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286 | Biologie in unserer Zeit | 32. Jahrgang 2002 | Nr. 5 U nser erdgeschichtliches Bild des Karbons wird geprägt von den Darstellungen jener großen äquatorialen Ur- wälder, aus denen die wirtschaftlich so bedeutsamen Stein- kohlen-Lagerstätten Mittel- und Westeuropas hervorgegan- gen sind (Abbildung 2). Die Namen der geologischen Lite- ratur wie „Carboniferous” (= „Kohlenträger”, eingeführt 1839 von dem englischen Geologen R. J. Murchison) oder das „Steinkohlen-Zeitalter” deuten wie selbstverständlich auf das „schwarze Gold”hin, das eigentlich nur im jüngeren Ober-Karbon vorkommt. Dabei könnte es so scheinen, als habe die „Steinkoh- lenzeit”mit einem Teil ihrer wirtschaftlichen auch ihre wis- senschaftliche Bedeutung verloren. Der vielzitierte „Praxis- bezug” der geologisch/paläontologischen Forschung ist nach Zeiten einer engen Verflechtung und Zusammen- arbeit der industriellen Kohlegewinnung mit der Grundla- genforschung weitgehend weggebrochen. Historisch-bio- logisch gesehen könnte überdies bei der Lektüre der Lehr- bücher zur erdgeschichtlichen Lebensentwicklung der Eindruck entstehen, als handele es sich beim Karbon um eine Zeit des allmählichen Niedergangs vieler Organismen- gruppen quasi als einer Art Vorbereitung auf das Ende des Paläozoikums. Wozu also noch eine wissenschaftliche Be- schäftigung mit dem Karbon? Der folgende Überblick soll zeigen, dass eine unmittel- bare wirtschaftliche Relevanz verloren gehen kann, die Notwendigkeit weiterer wissenschaftlicher Erforschung als Beitrag zu unserem Bild der Erde und der Entwicklung des Lebens auf diesem Planeten jedoch bestehen bleibt. Das Karbon ist bei weitem nicht nur Kohle, es ist biologisch ge- sehen eine Zeit wichtiger evolutionärer Neuerungen vor al- lem bei den Pflanzen (Entwicklung der Gymnospermen) und bei den Wirbeltieren (erste Reptilien). Es ist außerdem ABB. 1 Karbonischer Krebs Gasocaris aus der Gaskohle Böhmens in ungewöhnlich vollständiger Erhaltung. Ein tropischer Wald ohne Blüten und blütensuchende Insekten, ohne Früchte und früchtefressende Vögel – ein riesiger Sumpf, der in Jahrmillionen zu einem wertvollen Rohstoff wird: das Karbon. Doch in der zweitjüngsten geologischen Periode des Erdaltertums, die vor etwa 354 Millionen Jahren mit dem Ende des Devons begann und vor circa 296 Millionen Jahren mit dem Beginn des Perms endete, gibt es mehr zu entdecken als Steinkohle. Nicht nur Steinkohle Das Karbon A NDREAS B RAUN eine Zeit wichtiger tektonischer Vorgänge und großer klimatischer Gegensätze zwischen feuchtwarmen Äquatorbereichen und vereisten Kontinen- ten auf der Südhalbkugel [15]. Bei näherer Beschäftigung mit karbonischen Gesteinsserien und Fossilvorkommen tun sich auch heute noch weite Bereiche wissenschaft- lichen Neulands auf, die einer Bearbeitung bedürfen. Karbonische Gesteine und die Wirtschaft Natürlich ist die Steinkohle, in auf Milliarden Tonnen allein in Deutschland geschätzten Gesamtvorräten, ein gesuchter, intensiv erforschter und bergbaulich erschlossener Roh- stoff, sie war seit dem frühen Mittelalter wichtige Energie- quelle, Grundlage der industriellen Entwicklung in Europa und zugleich das wirtschaftliche Rückgrat ganzer Regionen und Industriezweige. Die Stätten ihrer Gewinnung und ih- rer Verarbeitung sind und werden noch geraume Zeit land- schaftsprägend sein. Allerdings hat die Kohle ihre wirt- schaftliche Bedeutung unter den veränderten Vorzeichen der Energie- und Umweltpolitik und dem verschärften in- ternationalen Wettbewerb auf den Kohlemärkten stark ein- gebüßt. In vielen Regionen wurden Gewinnungs- und Ver- arbeitungsbetriebe geschlossen, so dass die vom Bergbau geprägte Landschaft, touristisch oft neu eingebunden, als Erinnerung an bessere Zeiten des Steinkohlenbergbaus bleibt. Ausflug in die Erdgeschichte

Das Karbon: Nicht nur Steinkohle

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286 | Biologie in unserer Zeit | 32. Jahrgang 2002 |Nr. 5

Unser erdgeschichtliches Bild des Karbons wird geprägtvon den Darstellungen jener großen äquatorialen Ur-

wälder, aus denen die wirtschaftlich so bedeutsamen Stein-kohlen-Lagerstätten Mittel- und Westeuropas hervorgegan-gen sind (Abbildung 2). Die Namen der geologischen Lite-ratur wie „Carboniferous” (= „Kohlenträger”, eingeführt1839 von dem englischen Geologen R. J. Murchison) oderdas „Steinkohlen-Zeitalter” deuten wie selbstverständlichauf das „schwarze Gold”hin, das eigentlich nur im jüngerenOber-Karbon vorkommt.

Dabei könnte es so scheinen, als habe die „Steinkoh-lenzeit”mit einem Teil ihrer wirtschaftlichen auch ihre wis-senschaftliche Bedeutung verloren. Der vielzitierte „Praxis-bezug” der geologisch/paläontologischen Forschung istnach Zeiten einer engen Verflechtung und Zusammen-arbeit der industriellen Kohlegewinnung mit der Grundla-genforschung weitgehend weggebrochen. Historisch-bio-logisch gesehen könnte überdies bei der Lektüre der Lehr-bücher zur erdgeschichtlichen Lebensentwicklung derEindruck entstehen, als handele es sich beim Karbon umeine Zeit des allmählichen Niedergangs vieler Organismen-gruppen quasi als einer Art Vorbereitung auf das Ende desPaläozoikums. Wozu also noch eine wissenschaftliche Be-schäftigung mit dem Karbon?

