspaltung nicht dem Wertuntergeordnet ist. Allerdings ist die Abspal-tung „der verschwiegene Hintergrund derVerwertungsbewegung“13 und geht mit einerstrukturellen Abwertung des Weiblichen ein-her: Bestimmte minderwertig bewerteteEigenschaften wie Emotionalität, Sinnlich-keit, Charakter- und Verstandesschwäche„werden in ‚die Frau’ projiziert und vommännlichen Subjekt abgespalten, das sichals stark, durchsetzungsfähig, konkurrent,leistungsfähig usw. konstruiert.“14

Markt, Staat, ‚öffentliches Leben’ sind männ-lich konnotiert während das Private eherweiblich bleibt. Mit der Integration von Frau-en ‚in Arbeit’ – was in China schon im real-existierenden Sozialismus geschah – wur-den Frauen „doppelt vergesellschaftet“(Regina Becker-Schmidt), waren und sindalso für Familie und Beruf gleichermaßenzuständig. In genau dieser Situation befin-den sich die Wanderarbeiterinnen.

‚Natürlich’ sind in China Frauen und Män-ner von schlechten Arbeitsbedingungen undsozialer Unsicherheit betroffen. Aber derstrukturell androzentrischen Natur der kapi-talistischen Gesellschaftsordnung entspre-chend sind es eben gerade Frauen, die trotzformal-rechtlicher Gleichstellung wesentlichstärker benachteiligt sind. Sie verdienen weni-ger, haben weniger Aufstiegschancen undsind weiterhin für Reproduktionsaufgabenwie Haushaltstätigkeiten und Kinderbetreu-ung vornehmlich zuständig. Letzteres mitder Einschränkung, dass die Kinder oft beiden Großeltern (vor allem Großmütter)zurückgelassen werden, wenn Menschen ausArbeitsgründen migrieren.

Diese theoretische Einordnung soll kein ‚Chi-na-Bashing’ darstellen, sondern die dortigenEntwicklungen in einen größeren, krisen-haften Zusammenhang einordnen, der inEuropa z.B. seinen Ausdruck in der Eurokri-se findet. Die Frage, die nach dieser Einord-nung bestehen bleibt, ist immer wieder aufsNeue: Wie können Abspaltung, Wert-/Waren-produktion und die Staatsform überwundenwerden?

11 Ausführlich zur Kritik des Staates vgl. Robert Kurz:Es rettet Euch kein Leviathan. Thesen zu einer kriti-schen Staatstheorie, Teil 1, in: EXIT! Krise und Kritikder Warengesellschaft, 7/2010.

12 Elisabeth Böttcher (2012): Die Kapitalismuskritik

des Netzes ist ergänzungsbedürftig! Kritische Anmer-kungen aus feministischer Perspektive, Koblenz, S. 23.

13 Ebd., S. 23.

14 Roswitha Scholz (2004): Neue Gesellschaftskri-

tik und das Problem der Differenzen. ÖkonomischeDisparitäten, Rassismus und postmoderne Indivi-dualisierung. Einige Thesen zur Wert-Abspaltung inder Globalisierungsära, in: EXIT! Krise und Kritik derWarengesellschaft 1/2004, S. 17.

Foto

: Lin

a G

ross

, C

C-B

Y-N

C-S

A 2

.0

Page 9: Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne · Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12. NETZTELEGRAMM März 2013 Der neoliberale Kapitalismus

NETZTELEGRAMM März 2013

9

Was die 20 Jahre der Existenz des Öku-menischen Netzes prägte, soll auch inZukunft der Schwerpunkt des ÖkumenischenNetzes sein: die kritische Auseinanderset-zung mit dem Kapitalismus, seinen sichzuspitzenden Krisen und Katastrophen fürdie Menschen.

