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1 Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend Oliver Kluck zur gleichnamigen Autobiografie von Andreas Altmann

Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben …Ÿleben... · einen vierten Schwanz (und wieder keine Tochter) Aufgabe der Urschreitherapie aus finanziellen Gründen ich: ich

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Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend

Oliver Kluck zur gleichnamigen Autobiografie

von Andreas Altmann

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Soviel vorab: Die Altmannautobiografie Das Scheißle ben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und me ine eigene Scheißjugend war Vorlage für den folgenden V ersuch. Anzumerken ist, dass es sich bei diesem Versuch wed er um ein Stück, noch um eine Bearbeitung handelt, wie si e beispielsweise der Dramatiker, Dramaturg und Vielfa chdozent von Düffel in seinem Lehrbuch Wie Dramen entstehen beschrieben hat, sondern ausschließlich um eine Betrachtung.

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Das Leben

Ich verklage dich wegen Hausfriedensbruch: Auszug

Vaterwelt, Abwehr weiterer Bedrohungen mithilfe der

Muttermutter. Wechsel an das Gymnasium Pfarrkirchen ,

Unterbringung im Internat. Aufkommen von Ängsten,

Depressionen und Schockzuständen, häufiges Onaniere n,

Antriebslosigkeiten, Ausprägung weiterer Tötungsfan tasien

gegen den Vater

Aushändigung des Reifezeugnisses, Umzug nach Münche n,

Untermieterzimmer, Luftmatratzenlager, Beginn einer

Psychotherapie. Gelegenheitsarbeiten, Aushilfstätig keiten,

Straßenbau, Fließband, Abspülen, Post Sortieren,

Verschieben von Benzingutscheinen nach Italien. Arb eit als

Taxifahrer, Vollgasfahrten bei Nacht, Umwegfahrten,

Schwarzfahrten, Kundenbetrug, Unternehmerbetrug. Be such

Imex-Haus, Schwabing, „Schau, die Frau spreizt die Beine,

damit du mit deinem Schwanz hineinkannst“.

Einundzwanzigster Geburtstag. Jurastudium Regensbur g,

Abbruch nach zwei Wochen, Psychologiestudium Salzbu rg,

Abbruch nach vier Wochen, Studium Frauen, diverse, Abbruch

sofort

Aufnahme Studium Schauspiel in Salzburg, Förderung durch

Dietrich Haugk, Teilnahme an weiteren Therapiemaßna hmen,

Gruppentherapie, Einzeltherapie, teilweises Versage n der

Stimme, Störung des Sexualverhaltens (Anorgasmie),

weiterhin Wochenendarbeit, Taxifahren in München,

regelmäßiges Abbrennen, Mundraub bei Verwandten

Erster Paris-Besuch

Bestehen der Diplomprüfung Darstellende Kunst, rege lmäßiges

Stehlen von Büchern, Umzug nach München, Anstellung am

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Residenztheater durch Vermittlung von D.Haugk, erst e

Monatsgage (umgerechnet-) sechshundertdreiundsechzi g Euro

Aufnahme Nebentätigkeit (Taxifahren), Aufsuchen von

Spezialisten, Scharlatanen, Esoterikern, Frauen zur

Befindung der Anorgasmie. Diverse Auftritte als

Schauspieler, Kleinrollen, Nebenrollen, Beginn eine r

Urschreitherapie

ich: der Amerikaner Arthur Janov hatte diese Method e

erfunden, der Clou: weg von der intellektuellen Ana lyse,

hin zur stark emotionalen Technik, um die inneren S perren

zu durchbrechen. Ziel ist eine Art Katharsis, provo ziert

durch den Urschrei, „jenen Schrei, den das Kind ein st nicht

auszustoßen wagte, um die Liebe der Eltern nicht vö llig zu

verlieren“

Aufnahme einer vierwöchigen Intensivtherapie, drei Stunden

täglich in einem fensterlosen, schalldichten Raum m it

gepolsterten Wänden

ich: es war Absicht, den Körper an den Rand seiner

Möglichkeiten zu drängen. Bald lag ich nur noch in meiner

Unterhose da, hyperventilierte, rang nach Luft

Mehrfache Unterbrechungen von Sitzungen, Hinweis de s

Betreuers auf einen ungeklärten Vorgang innerhalb d er

frühkindlichen Phase

ich: Amado überkam eine erstaunliche Intuition. Er sagte,

sprich mit deiner Mutter über deine Geburt, irgende twas

stimmt hier nicht

Fahrt nach Altötting, Einsicht der Krankenhausakte, Besuch

der mittlerweile zweiundachtzigjährigen Hebamme

ich: jetzt wurde mir blitzhaft klar, warum Mutter m ich

ihren Lieblingssohn genannt hatte, jetzt wurde mir klar,

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warum ich seit langem an Atemnot litt, warum ich mi ch

hinlegen musste, um Luft zu bekommen, warum ich in der

Urschreitherapie wie ein aus Ozeantiefen Gezogener

Sauerstoff in mich einsaugen musste

Besuch der Mutter an deren Wohnort, Erkundigungen z ur

Situation der Geburt

ich: Mutter hatte ein Polster auf meinen Kopf gepre sst,

weil sie gerade einen vierten Sohn zur Welt gebrach t hatte,

einen vierten Schwanz (und wieder keine Tochter)

Aufgabe der Urschreitherapie aus finanziellen Gründ en

ich: ich hatte kein Geld mehr. Außerdem hatte sich meine

Sexualität erholt. Ich wurde sogar ein passabler Li ebhaber.

An Liebe jedoch war nicht zu denken

Wechsel an das Schauspielhaus Wien, Teilnahme an ei ner

Bioenergetik-Therapie, Flug nach Poona, zu Bhagwan

ich: der Guru war das Aufregendste, was die Welt da mals zu

bieten hatte. Sein Ashram verfügte über alles, kein

therapeutisches Angebot aus dem Westen fehlte, kein Zauber,

keine Verrücktheit Indiens

Teilnahme an Encounter-Gruppen, Brüllen, Raufen, Se x zu

zweit, Sex zu zehnt, Sufidancing, Enlightenment-int ensiv,

Shiatsu, Vipassana-Meditation, Rebirthing, Haschisc h,

Opium, Heroin und so weiter, Rückkehr nach Wien Kün digung

des Vertrages am Schauspielhaus, Umzug nach München ,

Beantragung von Stütze, Arbeit als Taxifahrer (schw arz)

Antrag auf Klage, Kläger Mutter, Beklagter Vater,

Klagegegenstand: Zahlung von Unterhalt, umgerechnet

siebenhundertfünfzig Euro im Monat

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ich: ich hatte den Kontakt (zu Mutter) nicht abreiß en

lassen. Mutter war ja kein Schwein, kein sadistisch es

Scheusal. Sie war eine arme, schwache Person, deren Leben

sich in die genau entgegengesetzte Richtung ihrer T räume

verirrt hatte

ich: zudem war sie heilig großzügig, eine Eigenscha ft, die

zu bewundern, ich nicht aufhörte. So hatte ich sie zu

dieser gerichtlichen Konfrontation angestiftet, sie

überredet, sie gebeten, doch einmal standzuhalten

Entsprechung der Klage, Verurteilung Franz Xaver Al tmanns

zu Unterhaltszahlungen an die dauerhaft getrennt vo n ihm

lebende Elisabeth Altmann

ich: er hatte wieder seine Nazi-Fresse getragen, di ese

Maske der Erbarmungslosigkeit. Kein Wunder, dass ic h immer

noch von ihm träumte

ich: noch eine Fußnote: der Anblick Altöttings war nicht zu

ertragen. Dasselbe Schafsvolk wie vor zwölf Jahren.

Wimmernd, blökend, verbuckelt schuldbeladen. Und no ch immer

besessen von der Lust, sich vor dem „Gekreuzigten“, dem

Lieblingstotem der Schafe, zu erniedrigen

ich: so unternahm ich, wir waren ja gerade am selbe n Ort,

einen letzten Versuch, Mutter zum Austritt aus der Kirche

zu überreden. Wieder sagte sie Nein, wieder brachte sie

ihre Gründe vor, warum ein Ausstieg nicht infrage k äme (wie

sonst die Gotteshäuser, wie sonst den Dorfpfarrer a m Leben

erhalten und so weiter)

Japan, Besuch eines Zen-Klosters. Beruhigung, Medit ation

und Schweigen

ich: beim Abschied aus dem Kloster gab mir der Rosh i einen

Zettel mit: „Das Wort Bestimmtheit setzt sich in de r

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japanischen Schrift aus zwei Zeichen zusammen, die wütend

sein und Sehnsucht bedeuten. Es handelt sich um kei ne Wut

gegen eine andere Person, sondern gegen sich selbst , gegen

die eigene Schwäche und Unreife. So benutzt man den Zorn

wie eine Peitsche. Um zu wachsen, um die Sehnsucht

voranzutreiben. So entsteht Bestimmtheit“

Vierunddreißigstes Lebensjahr: Südamerika, Peru,

Berufswunsch: Reiseschriftsteller, Schreibender, Re isen und

Schreiben, Rückkehr nach Deutschland, München, Arbe it als

Taxifahrer, Kleinkünstler, gelegentlicher

Versicherungsbetrug (Inszenieren von Diebstählen,

Überfällen), Tod des Vaters

ich: der Rechtsanwalt und Testamentsvollstrecker Dr . Josef

K. las auch die Postkarte vor, die ich Vater vor Ja hren

geschrieben hatte. Nur fünf Worte waren da zu lesen : „Ich

scheiße auf dein Erbe“

Umzug nach Paris

ich: jetzt hatte ich den präzisen Namen für meinen Traum

gefunden, noch genauer als Schriftsteller: Reporter

ich: Schriftsteller roch nach jahrelangem Hocken un d

Einsamsein, aber Reporter versprach Tempo, Fremde,

Fremdsprachen, Aufregung, Nähe- und Schreiben

ich: neben den Hirngespinsten hatte ich noch ein ga nz

normales Leben

ich: Afghanen, Iraner, Vietnamesen, zwei Saudi-Frau en,

Chilenen, Europäer, Japaner, ein amerikanischer

Televangelist- wir alle saßen im Kreis und diskutie rten

ich: unser Französisch war gräulich, aber die Welt war

hier, der Geruch von Internationalität, die wilden

Geschichten der Flucht, der mitreißende Schwachsinn des

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religiösen „Wunderheilers“ aus Kansas, die so ander en