Der folgende Überblick soll zeigen, dass eine unmittel-bare wirtschaftliche Relevanz verloren gehen kann, dieNotwendigkeit weiterer wissenschaftlicher Erforschung alsBeitrag zu unserem Bild der Erde und der Entwicklung desLebens auf diesem Planeten jedoch bestehen bleibt. DasKarbon ist bei weitem nicht nur Kohle, es ist biologisch ge-sehen eine Zeit wichtiger evolutionärer Neuerungen vor al-lem bei den Pflanzen (Entwicklung der Gymnospermen)und bei den Wirbeltieren (erste Reptilien). Es ist außerdem

A B B . 1 Karbonischer Krebs Gasocaris aus der Gaskohle Böhmens in ungewöhnlich vollständiger Erhaltung.

Ein tropischer Wald ohne Blüten und blütensuchende Insekten,ohne Früchte und früchtefressende Vögel – ein riesiger Sumpf, der in Jahrmillionen zu einem wertvollen Rohstoff wird:das Karbon. Doch in der zweitjüngsten geologischen Periode des Erdaltertums, die vor etwa 354 Millionen Jahrenmit dem Ende des Devons begann und vor circa 296 MillionenJahren mit dem Beginn des Perms endete, gibt es mehr zu entdecken als Steinkohle.

Nicht nur Steinkohle

Das KarbonANDREAS BRAUN

eine Zeit wichtiger tektonischerVorgänge und großer klimatischer Gegensätze zwischenfeuchtwarmen Äquatorbereichen und vereisten Kontinen-ten auf der Südhalbkugel [15]. Bei näherer Beschäftigungmit karbonischen Gesteinsserien und Fossilvorkommentun sich auch heute noch weite Bereiche wissenschaft-lichen Neulands auf, die einer Bearbeitung bedürfen.

Karbonische Gesteine und die WirtschaftNatürlich ist die Steinkohle, in auf Milliarden Tonnen alleinin Deutschland geschätzten Gesamtvorräten, ein gesuchter,intensiv erforschter und bergbaulich erschlossener Roh-stoff, sie war seit dem frühen Mittelalter wichtige Energie-quelle, Grundlage der industriellen Entwicklung in Europaund zugleich das wirtschaftliche Rückgrat ganzer Regionenund Industriezweige. Die Stätten ihrer Gewinnung und ih-rer Verarbeitung sind und werden noch geraume Zeit land-schaftsprägend sein. Allerdings hat die Kohle ihre wirt-schaftliche Bedeutung unter den veränderten Vorzeichender Energie- und Umweltpolitik und dem verschärften in-ternationalen Wettbewerb auf den Kohlemärkten stark ein-gebüßt. In vielen Regionen wurden Gewinnungs- und Ver-arbeitungsbetriebe geschlossen, so dass die vom Bergbaugeprägte Landschaft, touristisch oft neu eingebunden, alsErinnerung an bessere Zeiten des Steinkohlenbergbausbleibt.

Ausflug in die

Erdgeschichte

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K A R B O N | E R D G E S C H I C H T E

In Gegenden, in denen karbonische Gesteinsserien an odernahe der Erdoberfläche bergbaulich zugänglich sind, kön-nen beispielsweise Kalksteine und Sandsteine als Bau- undSchottermaterial oder als Zement-Bestandteil wirtschaftlichvon Bedeutung sein. Vor allem in Belgien und England sinddie grauen Kalksteine des karbonischen „Kohlenkalks” inmanchen Regionen auch architektonisch landschafts- undstadtbildprägend. � Kieselschiefer und � Grauwacken imBereich des Rheinischen Schiefergebirges sind ein gesuch-tes, in großen Steinbrüchen gewonnenes Schottermaterial.Im 18. und 19. Jahrhundert wurden auch die zahlreichenErzgänge (u. a. Eisen, Mangan) bergbaulich in kleinenSchächten verfolgt, die im Gefolge der karbonischen Auf-faltung der Gesteinsabfolgen des Rheinischen Schieferge-birges an Klüften und Störungszonen älterer Gesteine em-porgedrungen sind. Auch in Verbindung mit dem damali-gen Vulkanismus gibt es Vorkommen von Eisenerzen, dieaber nur geringe wirtschaftliche Bedeutung besitzen.

Flachmeere, tiefe Becken, KohlenwälderVon geologischer Seite hat es in den vergangenen Jahrenzahlreiche Beiträge und Anstöße gegeben, die unser tradi-tionelles Gliederungs- und Abgrenzungs-Schema der Kar-bon-Periode in der erdgeschichtlichen Zeittabelle weit-gehend ergänzen und es wahrscheinlich auch grundlegendverändern werden. Die Methoden der � radiometrischen Altersbestimmungen sind genauer geworden und kommenüberdies mittlerweile mit erheblich geringeren Mengen anProbensubstanz zur Datierung aus. Die Folge ist eine er-heblich gesteigerte und verfeinerte Skala absoluter Alters-angaben in Jahrmillionen, die die zeitliche Begrenzung desKarbons in Richtung der älteren und jüngeren Systeme undeine zuverlässigere Abschätzung der Dauer der zeitlichenUntereinheiten erlauben [12]. Dieses Zeitgerüst wird denbisher bekannten und verwendeten Untergliederungen auf

der Grundlage der Gesteinsausbildung (Lithostratigraphie)und der Lebensentwicklung (Biostratigraphie) zur Seite gestellt.