1992 – im Gedenkjahr an die Eroberung Ame-rikas vor 500 Jahren – war das Netz gegrün-det worden. Der Blick auf die Opfer wirt-schaftlicher, politischer und kultureller Machtin Vergangenheit und Gegenwart hat dasNetz geprägt. Dies ist in der Jubiläums-netzversammlung im vergangenen Oktoberin Trier noch einmal deutlich geworden. So

ist es kein Zufall, dass die Auseinanderset-zung mit der Zerstörungsdynamik des Kapi-talismus die Gegenwart des Netzes prägt.Sie steht in spannungsreicher Verbindungmit den vielfältigen Aktionsfeldern des Net-zes vom Fairen Handel über die Friedensar-beit bis zur Begleitung von Partnerschaftenmit anderen Weltregionen.

Für die Zukunft kommt es noch mehr dar-auf an, die Praxis mit der Reflexion des 'Gan-zen' der kapitalistischen Gesellschaft zu ver-binden und weitere Möglichkeiten derVermittlung zu finden, um so Wege zur Über-windung des für Menschen und Schöpfungzerstörerischen Kapitalismus zu finden.

Auch fanden Vorstandswahlen bei der Ver-sammlung statt: Der geschäftsführende Vor-stand mit Barbara Bernhof-Bentley (Vorsit-zende), Herbert Böttcher (Vorsitzender) undBrigitte Weber (Schatzmeisterin) bleibt deralte, der erweiterte Vorstand hat sich etwasverändert: Rainer Möller und Michaela May-er schieden aus, dafür kommt Albert Otten-breit aus dem Saarland mit dazu. Annema-rie Stubbe, Dietrich Polster, Peter Weinowski,Ingo Schrooten und Achim Dührkoop wur-den wiedergewählt.

Reflexion und Auseinandersetzung mit der Krise desKapitalismus stärkenDas Ökumenische Netz Rhein-Mosel-Saar feierte Ende Oktober 2012 sein 20-jähriges Bestehen, diskutierte Zukunftsthemen und wählte einen neuen Vor-stand

Foto: privat

Gedenken an Robert KurzIm Juli 2012 verstarb unvorhersehbar der Philosoph und Historiker Robert Kurz.Viele seiner hellsichtigen und inspirierenden Veröffentlichungen sind im Öku-menischen Netz diskutiert und aufgenommen worden. Einige von uns habenihn persönlich bei Veranstaltungen kennen und schätzen gelernt. Wir sind trau-rig über seinen Tod, aber dankbar für Begegnungen und Erkenntnisse, die wirin der Auseinandersetzung mit seinem Denken gewinnen konnten und weitergewinnen werden. Viele seiner Veröffentlichungen sind unter www.exit-onli-ne.org einsehbar. Zum Gedenken an Robert Kurz dokumentieren wir die Trau-errede, die Herbert Böttcher bei der Beerdigung von Robert Kurz am 26. Juli aufdem Friedhof Wöhrd in Nürnberg gehalten hat.

Liebe Roswitha,liebe Frau Kurz,liebe Verwandte,liebe Freundinnen und Freunde vonRobert,

die Nachricht von Roberts Tod erreichte michauf der Rückfahrt aus dem Urlaub. Sie hatmich sprachlos gemacht. Mit dem Schreckenverband sich die Wut über den medizinischeFehlgriff und das Leiden von Robert, seinenicht heilen wollenden Wunden, denenimmer wieder neue hinzugefügt wurden, sodass sein Leib von Wunden und Verwun-dungen gezeichnet war. Dies alles vermischtsich mit der Trauer über den Verlust seinesureigenen und inspirierenden Denkens, vorallem aber über den Verlust eines Menschen,der mir – trotz unserer wenigen Begegnun-

gen – lieb und teuer geworden war, einesMenschen, in dem das lebendig war, was erdachte. Umso mehr meine ich erahnen zukönnen, was Roberts Tod für diejenigenbedeutet, die ihm besonders nahe stehen.

