14
Wie es sich aus seinen Schriften erschließt Ulrike Müller 70 ZTA 2/2011 Wenn wir vom Menschenbild der Transaktionsanalyse sprechen, kommen uns zuerst die positiven hoffnungsfrohen Sätze in den Sinn, die so etwas wie den Kern transaktionsanalytischen Den- kens bilden: Jeder Mensch ist in seinem Kern in Ordnung. Jeder Mensch kann denken, will sagen, kann seinen Erwachsenen-Ichzu- stand ausreichend besetzen, es sei denn, er hat einen schweren Hirndefekt oder ist offen psychotisch. Jeder Mensch will wachsen. Und dies durchaus zu Recht: Es ist die Grundhaltung, mit der wir als Therapeut/inn/en, Berater/innen und Pädagog/inn/en un- seren Klient/inn/en und Schüler/inne/n gegenübertreten, in der Hoffnung, dass sich daraus eine gedeihliche Zusammenarbeit ergeben möge mit einem für unsere Klient/inn/en wünschbaren Ergebnis. Der erste der drei Sätze entspricht in seiner Haltung der Vorstel- lung von Menschenwürde, wie wir sie in der deutschen Verfas- sung im ersten Artikel niedergelegt finden. Der Kern, das recht Ei- gentliche eines jeden Menschen ist das, was ihn ausmacht, zum Menschen macht, und dieses, eben seine Würde, ist „unantast- bar“, darf nicht verletzt werden, weil wir auch beim schlimmsten Verbrecher ein ihm innewohnendes humanum annehmen. Ein re- ligiöser Mensch würde das schöne Bild vom „Menschen als dem Ebenbild Gottes“ bemühen. Was im Menschen trotz aller Verfeh- lungen und Schuldzusammenhänge unversehrt geblieben ist, wird dann als das „Göttliche im Menschen“ aufgefasst. FOCUS Das Menschenbild Eric Bernes

Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

Wie es sich aus seinen Schriften erschließt

Ulrike Müller

70 ZTA 2/2011

Wenn wir vom Menschenbild der Transaktionsanalyse sprechen,kommen uns zuerst die positiven hoffnungsfrohen Sätze in denSinn, die so etwas wie den Kern transaktionsanalytischen Den-kens bilden: Jeder Mensch ist in seinem Kern in Ordnung. JederMensch kann denken, will sagen, kann seinen Erwachsenen-Ichzu-stand ausreichend besetzen, es sei denn, er hat einen schwerenHirndefekt oder ist offen psychotisch. Jeder Mensch will wachsen.

Und dies durchaus zu Recht: Es ist die Grundhaltung, mit derwir als Therapeut/inn/en, Berater/innen und Pädagog/inn/en un-seren Klient/inn/en und Schüler/inne/n gegenübertreten, in derHoffnung, dass sich daraus eine gedeihliche Zusammenarbeitergeben möge mit einem für unsere Klient/inn/en wünschbarenErgebnis.

Der erste der drei Sätze entspricht in seiner Haltung der Vorstel-lung von Menschenwürde, wie wir sie in der deutschen Verfas-sung im ersten Artikel niedergelegt finden. Der Kern, das recht Ei-gentliche eines jeden Menschen ist das, was ihn ausmacht, zumMenschen macht, und dieses, eben seine Würde, ist „unantast-bar“, darf nicht verletzt werden, weil wir auch beim schlimmstenVerbrecher ein ihm innewohnendes humanum annehmen. Ein re-ligiöser Mensch würde das schöne Bild vom „Menschen als demEbenbild Gottes“ bemühen. Was im Menschen trotz aller Verfeh-lungen und Schuldzusammenhänge unversehrt geblieben ist, wirddann als das „Göttliche im Menschen“ aufgefasst.

FOCUS

Das Menschenbild Eric Bernes

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 70

Page 2: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

FOCUS

„Aspiration“

Auf das Skript bezogen

steckt in dem Begriff für

Berne also nicht nur das

Wünschen, sondern auch

das Wollen des „Kindes“,

zu wachsen und sich zu

entfalten.

Physis

Insofern verweist der Be-

griff „Physis“ schlicht auf

die biologische Grundlage

un seres Seins, wofür Freud

den Begriff „Libido“

prägte.

ZTA 2/2011 71

Den letzten der drei Kernsätze „Jeder Mensch will wachsen“führen wir auf Bernes Äußerungen über den schwierigen Begriff„aspiration“ zurück. Die Bedeutung des Begriffs, wie wir sie imLexikon finden, lautet: „die Hoffnung oder der Ehrgeiz, etwas Be-stimmtes erreichen zu wollen“; im Anschluss daran wird als Bei-spiel eine Redensart angeführt: „the yawning gulf between aspira -tion and reality“, also „der gähnende Abgrund zwischen Wunschund Wirklichkeit“ (Oxford Dictionary 1998).