Während des Unter-Karbons sind die Gesteinsserien inEuropa überwiegend von Meeresablagerungen bestimmt.Die Ränder der damaligen Kontinente wurden in zeitlichund räumlich wechselndem Ausmaß von flachen Meerenbedeckt. Dem damals warmen äquatorialen Klima entspre-chend hinterließen solche Flachmeere überwiegend kal-kige Sedimentgesteine, die sich örtlich und horizontweisedurch einen reichen Fossilinhalt auszeichnen. Zusammen-

A B B . 2 Karbonwald mit Baumfar-nen (Psaronius), Schuppenbäumen(Lepidodendron), Siegelbäumen (Sigillaria), Schachtelhalmen (Calamitina) und einigen Tieren:Panzerlurch Eryops, schlangenähn-liches Amphib Aistopoda und Insek-ten Homoioptera und Hetero-logopsis. Bild: Schäfer, Senckenberg-Museum, Frankfurt

VO M TO R F Z U R KO H L E |Sedimente, die sehr reich an pflanzlichen Resten sind, können in einem als „Inkoh-lung“ bezeichneten Prozess in Kohle umgewandelt werden. Voraussetzung dafür ist,dass das Pflanzenmaterial möglichst rasch unter Luftabschluss gelangt. In Moorensind die Bedingungen ideal, denn hier gibt es reichlich Pflanzenmaterial, welches mitflachem Wasser bedeckt ist. Zunächst zersetzen Bakterien die Pflanzenreste und esentstehen reichlich Huminsäuren. Unter dem Druck der überlagernden Sedimentewird zugleich Wasser aus dem Sediment gepresst. Es entsteht Torf, in dem die Pflan-zenteile noch gut makroskopisch erkennbar sind. Weitergehende bakterielle Zerset-zung der Pflanzenteile führt im nächsten Schritt zur Weichbraunkohle. Wegen derstarken bakteriellen Beteiligung spricht man, ausgehend vom Torf bis einschließlichzum Weichbraunkohlenstadium von einer „biochemischen Inkohlung“.

Alle weiteren Inkohlungsschritte, über die Hartbraunkohle und verschiedene Steinkohlen-Sorten bis zur höchstinkohlten Stufe, dem Graphit, erfolgen danach nichtmehr unter bakterieller Beteiligung, sondern nur noch unter dem Einfluss erhöhtenDrucks und/oder erhöhter Temperatur in der Erdkruste. Der Kohlenstoff-Gehalt der entstehenden Kohlen-Gesteine erhöht sich kontinuierlich von circa 58 Prozent (Torf),über 70 Prozent (Braunkohle) auf 83 Prozent (Steinkohle), 94 Prozent (Anthrazit) biszu 100 Prozent beim Graphit, zugleich nimmt der Anteil des Sediments an flüchtigenBestandteilen (hauptsächlich Sauerstoff, Stickstoff, Methan und Wasserstoff) ab.

Die mit einem grünen Pfeil markierten Begriffewerden im Glossarerklärt.

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fassend sprechen wir bei diesen Flachmeer-Bildungen vom� Faziesbereich des „Kohlenkalks”. Solche Gesteine sindbeispielsweise in der Gegend von Aachen, in Belgien und inEngland verbreitet. Es ist nicht ganz klar, ob der deutscheName „Kohlenkalk” seine Herkunft einer nicht ganz kor-rekten Übersetzung aus dem englischen „Carboniferous limestone”, oder aber der teilweise sehr dunklen, bisschwarzen, kohleähnlichen Färbung der kalkigen Gesteineverdankt. Mit der Kohle hat er jedenfalls weder zeitlichnoch in Bezug auf die Gesteinsausbildung etwas zu tun.

Gehen wir zur Zeit des Unter-Karbons von diesen Koh-lenkalk-Plattformen weiter in südlicher Richtung in das Ge-biet des heutigen Rheinischen Schiefergebirges, so gelan-gen wir über Gebiete mit � faziellen Übergängen in dieBecken [3], in denen eine überwiegend ruhige und weitge-hend kalkfreie Schlammsedimentation vorherrscht. Dielangsame Sedimentation wird nur zeitweise und kurzfristigvon lawinenartig am Meeresboden niedergehendenSchlammströmen aus den flacheren Sedimentationsberei-chen unterbrochen. In diesen Meeresräumen entstandeneGesteinsabfolgen werden unter dem Begriff der „Kulm-Fa-zies” zusammengefasst. Die Parallelisierung der Sediment-gesteine der Kohlenkalk- und der Kulm-Faziesbereiche warlange Zeit ein wichtiges Forschungsgebiet. Die folgendeZeit des höheren Unter-Karbons und des beginnendenOber-Karbons wird sedimentologisch durch den Zusam-menschluss der Festlandsmassen der Nord- („Laurussia”)und der Südhalbkugel („Gondwana”) und die damit zusam-menhängende � variskische Gebirgsbildung beeinflusst(Abbildung 3). Im Zuge dieser Vorgänge entstanden konti-nentale Gebirgszüge, in deren Binnensenken und Küsten-niederungen sich später im Laufe des Ober-Karbons mäch-tiger Abtragungsschutt sammelte und sich dichte Kohlen-wälder ausbreiteten.

Die epikontinentalen FlachmeereDie Fauna und Flora der Kohlenkalk-Abfolgen weist ein ty-pisches Gepräge des warmen Flachwassers auf. Wir findenreichlich rugose Korallen (Abbildung 4) und Algen als wohlzuverlässigste Tiefen- und Temperatur-Indikatoren nebeneiner Vielzahl weiterer Organismen des warmen Flachwas-sers. Eine einheitliche ökologische Charakterisierung desKohlenkalk-Faziesbereiches als „flaches Warmwasser“ istjedoch zu einfach. Es gab in Raum und Zeit viele unter-schiedliche kleinere Lebensbereiche, vom flachen Wasserim Auftauchbereich des Kontinentalschelfs bis zum Beginndes schlammigen Tiefwassers, die jeweils ein typisches Ge-präge in Flora und Fauna aufwiesen. Das Auflösen der kal-kigen Gesteine in Säuren erbringt eine Fülle vornehmlichmikroskopisch kleiner Reste, die unser Bild von der Ökolo-gie dieser Lebensräume bereichern. Statistische Auswer-tungen des Fossilinhalts in Verbindung mit sedimentologi-schen Auswertungen von Dünnschliffen erlauben eine zu-verlässige und detaillierte Rekonstruktion und eine Ab-schätzung von Wassertiefen, Strömungsverhältnissen undweiteren ökologischen Parametern. Größere und ausge-dehnte Riffbildungen, wie sie sonst im äquatornahen Flach-wasser typisch sind und wie sie auch im vorausgehendenDevon häufig waren, gab es im Kohlenkalk des Karbons nuruntergeordnet, weil viele der im Devon noch häufigen rich-tigen „Riffbildner“ ausgestorben oder sehr selten gewordenwaren.