Lebensentwürfe. Genauso hatte ich mir die Vorbereit ung auf

das Reporterdasein gewünscht

Studium Anglistik an der New York University, Fahrt durch

die Vereinigten Staaten, weiter in den Nahen Osten, weiter

in den fernen Osten, Rückkehr nach Europa, Einsende n eines

zwölfseitigen Berichts über eine Eisenbahnfahrt dur ch China

an die Zeitschrift GEO

ich: drei Tage später rief mich der zuständige Reda kteur an

und ließ (mich) wissen, dass man den Text kaufen, j a, sie

einen anderen Beitrag herausnehmen würden, um Platz zu

schaffen für meinen. Nochmals eine Woche später kam die

redigierte Fassung: ein Batzen Scheiße in jedes

Sprachgefühl

ich: zehn Tage nach meinem achtunddreißigsten Gebur tstag

wurde die Reportage veröffentlicht- in meiner Fassu ng

ich: nach der Veröffentlichung hagelte es einen

Glücksfunken nach dem anderen. Zwei Agenten griffen nach

mir, Merian meldete sich, das Zeit-Magazin, das SZ- Magazin,

das FAZ-Magazin, der Stern, Playboy, Sports, Tempo, Focus

und immer wieder GEO

ich: ich flog in hundert Himmelsrichtungen, in

Dürregebiete, Kriege, Bürgerkriege, in die grandios esten

Landschaften der Welt

ich: alle zahlten Businessclass, die Hotelnächte, j ede

Taxifahrt

ich: ich wurde ein Monster in Zuverlässigkeit, der jüngste

Kisch-Preisträger, gemessen an der Zeit, die zwisch en

Berufsantritt und Anerkennung vergangen war

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ich: ich konsolidierte. Die Feindseligkeiten meinem Körper

gegenüber ließen nach, kein Blut floss mehr aus mei nen

Nägeln, meiner Nase, vom Schädel. Ich hörte auf, mi ch

aufzuessen. Nie wieder musste ich mich auf den Bode n legen,

um nach Luft zu schnappen. Die schwarzen Löcher der

Depression wurden schmäler. Der Zwang zu stehlen wi ch

ich: die Annäherung an den Vater dauerte länger

Reportagereise nach Russland, Treffen mit Anna Jono wa,

achtundachtzig Jahre alt

ich: ihr Mann hatte im Großen Vaterländischen Krieg gegen

die Deutschen gekämpft und war, anders als viele an dere im

Ort, lebend zurückgekehrt. Eine Woche nach seiner R ückkehr

hatte er angefangen zur Wodkaflasche zu greifen, ha tte er

begonnen, den Rest seines Lebens zu versaufen

ich: er ist, so Anna, und mein Dolmetscher Genadi

übersetzte es grammatikalisch falsch, aber auf wund ersame

Weise treffend, er ist am Krieg gestorben

ich: ich musste sofort an meinen Vater denken, der, fast

gleich alt, wie Jegor den Krieg überlebt hatte, ebe nfalls

nach Hause zurückgekehrt war. Mit denselben Horrorb ildern

im Gepäck, wohl noch schwerer zu ertragen, da er al s

Anstifter und Verlierer, als SS-Nazi heimgekommen w ar. Und,

ungleich dem Russen, kein Alkoholiker wurde, sonder n ein

Schwein

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Der Krieg ich: wie wurde Franz Xaver Altmann dieser Mensch, w ar es

der Krieg?

ich: sicher

ich: war es seine puritanisch verseuchte Mutter, di e ihn

mit hysterischen Aufrufen zur Sparsamkeit drangsali erte?

ich: war es sein kalter Vater, der ihn zu einem Leb en,

einem Berufsleben zwang, dessen Auslebung einer nur unter

Tränen der Wut hinter sich bringen kann?

ich: war es der Abstieg vom Weiberhelden zum Daddy mit

Wampe?

ich: war es Altötting, diese Oase bigotter Inzucht, wo sein

Delirieren von Drill und Ordnung und Gnadenlosigkei t erst

gedeihen konnte?

ich: es gibt Ausnahmen

ich: ein Kunde, ein Handwerker, ein Fremder irrt si ch in

der Adresse

ich: plötzlich ist Vater charmant, konziliant, gesp rächig,

plaudernd

ich: ich traue meinen Augen, meinen Ohren nicht

ich: ein Weltmann tritt auf, elegant im Umgang, zuh örend,

kein Bläschen Schaum vorm Mund

ich: Menschen können in verschiedenen Situationen g anz

verschieden sein

ich: der Haider beim heiteren Tête-à-Tête auf dem

Obersalzberg

ich: oder beim Tätscheln eines Kinderkopfes

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ich: Auschwitz-Kommandant Höß beim Kraulen einer Ka tze

ich: ich bin jetzt ohne Bundesgenossen. Manfred geh t noch

immer in einem Internat zur Schule, Mutter ist weit weg bei

ihrer reichen Verwandtschaft untergekommen

ich: mit meiner Schwester (Perdita), jetzt sieben, gibt es

die üblichen Zankereien

ich: mit meinem Bruder Stefan, inzwischen zurück na ch

Altötting, ebenfalls Fahrschüler nach Burghausen, e ntsteht

keine Wärme

ich: er ist sechs Jahre älter und definitiv nicht a n mir

interessiert. Auch nicht an meinen Fragen. Ich verm ute, ich

bin ihm lästig

ich: steht etwas in der Zeitung, das ich nicht vers tehe,

von ihm erklärt haben will, antwortet er abwesend m it:

„Lies!“

ich: was uns verbindet, ist die Wut auf den Alten, der nun

nach der Vertreibung seiner Frau die Verhältnisse, die

Arbeitsverhältnisse neu organisiert

ich: da die meisten Angestellten inzwischen ebenfal ls die

Flucht angetreten haben, wird Detta vor allem im Ge schäft

eingesetzt (sie steigt zum Vize-Rosenkranzkönig auf )

ich: kommen Stefan und ich um vierzehn Uhr nach Hau se, so

machen wir uns die Reste warm, meist Knödel, Linsen ,

Kartoffeln, eine fade Suppe, ein Glas Milch

ich: alles in schäbigen Töpfen und Kesseln aus dem frühen

Jahrhundert. Verbeult, verkratzt, der Schutz am Bod en

längst abgeschabt

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ich: nach dem Essen muss entweder Stefan oder ich d as

gesamte Geschirr von drei Mahlzeiten, inklusive das vom

Vorabend, inklusive Frühstück abspülen

ich: nach einem genau festgelegten „Spülplan“, der dafür

sorgt, dass ein Minimum an heißem Wasser verbraucht wird

ich: dann abtrocknen, dann einräumen, dann „Meldung

machen“, das heißt, man geht zum Alten und meldet: „Die

Arbeit ist erledigt, das Geschirr gespült“

ich: dann Kontrolle. Selbstverständlich geht ein Te il

zurück, muss nochmals abgewaschen werden

ich: kein Mensch auf Erden kann so perfekt eine Auf gabe

erfüllen, auf dass nicht ein Wahnsinniger sie beans tandet

ich: nach dem Spüldienst kommt der Arbeitsdienst (V ater

legt Wert auf seine aus dem Krieg mitgebrachten Wör ter)

ich: er weiß, dass ich sechs Mal die Woche um halb sechs

Uhr morgens aufstehen muss, dass ich allein drei St unden

für den Weg zur Schule und zurück brauche, dass ich erst

elf Jahre alt bin, dass ich die fünfte Klasse eines

humanistischen Gymnasiums besuche, dass schon im er sten

Halbjahreszeugnis der Abstieg vom mühelosen Volkssc hüler

zum Hinterbänkler nachzulesen war

ich: kein Wunder, dass nur noch eine „durchschnittl iche

Begabung“ festgestellt werden konnte

ich: kein Wunder, dass ich „wenig konzentriert“ war

ich: ehemals Vorzeigesportler, schneide ich nun mit

„befriedigend“ in Leibeserziehung ab

ich: ach ja, jetzt unterschreibt Detta das Zeugnis als

„Erziehungsberechtigte“. Mit Magda L., ihrem Namen. Sie ist

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nicht intelligent, aber sie ist schlau, gerissen kl ettert

sie nach oben

ich: wo sie allerdings etwas vorfinden wird, was si e nicht

vermutet

ich: wo sie etwas vorfinden wird, was sie nicht ver mutet

-

ich: der Arbeitsdienst sorgt dafür, dass wir mit de mselben

Stumpfsinn konfrontiert werden, dem alle schon bege gnet

waren, die hier vorbeikamen: Devotionalienbusiness

ich: so kann die Hölle aussehen, ganz unspektakulär , ohne

Feuersbrunst, ohne kannibalistische Teufel, ohne

Verzweiflungsschreie. Nur die Dumpfheit des Daseins , nur

das unwiderrufliche Wissen, dass jemand einem ander en die

Sinnlosigkeit des Lebens vorführt

ich: ab jetzt gilt Faustrecht, nun ist es rechtens. Was es

auch immer gewesen sein mag, das Vater bisher

zurückgehalten hatte, als Faustkämpfer gegen seine Söhne

anzutreten, es bleibt sein Geheimnis. Fest steht, j etzt ist

die Schonfrist vorbei, jetzt heißt es: Ring frei fü r Franz

Xaver Altmann, Schwergewicht, im Kampf gegen seinen

Kindersegen, die Papiergewichtler

ich: wobei der Fairness halber angemerkt werden mus s, dass

er Perdita, seine Tochter, nicht prügelt (weil es d och noch

Tabuzonen gibt? weil sie die kleinste Angriffsfläch e

bildet? von Anfang an zur Anpassung bereit, weil si e ein

Mädchen ist?)

ich: nach dem Spüldienst und dem „Abmelden“ bin ich

„entlassen“. Wenn ich Glück habe

ich: ohne Dank

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ich: habe ich keines, muss ich „nacharbeiten“

ich: ohne Dank

ich: dann ist endlich Zeit, die Schulaufgaben zu er ledigen

ich: nach Minuten schlafe ich über den Büchern ein

ich: die ersten Monate mit schmerzhaften Folgen: Va ter

überrascht mich, erinnert mich mittels Ohrfeigen da ran,

„dass man dem Herrgott nicht den Tag stiehlt“

ich: Müdesein ist Sünde

ich: dass ist die Zeit, in der ich anfange, meine

Schlaflosigkeit zu trainieren, eine Art Schlaf, in der ich

Vater die Treppen hochschleichen höre, ich noch Sek unden

habe, um wieder aufzuwachen und eine dem Herrgott g efällige

Haltung einzunehmen

ich: mir kommt mein Leben abhanden. Nicht mit Abent euern

und Ekstasen der Lebenslust, nicht mit Eltern, die auf

große Fahrt gehen, mir rastlos die Welt zeigen

ich: nicht mit einem Kinderleben, in dem ein Kind s truppig

und verrotzt vom Spielplatz nach Hause rennt, zu se iner

Neugierde beglückwünscht wird, zu seiner Wildheit, nein,

ich bin Kindersoldat (allerdings unbewaffnet)

ich: Erschöpfung, Schuldgefühle, Schlappheiten: ich werde

so schlecht in der Schule, dass ich selbst in Erdku nde

einen Fünfer verpasst bekomme

ich: ich stehe im Epizentrum von Vaters Furor. Rein

zufällig

ich: Manfred ist noch nicht zurück, Perdita kommt a ls

Schlachtopfer nicht in Frage und Stefan, mein ältes ter

Bruder ist cleverer als ich

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ich: auch, ähnlich unserer Schwester, konformistisc her

ich: keine Frage, auch für ihn gibt es Hiebe,

Strafarbeiten, Strafpredigten. Aber Stefan, bereits

siebzehn bei Mutters Abgang, kann taktieren, kennt die

Spielregeln im Umgang mit Erwachsenen schon besser

ich: er steuert keinen Konfrontationskurs, kommt de m Alten

weniger frontal entgegen. Und er hat eine originell e Idee

ersonnen, um sich den Kinderschinder auf Distanz zu halten

ich: sein Zimmer wird zum Stinkbombenlager, er weig ert sich

zu lüften und furzt, lernend, Klavier spielend, die Bude

voll

ich: wer die Tür öffnet, weicht erschrocken zurück

ich: dieser Raum ist nicht penetrierbar

ich: die Theorie, dass die vehemente Darmtätigkeit mit der

Verpflegung im Altmannhaus zu tun hat, liegt nahe

ich: trotzdem! Ich beneide ihn: stinken und Klavier spielen

können

ich: eigentümlicher Weise lässt sich Vater von dies er

Geruchskeule beeindrucken, bleibt draußen, fordert nie

Zwangslüftung

ich: es gibt andere Gründe, warum Stefan (unbeschad eter)

davon kommt: er ist ein unauffälliger Schüler, er b ekommt

keine Verweise, muss nie zum Rektor, zieht nie Jean s an,

bevorzugt von früh an Grau und zuletzt, da wird er von

allen hofiert, ist er ein Ausnahmesportler, hundert Meter

in Rekordzeit, Weitsprung über sechs Meter. Dieser Nimbus

schützt ihn, auch vor Vater

ich: ich habe keinen Nimbus

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ich: immerhin schaffe ich es, aus den Fünfern im

