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Das Symbol der Flamme

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Nr. 45

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Das Symbol der Flamme

von Arndt Ellmer

Im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung - das dem Jahr 4812 alter Zeit

entspricht - befindet sich der relativ unsterbliche Arkonide auf einer verwegenen

Mission. Atlan ist in die Intraweit vorgestoßen, um ein Mittel gegen die unheimlichen

Lordrichter zu finden: den Flammenstaub. Nach wie vor bedrohen diese mit ihren

Truppen mehrere Galaxien. Gleich zu Beginn seiner Odyssee durch die gigantische

Hohlwelt gerät der Arkonide an Peonu, einem Diener der Chaotarchen. Dieser raubt

ihm einen Teil der Seele und kettet dadurch ihrer beiden Schicksale aneinander. Peonu

lässt den Arkoniden ziehen - er weiß, dass jener ihm fortan verpflichtet sein wird.

Altan durchreist weiterhin die Intraweit mit Jolo und Tuxit, noch immer in der

Hoffnung, den Flammenstaub in seinen Besitz zu bekommen. Als sich der Rhoarxi Tuxit

endlich seiner wahren Bestimmung stellt, erfährt der Arkonide die wahre Geschichte

vom SYMBOL DER FLAMME...

Atlan Arndt Ellmer 2 Das Symbol der Flamme

Die Hauptpersonen des Romans:

Atlan - Der Arkonide kommt seinem Ziel einen bedeutenden Schritt näher. Tuxit - Ein Rhoarxi folgt seiner Bestimmung. Uquart - Als Oberster Brüter trägt er die Verantwortung. Jolo - Das Echsenwesen kämpft nicht nur einmal um sein Leben,

1.

Todeshauch Der Vierzackkamm des Brüters spiegelte sich im Vorhang aus Wassertröpfchen als zuckender Schatten, schlug mal nach links, mal nach rechts, hüpfte seine grotesken Rhythmen über dem dunkelorangefarbenen Schnabel. Sein Hautlappen wedelte dunkelrot wie ein Segenstuch hin und her, dabei sog er immer mehr Feuchtigkeit auf und wurde immer schwerer. Schließlich erzeugte er klatschende Geräusche, die den Brüter aus seinen Gedanken rissen, ihm den Blick für die Farben und Formen der Umgebung zurückgaben und den frischen Gegenwind über der Stadt spüren ließen. »Brüte und hüte«, flüsterte der Dhedeen an seinem Nacken, der Prototyp eines neuen Modells, ein Fleisch gewordenes Kunstwerk aus den Werkstätten der Bio-Architekten. »Brüte und hüte.« Uquart, Oberster Brüter seines Stammes, wetzte den Schnabel an den Krallen seiner Arme. »Brüte und hüte«, sprach er dem Winzling nach. »Und hüte dich vor den Gefahren aus der Vergangenheit.« Lange waren sie unterwegs, unzählige Generationen schon auf dem Rücken des Potistas, in seinem Innern, zwischen kunstvoll geschnitzten Bauwerken, erdacht von den genialsten Rhoarxi, die jemals existiert hatten. Nie hatte ein Volk mehr Genialität bewiesen als bei der Erschaffung dieses lebenden Organismus Aspoghie - Stadt der Brüter, Stadt der Hüter, Hort des Stammes, Hort des Staubes und Gefängnis der Flamme. Tausend andere Dinge geschahen in Aspoghie. An jeder Ecke, in jeder Gasse, auf jeder Etage walteten die Begnadeten, schufen neue Werke und Rekorde im Nebenhaus, dem Labor der Retorte. Und er stand in diesem Augenblick hier oben im Horst, blickte hinab auf das

geschäftige Treiben. Potista als Stadt, Potista als Land, Potista als Parzelle - war das Zukunft auf die Schnelle? Uquart gluckerte im Kehlsack. ein leises, zögerndes und fragendes Geräusch. Alles war so ruhig und beschaulich in dieser Drangzeit der Kreativität und Erfindung, alles wirkte friedlich und angenehm. Seine Rhoarxi spazierten durch die Stadt, genossen das Leben, gingen ihren Tätigkeiten nach, in denen sie alle ihre Triebe auf so hervorragende Weise auslebten. Nein, halt! Das Gluckern erstarb. Über allem lag ein dicker Teppich, ein

unsichtbarer Nebel, der schwer auf ihrem Gefieder lastete. Viel schneller als früher alterte es, bildeten sich blanke Stellen. Die Zahl der Rhoarxi in Dauermauser schnellte mit jeder neuen Parzelle beängstigend

in die Höhe, und das nicht nur in Aspoghie, sondern auch in den beiden anderen Städten. Wandern als des Rhoarxi Lust - vielleicht hatte es einst gegolten, als sie angefangen hatten, die Intrawelt zu bauen. Vielleicht auch später noch, als sie mit den Städten auf Wanderschaft gegangen waren. Aber heute? Glich es nicht eher einer Flucht vor sich selbst, was sie taten? Diese ewige Geschäftigkeit, selbst noch im Schlaf? Er als Oberster Brüter bemühte sich, seinem Stamm in allem ein Vorbild zu sein. Eine schwere Bürde, die auf ihm lastete. Keine Nacht konnte er ruhig und voll durchschlafen. Oft genug wachte er mit verklebten Federn auf und sah dann aus wie ein gerupfter Habernasch-Dürrer. Sorgenvoll klickerten seine Augen, schwere Zeiten kamen auf Aspoghie zu. Wann hatte das. Gift begonnen, ihn langsam zu vergiften?