Berne setzt sich mit dem Begriff aspiration erst in seinem letztenBuch „Was sagen Sie, nachdem Sie ,guten Tag‘ gesagt haben?“(1972/1992) auseinander. Und zwar an der Stelle, wo es um dieNeuentscheidung geht, wir können auch sagen, um die Lösungaus dem Loyalitätskonflikt zwischen EL1 und K1: „The object ofscript analysis is to free Jeder and Zoe so that they can open thegarden of their aspirations to the world [...]. [Then] the Child cansay: ‚But this is what I want to do, and I would rather do it myown way’“ (Berne 1996, S. 131; dt. 1992, S. 163). Im Hinter-grund hören wir leise Frank Sinatra. Im zwölften Kapitel kommtBerne noch einmal darauf zurück, allerdings von der Skriptein-schränkung her: „Scripts are artificial systems which limit spon-taneous and creative human aspirations“ (Berne 1996, S. 213;dt. 1992, S. 254). Auf das Skript bezogen steckt in dem Begriff fürBerne also nicht nur das Wünschen, sondern auch das Wollen des„Kindes“, zu wachsen und sich zu entfalten.

Einerseits deutlicher, andererseits noch schwerer zu fassen ist derBegriff der Physis, mit dem sich Berne bereits in seinem frühenBuch „A Layman’s guide to Psychiatry and Psychoanalysis“(1947/1957) beschäftigt.

Wie ist diese gegensätzliche Aussage zu verstehen? Das Wort„Physis“ verweist zuerst einmal ganz eindeutig auf den Körper,nichts anderes bedeutet dieses ursprünglich griechische Wort. Ba-nal ausgedrückt, alles Leben will leben, d.h. wachsen und sichentfalten. Insofern verweist der Begriff „Physis“ schlicht auf diebiologische Grundlage unseres Seins, wofür Freud den Begriff„Libido“ prägte. Im Ichzustandsmodell kann man diese Kraft K1

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 71

Page 3: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

Die organismischeTheorie

72 ZTA 2/2011

Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes

zuordnen, dem frühen Körper-Ich. Auf der metaphorischen Ebe-ne lassen sich die beiden Begriffe „Physis“ und „aspiration“ bei-nahe synonym verwenden.

Die Werthaltung, die wir in der Transaktionsanalyse daraus ab-leiten und die ihren Niederschlag auch in dem ersten der zu Be-ginn zitierten Sätze findet – „Jeder Mensch ist in seinem Kern inOrdnung“ –, verweisen auf die humanistischen Psychologien, diewiederum ihren Ursprung in der Reformbewegung des 20. Jahr-hunderts haben, wie z. B. in der Theosophie, deren bekanntesterVertreter Rudolph Steiner war.

Weshalb ist das von Interesse? Das Menschenbild der Reformbe-wegung und damit der Humanistischen Psychologien ist ein posi-tivistisches und an biologische Prozesse angelehntes. Dies zeigtsich besonders deutlich in der sogenannten „organismischenTheorie“, wie sie von Goldstein (1934) begründet und von denGestalt- und Gesprächspsychologen, insbesondere von Maslow,übernommen wurde (Hutterer 1998, S. 162 ff.). Der Kern derTheorie ist das Postulat der Ganzheitlichkeit: Der „Organismus“[ist] eine einheitliche Ganzheit“ (ebenda). Hutterer fasst die orga-nismische Theorie wie folgt zusammen: „Die organismischeTheorie betont die Einheit, Integration, den Zusammenhalt (Ko -härenz) und die Festigkeit der normalen menschlichen Persönlich-keit ... [Sie] nimmt an, dass das Individuum durch eine einzigeumfassende Tendenz motiviert wird und nicht durch eine Vielfaltvon Antrieben.“ Diese Tendenz wird bezeichnet als „Selbstaktua-lisierung [...]. Die organismische Theorie [...] tendiert dazu, einenprimären und bestimmenden Einfluss der Umgebung [...] auf dienormale Entwicklung als nachrangig zu betrachten. Stattdessenstreicht sie die angeborenen und dem Organismus ‚natürlich‘ zu-kommenden Möglichkeiten (Potenziale) zum Wachsen hervor“(Hutterer 1998, S. 164 f.).

Die organismische Theorie entwirft ein Bild vom Menschen als ei-ner Pflanze, die, wenn man sie nur genügend gießt, sich zu ihrervollen Blüte entfaltet. Die Anfänge solchen Denkens liegen übri-gens in Herders Naturlehre und der Romantik. Der Knabe Gustavim Roman „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul (1763–1825)

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 72

Page 4: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

FOCUS

Er nennt sie zuerst einmal

„die vierte Kraft der

Persönlichkeit neben Ich,

Es und Überich“.

ZTA 2/2011 73

wird die ersten sechs Jahre seines Lebens von allen Umweltein-flüssen abgeschirmt, von seinem Hauslehrer in einem unterirdi-schen Gelass erzogen. An seinem sechsten Geburtstag sieht er zumersten Mal das Sonnenlicht und seine Eltern! Die Versuchsanord-nung trägt die erwünschten Früchte. Gustav wächst zum idealenJüngling heran.