Nach einer einschneidenden � Transgression war es imOber-Devon zu einem weltweiten Absterben der Riffe ge-kommen. Im Faziesbereich des Kohlenkalks lässt sich gutstudieren, wie sich unter ökologisch vergleichbaren Um-weltbedingungen Riffgemeinschaften nach solchen Ein-schnitten erholen und mit anderer systematischer Zu-sammensetzung neu bilden können. Man hat eine Reihe interessanter, nicht von Korallen, sondern von Algen,Schwämmen oder Bryozoen dominierten Organismenge-meinschaften in diesem Faziesraum gefunden, die Riffhügelvergleichsweise geringer Ausdehnung und Höhe bildenkonnten. Wenn es, wie in solchen flachen Sedimentations-räumen immer wieder möglich, vorübergehend zur ober-flächlichen Lösung oder gar Verkarstung von Kalkstein-Oberflächen gekommen ist, bieten verhärtete Sediment-oberflächen, Hohlräume und kleine Höhlen überdies einerspeziell angepassten Fauna eine Besiedlungsmöglich-keit. Bei der Untersuchung dieser Höhlenfaunen und Hart-grund-besiedelnden Gemeinschaften stehen wir erst amAnfang.

Die Fauna der tiefen BeckenDie Fauna, die Gesteinsausbildung und das Vorkommenvon Schlammstömen aus den Flachwasserbereichenspricht in den südlich der Kohlenkalk-Plattform gelegenenBecken überall für eine größere Wassertiefe. Die Umschrei-bung „größere Wassertiefe” darf aber nicht darüber hin-wegtäuschen, dass wir über die absoluten Wassertiefen unddie ozeanographischen Verhältnisse dieser Sedimentations-

A B B . 3 Die paläogeografische Situation im Karbon: Bei der Kollision von Laurussiamit Gondwana etwa 300 Millionen Jahre vor heute entsteht das variskische Gebirge.Gegen Ende des Karbons kommt es zu einer Abkühlung und zu Vereisungen. Aus: S. J. Gould (Hrsg.): Das Buch des Lebens, VGS Verlagsgesellschaft

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räume erst recht wenig aussagen können. Sicher ist für diefraglichen Sedimentgesteinsserien im Gebiet des heutigenRheinischen Schiefergebirges oder des Harzes nur, dass wiruns � bathymetrisch nicht in einer echten Tiefsee in derheutigen Tiefendefinition befinden, sondern wahrschein-lich im Übergangsbereich zu einem größeren, ozeanischen,nach Osten geöffneten Meeresarm (der so genannten Paläo-tethys), der die Kontinente der Nordhalbkugel von der aufder Südhalbkugel gelegenen Gondwana-Landmasse trenntund der sich ursprünglich nach Süden an den Bereich desheutigen Rheinischen Schiefergebirges anschloss. Wir ha-ben es in diesen Becken aber bereits mit einer Fauna und ei-ner Sedimentologie von Tiefsee-Charakter zu tun, die ört-lich in relativ geringen Wassertiefen beginnt und nurschwer von echten Tiefseebildungen zu unterscheiden ist. Die Fauna dieser Räume ist in ihrer Gesamtheit betrachtetbereits überwiegend ozeanisch und wird über beachtlicheGesteinsabfolgen von Plankton (Radiolarien, Abbildung 5)dominiert [5]. Die Meeresböden selbst waren hier insge-samt nur recht spärlich besiedelt (gefunden wurden reich-lich Schwamm-Reste, daneben vereinzelt � Goniatiten,Stielglieder von Crinoiden und Fischreste). Die häufigenSpurenfossilien in diesen Serien deuten allerdings auch da-rauf hin, dass wir viele der dort lebenden Organismen we-gen ihrer geringen Erhaltungsfähigkeit bisher nicht gefun-den haben. Nur in manchen Horizonten sind Hinweise aufein zeitweilig reicheres Bodenleben zu finden.

Durch gelegentliches Einwandern von Flachwasserfau-nen auf inselartige Gebiete sowie durch Einschüttungen

von Komponenten des flacheren Wassers macht sich vie-lerorts auch in den Tiefwasser-Serien der benachbarte fla-chere Schelf bemerkbar [1]. In den Meeresbecken des Un-terkarbons kam es, wie in vielen Bereichen heutiger Oze-ane auch, zu einem intensiven Vulkanismus, der dieZusammensetzung der Sedimentgesteine ebenso wie dieLebensgemeinschaften beeinflusste. Wie wir von heutigenOzeanböden wissen, können die Gase und Flüssigkeiten,die im Zusammenhang mit solchem untermeerischen Vul-kanismus am Meeresboden austreten, eine hochinteres-sante Fauna mit spezieller ökologischer Anpassung bedin-gen. Faunen solcher „hydrothermaler Felder” sind auch imKarbon wahrscheinlich. Sie finden sich dort, wo auch an-dere geologische Indizien (beispielsweise bestimmte Verer-zungen und das Vorkommen untermeerisch ausgeflossenerLaven in den Sedimentabfolgen) die Existenz hydrotherma-ler Aktivität am Meeresboden nahelegen.

Gerade die Gesteinsserien der Beckenfazies des Kar-bons mit ihrem recht hohen Anteil an vulkanischen Produkten sind für weitere Nachweise derartiger Faunengeeignet [14].