Die Sprachlosigkeit verband sich mit demNachdenken darüber, wie wichtig Robert mir,einem Theologen aus dem linkskatholischenSpektrum, ist, und was ich ihm zu verdan-ken habe. Wie kein anderer in den letztenJahren hat er meine Sicht auf die Welt, mei-ne Reflexion und mein Engagement geprägt.Ich musste – durchaus auch schmerzlich –Abschied nehmen von bisher vertrautenDenkmustern und sehe mich herausgefor-dert, auch theologische Kategorien neu zubedenken. Mir wurde deutlich, dass sog.moderne Theologie nicht die kategoriale Tie-

fe der Analyse erreicht, die nötig ist, um diegegenwärtigen Bedrohungen angemessenwahrnehmen zu können. Vor allem bleibt sie– selbst dann, wenn sie die Dialektik der Auf-klärung in ihre Reflexion aufnimmt – in derAffirmation der Aufklärung gefangen undmeint, an einen vermeintlich emanzipatori-schen Kern aufgeklärten Denkens an schließen zu können.

Gemeinsam ist Robert und mir die Irritationdurch das Leiden von Menschen, durch eineGeschichte, die als Geschichte des Leidensgekennzeichnet ist. Die Herausforderungdurch das Leiden ist jedoch nicht einfach einüberzeitliches, sondern vor allem ein histo-risches Problem, das der Leiden im und unterdem Kapitalismus. Sie ist – dies machenRoberts Analysen deutlich – auch nicht ein-fach durch Moral oder guten Willen zu bewäl-tigen. Vielmehr liegt – wie Adorno formulierthat – das Unheil „in den Verhältnissen, wel-che die Menschen zu Ohnmacht und Apa-thie verdammen und doch von ihnen zuändern wären; nicht primär in den Menschenund der Weise, wie die Verhältnisse ihnenerscheinen“1.

Die Herausforderung menschlichen Leidensmachte Robert nicht zum Moralisten, son-

1 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, in: Gesam-melte Schriften, Bd 6, Frankfurt am Main 2003, 191.

Page 10: Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne · Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12. NETZTELEGRAMM März 2013 Der neoliberale Kapitalismus

NETZTELEGRAMM März 2013

10

dern gab ihm zu denken. Sie trieb ihn zueiner Analyse, die ihn das erkennen ließ, wasin der Geschichte des Kapitalismus dasUnheil der Verhältnisse ausmacht: die Ver-wertung des Werts als irrationalem Selbst-zweck und – wie er von Roswithas Denkenaufnahm – die Abspaltung der Tätigkeiten,die der Reproduktion des Lebens dienen.Wert und Abspaltung konstituieren dieabstrakte Herrschaft eines automatischenSubjekts, das Menschen zu Ohnmacht undApathie verurteilt. Es gilt zu unterscheidenzwischen dem, was sich kategorial als Wesendes Kapitalismus im Formzusammenhangvon Wert und Abspaltung, von abstrakterArbeit, Staat, Subjekt etc. begreifen und dem,was sich als seine Erscheinungsweisenbeschreiben lässt. Änderungen auf derErscheinungsebene lassen den Formzu-sammenhang und damit die abstrakte Herr-schaft unangetastet.

Mit solchen Erkenntnissen aber sind einfa-che und entlastende Auswege versperrt. Ver-sperrt ist die Flucht in eine ebenso schlech-te wie schlichte Unmittelbarkeit despolitischen Aktionismus oder der Kampa-gnenorientierung in sozialen Bewegungen.Es macht keinen Sinn, gute Arbeit gegen ent-fremdete Arbeit, den Staat gegen den Markt,das Subjekt gegen das Objekt anzurufen. Dereine Pol ist nicht die Lösung des anderen,sondern Teil des zu lösenden Problems. DieHerausforderung durch das Leid von Men-schen im Kapitalismus moralisch und aktio-nistisch zu beantworten, scheint konkret. InWahrheit ist eine solche Antwort in einemschlechten Sinn abstrakt, sieht sie doch vonder objektiven Vermittlung dessen ab, wasMenschen an und in ihrem Leib erleiden. Aufder objektiven Vermittlung des Leidens vonMenschen im Kapitalismus und damit aufder Unverzichtbarkeit von Theorie zu beste-hen, ist ebenso luzid wie es einen zum Luzi-fer stempeln kann. Der Lichtträger wird zumSatan. Derjenige, der Licht von Erkenntnisin einen blind funktionierenden Systemzu-sammenhang bringt, erfährt Ablehnung, Dif-famierung und Feindschaft vonseiten derer,die sich an die vermeintliche Sicherheit ver-trauter Kategorien und Handlungsstrategi-en klammern und sich so auch nicht von denillusionären und irrationalen Vorstellungeneiner Überwindung des Kapitalismus im Kapi-talismus verabschieden können.