Man darf annehmen, dass Berne, lernbegierig und belesen, wie erwar, 1945 auch die Schriften der Humanistischen Psychologienkannte. Interessanterweise bezieht er sich in seinem ersten Buch„A Layman’s guide to psychiatry and psychoanalysis“ (1947 erst-mals erschienen unter dem Titel „The mind in action) nicht aufsie, wenn er sich mit dem Begriff der Physis auseinandersetzt, son-dern verweist auf die Herkunft des Begriffs aus der griechischenAntike1 und auf Bergsons „Élan Vital“ und Schopenhauer (Berne1968, S. 102). Dennoch wird deutlich, dass Berne sich in diesemAbschnitt mit seinen Kollegen Perls und Rogers auseinandersetzt,die er damals noch nicht persönlich kannte2.

Was ist es nun, was Berne an dem Phänomen beschäftigt, das ermit dem Begriff der Physis zu fassen versucht? Er nennt sie zuersteinmal „die vierte Kraft der Persönlichkeit neben Ich, Es und Übe-rich“ (Berne 1957, S. 98 [übers. U.M.]). Und konstatiert, dass „eshilfreich ist, von einer Kraft auszugehen, die lebendige Wesenkontinuierlich Richtung ‚Fortschritt‘ schiebt“. Diese Annahmehelfe uns „zu erklären, weshalb Menschen wachsen und weshalbdie menschliche Rasse versucht, ‚besser‘ zu werden“ (Berne 1957,S. 98). Er endet den Abschnitt mit einem allgemeinen Hinweis aufdie Evolutionsbiologie. Auch Berne vermischt hier die moralischethische Ebene mit der biologischen, obwohl ihn in diesem Ab-schnitt eher die Frage beschäftigt, was „macht“, dass der Menschsich fortschreitend („progress“) entwickeln will.

Auch hier klingt der deutsche Idealismus um 1800 an, als Beetho-ven einem Freund schrieb: „Allein Freiheit, weiter gehn ist in derKunstwelt, wie in der gantzen großen Schöpfung Zweck.“ Denn

1 Berne verweist hier auf den Vorsokratiker Zenon, der die Einheit gegenüber der Vielheitals Motivation verteidigt.

2 Berne zog erst 1947 nach Kalifornien.

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 73

Page 5: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

Der Skeptiker Berne

74 ZTA 2/2011

Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes

das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbardavor beschäftigt hatte, gibt darauf keine Antwort (Berne 1957,S. 99). In den Anmerkungen zu dem Kapitel konstatiert er nichtnur Freuds Skepsis, eine solche Kraft betreffend, sondern fügt ei-gene entsprechende Gedanken und Beispiele an, unter denen derfolgende besonders hervorzuheben ist: „Die durchdringendenBlicke mancher Schizophrener können deutlich die Verfallspro-zesse im Leben einiger Menschen in ihrer Umgebung sehen; unddiese ihre Beobachtung verleiht der Macht des Todestriebs Glaub-würdigkeit“(Berne 1957, S.100 u. 102).

Wir sehen hier einen skeptischen Berne, der gleichwohl affiziertist von der organismischen Theorie. In dieser Spannung verharrtBerne in seinen weiteren Schriften – was ihren Reiz ausmacht undes gleichzeitig verhindert, dass wir Berne so eindeutig einer Rich-tung zuordnen können.

Deshalb soll der zweite Teil des Textes dem Skeptiker Berne ge-widmet werden. Und zwar unter der Fragestellung, ob das Men-schenbild Bernes und damit das der Transaktionsanalyse eine we-sentliche Facette dazugewinnt, wenn wir die skeptischen Töneund nachdenklichen Fragen ebenfalls zur Kenntnis nehmen.

Zentral für unsere Fragestellung ist das Gruppenbehandlungs-buch, erschienen 1966, vier Jahre vor Bernes Tod. Berne denkthier auf beinahe philosophische Weise über den Sinn von Psycho-therapie nach und widmet sich ähnlich vertiefend dem Skript.Sein Nachdenken über den Sinn von Psychotherapie betitelt er imKapitel 12 mit „Die Fantasie vom Weihnachtsmann“ (Berne1966/2005, S. 248).

Es ist ein beinahe schon melancholischer Ton, den er hier an-schlägt. Denn Berne verweist im Folgenden auf die Enttäuschung,die jeder Mensch im Leben erfahren wird, ja muss, wenn er einesTages entdeckt, dass die Sehnsucht nach vollkommener Glück -seligkeit niemals erfüllt werden wird. „Gesunde Menschen lernen,solche Wünsche zugunsten dessen aufzugeben, was das wirklicheLeben zu bieten hat, fühlen jedoch bis zu einem gewissen Grad dieVerzweiflung, die aus dieser Art Resignation her rührt“ (Berne

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 74

Page 6: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

FOCUS

Berne verweist im Folgen-

den auf die Enttäuschung,

die jeder Mensch im Leben

erfahren wird, ja muss,

wenn er eines Tages ent-

deckt, dass der primäre

Hunger nach vollkomme-

ner Glückseligkeit niemals

erfüllt werden wird.