Riesenlibellen in KohlenwäldernDie oberkarbonischen Kohlenwälder sind die typischenund in zahlreichen Werken zur Erdgeschichte bildlich re-konstruierten Lebensgemeinschaften des Karbons. Baum-förmige und baumhohe Bärlappgewächse, Schachtelhalmeund etwas kleinere farnlaubige Pflanzen bilden nebenGymnospermen (Cordaiten) den Baumbestand dieser

A B B . 4 Rugose, koloniebildende Koralle. Kohlenkalk, England.

A B B . 5 Kieselschiefer-Anschliff mit zahlreichen Radiolarien(helle Punkte). Unter-Karbon, Hatzfeld (Eder).

A B B . 6 GroßeBärlapp-Gewächse(links), Schachtel-halme (Mitte) undfarnlaubige Pflan-zen (rechts) bildenden Hauptteil derFlora der Kohlen-wälder.

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sumpfigen Wälder, deren Pflanzen vielfache und detail-lierte monographische Bearbeitungen erfahren haben (Ab-bildung 6). Bei den Tieren sind wohl am ehesten die riesigen Libellenauffällig, die ansehnliche Flügelspannweiten von bis zu 70 Zentimetern erreichten. Es gab nicht nur bei den Libel-len solche Riesenformen - auch andere Insektengruppen,Skorpione und � Arthropleuriden brachten zur Zeit des Kar-bons sehr große Vertreter hervor (Abbildung 7). Bei denmeisten dieser Gruppen hat es später niemals größere oderauch nur gleichgroße Formen gegeben. Es gibt Vermutun-gen, dass mit jenen Größen eine „oberste Grenze“ erreichtwurde, dass die Formen wegen der begrenzten Leistungs-

fähigkeit des Chitinpanzers und des Tracheensystems nichtnoch größer werden konnten. Was war die Ursache dafür,dass es zu einem solchen gruppenübergreifenden Riesen-wachstum gekommen ist? Wahrscheinlich waren es dieguten Lebensbedingungen und die reichen Nahrungsquel-len in den karbonischen Urwäldern, vielleicht spielten zu-sätzlich noch ein möglicherweise sehr hoher Sauerstoff-gehalt der Luft oder das noch weitgehende Fehlen von in-takten Räuber-Beute-Beziehungen eine Rolle. Obwohl vieleklassische Beschreibungen der fossilen Arthropoden derKarbonwälder und ihrer Gewässer vorliegen, gibt es überdie systematische Stellung einiger Gruppen und deren Öko-logie noch keine abschließenden sicheren Erkenntnisse.Gezielte Dünnschliffe ermöglichen neuerdings Untersu-chungen beispielsweise der Atmungsorgane und der cuti-cularen Sinnesorgane fossiler Arthropoden, um weitere Fra-gen zur Lebensweise und zur systematischen Zuordnung zubeantworten [9]. Viele Arthropoden fraßen das reichlichvorhandene lebende und abgestorbene Pflanzenmaterial,andere waren Räuber. Die heute so verbreiteten Anpassun-gen an die Bestäubung fehlten völlig, Spezialanpassungen,wie die Bildung von Pflanzengallen oder die Existenz vonPflanzensaugern, sind dagegen nachgewiesen [11].

In den Seen und Tümpeln dieser Wälder lebten Amphi-bien, die Molchen, Salamandern und Schlangen ähnelten,frühe Knochenfische (die Palaeonisciden) und große Süß-wasserhaie. Daneben beherbergten die Gewässer eine Ar-thropoden-Fauna aus Ostracoden, Conchostracen, Eurypte-riden, � Euthycarcinoiden und Pfeilschwanzkrebsen. Nachkurzzeitigen Meereseinbrüchen in den Gebieten der kü-stennahen Kohlenwälder stellten sich vorübergehend vomMeer beeinflusste aquatische Lebensgemeinschaften ein,die in ihrer ökologischen Entwicklung gut untersucht sind[4]. Leider sind Wirbeltierfunde in der Kohle und ihren Be-gleitgesteinen in der Regel sehr selten oder fehlen ganz, dadie Knochen durch die zirkulierenden � Huminsäuren frühweggelöst wurden. Nur unter besonderen Bedingungen –in Gebieten mit kalkhaltigem Grundwasser, nach kurzzeiti-gen Meereseinbrüchen oder bei ungewöhnlich hohen Kon-zentrationen – konnten Knochen und andere kalkhaltigeFossilien auch in der Kohle erhalten bleiben. An manchenOrten bildeten die Löcher hohler, verrotteter Baumstümpfebaumförmiger Bärlappgewächse Fallen für zahlreiche Wir-beltiere, unter ihnen die ersten Reptilien [7]. Sie stürzten indie Hohlräume, konnten nicht mehr aus ihnen entkommenund wurden so fossil überliefert. Paläontologen nennen soetwas „glückliche Tragik”.

Es wird weniger oft betont, dass es auch damals im Bo-den und im Wasser der Tümpel und Seen ein anderes Endeder Größenskala gegeben haben muss und dass diese Tieredas Anfangsglied der damaligen Nahrungskette gestellt ha-ben müssen. Die Kleinfauna und Kleinflora der Boden- undSüßwasser-Lebensräume ist, von wenigen Ausnahmen ab-gesehen, nicht auf den Schichtflächen der Gesteine zu fin-den. Hinweise auf ihre Existenz findet man zum einen inGesteins-Dünnschliffen, in denen Reste mikroskopischer

A B B . 7 Arthro-poden-Fossiliender karbonischenSteinkohle: Flügeleiner Schabe(links) undRückenplattenvon Arthropleura(rechts).