Winterzeugnis ein paar notdürftige Vierer zu machen

ich: der Klassleiter notiert: Andreas sei „gerade n och“

vorgerückt

ich: Andreas werde „als blass und hochgewachsen“

wahrgenommen

ich: Andreas sei „geltungsbedürftig, vorlaut und sc hwer

leitbar“

ich: wie bitte

ich: Andreas sei „geltungsbedürftig, vorlaut und sc hwer

leitbar“

ich: „schwer leitbar“ gefällt mir

ich: nichts gelten und trotzdem frech sein, das zeu gt von

Überlebenswillen

-

ich: beizeiten entwickle ich die Angewohnheit, alle s zu

durchsuchen

ich: ich „grusche“ in jeder Schublade, jeden Schran k, jede

Besenkammer, jede herumliegende Hose

ich: früher in jeder von Mutters Handtaschen

ich: bis ich Vaters Briefmarkensammlung finde

ich: ausgesucht feine Liebhaberstücke

ich: Vater hängt schon sehr daran

ich: andererseits brauche ich Geld, habe (mir) eine

Torwart-Ausrüstung zu kaufen, gefütterte Hose,

Knieschützer, Ellenbogenschützer, Handschuhe

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ich: Vater kommt!

ich: aufgehend, abgehend, memoriere ich lateinische

Vokabeln

Vater: komm! Es gibt Arbeit für dich

ich: Unverschämtheit

ich: wieder kein Bitte, wie gestern, wie vorgestern , wie

alle Tage zuvor

ich: Kontaktaufnahme mit Wiggerl (zwei Jahre älter als ich,

alleinerziehende Mutter, rotzig, pampig, Bürgerschr eck,

Zwischenhändler, Hehler)

Wiggerl: immer wenn ich deinen Vater sehe, gehe ich auf die

andere Straßenseite

ich: mit den Briefmarken entdecke ich meine Lust am Stehlen

ich: ich stehle, um meine Rachegefühle an Franz Xav er

Altmann auszuleben

ich: ich stehle aus Lust, Dinge zu tun

ich: der materielle Gewinn ist im Grunde nur ein Vo rwand

ich: ein feiner Nebeneffekt

ich: was zählt, ist die Aufregung, der Widerstand, das

famose Gefühl „frei“ zu sein

ich: immerhin frei genug, Verbote zu überschreiten

ich: nachts geht es runter ins Esszimmer, Kommode ö ffnen,

Album raus, wieder hoch ins Zimmer, Taschenlampe an

ich: Entnahme von drei „Linien“, ersetzen durch nor male

Zehn-Pfennig-Briefmarken

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ich: dann wieder runter, zurücklegen, zu-sperren, a uf

Zehenspitzen ins Bett

ich: ich kenne jede Treppe, vom Erdgeschoss bis in den

zweiten Stock, jede Stelle, ich weiß, wo es knarrt, ich

weiß, wo ich lautlos auftreten kann

ich: mit Wiggerl wird nach den offiziellen Sammlerp reisen

geschaut

Wiggerl: wir geben zwanzig Prozent Rabatt, mehr nic ht. Du

lieferst, ich verkaufe. Nach drei Tagen wirst du de in Geld

bekommen

ich: abgezählt liegen die Scheine auf dem Tisch. Be i

Wiggerl begreife ich zum ersten Mal, dass auch Gano ven eine

Ehre haben

ich: er ist der Profi, der Dilettant bin ich

ich: erster Fehler: teure Marken durch billigste

Wertzeichen ersetzen (ich fliege nur deshalb nicht auf,

weil Vater sich nur sporadisch um seine Sammlung kü mmert)

ich: zweiter Fehler: kaum habe ich die ersten hunde rt Mark

in den Händen, gehe ich einkaufen. Ich führe mich a uf wie

ein Bauarbeiter, der eine Bank überfallen hat und a m

übernächsten Tag mit einem Porsche Spyder zur Arbei t fährt

Vater: woher hast du das Geld

Vater: woher hast du das Geld, habe ich dich gefrag t

ich: Mutter hat es mir geschickt

Vater: das ist doch eine bodenlose Unverantwortlich keit

ich: nach ein paar Wochen sind die Alben geplündert

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ich: die Hälfte der Marken erweisen sich als unverk äuflich,

besitzen keinen Wert oder finden keine Interessente n

ich: Wut treibt mich, Gier, auch maßlose Freude

ich: ich bin der Leibeigene meines Vaters, der mich

ausbeutet, beleidigt und züchtigt. Betrete ich eine n Laden,

die Taschen voller Banknoten, dann bin ich all das nicht,

dann bin ich ein stolzer Mensch, der respektiert wi rd

ich: zufällig finde ich (auf dem Speicher), hinter einem

Schrank, einen prallen, mit Hanfstricken verschnürt en Sack,

staubbedeckt, seit Urzeiten unberührt

ich: eine Schatztruhe, gefüllt mit nichts anderem a ls-

Briefmarken

ich: ich greife zu, zweimal die Woche (diesmal verk aufen

wir pfundweise)

ich: Wiggerl und ich freuen uns über beides: die Sc heine

und den Idiotismus jener, die für viereckige

Papierstückchen Bargeld herausrücken

ich: (die Freude währt sieben Wochen) jedes Pfund

Wertzeichen ersetze ich durch ein Pfund wertloses

Zeitungspapier

ich: dann kommt der dritte Fehler, der eine, den ir gendwann

alle Amateure begehen

ich: Nachlässigkeit, Mangel an Professionalität

ich: statt wie immer mit dem Diebesgut sofort das H aus zu

verlassen, deponiere ich es zwei Tage lang in der S chublade

meines Schreibtisches

Stefan: du verkaufst Vaters Briefmarken

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ich: Manfred hätte sich eher vierteilen lassen, als mich an

unseren Peiniger zu verraten. Nicht so unser Sports mann.

Sein Streberherz will punkten

Väter: Andreas! Andreas!

ich: Vater zeigt nun sein Können, läuft zu neuer Hö chstform

auf und zelebriert am Gnadenort Altötting ein Jüngs tes

Gericht

ich: sein Jüngstes Gericht

ich: kaum hat er die Briefmarken in der Schublade g esehen,

rennt er auf den Speicher, sieht den Schaden, rennt

hinunter in den ersten Stock, stößt den Schrei eine s

verwundeten Tieres aus, stürmt zurück in mein Zimme r (wo

Detta mich inzwischen bewacht)

ich: ein siebenundfünfzigjähriger gegen einen

dreizehnjährigen, ein Schwergewicht gegen eine Flie ge

ich: Aufschlag auf meine rechte Gesichtshälfte, gep flegte

Rückhand auf die linke Seite, Aufschlag, Rückhand,

Aufschlag, Rückhand, Aufschlag, Rückhand

ich: ich schließe die Augen, spüre irgendwann seine n Ring

(klar, der Alte ist ja immer noch verheiratet). Hät te ich

die Kraft, ich würde grinsen

Väter: knie nieder!

Väter: Hose runter!

ich: wer bin ich jetzt? Sein Sohn, der Briefmarkend ieb?

Sein russischer Kriegsgefangener? Sein Pole? Sein J ude?

Sein Zorn auf alles, was er falschgemacht hat in se inem

Leben?

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ich: neben ihrem Herrn und Meister steht Detta. Das alte

Mädchen gerät immer wieder ins Schwärmen: Andreas, Andreas

Detta: Andreas, du bist durch und durch böse

ich: Andreas, Andreas

Detta: Andreas, Andreas

ich: Andreas, du bist böse

Detta: Andreas, du bist böse

ich: böse, böse, böse

Detta: Andreas, Andreas

ich: für das biedere Frauenzimmer ist Franz Xaver A ltmann

ein Held

ich: wäre sie zwanzig Jahre früher geboren, sie hät te als

KZ-Wächterin getaugt, so begeistert schaut sie auf das Leid

anderer, so einverstanden

Väter: wie lange geht das schon?

Väter: an wen hast du (die Marken) verkauft?

Väter: wie viel Geld hast du bekommen?

Väter: warst du allein oder hat dir jemand beim Ste hlen

geholfen?

Väter: was ist mit deiner Mutter? Wusste sie Besche id?

Väter: wo ist das restliche Geld?

Väter: weißt du eigentlich, welchen Schmerz du dein em Vater

abgesehen vom materiellen Schaden zugefügt hast?

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ich: der Alte rast, lässt mich kaum zu Wort kommen. Wie

gut! Denken tut weh, mein dicker Mund ist nicht in der

Lage, schnell und fehlerlos zu antworten

Väter: du bist ja zu blöde, einen korrekten, deutsc hen Satz

zu bilden

ich: Vater, leider, bedauerlicherweise erinnere ich mich an

gar nichts, außer daran, dass ich alleine war, Mutt er mit

all dem nichts zu tun hat

Väter: (Andreas) ich schäme mich für dich

ich: mir fällt auf, dass auf den linierten Zeilen m einer

Notizen viel öfter von Gewalt die Rede ist als von

Angstlosigkeit. Ich spüre (instinktiv), dass Sprach e

schreiben das Am-Leben-Sein auf geheimnisvolle Weis e

entlastet

ich: Mutter schreibt, verspricht Rettung und Sicher heit

ich: sie lügt

ich: ich glaube ihr jedes Wort

Väter: die folgenden zwei Monate meldest du dich tä glich um

sechzehn Uhr im Büro. Verschärfter Arbeitsdienst

ich: und so sehen die nächsten sechzig Tage aus: Wa sser

nachfüllen in Kugeln, in denen sich die „jungfräuli che

Madonna“ befindet, dann Meldung machen, dann im

Marschschritt in den Garten

Väter: hier entlang jäten! Unkraut zum Kompost brin gen,

obere Hälfte abtragen, neu aufschichten!

ich: Meldung machen

Väter: Meldung machen

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ich: Auftrag erledigt

Väter: Auftrag nicht erledigt, nochmals mähen

Väter: Bretter in der Remise neu ordnen, Meldung ma chen

ich: Meldung machen

Väter: auskehren, Meldung machen

Väter: Geschäftsfahrrad putzen, Meldung machen, Pos twagen

neu streichen, Meldung machen

ich: wir haben Gerätschaften wie aus dem Mittelalte r. Zu

Fuß ziehe ich den Leiterwagen zum Holzplatz, lade B rennholz

auf, ziehe Wagen und Ladung den Kilometer wieder zu rück,

schichte zwei Zentner Holz im Heizungskeller auf

Väter: Meldung machen

ich: den anderen Keller entrümpeln (Meldung machen) , das

Auto waschen, trocknen, eincremen, polieren, das Da ch der

Garage reparieren, eine Eternitplatte auf dem Dach des

Geschäftsanbaus ersetzen, da brüchig

ich: zwölf Dutzend beigefarbene Plastikbehälter, dr ei mal

fünf Zentimeter, öffnen, erdbeerrote Schaumstoffstü ckchen

einlegen, Deckel wieder drauf

ich: Pakete zur Post bringen, per Rad und Anhänger (der

Devotionalientrödel geht in alle deutschsprachigen Länder)

ich: die großen Lieferungen zum Bahnhof, Güterabtei lung,

anstellen, Karte ausfüllen, aufgeben, zurück fahren

ich: zurück ins Büro, ran an die „Kopiermaschine“

ich: ein erstaunlicher Name für eine Handwalze mit Griff

Väter: du, Andreas, bist ein Versager

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ich: du, Vater, bist der Mensch, den ich hasse

ich: lassen wir die Briefmarkengeschichte

ich: als Sechst- oder Siebtletzter beende ich das S chuljahr

mit einem Fünfer und drei absturzgefährdeten Vierer n

ich: (zwei Jahre) später wird ein Lehrer in den bes onderen

Beurteilungsbogen schreiben: „Andreas ist ein guter

Kamerad“

ich: dieser seltsam schöne Satz gefällt mir

ich: dreißig Jahre später werde ich bei Henry Mille r lesen:

„Friendship is something beyond love“. Dieser Satz klingt

noch schöner

ich: meine Neugierde bleibt ungebrochen. Mein

Lieblingsobjekt wird der Schreibtisch meines Vaters

ich: wochenlang nur dröge Geschäftskorrespondenz (d er

Rosenkranzkönig schreibt seinen Untertanen)

ich: dann das: Sehr geehrter Herr Direktor Reitmeie r,

Ausrufezeichen, in Sorge wende ich mich an Sie, Pun kt, mein

schwer erziehbarer Sohn Andreas bereitet seinen Näc hsten

viel Kummer, Punkt, seine Noten lassen rapide nach, Komma,

er ist ungehorsam und unzugänglich für meinen Einfl uss,

Punkt, seine Mutter, Komma, die das Haus verlassen hat und

sich in therapeutischer Behandlung befindet, Komma, scheint

mir für sein Verhalten zum großen Teil verantwortli ch,

Punkt, ich bitte Sie, Komma, sich seiner anzunehmen und ihn

in Ihre Kindertherapiegruppe aufzunehmen, Punkt,

hochachtungsvoll, Komma, Riesenschnörkel, Franz Xav er

Altmann

ich: typisch, er ist wieder nicht verantwortlich

25

ich: und Mutter hat das Haus verlassen (ansonsten b in ich

mit dem Brief einverstanden)

ich: ich suche nach einem Vater, einem anderen, suc he

nebenbei, als Spiel, immer wieder

ich: irgendwann, viele Jahre später, stehe ich vor dem Grab

von John Boyle O´ Reilly, einem irischen Poeten und

Revolutionär, als Inschrift ist zu lesen: „He is on e whom

children would choose for a friend, women for their lover,

and man for their hero“

ich: ihn würden Kinder als Freund wählen, Frauen al s ihren

Liebhaber und Männer als ihren Helden

ich: es regnet auf das irische Grab und ich heule, so schön

sind diese Sätze

ich: in Briefen schlage ich Mutter vor, unsere Zust ände

beim Vormundschaftsgericht anzuzeigen

Mütter: Andreas, das geht nicht. Eine Konfrontation mit ihm

würde ich nicht bestehen

ich: doch

Mütter: nein. Ich würde die Nerven verlieren

Mütter: er hatte mich angerufen, er ruft mich an, u m mich

zu beschimpfen, er schimpft auf euch

ich: er muss sich in regelmäßigen Abständen überzeu gen,

dass es einen Sündenbock gibt

Mütter: ich höre seine Stimme, gleich mache ich mir in die

Hose, stehenden Fußes, direkt neben dem Apparat

Mütter: niemand in Altötting würde uns glauben. Dei n Vater

ist eine Respektsperson, ich bin eine davongelaufen e

Ehefrau, dazu in Therapie, dazu nervenkrank

26

Mütter: wer würde einer solchen Person vier Kinder

anvertrauen (Fragezeichen)

Mütter: ohne Beruf, ohne Geld, ohne Zukunft

ich: Mutter, Lieb-sein ist die falsche Bewaffnung i n

Kriegszeiten

-

ich: der Niedergang Dettas hört nicht auf. Sie, das

einfache Menschenkind, sie, den Kopf voller Zukunft sflausen

Richtung Altöttinger Ehefrau, sie, die nichts ausli eß, um

ihre Gegnerin zu vertreiben, sie fängt endlich an, zu

begreifen, dass jeder, der sich in der Nähe von Fra nz Xaver

Altmann aufhält, als Verlierer enden muss

ich: die Schonzeit ist vorbei, der Traum zu Ende, d ie

Hochzeit außer Frage

ich: Mutters Schluchzen hatte mich gerührt, Dettas Schmerz

bleibt mir fremd

ich: sie erntet nur, was sie verdient

ich: als Schlange, die uns bei Vater denunzierte, d ie keine

Gelegenheit ausließ, sich bei ihm gute Noten abzuho len

ich: die jeden Fehltritt (wenn es denn einer war), jedes

Zuspätkommen, jede pampige Antwort kolportierte

ich: und wie sie neben ihrem Herrn und Meister Stel lung

bezieht, wenn (dieser) uns züchtigt

ich: und nie den Züchtiger um Erbarmen für uns bitt et

ich: ein Kind demütigen, das ist Dettas Geschäft

ich: ob Vater sie noch anfasst?

ich: obwohl sie beharrlich Kummerspeck ansetzt?

27

ich: das erste Mal höre ich das Wort „ficken“ von e inem

Freund, einem Arztsohn, der mich aufklärt

ich: zwei intensiv abgegriffene Pornobilder als let zter

Beweis, weil ich seiner Beschreibung des Geschlecht saktes

zuerst nicht glauben (will)

ich: was ich da auf dem Foto sehe, erscheint grausi g und

ungeheuerlich

ich: unwiderlegbar: so entstehen Menschen

ich: ich ertrage den Gedanken nicht, dass Mutter vo n Vater

auf gleiche Weise gefickt worden ist

ich: natürlich gibt es keine Aufklärung bei uns

ich: Sexualität ist nicht (der Katholizismus sorgt dafür)

ich: die Frau als Ausgeburt der Verkommenheit, Sex als das

Verkommenste (entfacht vom Weib)

ich: kommt es zu geschlechtlichen Handlungen, dann ruppig,

hinter fünf Türen und in Windeseile

ich: wenn man die Geilheit schon nicht abschaffen k ann,

dann entledigt man sich ihrer als „quick business“

ich: ein Teufelskreis, den nur der Teufel erfunden haben

kann

ich: in Altötting fange ich an, mit einem (Moralboh rer)

Löcher in Kabinenwände zu bohren

ich: klappt es?

ich: nein

ich: was ist?

28

ich: vielleicht sind die Löcher zu klein, vielleich t sind

sie falsch platziert

ich: was ist denn nun?

ich: meine Neugierde ist schamlos

ich: ob ich will oder nicht, das Gift der sündigen Scham

ist längst in mir abgespeichert

ich: in dir doch auch

ich: hast du keine Hemmungen (mehr)?

ich: was ist mit der Angst, nicht mehr „gottgefälli g zu

sein“?

ich: meine Neugierde ist schamlos, sie hält das Häs sliche

aus

ich: Samstagvormittag, „Waschtag“ der Familie, ich unter

der Badezimmercouch

ich: sehe ich was?

ich: nichts

ich: Vater im Schlafzimmer, Detta, Perdita

ich: wieder nichts

ich: warum?

ich: wofür?

ich: (thrill) die Überwindung ist das Entscheidende , das

Aushalten der Angst

ich: wochenlang rede ich auf Manfred ein. Mein Anli egen

klingt befremdlich, aber so ist es: (ich möchte), d ass wir

gemeinsam ins Bett gehen und uns nackt ausziehen

29

ich: ohne Flüstern, ohne Beruhigen

ich: mein Körper ist ein Fehler, nichts an ihm ist, wie es

sein soll

-

ich: die Winterferien kommen = Antreten zur „Invent ur“

Väter: (ich bin der Meinung, dass ich meine

Nachkommenschaft auch in der schaffensfreien Zeit a usbeuten

soll)

ich: Weihwasserkessel, Meine ersten Gebete, Hausseg en,

Wallfahrerzeichen

Manfred: Weihwasserkessel, Meine ersten Gebete,

Minifotoapparate

ich: Meine ersten Gebete, Minifotoapparate,

Weihwasserkessel, Schutzengel

Manfred: Schutzengel, Krippen aus Holz, Krippen aus

Gipsmaché, Krippenesel

ich: Krippenesel, Krippenschafe, Krippenochsen,

Versehgarnituren

Manfred: Christophorus-Plaketten zum Anschrauben,

Christophorus-Plaketten mit Magnet, Grablichter

ich: Kreuze ohne Gekreuzigtem, Kreuze mit Gekreuzig tem,

dazu (zentnerweise) Rosenkränze

ich: (Manfred) meine Hände zittern. Ist es wegen de r Kälte?

aus Hass? wegen des Gefühls der Sinnlosigkeit?

ich: draußen strahlt die Wintersonne. Auf dem Eispl atz

könnte ich Schlittschuh laufen, die hübsche Sabine sehen

30

ich: vielleicht sogar mit ihr sprechen oder Schlitt en

fahren oder heimlich eine Zigarette rauchen

ich: mit einem anderen Vater in einem warmen Wohnzi mmer

sitzen

ich: hundert Fragen stellen dürfen (und) hundert An tworten

bekommen

ich: Literatur, Poesie, Philosophie, Geschichte, We ltkunde,

Menschenkunde, sie kommen (im Vaterhaus) nicht vor

ich: niemand trällert ein Lied

ich: das „eigenmächtige Benutzen“ des Plattenspiele rs ist

unter Strafe verboten

ich: kein Morgen, an dem (ich) nicht bereue, hier l eben zu

müssen

ich: aber Manfred ist da, er ist mein großer Bruder

ich: er ist der eine, der treu bleibt, nicht zermür bt wird

von den Umständen

ich: ich mache die Erfahrung, dass das Leid eines a nderen

das eigene Leid verdoppeln kann

ich: (warum?)

ich: weil die Herabwürdigung des anderen, den man l iebt,

einen selbst herabwürdigt

Haider: dafür werde ich sorgen, dass diese Jugend

herumgewirbelt wird (es muss immer was los sein!)

ich: sehr gut! Fantastisch! Von wem ist es?

ich: vom Haider ist es

ich: es könnte auch von Vater sein

31

ich: an meinem Status als Versager ist (im Übrigen) nicht

zu rütteln

ich: Zwischenzeugnis, drei Fünfer

ich: „Vorrücken“ diesmal nicht wie üblich gefährdet ,

sondern sehr gefährdet

ich: ein „mangelhaft“ sogar in Deutsch (lautes Vorl esen

meines Aufsatzes vor der Klasse als abschreckendes

Beispiel- Gelächter)

ich: im besonderen Beurteilungsbogen ist ein Satz

nachzulesen, den man nach Gemütslage als ungeheuerl ich oder

ungeheuer witzig verstehen kann

ich: (ich zitiere-) „Andreas müsste zu Hause zu str enger

und regelmäßiger Arbeit angehalten werden“

-

ich: (wie spät ist es?)

ich: zwölf Uhr dreißig

Manfred: Zeit für das Tischgebet (stehend, vor dem Kruzifix

in der Ecke)

ich: wie auch wir vergeben unseren Schuldigern

Manfred: wie auch wir vergeben unseren Schuldigern

ich: wie auch wir vergeben unseren Schuldigern

Väter: hinsetzen!

Manfred: hinsetzen

ich: hinsetzen

ich: (wie viel Zeit ist durch?)