Verzweiflung

Verzweiflung ist für Berne

die Voraussetzung, um

gesund zu werden.

ZTA 2/2011 75

2005, S. 249). Gemeint ist: Wenn sie den illusorischen Glaubenaufgegeben haben, dass ein „Weihnachtsmann“ ihnen eines Tagesdiesen Wunsch schon erfüllen werde. Der Mensch muss lernen,mit dem, was ist, auszukommen, die Versagungen der Kindheit zuakzeptieren und zu akzeptieren, dass es niemals mehr eine Erfül-lung dieser frühen unerfüllten Bedürfnisse geben wird. Und dieTrauer darüber auszuhalten: „Wenn sich ihre Blicke bei der letz-ten Sitzung begegnen, werden die Augen des Patienten fragen: ‚Istdas alles?‘, und die Augen des Therapeuten werden erwidern: ‚Ja‘.Und damit müssen sie Lebewohl sagen“ (Berne 2005, S. 250). AlsFolge der Aussöhnung mit den Gegebenheiten ist aus der Ver-zweiflung Melancholie geworden. Es ist der dunkle Grundton,der in jedem wirklich erwachsenen Leben mitschwingt. Bernekommt hier Freud nahe, der den Befund folgendermaßen be-schrieb: Es ist schon „viel damit gewonnen, wenn es uns gelingt,ihr hysterisches [neurotisches] Elend in allgemeines Unglück zuverwandeln“ (Freud 1985/1997, S. 322). Leonhard Schlegel fass -te diese Befindlichkeit in den lapidaren Satz, „Über dem Tor zurAutonomie steht: ‚Lass alle Hoffnung fahren‘“ (mündliche Mit-teilung).

Der Verzweiflung selbst widmet Berne immer wieder seine Auf-merksamkeit. Im selben Kapitel erklärt er, wie für ihn Verzweif-lung zustande kommt, nämlich dann, wenn es zu einem „Dialogzwischen dem ‚Erwachsenen’ des Patienten und der Außenwelt“kommt. Von der Verzweiflung grenzt er übrigens gleich die De-pression ab, die „aus dem Dialog zwischen seinem ‚Elternteil’ undseinem ‚Kind’ herrührt“ (Berne 2005, S. 244). Er macht hier aufden innerpsychischen Konflikt aufmerksam, der das „Kind“ ein-schränkt. Verzweiflung hingegen entsteht, wenn ich mich den rea-len Gegebenheiten stelle. Verzweiflung ist für Berne die Voraus-setzung, um gesund zu werden. Denn dann kommt der Patient mitseinen frühen Ängsten in Berührung, weil er sie nicht mehr ab-wehrt bzw. abwehren kann, was ein weiterer Schritt in RichtungGenesung ist.

Diesen Gedanken greift Berne in seinem Vortrag auf, den er 1968beim Kongress der Gruppentherapeuten in Wien gehalten hat. Erwiederholt darin seine Erklärung für Verzweiflung und die Ab-

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 75

Page 7: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

Gesundheit definiert als

Anerkennung der realen

Gegebenheiten.

Menschliche Freiheit

... die beiden Pole, zwi-

schen denen sich Berne

bewegt.

76 ZTA 2/2011

Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes

grenzung zur Depression und erweitert seinen Ansatz um eine wesentliche Komponente. Er grenzt die transaktionsanalytischeHaltung von der gestalttherapeutischen in dieser Hinsicht ab. Beimancherlei Übereinstimmung, schreibt er, gebe es doch einen we-sentlichen Unterschied: „Wir lassen es nicht zu, dass die Gestaltgeschlossen wird [...]. Wir sagen, kein Schließen der Gestalt, dumusst von Neuem starten; nur so kommst du zur Verzweiflung,indem du es nicht zulässt, die Gestalt zu schließen“ (Berne 1968,S. 70). Verzweiflung als Voraussetzung der Gesundung. Gesund-heit definiert als Anerkennung der realen Gegebenheiten. Dasklingt mehr nach der „Geworfenheit“ der Existenzphilosophen3

als nach Humanistischer Psychologie: „Auf lange Sicht muss sichder Patient der Aufgabe stellen, in einer Welt zu leben, in der eskeinen Weihnachtsmann gibt. Er wird dann mit den Grundprob -lemen menschlicher Existenz konfrontiert, mit der Frage der Not-wendigkeit, mit der Entscheidungsfreiheit und mit der Absurditätmenschlichen Daseins. [...] Das mit dieser Erkenntnis einherge-hende Grundgefühl ist Enttäuschung. [...] Vielleicht ist das seine[des Therapeuten] letzte Aufgabe: Enttäuschung von Ärger zuscheiden“ (Berne 2005, S. 271).