K L E I N A R T H RO P O D E N D E R B Ö D E N U N D G E W Ä S S E R |Werden pflanzenreiche kohlige Gesteine mitHilfe von Säuren aufgelöst und der organi-sche Rückstand mikroskopisch durchsucht,kann man Teile oder vollständige Exemplareboden- oder wasserbewohnender Kleinlebe-wesen finden. Milben, vollständig erhalteneOstracoden oder vorzüglich erhaltene Teilekleiner Skorpione mögen nur einige Beispielefür diese paläontologisch noch wenig be-kannte Formenwelt sein. Abgesehen von derMöglichkeit, auf diesem Wege lange vergan-gene Lebensgemeinschaften zu rekonstru-ieren, bieten die Ergebnisse solcher Untersu-chungen auch Beiträge zu allgemeinen evo-lutionsbiologischen Fragen: Die Bewohnerdes Waldbodens erweisen sich im Vergleichzu vielen anderen fossil nachgewiesenen Organismengruppen auch bei detaillierterUntersuchung als bemerkenswert „konser-vativ“ im Laufe der Erdgeschichte. Skorpioneoder Milben des Karbons unterscheiden sichkaum von heutigen Formen. Leitfossilien zur relativen Altersbestimmung wird manhier wohl vergeblich suchen.

Milbe (oben), Cheliceren eines Skorpi-ons (Mitte) und Ostracoden (unten) miterhaltenen Extremitäten aus Lösungs-rückständen kohleführender Gesteinedes Oberkarbons. Gefunden im Saar-gebiet und in Ibbenbüren.

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Pilze und die kleinen Kotpillen gefunden wurden, die beideauch in heutigen Waldböden reichlich zu finden sind. DieZuordnung der Kotpillen zu einem Erzeuger ist nur un-sicher auf der Basis ihrer Größe möglich. Zur Entdeckungvon aussagekräftigeren Körperfossilien sind spezielle Lö-sungstechniken notwendig, die es erlauben, organische Reste aus dem umgebenden Gestein zu befreien und den Lösungsrückstand unter dem Binokular oder dem Mik-roskop zu durchsuchen [6]. Solche Suchtechniken liefernoft bemerkenswert vollständige Reste der Cuticula von Arthropoden und öffnen ein Fenster zu bislang fossil weit-gehend unbekannten Lebensgemeinschaften. Sie erlaubenüberdies aufgrund ihrer Erhaltungsqualität weitgehendebiologische Aussagen zur Lebensweise und zur Entwick-lung bestimmter Merkmale.

Lagerstätten jenseits der KohlenwälderTrotz des zahlreichen und qualitativ hochwertigen Fossilin-halts der kohleführenden Serien war es klar, dass eine zeit-liche und räumliche Beschränkung auf die Kohlengebietezu eng gefasst ist, wenn man damit die terrestrischen Le-bensgemeinschaften des Karbons insgesamt charakterisie-ren will. Es gab in Abhängigkeit von Klima und Kontinent-lage unterschiedliche pflanzen- und tiergeographische Pro-vinzen [15].

Die Lebensgemeinschaften der Kohlenmoore Europasund Nordamerikas waren in vielerlei Hinsicht spezialisiertund ökologisch an Niederungsgebiete mit sehr hohemGrundwasserspiegel angepasst. Solche Gebiete hoher

Feuchtigkeit umfassten Schätzungen zufolge etwa zehnProzent der damaligen Landoberfläche und waren vom evo-lutionsbiologischen Standpunkt aus nicht die Stätten, andenen sich die bedeutenden evolutionären Neuerungender Pflanzen vollzogen. Diese fanden eher in den trockene-ren, wohl etwas höher gelegenen Gebieten außerhalb derSeen, Moore und Flussniederungen statt. Angesichts derstarken Verwitterung und des zumindest saisonal starkenRegens in den äquatorialen Breiten waren diese Gebiete je-doch vorwiegend Abtragungs-Areale, in denen es nur unterbesonderen und selten eintretenden Bedingungen zur Ein-bettung und Überlieferung der dort lebenden Fauna undFlora kam. Die Kohlenmoore hingegen waren überwiegendSedimentationsgebiete mit verbreiteter Fossilisation unddementsprechend verhältnismäßig überrepräsentierter Le-bensgemeinschaft im Fossilbericht.

Trotzdem gibt es auch in weit von den Orten bevor-zugter Fossilisation gelegenen Gebieten verschiedene Mög-lichkeiten, Lebensformen rasch ins Sediment einzubettenund so fossil zu erhalten. Eine erste Möglichkeit bieten ex-plosive Vulkanausbrüche, die oft erhebliche Mengen an vul-kanischem Lockermaterial (Staub, Asche, Lapilli) in die At-mosphäre schleudern. Setzt sich dieses Material wieder ab,können ganze Landschaften und deren Lebensgemein-schaften innerhalb kurzer Zeit mit den Vulkanproduktenzugedeckt werden. Setzen dann noch innerhalb der so ent-standenen Ablagerungen und in Wechselwirkung mit deneingebetteten Organismenresten Mineralisierungsvorgängeein, sind die Chancen auf eine gute und dauerhafte Fossil-

G LOSSA R |Arthropleuriden: Arthropoden des Karbons und Perms, dierein äußerlich Hundertfüßlern ähnlich sehen. Ihre systemati-sche Zugehörigkeit und Lebensweise ist noch ungeklärt.

bathymetrisch: die Wassertiefe betreffend.

epikontinental: die Ränder der Kontinente bedeckend.

Eurypteriden: Gruppe von Cheliceraten in den Meeren undSeen des Paläozoikums. Äußerlich ähneln sie Skorpionen, wurden aber teilweise bis zu 1,5 Meter lang.

faziell: in Hinblick auf die Sedimentations-Umgebung.

Fazies: Die Gesamtheit aller Merkmale eines Sedimentgesteinsin Hinblick auf seine Entstehung in einem bestimmten Sedimentationsraum.

Goniatiten: Paläozoische Cephalopoden-Gruppe der Ammonoideen mit aufgerolltem, gekammertem Gehäuse.

Grauwacken: Gestein der Sandstein-Gruppe, mit Beimen-gungen von Gesteinsbruchstücken und Quarzkörnern.

Huminsäuren: Organische Säuren, die bei der bakteriellenZersetzung pflanzlicher Stoffe im Boden entstehen.