Es ist kein Zufall, dass Roberts Denkenimmer auch von Ignoranz und Feindschaft,von Spott und Häme ebenso wie von Vor-würfen der Praxisferne und fehlender Ver-mittlung begleitet wurde. Dennoch blieb

Robert bei der Sache, bei der zu suchendenWahrheit dessen, was es zu erkennen galt.Er widerstand – mit Worten Adornos for-muliert – „der fast universalen Nötigung, dieKommunikation des Erkannten mit diesemzu verwechseln und womöglich höher zu stel-len“2. Er blieb dabei: „Kriterium des Wahren

In der Theologie gibt es durchaus Ahnungeneiner drohenden Katastrophe der Ent-menschlichung und mit ihnen Irritationenund Brechungen eines idealistisch geschlos-senen theologischen Denkens, das Erkennt-nis und Sinn so miteinander verbindet, dasdem Unsinn ein Sinn abgerungen und unteridealistischem Identitätszwang auch nochdas absurdeste Leiden in Sinn verklärt wer-den muss. J. B. Metz hat hierzu wichtigeAkzente gerade dadurch gesetzt, dass er dieFrage, wie denn nach der Katastrophe vonAuschwitz noch Theologie getrieben, alsovon Gott gesprochen werden könne, ins Zen-trum seiner Theologie rückte. DasErschrecken über die systematische Ver-nichtung von Menschen macht ihn sensibelfür die Bedrohungen des Menschen in derGegenwart. Er spricht „vom Verschwindendes Menschen in der Noch- oder Nachmo-derne“4, davon, dass der Mensch einzuge-hen drohe in „eine menschenleere Evoluti-onslogik, in der schließlich die Geschichtedurch ökonomische Naturgesetze … ersetztwird“5. Was dies im Kern bedeutet, ist mirin seiner Dramatik in der Begegnung mitdem deutlich geworden, was an Roberts Den-ken die heftigsten Widerstände auslöst: dieKrisentheorie.

Was Metz „eine menschenleere Evolutions-logik“6 nennt, ist die den Menschen bedro-hende ‚Krisenlogik’ des Kapitalismus. Dievermeintlichen ökonomischen Naturgeset-ze implizieren jene innere logische und jeneäußere ökologische Schranke, die im Zen-trum von Roberts Krisentheorie steht. DieKrise des Kapitalismus, die sich vor unserenAugen immer schärfer ausagiert, treibt Men-schen in einen gnadenlosen Kampf umSelbstbehauptung in der Konkurrenz, letzt-lich in einen Kampf aller gegen alle um dieschwindenden Verwertungsmöglichkeitender Arbeitskraft. Menschen stehen unter demDruck, sich permanent selbst zu verwertenoder als Nicht-Verwertbare ausgegrenzt unddennoch unter der Herrschaft der Arbeit ein-geschlossen zu sein.

Immer wieder hat Robert darauf aufmerk-sam gemacht, dass barbarische Strategiender Krisenbewältigung drohen bzw. in denZerfallsregionen des Globus bereits Wirk-lichkeit geworden sind. Unter dem Diktat derVerwertung drohen alle Inhalte – auch derMensch und seine Welt – zu abstraktenQuantitäten der Verwertung zu werden.

ist nicht seine unmittelbare Kommunizier-barkeit an jedermann.“3 Feindschaften aus-zuhalten und in Anfeindungen standhaft zubleiben, ist am ehesten den Menschen mög-lich, die in ihrem Kern kontemplativ orien-tiert sind – Kontemplation verstanden alsbeharrlichen und widerständigen Versuch,den Verhältnissen auf den Grund zu gehen,als Ausdruck eines unbeugsamen Willens zutheoretischer, d.h. das Ganze in den Blicknehmender Erkenntnis.