Setzen wir dieser Trias – Verzweiflung, Enttäuschung, Akzeptanzder Absurdität menschlichen Daseins – die Vorstellung der orga-nismischen Theorie von Selbstaktualisierung, Selbstentfaltungund Selbstverwirklichung gegenüber, so sehen wir deutlich diebeiden Pole, zwischen denen sich Berne bewegt. Die BegriffeSelbstaktualisierung und Selbstentfaltung implizieren, dass sichdas Leben eines jeden einzelnen Menschen von ganz alleine insRichtige und Gute hin entwickelt, so man ihn nur lässt undStörendes aus dem Weg räumt (s. Jean Paul). „Eine spezielle Formder Selbstaktualisierung ist das Bedürfnis, unvollständige Hand-lungen abzuschließen und zu komplettieren“, worin auch eine„Tendenz zur Vervollkommnung“ liegt (Hutterer 1998, S. 173).Von der „Absurdität des Daseins“, von der „Notwendigkeit“, dieunser Leben häufig genug bestimmt – „Freiheit ist Einsicht in dieNotwendigkeit“, sagt Kant – ist hier nichts zu spüren. Auch

3 Heidegger, Sartre, Jaspers (auf den sich Berne in diesem Abschnitt explizit bezieht).

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 76

Page 8: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

FOCUS

Berne vertritt ein Men-

schenbild, das in vielen

Aspekten eher dem der

Existenzialisten entspricht

als dem der Humanisti-

schen Psychologien.

ZTA 2/2011 77

nichts von der „Entscheidungsfreiheit“, die uns immer wiederzwingt, Stellung zu beziehen, Verantwortung für unser Tun zuübernehmen, die das Risiko birgt, die falsche Entscheidung zutreffen und schuldig zu werden. Dass Berne sich nicht mit den ein-gangs zitierten Setzungen begnügt, sondern die Komplexitätmenschlichen Lebens immer wieder differenziert bedenkt, machtnicht nur den Menschen Eric Berne interessant, sondern erlaubt,auch sein theoretisches Denken differenzierter und facettenreicherzu betrachten, gerade auch sein Ichzustandsmodell4. Berne ver-tritt ein Menschenbild, das in vielen Aspekten eher dem der Exis -tenzialisten entspricht als dem der Humanistischen Psychologien.Menschliche Freiheit ist hier nicht per se etwas Wunderbares, ver-gleichbar etwa mit der hypostasierten Skizzierung des „FreienKindes“, sondern sie ist auch eine Bürde, weil wir uns in ihr täg-lich der Frage gegenübergestellt sehen, wie wir unser Leben ge-stalten können und dürfen, welcherart die Verantwortung ist, diedie Freiheit uns abverlangt und welche Werte für uns heute Gül-tigkeit haben und warum. Wir müssen unser Leben in „Freiheitentwerfen“ (Heidegger 1927, S. 188). Darin steckt Anstrengungund ein täglich neuer bewusster Akt. Die „Selbstentfaltung“ ge-schieht nicht einfach so; das anzunehmen wäre, um mit Berne zusprechen, bereits wieder eine Illusion. Und Grandiosität.

Wie ernst es Berne mit dieser Haltung ist, zeigt sich an einzelnenKommentaren, die er in „Die Transaktionsanalyse in der Psycho-therapie“ (1961/2001) immer wieder einfließen lässt. Als Judehatte er natürlich besonders aufmerksam die Vernichtungspolitikder Deutschen verfolgt. Und daraus allgemeingültige Schlussfol-gerungen gezogen.

Seine Feststellung, dass „kein Mensch ständig glücklich seinkann“, exemplifiziert er an dem Beispiel des jungen Mannes, derzum Kommandanten eines Konzentrationslagers befördert wird,worüber sich die Mutter freut und findet, sie habe ihrem Sohndoch eine gute Erziehung mitgegeben. An diesem Beispiel erläu-tert Berne, wie problematisch es sei, eine „naive Haltung in Bezugauf Glück, Tugend und Nützlichkeit“ bei der Erziehung einzu-

4 Siehe auch Müller (1999) „Der Mythos der Ganzheitlichkeit, ZTA 4.

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 77

Page 9: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

Kinder werden nicht von

allein zu guten Menschen,

wenn wir sie nur sich ent-

falten lassen.

Das Strukturmodellals Gegenentwurfzur organismischenTheorie der Ganzheitlichkeit?