32

Manfred: ein paar Minuten

ich: mäkelt er schon wieder an Dettas Essen

ich: da hat der Alte richtig Freude dran, an Dettas Essen

rumzumäkeln

ich: wie er auch an Mutters Essen immer herummäkeln musste

Manfred: ich weiß nicht, was du hast, Vater, aber m ir

schmeckt es ausgezeichnet

Väter: du wagst es, mir zu widersprechen

ich: du wagst es, mir zu widersprechen, Manfred

Väter: du wagst es, mir zu widersprechen

ich: Vaters Fäuste erwischen mich oft, aber nicht s o, wie

sie Manfred an diesem Sonntag ramponieren

ich: das Erkennen des Wahnsinns

ich: das doch ganz gut schmeckende Essen, direkt

ausgespuckt in Vaters Gesicht

ich: wohl todesmutig, in Todesangst, den Rest des T ellers-

ich: -über den Kopf des Rosenkranzkönigs verschütte t

ich: Visage und Sonntagsanzug voll mit Fleischreste n,

Gemüse und Sauce

ich: Manfred ab, Vater ab, Manfred Treppe runter, V ater

Treppe runter

ich: ich hinterher (nicht zu früh, wie sich zeigt)

ich: auf den Kopf, ins Gesicht, auf den Leib

33

Manfred: jetzt ist er wieder die SS-Maschine, die L andser-

Maschine, der seine Söhne mit zwei Russenschweinen oder

zwei Polackenschweinen oder Judenschweinen verwechs elt

ich: (schreien, nur noch schreien)

Väter: Großer Gott, wir loben Dich / Herr wir preis en deine

Stärke

wir (Manfred, ich): Halleluja

wir: Halleluja

Väter: (lasst uns) daran denken, dass wir als arme Sünder

vor den heiligen Gott hintreten, den wir wieder und wieder

enttäuscht und beleidigt haben

wir: Halleluja, Halleluja, Halleluja

Väter: O du hochheilig Kreuze / daran mein Herr gef angen in

/ Schmerz und Todesbangen

wir: wie auch wir vergeben unseren Schuldigern

-

ich: Sommeranfang in Altötting ist wie ein

Eisenbahnunglück, man kann es nicht wirklich beschr eiben,

man muss es erlebt haben

ich: Erreichen der Neuankömmlinge am Kapellplatz

ich: hier ambulanter Bildzeitungsverkauf

ich: auf zur Gnadenkapelle

ich: „ich kann wieder laufen, ich kann wieder laufe n“

ich: „die Gnadenmutter hat mir geholfen“

ich: ein schlechtes Gewissen kann unmöglich genügen ,

energische Buße wird verlangt

34

ich: der Ort verkommt zur Freakshow: geschlagen von der

Hitze, der Last ihrer Laster, brechen Uralte auf ih rem

Kreuzweg zusammen, bleiben platt liegen

ich: Frage: was kann da helfen?

ich: Antwort: Weihrauchpäckchen, arabisch hell, ara bisch

dunkel oder Paradies

ich: Bruder Konrad-Bildchen, Heilige Vater-Kerzen, Echte

Altöttinger-Wetterkerzen

ich: Gnaden-Altar-Kerzen, Mutter-Gottes-Lebkuchenhe rzen,

Schutzengel-Anhänger

ich: (alles) heiliggesprochen von der Jungfrau oder einem

Papst oder dem nächstbesten Ladenbesitzer

-

ich: Vater, was machst du da

ich: Manfred, was macht der Alte da

Manfred: monatelange Recherchen (hier: stapelweise

aufgeschichtet) Vorteile und Schattenseiten für jed es

Modell, Rabatte, Superrabatte: der Alte kauft einen

Fernseher

ich: nein!

Manfred: doch!

ich: die große Welt (bei uns zu Hause): olympische Spiele,

Auslandsberichte, Bundesliga, Bonanza, Sportstudio

ich: Was bin ich? Dr. Kimble auf der Flucht, Globet rotter

ich: Globetrotter = Wagnis, Ferne, Intensität, Witz ,

Nonchalance, Freundschaft, Eros, Verrücktheiten, Co olness =

das ganze reiche Leben, das einem zufliegt

35

ich: wenn man Talent hat und Glück und die Zeit gek ommen

ist

-

ich: manchmal glaube ich bei Vater Anzeichen von Sc hwäche

zu erkennen

ich: Manfreds und meine Ausbrüche, das Verlassen de s

Vaterhauses über die Dachluke, Fressen wie siebenkö pfige

Raupen in der Klosterquelle (Seite einhundertdreißi g bis

einhunderteinunddreißig, Kapitel einhundertvierzehn ,

hundertfünfzehn)

ich: Kapitel einhundertsechzehn: mein Durchfallen i n der

achten Klasse, Vaters Schläge, mein Bestehen

ich: Kapitel einhundertzwanzig: mein (Kindheitswuns ch)

ich: mein (Kindheitstraum)

ich: meine Vaterfluchten (Kapitel einhundertdreiund zwanzig)

ich: Weihnachten

ich: „und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in

Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatt en

keinen Raum in der Herberge“

Vater: du, Andreas, bist böse

Detta: du bist vom Satan besessen, Andreas

ich: du, Vater, bist der Mensch, den ich hasse

Vater: du bist böse

Detta: du bist besessen

ich: Geschenke? für mich?

36

ich: ein Paar Schuhe, ein Karl May-Band, zehn Mark in bar

und Kleidung

ich: diesmal Stefans Abitur-Outfit, wie üblich

angestückelt, gestreckt, enger gemacht und dampfgeb ügelt

ich: ich will gerecht bleiben: das Esszimmer ist fe stlich

geschmückt, der Baum glitzert, die Geschenke sind h übsch

verpackt

ich: Vater hat sich Mühe gemacht, ohne Zweifel

ich: und früher und später kommt das, was Manfred u nd ich

das Dreiundzwanzig-Uhr-Desaster nennen

ich: ein Skorpion kommt an ein Flussufer und bittet eine

Schildkröte, ihn überzusetzen. „Nie und nimmer“, sa gt die

(Schildkröte), „denn mittendrin stichst du mich und ich

muss sterben.“. Der schlaue Skorpion antwortet: „Ab er ich

bin doch nicht blöd, da würde ich doch selbst unter gehen.“.

Das leuchtet der Schildkröte ein und so ist sie

einverstanden und mitten im Fluss sticht der Skorpi on sie

in den Hals. „Warum tust du das?“, fragte röchelnd die

Hilfsbereite. „Weil ich nicht anders kann, weil ich der

Skorpion bin.“, (sagte der Skorpion)

ich: in (Vaters) Nähe gelingt mir nichts

ich: vielleicht hat seine Wut mit der Mittelmäßigke it

seiner Söhne zu tun (mit meiner Mittelmäßigkeit)

ich: vielleicht bin ich so mittelmäßig, weil er all es

überragt, jeden überschattet

ich: an Tagen überwältigt mich die Angst, dass ich bereits

auf „lebenslanger Versager“ programmiert bin

ich: ich bin knapp sechzehn (Jahre alt) und spüre

Existenzangst, die Angst mein Leben zu verpfuschen

37

ich: einmal habe ich genug Geld gespart, um mir ein e

gebrauchte Gitarre kaufen zu können

ich: Vater fängt zu spielen an, fingert gekonnt am Hals

entlang, schlägt ein Notenheft auf, spielt vom Blat t (eine

Kunstfertigkeit, die er fünfzig Jahre zuvor gelernt hatte)

ich: nach drei Monaten bringe ich die Klampfe zurüc k.

Dazwischen lagen Auftritte meiner Unbegabung, meine r

mangelnden Musikalität, meines Daseins als Versager

ich: ein Schlagzeug wird (besorgt), zehn Jahre alt und

verbeult

ich: ich kann nicht einmal rhythmisch schlagen, ich passe

nicht, ich tue dem Blech nicht gut- es klingt immer nur

blechern

ich: ein Rennrad wird besorgt, ein ausrangiertes Mo dell,

das noch funktioniert

ich: Rudi Altig, Jacques Anquetil, Rik Van Looy: ic h kaufe

ein Buch über die Tour de France und deliriere scho n

Richtung Champs-Élysées, wo ich mir unter dem Übers chwang

der Pariser Bevölkerung das Gelbe Trikot des Sieger s

überstreife

ich: ich lerne Richard kennen, einen Maurer

ich: der Fünfundzwanzigjährige fährt noch in der „C -

Klasse“, der untersten Amateurklasse. Auch kein Ass , aber

ein herzensguter Mensch

ich: nach dem (erstens) Abspüldienst und nach dem

(zweitens) Bürodienst und vor dem (drittens)

Schlüsseldienst darf ich mit ihm trainieren

ich: raus auf die Straße, einer hinter dem anderen vierzig,

fünfzig Kilometer radeln

38

ich: Richard findet an all meinen Defiziten etwas

Positives, korrigiert Haltung, Tritt, Atem

ich: mir fällt auf, dass er geradezu demütig mit mi r umgeht

ich: (Richard), warum tust du das?

Richard: weil du der Sohn von Franz Xaver Altmann b ist, dem

Rosenkranzhändler

ich: das wird mein letzter Fehlschlag sein, vorläuf ig, und

ich frage mich, wie viele man ertragen kann, bevor man

aufgibt, sich (selber) aufgibt

-

ich: Mutter rettet mich vor der Campingreise mit Va ter,

lädt mich zu zwei Wochen gemeinsamen Sommerferien a n den

Wallersee, Nähe Salzburg ein

ich: der schöne See, die schönen Österreicherinnen mit

ihren grandiosen Brüsten

ich: ich bin jetzt sechzehn Jahre alt. Ein Drittel meiner

Tage und Nächte verbringe ich in Begleitung einer E rektion

ich: Mutter, was ist das, „ein Orgasmus“?

ich: welche Art Glück kann er über die Liebenden br ingen,

welchen Rausch?

ich: was kannst du mir von dieser Verzückung, von d iesem

besoffenen Taumel erzählen?

Mütter: in den letzten fünf Jahren war ich mit drei Männern

im Bett gewesen

ich: warum?

Mütter: weil ich es wissen wollte

39

ich: wie war es?

Mütter: wenn sie auch nicht so krude waren wie dein Vater,

so waren sie doch hastig und eher unbekümmert um di e Frau

in ihren Armen. Verschwitzte Eindringlinge, die vor schnell

ins Ziel schossen

Mütter: (weißt du, Andreas) ich bin nie geil, mein Körper

fiebert nicht, kein Beben, kein heftiges Entrücken kommt

über mich

Mütter: ich und Eros und wildes Verlangen, das pass t nicht

zusammen

Mütter: ein fröhlicher Fick, eine ausgelassene Freu de und

Seufzen und Männerschweiß- all das ist mir unbekann t

ich: wie sieht es mit Selbstbefriedigung aus?