Kieselschiefer: Im Wesentlichen aus Quarz bestehendes, hartes, oft schiefriges Sedimentgestein, an dessen Aufbau kieseliges Plankton (Radiolarien) großen Anteil hat.

plinianische Eruptionen: Benannt nach Plinius dem Älteren.Gewaltige, explosive Vulkanausbrüche, bei denen sehr vielStaub und anderes vulkanisches Lockermaterial in die Atmo-sphäre gelangt.

radiometrische Altersbestimmung: Bestimmung des Alters von Gesteinskörpern auf der Grundlage des Zerfalls radioaktiver Elemente.

rugose Korallen: Korallengruppe, die als typisch für dasPaläozoikum gilt. Wird in der Trias von den heute noch existie-renden Hexakorallen abgelöst.

taphonomisch: die Vorgänge zwischen dem Tod eines Orga-nismus und seiner Einbettung ins Sediment betreffend.

Transgression: weiträumig wirksames Steigen des Meeres-spiegels.

Variskisches Gebirge: Im Paläozoikum entstandener Gebirgs-zug in Mitteleuropa. Ein Teil dieses Gebirges liegt heute nochim Rheinischen Schiefergebirge und im Harz vor.

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überlieferung sehr gut. Beispiele aus jüngerer Zeit sind die� plinianischen Eruptionen des Mount St. Helens und desLaacher Sees, ein älteres Vorkommen mit vergleichbarerEntstehungsgeschichte ist der versteinerte Wald im Permvon Chemnitz, im Karbon sind Gebiete mit Vulkanismusund entsprechenden Lagerstätten in England und Schott-land bekannt. Hier wurden zahlreiche dreidimensional mi-neralisierte Pflanzenreste geborgen, die nicht nur die Ana-tomie der Stämme und Äste, sondern auch den Bau der Re-produktionsorgane fast vollständig zeigen.

Eine weitere Möglichkeit einer Fossilüberlieferung er-gibt sich, wenn bei Überschwemmungen oder Stürmen imInland oder in Küstennähe Organismen von ihrem ur-sprünglichen Wuchsort mitgerissen und ihre Reste, oft weitvom Lebensort entfernt, in Meeresablagerungen eingebet-tet werden. So finden wir in „ozeanischen”Sedimentserienmanchmal vorzüglich erhaltene Reste von Landpflanzen,die von ihren in Küstennähe oder im Inland gelegenenWuchsorten ins Meer transportiert und hier in den Sedi-menten früh mineralisiert wurden. Beide Lagerstätten-Ty-pen, die „kontinental-vulkanischen”und die „ozeanischen”,lieferten und liefern uns wichtige Informationen über diefrühe Geschichte und die anatomischen Anpassungen derGymnospermen, die an den trockenen Standorten der Kon-tinente gewachsen sind.

Auch andere ungewöhnliche sedimentologische oder� taphonomische Bedingungen können zur Entstehung vonFossilvorkommen mit ausnehmend guter Qualität und Voll-ständigkeit der Erhaltung beitragen. So sind in schiefrigenmarinen Gesteinen im unteren Ober-Karbon von Hagen-Vorhalle neben vielen Pflanzenresten unter anderem auchzahlreiche vollständige und große Insekten gefunden wor-

den. Solche Funde sind weltweit einmalig. Die Fundstellehat sehr viel zu unserem Bild vom Aussehen und von denMerkmalen vor allem der frühen geflügelten Insekten bei-getragen. Die Tiere und Pflanzenteile wurden vermutlichbei Stürmen vom Land her in den Bereich mariner Ablage-rungen geweht und hier rasch eingebettet.

In Frankreich, in Böhmen, untergeordnet auch im Kar-bon des Ruhrgebietes sind Vorkommen bekannt geworden,in denen ehemalige Torfe aufgrund einer sehr frühenDurchdringung und Stabilisierung mit Silicium-Dioxid(SiO2, Kieselsäure) Pflanzen- und untergeordnet auch Tier-reste hervorragend erhalten haben. Feinkörnige tonige Ab-lagerungen in Seen, Küstengewässern und gut geschützten,oft schlecht durchlüfteten Meeresbereichen liefertenbeispielsweise in Belgien, Schottland [8] und Irland [13]Organismenreste und Lebensgemeinschaften in einzigarti-ger Vollständigkeit. Für den Paläontologen vervollständigenund bereichern solche einmaligen Fundstellen das Bild vonder Biodiversität lange vergangener Erdzeitalter und liefernoft eindrucksvolle Belege über den Stand der Evolution inbestimmten systematischen Gruppen.

Effekte globaler MeeresspiegelschwankungenVor allem die Bereiche, die in Wassertiefen von wenigenhundert Metern gelegen haben, bieten besondere geologi-sche Möglichkeiten, die erst in jüngerer Zeit gezielter ver-folgt und interpretiert werden: Zu jeder Zeit der Erdge-schichte hat es auffällige, überregional in der Gesteinsab-folge und in der Lebensentwicklung nachvollziehbareÄnderungen in den ozeanographischen Verhältnissen gege-ben. Solche Änderungen haben sich in Zeiträumen abge-spielt, die – ob nur 100 oder 100.000 Jahre dauernd – erd-geschichtlich als kurzfristig angesehen werden müssen. Be-sonders gut untersucht und in die erdgeschichtlicheGliederung eingebunden sind solche Ereignisse in der demKarbon vorausgehenden Devon-Periode [10]. Erhöhungendes globalen Meeresspiegels, beispielsweise nach dem Ab-schmelzen polarer Eismassen, können über die damit zu-sammenhängenden Überflutungen der Kontinentränderund über Änderungen in den globalen Strömungssystementiefgreifende Veränderungen der Lebensräume und derökologischen Verhältnisse auf der Erde bewirken. Sinkenandererseits die globalen Meeresspiegelstände (beispiels-weise beim Aufbau polarer Eiskappen), ist in gleicherWeise mit örtlich tiefgreifenden Veränderungen zu rech-nen.