Dies geschieht nicht um des privaten Erkennt-nisgewinns willen, sondern um Erkenntnis-se anderen zu übergeben oder in der Spra-che der Mystik: contemplata aliis tradere, umdas Betrachtete anderen zu übergeben. ImInteresse von Erkenntnis und Menschlich-keit bleibt zu hoffen, dass die Erkenntnisse,die Robert uns und der Öffentlichkeit über-geben hat, aufgegriffen und weiterentwickeltwerden und er darin die Anerkennung erfährt,die ihm im Leben oft genug verwehrt wurde.Hoffentlich bleibt noch die Zeit, dass RobertsDenken fruchtbar werden kann, um dem Ein-halt zu gebieten, was er als sich verwirkli-chende Katastrophe beschrieben hat.

Foto

: Han

no B

öck

2 Ebd., 51.

3 Ebd.

4 J.B. Metz: Memoria Passionis, Freiburg 2006, 79.

5 Ebd., 92.

6 Ebd.

Page 11: Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne · Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12. NETZTELEGRAMM März 2013 Der neoliberale Kapitalismus

NETZTELEGRAMM März 2013

11

Genau dies macht den Verwertungsprozessinhaltsleer und verbindet ihn mit einem dop-pelten Gewaltpotential: Er zielt auf die Ver-nichtung des anderen zwecks Selbstbe-hauptung um jeden Preis und letztlich aufdie Selbstvernichtung zwecks Exekution dereigenen inhaltsleeren Existenz.

Angesichts der in Auschwitz Wirklichkeitgewordenen Vernichtung von Menschen alsSelbstzweck sowie der aktuellen und dro-henden Katastrophen muss es jedem philo-sophischen und theologischen Denken, dasmeint, vollmundig einen metaphysischenUniversalsinn der Geschichte oder auch nurden Sinn einer rein privaten Existenz mit demRücken zur Leidensgeschichte der Menschenbehaupten zu können, die Sprache ver-schlagen. Und dennoch scheint es so zu sein,dass die metaphysische Frage als Frage nachdem Überschreiten von Grenzen, nach demÜberschreiten historischer Grenzen, aberauch nach dem möglichen Überschreiten dermit der Endlichkeit des Menschen gesetztenGrenzen eine unabweisbare Frage ist. Inunserer historischen Situation der Bedro-hung des Menschen in und durch die Krisedes Kapitalismus stellt sie sich nicht einfachals Frage nach dem Sinn der Geschichte, son-dern als Frage nach der möglichen Rettungdes Menschen angesichts der tödlichen Per-spektivlosigkeit kapitalistischer Krisenver-waltung.

In der letzten Veranstaltung, die ich mitRobert gemeinsam bestreiten durfte, ging esum die Thematik ‚Kapitalismus als Religion’.Robert machte deutlich, dass mit dem Kapi-talismus die Transzendenz nicht mehr diegesellschaftlichen Verhältnisse überhöhendlegitimiere, sondern in die Immanenz ein-gewandert sei, genauer in den Prozess derVerwertung des Werts um seiner selbst wil-len. Der Kapitalismus „hat die Transzendenzsozusagen geschluckt und in seine eigenepermanente Selbstüberschreitung transfor-miert.“7 Dann aber wäre – in Anlehnung anNietzsche formuliert – Gott nicht tot, son-dern in die Immanenz der abstrakten Ver-wertung des Werts als Selbstzweck einge-wandert. Er wäre jener ‚verkehrten’ Weltimmanent, in der das Schicksal der Men-schen auf Gedeih und Verderb an die Pro-duktion von Waren zum Selbstzweck derAkkumulation von Kapital gebunden ist. Erst

mit dieser Welt und mit dem in ihr zugrun-de gehenden Menschen würde er sterben.