Mütter: ich mache „es“ nicht, ich kann es nicht

Mütter: das Reich Gottes wird eine sexlose Veransta ltung

sein, ohne drängende Schwänze, ohne ein einziges

Geschlechtsorgan. Der Himmel wird blau sein, blau u nd

fleckenlos

-

ich: neben unserem Picknickkorb liegt ein Buch, Mut ters

Buch, es trägt den Titel „Der Weg zu Gott“ (Kapitel

einhundertzweiunddreißig)

ich: „Buße und Wiedergutmachung“

ich: „Was muss ich tun, um gerettet zu werden“

ich: das Übliche halt, der weltbekannte Sums Trost

spendender Trostlosigkeit

40

ich: Mutters Weg zu Gott erinnert mich an meinen le tzten

„Namenstag“, an dem mir Detta, getrieben von bauern schlauer

Hinterlist, „Das Jahr der Heiligen“ geschenkt hatte (sie

wusste natürlich, was ich vom Panoptikum katholisch er

Himmelsfahrer und Himmelsfahrerinnen hielt)

ich: in der „Geschichte vom heiligen Andreas“ lese ich,

dass sein Widerstand gegen den „heidnischen Stattha lter“,

der ihn an das Andreaskreuz fesseln, dann nageln li eß,

hinreißend gewesen sei

ich: (er habe) gar nicht mehr von seinem Kreuz

heruntergewollt, auch dann nicht, als das von ihm

missionierte Volk ihn zu retten versuchte

ich: „Die Marter wird mich dem Herrn nur noch angen ehmer

machen“

ich: so wurde mein Namensvetter Märtyrer, laut grie chischem

Wortstamm Zeuge (wie wahr!), von einem nicht mehr

auslotbaren Idiotismus

ich: so verstehe ich das, das ist die eigentliche T odsünde:

einer Schimäre verfallen, sich im Todesrausch den T itel

„Heiliger“ verdienen

-

ich: Kapitel einhundertvierunddreißig: meine Versuc he den

Alten loszuwerden

ich: zwei Taschenbücher habe ich besorgt, (natürlic h)

heimlich: ABC des Jugendrechtes und Mein Recht in d er

Familie

ich: (geschrieben steht), dass Eltern „ihr Kind nic ht zur

Arbeit missbrauchen dürfen“, dass in solchen Fällen , in

Fällen in denen Eltern ihre Kinder zur Arbeit missb rauchen,

41

„eingegriffen“-, „Gefahr für das körperliche, geist ige und

sittliche Wohl des Kindes“ verhindert werden müsse

ich: zum Schreien komisch: Gerichtsstand Altötting, der

missratene Sohn tritt gegen den wohlangesehenen

Kirchentenor an

ich: drittes Buch: der Goldmann-Ratgeber „Eheschlie ßung /

Ehe / Ehescheidung“

ich: Mutter, bitte, lasse dich scheiden

Mütter: das geht nicht

ich: doch

Mütter: nein

ich: why not?

Mütter: eine Gegenüberstellung mit meinem Mann würd e ich

nicht durchstehen

ich: eine Gegenüberstellung mit diesem Mann würdest du

nicht durchstehen

Mütter: nein

ich: ein letzter Versuch: Rattengift, geruchslos,

geschmacksneutral, (dazu) etwas Thallium, das bleib ende

Schäden wie Lähmungen hervorruft, für den Fall, das s der

Vergiftete überlebt

ich: wo bleibt dein Schock, Mutter?

ich: wo bleibt dein „Um Gottes Willen“?

ich: wo bleibt dein „bist du wahnsinnig“, dein „ich flehe

dich an“?

42

Mütter: rechne doch mal nach: in fünf Jahren bist d u

einundzwanzig, also volljährig, somit unabhängig un d frei.

Wäre das keine Alternative zum Dösen im Zuchthaus?

-

ich: Kapitel einhundertfünfunddreißig, mein nächste r

Irrtum: Langhantel, Kurzhantel, Expander, Drückerba nk

ich: Kapitel einhundertvierunddreißig, rätselhafte Welt: im

Body-Building-Magazin wird ein Junge vorgestellt, u ngefähr

so alt und so schmal wie ich. Henner F. aus Stuttga rt, ein

Foto, das ihn zu Beginn seines Trainings zeigt, und eines

nach genau einhundertachtzig Tagen

ich: dieselbe Trainingszeit

ich: warum sieht der Ex-Schwächling wie ein Mister Germany

Junior aus und ich wie ein Skeletti aus Afrika?

ich: ist der Schreiner ein Muskelwunder?

-

ich: (einhundertsiebenunddreißig): die Zustände änd ern

sich- oder fast

ich: vom zweiten Stock darf ich ins Erdgeschoss zie hen, in

den Sicherheitsbunker, den Mutter sich in ihren let zten

Wochen hat bauen lassen

ich: eine extrastarke gepolsterte Tür, das Fenster direkt

zur Straße, die „Ausstellung“ als Vorraum und Puffe rzone =

mehr Schutz, mehr Freiheit

Väter: meine Überlegung erfolgt in die genau

entgegengesetzte Richtung: du, Andreas, wirst vom B üro aus

schneller erreichbar sein, Stichwort Arbeitsdienst,

Stichwort Überwachung

43

Väter: das Zimmer muss Tag und Nacht kontrollierbar sein

Väter: Stichwort ungehinderte Beaufsichtigung

ich: Manfred sagt, er habe den Alten beobachten kön nen, wie

er sich angeschlichen, gelauscht habe

ich: Moderne Musik, auch wenn sie ganz ohne Neger a uskommt,

ist Negermusik, also unzuträglich dem eigenen Nachw uchs

ich: aufgrund des Tipps meines Bruders befestige ic h eine

Angelschnur am Griff der Ausstellungstür, verlege s ie

entlang der Bodenleiste, bohre ein winziges Loch du rch

meinen Türrahmen, verbinde das Ende des fast unsich tbaren

Kabels mit einem (Glöckchen), versteckt unter dem

Schreibtisch

ich: das plötzliche Summen einer Fliege, das unerwa rtete

Klopfen eines Schulkameraden am Fenster, nächtliche Stimmen

vom Trottoir: ich fange an, unter dem Feuerwehr-Syn drom zu

leiden, dem Gefühl, vierundzwanzig Stunden am Tag a uf der

Quivive sein zu müssen

ich: zweimal passiert es, dass ich in heilloser Pan ik aus

dem Fenster auf die Neuöttinger Straße springe (wei l ich

nicht mehr die Nerven habe, dem bereits auf die Tür

dreschenden Richter meiner Untaten entgegen zu tret en)

ich: Vergeltung. Exemplarisch. Lüge. Versager.

Brillenschlange. Sohn einer kranken Mutter. Dieb.

Notorischer Lügner. Versager. Schlechtes Gewissen.

Schlechte Noten. Schlechter Schüler. Spüldienst.

Arbeitsdienst. Verschärfter Arbeitsdienst. Schlüsse ldienst.

Sofortiger verschärfter Arbeitsdienst. Versager.

Paketdienst. Drakonisch. Dumm. Talentlos. Eine

Enttäuschung. Tückisch. Raufbold. Bahnhofs-Paketdie nst.

Bohnenstange. Vom Satan besessen. Böse. Mutwillig b öse.

44

Unteroffizier vom Dienst. Versager. Antreten. Meldu ng

machen. Klapprig. Durchschnittlich. Rachitische

Hühnerbrust. Verklemmt. Widerspenstig. Hoffnungslos .

Angsthase. Versager

ich: das waren in etwa die Hauptwörter meines bishe rigen

Lebens, ein anstrengender Circulus vitiosus

ich: ich werde keine weiteren Kampfszenen beschreib en.

Nicht, dass sie nicht stattfanden: im Gegenteil

ich: ich kann nur mutmaßen warum

ich: (vielleicht spürt Vater), dass seine Zeit als

allherrschendes Schlägerkommando dem Ende zugeht

ich: unser Widerstand, Manfreds und meiner, wird re nitenter

ich: Detta hat sich - trotz aller Schindereien uns

gegenüber - längst in die Reihe der Erniedrigten ei nordnen

müssen

ich: Franz Xaver Altmann wird nicht mehr auf frisch er Tat

ertappt, er ist nur noch als Wiederholungstäter unt erwegs

ich: Kapitel einhundertzweiundvierzig: Beginn der

Vaterdämmerung

ich: Kapitel einhundertdreiundvierzig,

einhundertvierundvierzig

ich: Kapitel einhundertfünfundvierzig

ich: dazu hätte ich etwas zu sagen

ich: ja, bitte:

ich: Manfred ist jetzt am Ende des dritten Lehrjahr s und

bekommt als neunzehnjähriger sage und schreibe

45

einhundertachtundzwanzig Mark, plus Fausthiebe, Blu tergüsse

und Niederschläge

ich: die Aufforderung zur Musterung kommt wie geruf en,

genauer: der Verweis, der Wehrdienst könne vermiede n

werden, wenn man zum Bundesgrenzschutz ginge

ich: Kaserne und Kasernenhofton kennen wir ja schon

ich: zudem kann Manfred beim BGS einen neuen Beruf

erlernen: Automechaniker

ich: als Vater Lösungstendenzen bemerkt, unternimmt er

einen unerwarteten Versuch (die spottbillige Arbeit skraft

zu halten)

ich: Manfred soll eine Liste mit seinen Vorschlägen

vorlegen

ich: (ich) werde diese Bedingungen aufschreiben,

Lohnvorstellungen, Arbeitszeiten

ich: das ist mein Liebesakt für meinen Bruder, teur e Liebe,

die ich ihm schuldig (bin)

ich: Autos frisieren klingt doch sinnlicher als Ros enkranz-

Geselle

ich: und noch sinnlicher als die Aussicht, eines Ta ges den

devotionalen Schnickschnack zu übernehmen und als

„Rosenkranzkönig Nummer vier“ den Rest seiner Tage in

Altötting abzusitzen

-

ich: Kapitel einhundertsechsundvierzig,

einhundertsiebenundvierzig

ich: einhundertachtundvierzig: Gymnasium Burghausen

46

ich: die Mehrheit meiner Klassenkameraden besteht a us

(katholischen) Seminaristen. Streber mit guten bis sehr

guten Noten, geduckte Ja-Sager, tapfere Verleugner ihrer

Gefühle, sprich: rastlos heimliche Onanisten

ich: lauter artige Jungs, von denen man keinen dabe i

überrascht, wie er sich gegen eine Schikane wehrt, gegen

die zynischen Sticheleien und giftigen Nebensätze, über die

Lehrer so reichlich verfügen

ich: hier noch einige vertiefende Bemerkungen: Dass sich

Rudolf Gebauer, Präfekt am Bischöflichen Knabensemi nar, an

Knaben vergriffen (hatte), soll der Vollständigkeit halber

noch erwähnt werden

ich: sein Credo, es liegt schriftlich vor, heißt „d ienen

und helfen“

ich: dass der priesterliche Unhold später zum „Bisc höflich

Geistlichen Rat“ aufstieg, ist sicher eine Zeile we rt

ich: und dass Gebauers Chef, Alois Doppelberger, ei nst

Sympathisant, später Haider-Sympathisant ohne Haide r, gerne

auf Faschingsfesten eine Wehrmachtsuniform mit

Schützenschnur und Offiziersdolch spazieren trug, v erdient

ebenfalls Erwähnung

ich: damals, in den sechziger Jahren, herrschte das Gesetz

der Omertà, das Treiben der beflissensten Moralpred iger im

Land war keiner Kontrolle unterworfen (die Entzaube rung der

„Gottesmänner“ sollte erst ein knappes halbes Jahrh undert

später einsetzen)

ich: Josef, Kapitel einhundertfünfzig: ein junger K erl,

älter als ich, blendend aussehend, von Kopf bis Fuß ein

Vorbild

47

ich: er war schon einmal durchgefallen und als Skan dal des

„schweinischen Gedichts“ an der Schule bekannt gewo rden

ich: dichtes, schwarzes Haar, wie bei Elvis Presley

schwungvoll zur Schwalbenschwanzfrisur gekämmt

ich: symmetrisch geschnittenes Gesicht, dezent

bronzefarbene Haut, breite Schultern, männliche

Handgelenke, athletische Beine in moderner Jeans

ich: uneinholbar und von bestechender Leichtigkeit: sein

Lächeln mit Schlagersänger-Zähnen

ich: ein Luftikus, ein musikalischer Mensch, der zu allem

begabt scheint

Josef: das ist Tanja

ich: zeig noch mal

ich: noch mal

Josef: wir machen Liebe, wir schlafen miteinander, wir

bumsen

Josef: weißt du, was eine „Neunundsechzig“ ist?

ich: klar, eine Zahl, was sonst?