Im Bereich des flachen Wassers, im Karbon also auf den„Kohlenkalk-Plattformen” der Kontinentränder, führen sol-che Schwankungen oft gleich zu extremen Reaktionen, beisteigendem Meeresspiegel zum „Ertrinken” der an dasFlachwasser gebundenen Fauna und bei einem Sinken zum„Auftauchen” und zum Fehlen jeglicher Sedimentation, zurAufarbeitung des bereits Abgelagerten, insgesamt also zuSchichtlücken mit fehlender sedimentologischer und bio-logischer Dokumentation. In den mutmaßlichen Tiefsee-Bezirken der Ozeane mit Wassertiefen von mehr als 1000

P F L A N Z E N I N O Z E A N I S C H E N S E D I M E N T E N |In phosphatischen Konkretionen und inschwarzen, marinen, planktonreichenSedimentgesteinen des Unterkarbonsfinden sich örtlich hervorragend erhal-tene Pflanzenreste. Sie sind aus nochnicht näher bekannten Bereichen derFestländer vermutlich mit Flüssen insMeer transportiert und hier eingebettetund überliefert worden. Aufgrund dersehr frühen Mineralisierung mit Calci-umphosphat (Apatit) und Kieselsäure(zunächst Opal, später durch Umwand-lung Chalcedon) sind die Gewebestruk-turen der Pflanzen dreidimensional undfast völlig undeformiert erhalten. Somitsind an diesen Resten anatomische Un-tersuchungen ähnlich denen an mikro-skopischen Schnitten rezenter Pflanzenmöglich. Solches Material liefert vor al-lem Informationen über die Anatomieder Sproßachsen und manchmal sogar

zum Bau der vegetativen Organe derfrühen Gymnospermen.

Anatomisch erhaltener Pflanzenrestaus dem Kieselschiefer des Unter-karbons.

Nr. 5 | 32. Jahrgang 2002 | Biologie in unserer Zeit | 293

K A R B O N | E R D G E S C H I C H T E

Metern wirken sich andererseits Schwankungen des Mee-resspiegels in einer Größenordnung von einigen zehn Metern praktisch überhaupt nicht aus und sind sedimento-logisch und faunistisch in einer Abfolge nur schwer bisüberhaupt nicht erkennbar.

Wieder anders ist das Bild in den mittleren Tiefen desKontinentalschelfs: Bei Wassertiefen im 100-Meter-Bereichist zu erwarten, dass Schwankungen der genannten Grö-ßenordnungen einerseits nicht gleich Schichtausfälle zurFolge haben und dadurch eine kontinuierliche geologischeDokumentation erhalten bleibt. Andererseits werden ver-änderte Strömungs-, Durchlüftungs- und Durchlichtungs-verhältnisse im Gefolge solcher Schwankungen ein mehroder weniger deutliches Signal in der Gesteins- und/oderFaunenabfolge hinterlassen. Es gibt charakteristische Wech-sel in der Sedimentation, horizontweise Auffälligkeiten,beispielsweise das Vorkommen bestimmter Lagen phos-phatischer Konkretionen, Bänke und Bankabfolgen kalki-ger Gesteine oder auch bestimmte, nur auf eine oder we-nige Gesteinsbänke beschränkte Faunengesellschaften, diesich über sehr große Gebiete in exakt gleicher Ausbildungverfolgen lassen. Sie stellen sicherlich Signale solcher spe-zieller und wohl recht kurzfristiger ozeanographischer Ver-änderungen dar.

Diese Ereignisse sind in ihren sedimentologischen Aus-prägungen und zum Teil auffälligen Wechseln in der Ge-steinsausbildung seit langem bekannt und wurden ebenaufgrund dieser überregionalen, teilweise sogar weltwei-ten Verbreitung als Zeitmarken und stratigraphische Gren-zen zwischen Systemen oder ihren Untereinheiten verwen-det. Ihre Auswirkung auf die Lebensgemeinschaften unddie Zusammensetzung ihrer Sedimentgesteine wird jedocherst in jüngerer Zeit genauer untersucht und verfolgt [3].

Zusammenfassung Aus dem Karbon ergeben sich vielfältige Fragestellungen, dievon übergeordnetem erd- und evolutionsgeschichtlichem In-teresse sind: Welche Verbindungen bestehen zwischen derglobalen Geographie vergangener Zeiten, dem Weltklimaund ozeanographischen Veränderungen? Inwieweit wirkenextraterrestrische, kosmische Einflüsse hier ausschließlichoder als Verstärkung mit? Wenn, besonders bei einschnei-denden und länger andauernden globalen Veränderungen,Lebensgemeinschaften oder einzelne ihrer Glieder ausster-ben, wie verläuft die Phase der ökologischen Erholung undder Neubesiedlung solcher Lebensräume anschließend? Indem Maße, in dem wir auf der Grundlage eingehender syste-matischer Bearbeitungen fossiler Faunen und Floren solcheEffekte abschätzen können, verstehen wir die Dynamikganzer Lebensgemeinschaften im Verlaufe der Erdgeschichte.Dies ist eine Sicht- und Betrachtungsmöglichkeit, wie sie nurder Paläontologie mit ihrem über lange geschichtlicheZeiträume gerichteten Blick und ihrem Untersuchungs-material möglich ist.

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Der AutorAndreas Braun, geboren 1960. Studium der Geolo-gie/Paläontologie und Biologie an den UniversitätenMarburg/L. und Liverpool. 1987 Diplom, 1989 Promotion über Radiolarien des Unter-Karbons als Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung. 1990 bis1991 Postdoktoranden-Stipendium der DFG, ab1991 wissenschaftlicher Assistent am Institut fürPaläontologie der Universität Bonn. Habilitation1996 über cuticular erhaltene Arthropoden-Restedes Devons und Karbons. Seit 1997 Oberassistentund Hochschuldozent an der Universität Bonn.

Anschrift: PD Dr. Andreas Braun, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut fürPaläontologie, Nussallee 8, 53115 Bonn. Email: [email protected]