Könnte es sein, dass die Unterscheidung vonTranszendenz und Immanenz oder in theo-logischer Sprache: die Unterscheidung vonGott und Götzen als verabsolutierter Imma-nenz eine Perspektive der Rettung enthält?Transzendenz stände für das, was nicht iden-titätslogisch auf den Begriff zu bringen undinstrumentell zu verwerten wäre. Das Bil-derverbot in seiner theologischen und phi-losophischen Gestalt schützt diese Trans-zendenz. Sie wäre nicht ‚jenseits’ derGeschichte zu denken, sondern in derGeschichte wirksam als offene und einegeschlossene Immanenz auf die materielleund somatische Bedürftigkeit des Menschenhin öffnende und so transzendierende Fra-ge. So verstandene Transzendenz markierteine grundlegende Differenz zwischen derWelt, wie sie ist, und wie sie sein könnte. Eswäre eine Transzendenz, die weder die Welt,wie sie ist, überhöht noch mit ihr verschmilzt.

Versuche, Transzendenz so zu denken, fal-len nicht aus dem Ideenhimmel, sondernhaben ihre Wurzeln in geschichtlichen Erfah-rungen. Biblisch sind es die Erfahrungengeschichtlichen Leids, die nach Grenzüber-schreitungen schreien: von der Erfahrungdes Leids der in Ägypten Versklavten, denunter der Herrschaft Babylons Deportierten,den von den griechischen Herrschaftssyste-men Unterdrückten bis hin zu dem von Romgekreuzigten Messias. Transzendenz artiku-liert sich im Schrei nach Rettung. Dieser

Schrei treibt zur Analyse dessen, was ihn her-vorbringt, und lässt nach den Möglichkeitender Überwindung der jeweiligen Sklaven-häuser in der Geschichte fragen.

Die metaphysische Frage nach Transzendenzstellt sich nicht nur im Blick auf die Fragenach Möglichkeiten der Überwindung vonGrenzen in der Geschichte. Sie stellt sichnicht nur angesichts aktuellen Leids, son-dern auch angesichts der Leiden in der Ver-gangenheit, vor allem derer, die Opfer derverschiedenen Formen von Herrschaft gewor-den sind. Angesichts ihres Schicksals ist dieFrage am dringlichsten, ob denn das der‚Gang der Dinge’ sei, dass Unterdrückungund Gewalt über das Leben triumphieren.Und selbst eine bessere Gesellschaft müs-ste mit der quälenden Erkenntnis leben, dassihr Glück nicht vom Leid all der Unglückli-chen zu trennen ist. Die metaphysische Fra-ge stellt sich auch angesichts unseres eige-nen Leidens an Endlichkeit und Tod undheute besonders angesichts von Roberts Tod.

Diese Frage schlicht auf sich beruhen zu las-sen, wäre in der Gefahr, angesichts des Fak-tischen schnell zur Tagesordnung überzu-gehen und uns so trotz oder wegen allerBeschwörungen von Erinnerung zu Verges-slichen werden zu lassen. Eine Antwort aufsolche Fragen ist auch der Theologie ver-wehrt. Auch sie hat keine Gewissheiten zuproklamieren. Vielleicht aber darf sie in allerBescheidenheit von einer Hoffnung spre-chen, dass über das Leid von Menschen dasletzte Wort noch nicht gesprochen ist. Sol-che Hoffnung weiß um das Risiko, dass siesich täuschen kann und dann enttäuscht wer-den muss. Ihr Nährboden ist nicht die Sicher-heit notwendiger Vernunftwahrheiten, son-dern eine Erzählung, die geschichtlicheErfahrungen reflektiert. In ihr wird Gott unddas, was sein geheimnisvoller Name – Ichwill da sein als Retter aus Versklavung undUnterdrückung, aus Leid und Tod – bein-haltet, schmerzlich vermisst. In solchem Ver-missen wird die Frage nach Transzendenz,nach der Überwindung geschichtlicher undnatürlicher Grenzen wach gehalten. Weretwas vermisst, findet sich mit dem, was ist,nicht ab und hält andere Möglichkeiten offen.In diesem Sinne vermissen wir die Befreiungaus der Unterwerfung unter die Selbst-zweckbewegung des Kapitals. Wir vermissendie Rettung all derer, die an mit Unrecht undGewalt verbundener Herrschaft zugrundegegangen sind. Wir vermissen unsere Toten.Wir vermissen Robert und können vielleichtentdecken, dass er uns gerade im Schmerzdes Vermissens nahe und gegenwärtig ist.