Josef: Tanja nimmt meinen Schwanz in den Mund, bisw eilen

schluckt sie mein Sperma

Josef: ich schlecke ihre Scheide, ja, mit haltlosem Gusto

strecke ich meine Zunge in all ihre Öffnungen, züng le so

lange an ihnen, bis (Tanja) ihren Höhepunkt erlebt

ich: Josef, sie bieten einen Tanzkurs an. Was soll ich tun?

Josef: so fasst du sie an, so legst du deinen Arm u m ihre

Hüfte, so gleitest du über das Parkett (Links vor, Rechts

vor, Wiegeschritt)

48

ich: Kapitel einhundertzweiundfünfzig: erstes Onani eren

ich: lachend, weinend, alles zusammen

ich: einhundertdreiundfünfzig, einhundertvierundfün fzig:

Fahrt mit Manfred nach Salzburg ins Freudenhaus (wa r leider

geschlossen)

ich: das V-Zeichen bleibt mir, nur steht es bei mir nicht

für Victory, sondern für Versager

ich: ein Bekannter schlägt vor, eine Band zu gründe n, mit

mir als Bandleader

ich: wie kommt er dazu?

ich: jemand muss ihm erzählt haben, dass ich vierze hn oder

fünfzehn Akkorde beherrsche

ich: Bassgitarre, Schlagzeug, Hammondorgel: wir nen nen uns

The Aim, Das Ziel

ich: neun Wochen üben wir, heimlich, ich doppelt he imlich,

weil wir „Negermusik“ spielen, was Vater nicht wiss en darf

ich: Aufbruch in Richtung Untergang, Tanztee in Neu ötting

ich: jemand stellt uns als hoffnungsvoll und

vielversprechend vor, fordert die Gäste auf, uns mi t einem

herzlichen Applaus zu begrüßen

ich: wir wollen beginnen mit „Michelle“ von den Bea tles

ich: hast du es bald mal

ich: ja, doch (vielleicht?)

ich: ich habe den Text vergessen. Wie geht die erst e Zeile?

ich: sie geht: la, la, la

ich: la, la, la

49

ich: ist doch eine ganz interessante Erfahrung

Väter: Andreas!

ich: weder Pfiffe, noch Verachtung

Väter: Andreas!

ich: es muss ja auch nicht gleich was werden, mit d er Tour

meine ich und mit den Groupies

Väter: Andreas, ich habe hier einen Ratenvertrag mi t meinem

Namen drunter

Väter: fünftausend DM in den Miesen

ich: Vater, das ist alles überhaupt gar kein Proble m

Väter: Elektrogitarren, Verstärker, Mikrofone, Stat ive,

Becken, Drums, Boxen, ein Keyboard

Väter: Andreas, du bist ein Urkundenfälscher

ich: ich nehme mir vor, jeden Schmerz, der auf mein er Haut

oder in meinem Herz brennt, bewusst wahrzunehmen

ich: irgendwann werde ich mich an diesem Mann räche n,

irgendwann werde ich ihm die Wundmale heimzahlen, d ie er

auf mir hinterlassen hat

-

ich: Kapitel einhundertsiebenundfünfzig, etwas

Revolutionäres passiert

ich: (es ist etwas schwer es zu erklären)

ich: eine Psychotherapeutin, erfolgreich, schlau,

beruhigend klug, betritt das Haus des Rosenkranzkön igs, sie

bleibt zehn Nächte- und sie bringt Mutter mit

50

ich: nach sieben Jahren geht sie durch die Tür, dur ch die

sie von Franz Xaver Altmann vertrieben wurde

ich: es ist Vaters Initiative

ich: es ist Mutter, die sich bewegen lässt

ich: auf einen Schlag sind die Arbeitslager verschw unden

ich: wir, Mutter, Schwester und ich, treten als Per sonen

auf, die aus keiner Himmelsrichtung niedergebrüllt werden

ich: niemand muss mehr antreten und Meldung machen

ich: niemand muss sich mehr hinter Vorhängen und

Kellertüren verstecken, ja, genügend Lebensmittel u nd

Getränke (Fruchtsäfte!) stehen auf dem Tisch

ich: wir erleben Franz Xaver Altmann eine gute Woch e lang

als begnadeten Heuchler, der die Maske des zivilisi erten

Zeitgenossen vorführt

ich: (um es vorwegzunehmen) der absurde Versuch sch eitert.

Was mich erleichtert. Ich hatte Mutter während der Tage zu

verstehen gegeben, dass ihre Rückkehr zu Vater die Rückkehr

in einen weiteren Albtraum bedeuten würde

ich: ich spreche hier als Autorität, ich habe länge r als

jeder andere (von uns) ihren Mann beobachtet. Ihre

(Mutters) Anwesenheit im Altmann-Haus würde kein Gr amm

Leichtigkeit in unser Leben bringen, im Gegenteil. Vaters

Brutalität würde von neuem, noch brutaler, über ihr e

Schwäche herfallen. Und über uns

-

ich: bald werden Jahreszeugnisse ausgeteilt, zehnte Klasse

und jeder kann nachlesen, dass weder meine Intellig enz noch

meine Disziplin zu größeren Hoffnungen Anlass geben

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ich: Dreier, Vierer, plus der obligatorische Fünfer in

Mathematik

ich: der Klassleiter notiert: „Andreas` weniger gut e

Eigenschaften haben sich nicht wesentlich verbesser t“

ich: Josef wird im Herbst nicht an die Schule zurüc kkehren,

er will Geld verdienen, er hat den Laden satt (und seine

Freundin ist schwanger)

ich: bis zuletzt bewundere ich ihn

ich: er gehört zu der ungeheuren Minderheit jener, die zu

Ungehorsam anfeuern, zum Eigenmächtig-Handeln

-

ich: Ferien mit Mutter auf der Insel Rab

Mütter: ich bin froh, dass unsere Aussprachen gesch eitert

sind

Mütter: nach vierzehn Jahren, nach der Zeugung dein er

Schwester, ist er wieder über mich gekommen

Mütter: mit Hauruck fuhr er in mich hinein und ich war

wieder einmal zu feig, um zu dieser Art Versöhnungs -

Vergewaltigung Nein zu sagen. Bis zum schnellen End e

ich: das Leben auf der Insel tut mir gut. Der Stran d ist

wenig besucht, ohne Massen und lärmende Prollos. Mu tter und

ich sind passable Schwimmer, das Salz trägt unsere Körper.

Für Momente sind wir leicht und gedankenlos. Ich sp üre es

und Mutter sicher auch: Wie anders sich das Leben a nfühlen

kann, wenn keiner im Weg steht, der die Leichtigkei t nicht

aushält

ich: zurück im Altmann-Haus, in dem ein Einsamer wo hnt.

Vier Söhne hat er gezeugt, einer ist tot, zwei sind auf und

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davon und ich, der letzte, komme wieder mit einem

Gesichtsausdruck, den man sich für seine Todfeinde aufhebt

ich: einhundertzweiundsechzig: Fund der Vaterwaffe, Walther

P38, vergraben des Fundes im Wald (Sag, Franz Xaver

Altmann, wie viele Iwans, wie viele Polacken, wie v iele

jüdische Untermenschen hast du damit umgelegt?)

ich: einhundertdreiundsechzigstes Kapitel: Britta, siebzehn

Jahre, schwarzes Haar, Schuhverkäuferin aus Mühldor f

ich: Britta ist wie alle siebzehnjährigen dieser We lt von

ihrer Mutter darüber informiert worden, dass Männer

Schweine sind

ich: mein Geschlechtsleben scheint geknechtet von

Unbeholfenheit, Schuldgefühlen und Ekel. Ob ich ein es Tages

so werde wie mein Vater?

-

ich: (schließlich) jetzt ist es soweit und keine Ma cht auf

Erden kann diesen Tag verhindern

ich: Vaterdämmerung, nach Hunderten von Runden die

Schlussrunde

ich: eine neue Wirklichkeit muss her und sie kommt

ich: gewöhnlicher Tagesbeginn, aufstehen, Schulfahr t,

Arbeitsdienst, Hausaufgaben, siebzehn Uhr weiteres

Antreten, heute Paketdienst

ich: Manfred ist auf Besuch, hilft mir die Pakete i n das

Auto zu laden, randvoll gepackt fahren wir zur Post ,

stellen uns an, warten

Väter: wie wagst du es, erst jetzt zurückzukommen

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ich: seine Hände an meinem Hals, mir wird schwarz v or

Augen, meine Knie schwimmen, ich falle

ich: Manfred versucht noch ihm zu erklären, dass ic h keine

Verantwortung für die Verspätung trage

ich: nichts existiert zwischen Himmel und Erde, was diesen

armen, von Sadismus, Unglück und radikaler Unbelehr barkeit

geschlagenen Mensch besänftigen kann

ich: Manfred, hör auf damit, dieses Arschloch wird es nie

verstehen

ich: nur Hass, nur Rache, nur Messer, nur Vollstrec ker

ich: der unbedingte Wille, dass heute alles ein End e finden

soll

ich: es ist das erste Mal, dass er zurückweicht

ich: meine Totschlaglust

ich: Bilder der Schmach, der Herabwürdigung, der Sc hmähung,

der Misshandlung, Bilder seiner Untaten an Mutter, an uns,

an allen

ich: die Drecksau, mein Vater, das jahrzehntelang

ungestrafte Schwein

ich: ich werde dieses Irrenhaus sofort verlassen

Väter: du kannst jederzeit gehen

ich: Sonne, Blut auf den Lippen, Schweiß, Tränen, F lucht,

Lachen, Schluchzen (vor Glück): ich bin frei

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Die Zeit Entgegen aller Vorhersagen, lässt sich selbst der e hrbarste Bürger, der Kirchengänger, der praktizierende Katho lik, der regelmäßige Steuerzahler, der Kunstverständige, der Theaterbesucher, der Abonnent überregionaler Zeitun gen, der Studierte, der Promovierte, der Publizierte, der Ge fragte, der Meinungsmacher, der Wächter kultureller Werte, der Vater, der Ehemann, der gute Sohn und Schwiegersohn , der schwer zu Provozierende, der Ausgeglichene, der in sich Ruhende, der Erfolgreiche, der gemachte Mann, der Hilfsbereite, zu allen Freundliche, der Überzeugte, der Beständige ohne Weiteres verlocken. Nicht mehr muss man tun, als ihn im Kreis seiner Applausklatscher aufzu suchen

ich: das mag ja alles sein, allerdings erlebe ich d as, was der Herr Altmann hier auf unglückliche Weise erzähl t, als eine geradezu, wie soll ich sagen? mittelalterliche Karikatur. Meine Kindheit ist völlig anders gewesen = anders, anders

ich: viel besser oder was

ich: ja, genau

ich: ich habe eine im Glauben geborgene viel besser e Kindheit erlebt, was erstaunlich klingen mag. Gutes hat es gegeben, Böses, auch Schutzengel

ich: an der Hand meiner Mutter ging ich in die Stad t. Gott sprach als Orangenschale aus einer Mülltonne zu mir

ich: ich war geborgen in einer katholischen Kindhei t, ich habe keine schlimmen Erlebnisse gehabt, überhaupt g ar keine. Mir war klar, dass ich für Kaugummiklauen ni cht in die Hölle geschickt werde

ich: ab einem bestimmten Alter (ich piss mir in die Hose vor Lachen), ab einem bestimmten Alter habe ich den Gedanken an eine jenseitige Gerechtigkeit als erhol sam empfunden, habe ich gedacht, dass es toll ist, dass der wie hieß der doch gleich? für seine Verbrechen in der H ölle schmort, nicht frei davonkommt, jedenfalls habe ich diesen