78 ZTA 2/2011

Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes

nehmen. Statt naiv können wir auch sagen – wertfrei im Sinnevon a-moralisch. Und er kommt zu dem Schluss, dass es bei derKindererziehung eben nicht ausreiche, „nur zu wünschen, dass sie[die Kinder] ‚glücklich’ sein sollen“ (Berne 1961/2001, S. 54).Man könnte die Stelle sogar als Kritik an der organismischenTheorie lesen. Kinder werden nicht von allein zu guten Menschen,wenn wir sie nur sich entfalten lassen; nein, dann werden sie zudurchsetzungsfähigen Egoisten, die von ihrem Faustrecht Ge-brauch machen. Zu einem ähnlichen Befund kommt Adorno,wenn er folgendes Zitat des Begründers der Gestaltpsychologie,Walther Ehrenstein, aus dessen „Einführung in die Gestaltpsy-chologie“ (1934) kommentiert: „‚Von Gegnern der Rassenkundewurde früher häufig gefragt, wie man denn Juden und Arier (Eu-ropäer) unterscheiden wolle. [...] Was niemals bei Juden undAriern (Europäern) übereinstimmt, das ist die Komplexqualität’(Ehrenstein 1934, zit. in Adorno 1986). [...] Überflüssig zu fra-gen, welche Kriterien von wahr und falsch dann Ehrensteins An-wendungen des Ganzheitsbegriffes überhaupt noch übrig lassen.Jedenfalls ist mit jenem Sinn für Komplexqualitäten wenig überdie Rassen und das höhere Seelenleben – umso mehr aber über ei-ne Wissenschaft ausgesagt, die arglos seiner sich bedient“ (Adorno1986, S. 219 f.).

Arglos ist ein anderes Wort für naiv. Eric Berne war alles andere alsnaiv. Da, wo sein analytischer Verstand nicht mehr hinreichte, ver-wies er auf die Zuständigkeit der Religion (1957/1971, S. 98;1972/1992, S. 448) und grenzte den Bereich, der ihm am Herzenlag, die Strukturanalyse (das Ichzustandsmodell) und die Skript-theorie, entschieden davon ab, so sehr, dass er sich gegen Einmi-schung von dieser Seite verwahrte (a.a.O.). In gewisser Weise könn-te man sogar postulieren, dass das Strukturmodell (Ichzustandsmo-dell) ein Gegenentwurf zur organismischen Theorie der Ganzheit-lichkeit ist. Denn im Strukturmodell ist das wirkliche Selbst immernur der Ichzustand, der so ausreichend mit Energie besetzt ist, dasser die Exekutive übernehmen kann (1957, S. 97; 1961/2001,S. 37 ff.; 1966/2005, S. 267 f.; 1971/1992, S. 396 bzw. S. 4485).

5 In der deutschen Ausgabe ist „the Self“ mit Ichbewusstsein bzw. Subjektbewusstseinübersetzt.

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 78

Page 10: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

FOCUS

... wie sehr Berne darum

ringt, dem humanistischen,

sprich positivistischen,

Denken einen Platz in sei-

nem Menschenbild ein-

zuräumen, das der Hoff-

nung Raum gibt – wider

allen besseren Wissens.

ZTA 2/2011 79

Wir sehen hier ein weiteres Mal, wie sehr Berne darum ringt, demhumanistischen, sprich positivistischen, Denken einen Platz in sei-nem Menschenbild einzuräumen, das der Hoffnung Raum gibt –wider allen besseren Wissens. Nicht umsonst endet im Anschlussan den wunderbaren Abschnitt über Autonomie das Buch „Spie-le der Erwachsenen“ mit der Feststellung, „dass es für dieMenschheit in ihrer Gesamtheit keine Hoffnung für die Zukunftgibt, dass jedoch für einzelne Individuen die Zukunft durchaushoffnungsvoll aussieht“ (Berne 1986, S. 251)6. Angesichts derderzeitigen Katastrophen (Japan), von nach wie vor fest instal-lierten brutalen Folterregimes, die jeglichem Anspruch an Men-schenrechte Hohn sprechen, und absolut rechtsfreien Räumenwie dem Ostkongo ein Befund, an dem sich nichts geändert hat.

Berne erklärt ja auch die Annahme des Menschen, er könne jevollkommen autonom sein, als Illusion; denn einen gänzlich un-getrübten Erwachsenen-Ichzustand könne es nicht geben. Allzuoft sei unser Tun und Denken von den anderen Ichzuständen be-stimmt (Berne 1992, S. 191 f.). In dieselbe Richtung zielt, was erüber „den ‚integrierten’ Erwachsenen“ schreibt. Denn auch diesersei eine letztlich nicht erreichbare Idealvorstellung, die anzustre-ben durchaus lohnend sei, aber nur bedingt und äußerst selten er-reichbar. Berne ist der Ansicht, dass „jeder, der als ‚Erwachsener’fungiert, idealerweise drei Wesenszüge aufweisen sollte: persönli-che Anziehungskraft und Aufgeschlossenheit, die Fähigkeit zu ob-jektiver Informationsverarbeitung und ethisches Verantwortungs-bewusstsein“ (Berne 2001, S. 188 f.). Die Möglichkeit eines au-tonomen Subjekts relativiert sich unter der Hand auf eine Weise,die Mitscherlichs Einstellung sehr nahe kommt, der schreibt:„Aufklärung, als Aufklärung über den Menschen, bedeutet alsoin der zeitgenössischen Formulierung Einsicht in die Abhängigkeitder ‚Willensentscheidungen‘ [...] von den Triebschicksalen. [...]An die Stelle einer im Menschen sich selbst verwirklichenden Ver-nunft tritt also der Versuch, in beharrlicher Analyse zu erfor-schen, wie viel Vernunft zu zeigen ihm seine Welt eigentlich ge-stattet“ (Mitscherlich 1992, S. 281).