7 Jörg Ulrich, Gott in Gesellschaft der Gesellschaft.Über die negative Selbstbehauptung des Absoluten,in: Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 2/2005,23-52, 32.

Page 12: Das II. Vatikanische Konzil und die kollabierende Moderne · Was bewegt China 5 Netz-Jubiläum 9 Gedenken an Robert Kurz 9 Termine 12. NETZTELEGRAMM März 2013 Der neoliberale Kapitalismus

12

IN DER REGION · VERANSTALTUNGEN IN DER REGION · VERANSTAL

März19.3., 19.30 Uhr, Koblenz (KHG, Rheinaue 12)

Sozialforum

gemeinsam mit dem ASTA der HochschuleKoblenz zum Thema „Antiziganismus undArbeitsgesellschaft“, Referentin: RoswithaScholz. Infos: Netzbüro (s. Impressum S. 4)

30.3.

Ostermarsch Saar

11.00 Uhr – Demo ab Johanneskirche, Saar-brücken; 12.00 Uhr – AbschlusskundgebungSt. Johanner Markt Saarbrücken

Redner: Clemens Ronnefeldt, Internationa-ler Versöhnungsbund Deutscher Zweige.V.Konni Schmidt, „Bike for Peace and NewEnergies“

Infos: [email protected]

April1.4., Büchel

Ostermarsch

Beginn: 14:00 Uhr am Gewerbegebiet Büchel– Ab 15:30 Uhr. Kundgebung in der Nähe vomHaupttor des Fliegerhorstes mit Textbeiträgen,Musik und Sketchen. Infos: Netzbüro (s.Impressum S. 4)

8.4., 19.00 Uhr, Saarwellingen

Genossenschaften, Belegschaftsbe-teiligung – Neue Wirtschaftsdemo-kratie im Saarland

Vortrag und Diskussion mit Stefan Peter,Ph.D, Geschäftsführer der ZukunftswerkstattSaar e.V.

Infos: [email protected]

11.4., 19.30, Bad Kreuznach (Pfarrheim St.Franziskus)

Made in China

Wie lebt und arbeitet man dort, wo unsereWaren herkommen? Bericht über den China-Besuch des AK RLP-Fujian „Keine Partner-schaft ohne Sozialstandards“, Referentin.Elisabeth Herudek. Infos: www.kab-trier.de.

13.4., 14.00, Herdorf-Dermbach (HausConcordia):

Made in China

Wie lebt und arbeitet man dort, wo unsereWaren herkommen? Bericht über den China-Besuch des AK RLP-Fujian „Keine Partner-schaft ohne Sozialstandards“, Referentin:Elisabeth Herudek. Infos: www.kab-trier.de.

23.4., 19.30 Uhr, Koblenz (Circus Maximus,Stegemannstraße 30)

1,5 Jahre nach Auffliegen des Natio-nalsozialistischen Untergrund (NSU)– Eine Bestandsaufnahme anlässlichdes ProzessbeginnsSozialforum gemeinsam mit DGB Koblenz,KHG, Antifa Koblenz, AStA der HochschuleKoblenz, Kulturverein Prometheus e.V. Infos:Netzbüro (s. Impressum S. 4) und www.nsu-watch.apabiz.de.