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Gedanken als einen himmlischen, einen befreienden A usgleich empfunden, ha, ha, ha

ich: als ich älter geworden bin, bin ich älter gewo rden (verstehen Sie?)

ich: der Sabbatgedanke, ausruhen, die Schöpfung bet rachten, an die Königin denken & sich einen runter holen (si ehe Weissner, Manhattan Muffdiver), ist ein sehr christ licher, ein sehr mystischer Gedanke

ich: ich glaube, dass eine mögliche Freiheit in der Messe liegt, im liturgischen Theater. Nehmen Sie mal die Osterfeiern, Zitat Anfang, die Kirche ist verlullt, Gründonnerstag, abends Meese, Karfreitag, nachmitta gs Clock drei, Jesu tot, Samstag neun Uhr, alle sofort raus aus den Betten, vor dem Haus in Zweierreihen Aufstellung ne hmen (das geht auch schneller!), dann dieser Gottesjubel , diese Geilheit, Ostersonntag, Sonntagmorgen, Zitat Ende

ich: es ist eine Emotion, die frei wird. Mein Buch, Anger, Remorse, Fear or Incontinence, beschreibt dieses Ab enteuer

ich: bewerben Sie hier gerade Ihr Buch

ich: Sie haben verrückte Gedanken, Frau Will! Sie k önnen doch nicht ernsthaft glauben, dass ich einfach so i n Ihre Sendung komme

ich: ich lasse Ihnen ein Exemplar da, handsigniert. Es handelt sich übrigens, interessanterweise, das nur mal so nebenbei, um den Spiegelverlag, der mein Buch publi ziert (was sagen Sie nun? sind Sie überrascht?)

ich: achtundsechzig Prozent der Spiegeleier onanieren

regelmäßig, wobei es nur nullkommazwei Prozent der Leser

gelingt, eine Autofellatio durchzuführen. Ich möcht e jedoch

dazu feststellen, dass die Anzahl der Leser, die di eses

zumindest versucht haben, wesentlich höher ist. Zah len dazu

liegen der Redaktion vor und können bei mir käuflic h

erworben werden. Sie kosten fünftausend Euro. Im Üb rigen

bin ich der Meinung, dass die katholische Kirche ei n

Abenteuer ist, ein Abenteuer, das gelebt werden mus s, und

wenn ich hier auf diese Ordensschwester schaue-

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ich: verzeihen Sie

ich: warum?

ich: ich bin offensichtlich hirnwütig geworden

ich: ist nicht schlimm, reden Sie ruhig weiter

ich: verzeihen Sie mein Entgleisen

ich: wissen Sie, ich lasse immer die gleichen Fress en zu mir in die Sendung einladen

ich: weil Sie angepasst sind, obrigkeitshörig

ich: auch, auch, ganz wie Sie es wünschen!

ich: schauen Sie: ich bin ein Gewohnheitsmensch. Pa olo Pinkas, die Schwarzer, Schleyer, Geißler oder eben Sie, ich habe mich gewöhnt, so wie man sich an die Ordnung i n einem Besteckkasten gewöhnen kann, an die Seite, auf der man Schlaf findet, an das Deutschlandlied, die Melodie der Tagesschau

ich: sind Sie ein Idiot

ich: nein, ich bin Matthias Matussek

ich: und wer bin ich?

ich: mein Name ist Andreas Altmann

ich: mein Name ist Andreas Altmann, ich bin geboren am dritten Oktober neunzehnhundertneunundvierzig in Al tötting

Altötting: das fröhliche Städtchen, bekannt für sei ne Einkaufsmöglichkeiten, Bus- und Bahnverbindungen, Wallfahrtsort, lebt vor allem von Erinnerungshandel und Ablass, Kreisstadt zwischen München und Wien, Postkartenidyll, Provinznest, Gnadenort

Vater: Franz Xaver Altmann, alteingesessener Devotionalienhändler, vermögend, intelligent, korru pt, korrumpiert, deutschnational, patriotisch, verbitte rt, feige und opportun

Vatervater: Devotionalienhändler, königlicher Kommerzienrat, Ehrenbürger Altöttings

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Muttervater: Hotelier, „Hotel Post“ (offiziell: „Ho tel zur Post“), erstes Haus am Platz

Mutterbruder: Emanuel, cool, großzügig, elegant, an ziehend weltgewandt, jederzeit hilfsbereit, diskret

Suzanne Ziegler: der Andreas ist ein Eroberer, ein Eroberer nicht nur von Ländern oder Städten oder Orten, sond ern auch von Frauen

Mutter: Elisabeth Altmann, fünfzehn Jahre jünger al s Franz Xaver Altmann, Absolventin der Höheren Töchterschul e, Sprachstudium in Hamburg, keinerlei politisches Int eresse

Stefan: ältester Bruder

Ziegler: er hat eine wahnsinnige Ausstrahlung, er h at eine unwahrscheinliche Präsenz. Schon sein Aussehen!

Manfred: Bruder, Kaufmann, Kraftfahrzeugmechaniker, enges Verhältnis

Ziegler: seine große Statur, seine laute Stimme, se ine Selbstsicherheit, die er an den Tag legt

Perdita: Schwester

berufliche Tätigkeit: schreiben

ich: ich zitiere aus der Sendung Roche & Böhmermann vom achten vierten nullzwölf und zwar Wort für Wort. Bi tte William Cohn!

ich: Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend heißt das zweitausendelf erschienene Buch des dreiundsechzigj ährigen Schriftstellers Andreas Altmann, in dem der ungeler nte Dressman, Gärtner, Taxifahrer, Schauspieler, Kellne r, Anlageberater und Postsortierer seine schlimme Sche ißjugend in der bayrischen Provinz verarbeitet. Fünfzehn veröffentlichte Bücher und fünf erwähnenswerte Prei se zählt Wikipedia auf der Habenseite des kernigen Literaten . In der Hülle des fahlblonden Reisereporters Andreas Altman n wohnt ein übermächtiges Ego, das macht, dass Altmann Ding e sagt, wie: Das Schreiben hilft mir nicht aus der Welt zu fallen. Wie poetisch!

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ich: ich bin kein Romancier. Ich liege nicht im Bet t wie mein Kollege Göthe (und ein Riesenplot ist in meine m Kopf und dann fange ich an den Riesenroman zu schreiben, den Reich Ranicki von mir erwartet)

Ziegler: der Andreas ist ein Eroberer

ich: ich bin Reporter, ich muss raus in die Welt, m uss mir die Dinge zumuten

Inka Schneider: so einfach nur am Strand herumliege n und Urlaub machen können Sie wohl nicht

Ziegler: überhaupt glaube ich, dass der Andreas die Frauen am Schluss enttäuscht zurücklässt, weil er einfach nicht in der Lage ist-

ich: das Schönste ist das Reisen, das zweitschönste ist der Griff zum Pass = ich darf wegfahren

Ziegler: -weil er einfach nicht in der Lage ist, ei ne Beziehung über eine längere Zeit zu pflegen

ich: Beziehungen, ja

ich: tja

ich: tja, ja

ich: also, die germanische Einehe, das Urmodell, da s es auch bei den Franzosen gibt, das es überall auf der Welt gibt, das, glaube ich, ist nichts für mich

Michael Stührenberg: ich habe nie davon gehört, das s Andreas eine feste Freundin hat, die gleichzeitig s eine einzige Freundin ist

ich: ich bekomme ja keinen Ausschlag, wenn emotiona le Nähe entsteht. Es gibt da dieses wunderschöne Wort von P etrarca: Die Liebe reitet auf dem Pferd des Todes

Stührenberg: Andreas, und ich glaube nicht, dass da s ein Geheimnis ist, hat immer viele Beziehungen parallel laufen

Ziegler: mir kommt manchmal die Wut über diese elle nlangen Sätze und dieses Übertriebene, was er gelegentlich an den Tag legt

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ich: eigentlich ist das das große Glück: Die meiste n denken, ich sitze als verkrüppeltes, zerknittertes Männchen in Paris und beiße mir jeden Tag die Fingernägel ru nter, weil ich es nicht zur deutschen Einehe geschafft ha be

Ziegler: diese ständigen Zitate, die er zu jeder Le benslage parat hat, die gehen jemanden, der alles liest und ihn kennt, (irgendwann) total auf den Wecker

Stührenberg: wenn es nur eine Sache gibt, für die e r mich bewundert, dann ist es meine ziemlich gewöhnliche Fähigkeit, mit Begeisterung Vater zu sein

ich: nein! ich kann nicht, basta! Es scheint ja so zu sein, dass es das nicht gibt, dass einer nicht kann

ich: nein! ich lebe wahnsinnig gerne und Deutschlan d kann auch ohne meine deutschen Kinder leben

Schneider: ich möchte nochmal auf Ihren Vater zu sp rechen kommen

ich: mein Vater war natürlich ein SA- und SS Mann, er kam verwahrlost aus dem Krieg zurück. (Ich denke), das spricht für ihn. Ein Mensch, der töten muss und jeden Tag A ngst hat, dass er selber getötet wird, muss ja den Verst and verlieren

Schneider: hassen Sie Ihren Vater?

ich: heute hasse ich ihn nicht mehr, heute sehe ich , wie ein Mensch mit solchen Anlagen sein Leben vergeigen kann

ich: ein Filmschauspielergesicht, die Haare nach hi nten gewellt, ein nachlässiges Lächeln, ein Beau, ein Ma nn, ein notorischer Gutausseher

ich: der dreißigjährige besaß ein Pferd, ein Haus, ein Motorrad, ein Segelflugzeug und einen Sportwagen na ch eigenen Entwürfen, einen Prototypen, ein Einzelstüc k nur für ihn allein

ich: ich vermute, er gefiel den Frauen, ich vermute er dachte, sie und die Welt gehörten ihm

ich: Vater hatte in seiner Jugend Zeugnisse hingele gt, die für eine fulminante Akademikerkarriere gereicht hät ten

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ich: (nur) der Konjunktiv verweist auf den Haken. S ie hätten gereicht: wenn

ich: wenn Vater einen anderen Vater gehabt hätte, w enn Vater die Kraft gehabt hätte, sich diesem Vater und dem von ihm verabreichten Unglück zu entziehen

ich: wenn er nicht so ein Schwächling gewesen wäre, für den Geld ausgeben aufregender war, als sich hinzustelle n und Nein zu sagen

ich: hätte er bloß Nein gesagt zu einem Beruf, der ihn (unterbrochen von sechs Jahren Soldatenleben) kränk te, der jeden gekränkt hätte, der damit in Berührung kam

ich: es war diese Tätigkeit, die alles Erfreuliche an ihm verbittern ließ: seinen Charme, sein Hirn, seine mu sische Begabung

ich: (Vater) war der erste Mensch, bei dem ich vers tand, dass Attraktivität und Klugsein nicht reichen, um n icht abzustürzen in ein gnadenlos banales Schicksal. Irg endeine Kraft muss dazukommen, etwas rücksichtslos Stolzes, was keine Kompromisse duldet und sich mit einer kühlen Handbewegung über die Träume der Väter hinwegsetzt.