6 Im Original klingt es radikaler: „There is no hope for the human race, but there is hopefor indivdual members of it (Berne 1964/1992, S. 184).

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 79

Page 11: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

Wie kommt Bernezu dieser Haltung?

Bernes Sozialisation im

jüdischen Getto der armen

ostpolnischen und russi-

schen Einwanderer um

1900

Fragen und Antwor-ten in unterschied -lichen Lebensphasen

80 ZTA 2/2011

Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes

Wenn wir uns nun fragen, wie Berne zu dieser Haltung kommt,dann greift eine Antwort sicher zu kurz, wenn sie allgemein aufseine jüdischen Wurzeln und seine Nähe zu Freud verweist. Al-lerdings ist Bernes Sozialisation im jüdischen Getto der armen ost-polnischen und russischen Einwanderer um 1900 auf alle Fälle ei-ne Erfahrung, die seine Sicht auf menschliches Leben nachhaltigprägte. Selbst aufwachsend im relativen Wohlstand einer erfolg-reichen Arztfamilie, beobachtet bereits das Kind, das den Vaterauf seinen Visiten begleiten darf, wie anders die Mehrzahl der imViertel wohnenden Kinder wohl lebt. Als Erwachsener kommt erzum Schluss, dass der Vater ihn deshalb immer im Auto wartenließ, weil er ihn dem Schmutz, dem Elend und den ansteckendenKrankheiten nicht aussetzen wollte. Er weiß, dass viele Kinderdeshalb sterben, weil die Unwissenheit der Eltern den Arzt daranhindert, seine neuesten Erkenntnisse über Hygiene und Fieberbe-handlung anzuwenden oder weil Vorurteile es den protestanti-schen Einwanderern nicht ermöglichen, den jüdischen Arzt zukonsultieren. Schließlich muss das zehnjährige Kind hinnehmen,dass der Vater an Tuberkulose stirbt, mit der er sich in eben denKrankenstuben angesteckt hatte. Mit der Folge, dass die Familieerst einmal Abschied nehmen muss von den Annehmlichkeiten,die der Verdienst des Vaters ermöglicht hatte.

Jüdischsein bedeutete immer auch, besonders wachsam gegenüberVerfolgung und Unterdrückung zu sein, weil dies nie Einzelnetraf, sondern immer alle Angehörigen der jüdischen Bevölkerungeiner Gegend. So weiß Berne noch als Erwachsener und ist es ihmwert, dies festzuhalten, dass unmittelbar nach dem Ersten Welt-krieg, 1920, starke antisemitische Strömungen herrschten, diedem damaligen deutschen Außenminister Walther Rathenau dieEinreise nach England zu einem Kongress der Anti-Hunger-Ligaverweigerten, die in Polen zu pogromartigen Auswüchsen führtenund in Ungarn 15000 Juden in einer Nacht- und Nebelaktion ausdem Land jagten.

Wenn wir Bernes Leben betrachten, dann können wir unschwererkennen, in welcher Phase er sich mit welchen Fragestellungenbefasste und bei welchen Philosophen und Psychoanalytikern erdazu nach Antworten oder Unterstützung suchte.

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 80

Page 12: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

FOCUS

Dieser Widerspruch ist

nicht auflösbar; er kann

nur in ideologischem

Denken geleugnet werden.

ZTA 2/2011 81

Das Kind Lennard Bernstein wuchs behütet und geborgen auf ineinem „soliden Steinhaus“, welches genug Schutz und Sicherheitgegenüber der Welt bot; aber es kannte auch die armseligen Ver-hältnisse der ostpolnischen jüdischen Einwandererfamilien. Derjunge Psychiater Eric Berne beschäftigte sich gleichermaßen mitder Psychoanalyse wie mit Schriften, die zumindest Vorläufer derHumanistischen Psychologien waren. Der TransaktionsanalytikerBerne war befreundet mit Fritz Perls. Er las Schopenhauer undNietzsche; er war affiziert von den Existenzialphilosophen und zi-tierte Karl Jaspers (Berne 2005, S. 271).