27.4., Koblenz

FairÄndern – neue Perspektiven fürWeltlädenLandestreffen der rheinland-pfälzischen Welt-läden. Infos: http://www.elan-rlp.de/aktuel-les-amp-termine.46.0.html.

Mai1.-5.5., Hamburg

Ev. Kirchentag ‚Markt der Möglichkeiten’ mit Organisatio-nen wie dem Ökumenischen Netz inDeutschland, Bund der religiösen Soziali-stInnen, Institut SÜDWIND uvm.

Info: www.kirchentag.de/hamburg.html

7.-11.5., Belgien

Studien- und Projekttage für Frauenin Blankenberge„Fair teilen statt sozial spalten – Nachhaltigleben und arbeiten“ – „Gerecht steuern mitSteuern“, Kosten für KAB Mitglieder: 390,-Euro, Kosten für Nichtmitglieder: 460,- Euro.

Infos: www.kab-trier.de

11.-17.5., Mainz

„Konflikt – Rohstoffe. Wohernehmen, wenn nicht …?“ Aktionswoche der Projektgruppe „Globalbewegt! RheinMain“

Infos: Netzbüro (s. Impressum S. 4)

25.5., Koblenz

Netzversammlungmit dem Schwerpunktthema „Arbeit alsgesellschaftliche Synthesis!?“.

Infos: Netzbüro (s. Impressum S. 4)

30.5.-2.6., Villingen-Schwenningen

Kongress „Zielscheibe Mensch“Internationaler Kongress von IPPNW in Koope-ration mit der „Aktion Aufschrei - Stoppt denWaffenhandel“ zu den sozialen und gesund-heitlichen Folgen des globalen Kleinwaffen-handels. Infos: www.zielscheibe-mensch.org.

JuniMilitarisierung der GesellschaftAktionsmonat in Koblenz. Weitere Informa-tionen zu einzelnen Veranstaltungen (Vor-träge, Filme, Aktionswochenende vom 14.-16.6. in der KHG etc.) folgen in Kürze:Netzbüro (s. Impressum S. 4)

4.6., 19.30 Uhr, Koblenz (Christuskirche)

Militarisierung der GesellschaftSozialforum im Rahmen des Aktionsmonatszum Thema „Militarisierung der Gesell-schaft“, Referent: Herbert Böttcher. Infos:Netzbüro (s. Impressum S. 4)

8./9.6., Kirkel

Weltmacht China? – Globalisierungund internationale Zusammenarbeitaus gewerkschaftlicher SichtReferentInnen: Gabriela Weber/DGB Koblenz,Dominic Kloos. Infos: Netzbüro (s. Impres-sum S. 4)

21.6., 17 Uhr, Koblenz (Gemeindesaal St. Fran-ziskus)

Jahreshauptversammlung des Steg e.V.Infos: Netzbüro (s. Impressum S. 4)

August6.-9.8., Büchel

Fastenaktion am AtomwaffenlagerBüchelInfos: http://www.atomwaffenfrei.de/aktiv-werden/buechel.html.

9.-12.8., Büchel

Protest vor dem Atomwaffenstandortmit Musik, gewaltfreien Aktionen, Redebeiträ-gen, Info- und Trainingscamps. Infos:http://www.atomwaffenfrei.de/aktiv-wer-den/buechel.html.

11.-12.8., Büchel

24-Stunden-BlockadeInfos: http://www.atomwaffenfrei.de/aktiv-werden/buechel.html.

13.8., Koblenz (Christuskirche)

Sozialforum zum Thema Leiharbeit -bei Paketdiensten, Amazon & Co. (Vortrag eines FAU-Vertreters). Infos: Netz-büro (s. Impressum S. 4)

24.8. - 31.8. 2013

Friedensradfahrt 2013 Verdun - Ramstein, Sivry-la-Perche - Verdun -Fleury - Étain - Thil - Esch - Cattenom - Trier -Saarbrücken – Ramstein, Infos: Netzbüro (s.Impressum S. 4).