Das Leben als Erzählung

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Reflexionen zur narrativen Logik der Psyche

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  • Die narrative Logik in Beratungs- und

    Selbsterfahrungsprozessen

    Narrative Logik ist in der Beratung besser geeignet als logische Beweisfhrung, denn

    Probleme werden immer erzhlend dargestellt.

    Der Wille, dem Leben einen Sinn zu geben, das Ewige zu berhren, das Geheimnisvolle zu

    verstehen und herauszufinden, wer wir sind, ist die Triebfeder des Erzhlens. Der Mensch ist

    in seinem Verhltnis zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen ein Erzhler. Indem er erzhlt,

    gibt er dem Leben Sinn, schafft einen Zusammenhang in der chaotischen Wirklichkeit und

    findet einen Platz in der Welt.

    Der soziale Konstruktionismus ist die Grundlage des narrativen Denkens. Wirklichkeit wird

    danach in einem sozialen Prozess konstruiert. Whrend im Radikalen Konstruktivismus

    Konstrukte und Wahrnehmungen so gesehen werden, dass sie ihre Form durch das

    Anstoen des Organismus an seine Umwelt erhalten, sieht der soziale Konstruktionismus

    Ideen, Bilder und Erinnerungen als etwas, das durch sozialen Austausch hervorgebracht

    wird. Sprache ist das Medium dieses Prozesses. Sie ist dabei sowohl Produkt als auch

    Produzent menschlicher Wirklichkeit. In der Beratung werden dadurch Begriffe wie

    Metapher, Erzhlung und Geschichte relevant.

    Menschliches Erleben findet also in der Welt der Bedeutungen, der Konversation und des

    Erzhlens statt. Wir erzhlen uns selbst und uns gegenseitig stndig wie die Welt ist und

    halten sie dadurch stabil. Durch Wiederholung verfestigen sich die Geschichten. Unsere

    Sprache stellt demnach den Rahmen dar, von dem unsere Erfahrungen Bedeutungen

    bekommen.1

    ***

    Jedes Ziel hat seine eigene spezifische Handlung, z. B. wenn man Hunger hat, ist die

    Handlung kauen und schlucken. Auch hat es ein Mittel zum Zweck, nmlich das Objekt, weil

    durch das Objekt Befriedigung erlangt wird. In diesem Sinne sprach Freud von den gleichen

    Strukturen. Die Ethologen sprechen ebenso von diesen selben Strukturen, bentzen aber eine

    andere Sprache. Es zeigt sich, dass alle, die darber nachdenken, was die bergreifende

    Einheit eines Organismus ist, der ein Ziel hat, ein motiviertes Verhalten, von derselben

    1 F. Borkhorst: Theoretische Entwicklungen in der Systemtherapie II: Die narrative Denkrichtung, Systhema

    2/1994 8. Jahrgang, S.2-22.

  • narrativen Struktur sprechen - von dieser "wer-wo-warum-was-wann-und-wie-Einheit".

    Dies ist wahrscheinlich eine angeborene Bereitschaft, die Welt zu zerlegen. Wir wenden sie

    fr alles an, auch wenn wir nicht verstehen, was da passiert.

    Die Fhigkeit, Geschichten mit Oberflchenstruktur zu erzhlen, beginnt mit 2 bis 3 Jahren;

    das implizite Verstehen dieser Struktur beginnt vermutlich schon kurz nach der Geburt. Zu

    diesem Zeitpunkt versteht das Baby bereits, dass es ein handelndes Wesen ist. Es versteht,

    dass Handelnde etwas tun, es versteht Ziele und Konsequenzen, es kann sich Orte merken in

    Zusammenhang mit dem, was dort passiert ist. Damit hat es alle Elemente fr eine Handlung

    zur Verfgung und wei sehr viel ber die zeitliche Kontur von affektiven Erfahrungen.

    Die Fhigkeit, die nonverbale mit der verbalen Art, Geschichten zu erzhlen, zu verbinden,

    und somit auch die eigenen Erfahrungen kohrent zu organisieren ist zentral fr

    psychische Gesundheit. Es ist wichtig, im Auge zu behalten, dass derart erzhlte Geschichten

    dann zu offiziellen Geschichten werden - und damit zur gespeicherten Erinnerung des

    Erlebten.2

    Einsicht in die Fiktionalitt jeder Form von Erzhlung entscheidend fr seelische

    Gesundheit

    Die grundlegende Einsicht, um die es beim Erzhlen von Erlebtem aber geht, ist die

    unmittelbare Einsicht in die Unabschliebarkeit und Unvollstndigkeit alles Erzhlens, also

    in die FIKTIONALITT jeder Erzhlung. Jeder Erzhlung ist eine Deutung des Erlebten,

    eine Selektion, Abstraktion aus dem Erlebnisfluss, und damit eine: subjektive Konstruktion.

    Die Art, wie man sich und anderen sein Leben erzhlt, konstituiert genau das, was man unter

    PERSON versteht. Der Tratsch ber sich und die Anderen, den man ernst nimmt, macht

    einem zu dem, was und wer man psychosozial ist.

    Man ist aber Gott sei Dank! ist man versucht auszurufen - immer mehr und anderes, als

    das was man sich und anderen ber sich selbst erzhlt.

    2 Aus: Daniel Stern, The narrative self. Abendvortrag auf den Lindauer Psychotherapiewochen 1997

  • Dieses mehr und andere versuchte der Dichter Rainer Maria Rilke im Schlusskapitel seines

    Romans Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (in dem es um das Thema des

    Verlorenen Sohnes geht) in Worte zu fassen:

    Was er aber damals meinte, das war die innige Indifferenz seines Herzens, die ihn manchmal frh in den Feldern mit solcher Reinheit ergriff, da er zu laufen begann,

    um nicht Zeit und Atem zu haben, mehr zu sein als ein leichter Moment, in dem der

    Morgen zum Bewutsein kommt.

    Das Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens breitete sich vor ihm aus.

    Und dieses schwer fassbare Geheimnis des stets werdenden Lebens drckt Rilke in anderem Kontexten in folgenden Worten auf treffende Weise aus:

    Lassen Sie sich nicht beirren durch die Oberflche; in den Tiefen wird alles Gesetz. Und die das Geheimnis falsch und schlecht leben (und es sind sehr viele), verlieren es

    nur fr sich selbst und geben es doch weiter wie einen verschlossenen Brief, ohne es

    zu wissen.3

    ***

    Vielleicht ists damit ein wenig klarer geworden, warum das Bemhen, die nonverbale

    Dimension der eigenen Lebensgeschichte so weit wie mglich aber auch nicht weiter! -

    verbal in passende Geschichten zu fassen, also der Versuch, die eigenen Erlebnisse in

    kohrente Geschichten zu fassen, grundlegender Ausdruck von psychischer Gesundheit ist -

    und diese insofern wahrt und vermehrt, sofern man dadurch immer klarer und deutlicher

    einsehen lernt, dass keine Geschichte je die ganze Wahrheit ber sich und die Welt zum

    Ausdruck bringen kann, obwohl am Geschichten-Erzhlen-Mssen im Alltag kein Weg

    vorbeifhrt.

    3 Aus Rilkes Brief an Franz Xaver Kappus vom 16. Juli 1903