Sein Leben lang sieht er, wie Freud, Eros (Physis) und Thannatos(Dämon) einander die Waage halten. Das Kind, der Mensch willwachsen und sich entfalten, seine Fähigkeiten entwickeln und le-ben (nichts anderes meint Selbstverwirklichung) und stößt ständigauf Einschränkungen von außen und von innen. Wir finden die-sen Widerspruch auch als Quintessenz seiner autobiografischenAufzeichnungen: „So, there was I, a direct descendant of Adamand Eve, facing the world at seventeen. [...] The most importantthings I owned were in my head. First, all the things that had be-en put there by my parents and teachers, by books and by friends:freedoms and duties, aspirations and prohibitions“ (T. Berne1966/2010, S. 145)7. Freud nennt diese Erfahrung Realitätsprin-zip. Dieser Widerspruch ist nicht auflösbar; er kann nur in ideo-logischem Denken geleugnet werden.

Es ist eben der Widerspruch, der Bernes Denken und seine Theo-riebildung interessant und zugleich schwierig macht. Er verwei-gert uns eine eindeutige Antwort. Er lässt sich nicht für das posi-tivistische Lager vereinnahmen. Er beharrt darauf, den dunklenUrgrund des menschlichen Seins nicht zu verleugnen, sondern ihnvielmehr ständig mit zu denken und auch mit zu empfinden: „SoI could stride down the street, head up, [...] and feel myself a partof the world, with all its trees and birds and beasts and peoplethat pulsated and strove on the earth and above it, and yes, the

7 Hier befand ich mich also, siebzehnjährig, ein direkter Nachfahre von Adam und Eva,der Welt gegenüber. [...] Meine wichtigsten Besitztümer waren in meinem Kopf. An ers -ter Stelle befanden sich diejenigen Dinge, die von meinen Eltern und Lehrern, vonBüchern und Freunden stammten: Freiheiten und Pflichten, Wünsche und Verbote.

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 81

Page 13: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

Bernes Definition

von Autonomie und

Erwachsensein.

Zusammenfassung

Summary

Literatur

82 ZTA 2/2011

Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes

questing roots below its surface as well“ (Berne 1966/2010,S. 145 [Hervorhebung U.M.])8. Im Grunde ist das Bernes Defini-tion von Autonomie und Erwachsensein. Deshalb betont er mehr-fach, wie wichtig es sei, die „Gestalt“ nicht zu schließen.Bernes Menschenbild entspricht dem existenzialistischen „Sich-in-die-Freiheit-entwerfen“ (Heidegger) mit allen Möglichkeitendes Scheiterns und des Gelingens.

Der vorliegende Text ist ein Versuch, Bernes Menschenbild in sei-ner Widersprüchlichkeit zwischen der „Physis“ der humanisti-schen Psychologien und dem Verzweiflungsurgrund menschlicherExistenz aus seinen Schriften zu erschließen.

This text searches for Berne’s menschenbild as it is revealed in hisown writings between physis and desperation.

• Adorno, Th. W. (1986): Gesammelte Schriften Band 20,1, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

• Berne, E. (1957/1971): A Layman’s Guide to Psychiatry and Psychoanalysis, Pen guin,

London.

• Berne, E. (1961/2001): Die Transaktionsanalyse in der Psychotherapie, Junfermann,

Paderborn.

• Berne, E. (1964/1986): Spiele der Erwachsenen, Rowohlt, Reinbek.

• Berne, E. (1966/2005): Grundlagen der Gruppenbehandlung, Junfermann, Paderborn.

• Berne, E. (1968): Transcription of Eric Berne in Vienna, TAJ 1973/1, S. 63-72.

• Berne, E. (1972/1996): What do You Say after You say hello? Corgi edition, London;

dt:. Was sagen Sie, nachdem Sie „guten Tag“ gesagt haben? Fischer, Frankfurt a.M. 1992.

• Berne, T. (Hrsg.) (2010): Eric Berne. A Montreal Childhood, Editorial Jeder, Sevilla.

• Breuer, J. & Freud, S. (1895/1997): Studien über Hysterie, Fischer, Frankfurt a.M.

• Heidegger, M. (1927): Sein und Zeit, UTB, Stuttgart.

• Hutterer, R. (1998): Das Paradigma der Humanistischen Psychologie, Springer, Wien.

• Mitscherlich, A. (1992): Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, Piper, München.

• Rexroth, D. (1982): Beethoven, Schott, Mainz.

8 So konnte ich erhobenen Hauptes die Straße hinuntergehen [...] und mich als Teil derWelt empfinden mit all ihren Bäumen und Vögeln und Tieren und Menschen, die aufder Erde und über ihr pulsierten und umherstrichen, und, ja, ebenso mit ihren suchen-den und fragenden Wurzeln unter ihrer Oberfläche (dt. v. U.M.).

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 82

Page 14: Das Menschenbild Eric Bernes · Der Skeptiker Berne 74 ZTA 2/2011 Ulrike Müller – Das Menschenbild Eric Bernes das Konstrukt der Besetzungsenergie, womit er sich unmittelbar davor

Albrecht Dürer, Melancholie

TA-02-11_TA 26.05.11 11:04 Seite 83