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Die Antwort kannte er aus vielen Gesprächen mit den Impostoren. Noch nicht lange war es her, keine Generation. Seither fühlte Uquart sich nicht mehr als Hüter des Flammenstaubs, allenfalls als Verhüter der Flammenhölle. An jenem Tag, als der auserwählte Träger des Flammenstaubs ihnen den Rücken gekehrt hatte, waren die Aspoghies gegen eine Mauer gerannt und hatten sich die Schnäbel eingedrückt. Sollten sie ihn etwa dafür lieben, den Verräter und Feigling, dessen Namen die meisten nur hinter vorgehaltener Kralle aussprachen? Tuxit, der vielen Rhoarxi den Tod gebracht hat.

2. Aura der Macht

Die Welt hielt den Atem an, jede Bewegung war eingefroren. Die Zeit schien stillzustehen. Ich starrte die Statue vor mir an, ein gemeißeltes Abbild von der Schnabelspitze bis zum Blümchen. Die Halskrause besaß ein Volumen, wie ich es bisher noch nie bemerkt hatte. Sie leuchtete in allen erdenklichen Farben, vielleicht ein Alarmsignal. Oder aber das Gegenteil. In dem orangefarbenen Gesicht zogen sich zwei dunkle Spuren von den Augen bis zum Halsansatz. Tränenspuren! Tuxit weinte noch immer. Nach schier endlosen Augenblicken fiel die Erstarrung von mir ab. Ich rang nach Luft. »Du ...«, kam es mir stockend über die Lippen, »du bist ein ...« »Wenn ich es genau nehme, bin ich auch jetzt noch ein Hüter des Flammenstaubs. Aber jene Zeit, als ich den Flammenstaub in Empfang nahm, liegt sehr lange zurück.« Ich konnte es noch immer nicht richtig fassen. Tuxit, der Avoide, den ich aus der Leibeigenschaft des Proporzen befreit hatte und der mir ein meist stiller, aber nützlicher und aufmerksamer Gefährte auf unserem Weg durch die Parzellen der Intrawelt gewesen war, entpuppte sich plötzlich als Heimlichtuer.

»Du bist ein Rhoarxi!«, brachte ich endlich einen vollständigen Satz hervor. Sein Hals zuckte zurück. Über den Hackschnabel hinweg musterte er mich. »Vom Stamm der Aspoghies, ich sagte es bereits. Mein Volk hat die Intrawelt erbaut und tut es immer noch.« Jolo an meiner Seite blickte verständnislos. Mir selbst blieb für einen Moment die Luft weg. »Die begnadeten Baumeister, die ihre Spuren auf vielen Welten Dwingeloos hinterlassen haben ... «, murmelte ich wie im Selbstgespräch. Was hatte Kartnich gesagt, der verrückt gewordene Erbauer des Hospizes, bevor er gestorben war? Seine Worte hämmerten in mein Bewusstsein, als wollten sie Haken für die Ewigkeit einschlagen. »Warum«, hatte der uralte Anstize mit brüchiger Stimme zu mir gesagt, »hast du mir diese Fragen gestellt? Weshalb bist du extra zu mir gekommen, wenn du ohnehin jemanden bei dir hast, der sie dir viel besser beantworten kann?« Ich hatte ja keine Ahnung! Wie hätte ich es auch ahnen sollen? Jetzt versuchte ich mit aller Macht, meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Es gelang mir nur teilweise. Da hatte ich mich aufgemacht, Flammenstaub aus der Intrawelt zu besorgen. Mühselig war ich von Parzelle zu Parzelle gewandert, immer auf der Suche nach Puzzleteilchen, die mich ans Ziel brachten. Und die Lösung für meine Aufgabe stapfte fast die ganze Zeit auf ihren dicken schwarzen Laufvogelbeinen neben mir her - und das, ohne ein Wort zu sagen! Er hat triftige Gründe dafür!, warf mein Extrasinn ein. Bestimmt sogar jede Menge. Hoffentlich sind sie gut genug, dass ich ihm nicht seinen Hals mit dem mauserigen Gefieder umdrehe!, gab ich lautlos Antwort. Rhoarxi! Ziemlich früh nach unserer Ankunft in Dwingeloo hatten wir von diesem alten Volk gehört, das auf etlichen Welten gewaltige Ruinenanlagen hinterlassen hatte, teilweise ganze Monolith-Städte. Das war nach der in

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Dwingeloo geltenden Zeitrechnung vor 1,1 Millionen Jahren geschehen. Im Zusammenhang mit diesem geheimnisvollen Volk war auch immer wieder der Begriff »Kathedrale von Rhoarx« aufgetaucht. Doch niemand wusste, was damit gemeint war. Inzwischen lichteten sich die Schleier über dem Geheimnis der Vergangenheit. Ich wusste nun, dass die Rhoarxi noch existierten und die Erbauer des gigantischen Gebildes namens Intrawelt waren. Eine Welt mit einem Durchmesser von einer Lichtsekunde oder 300.000 Kilometern, die alles in den Schatten stellte, was Lebewesen mit eigener Hand und aus Metall gefertigt hatten. Das waren keine simplen Steingebäude wie die Ruinen auf Alarna. Die Intrawelt, war sie die Kathedrale, in die sich die Rhoarxi damals zurückgezogen hatten? Galten sie deshalb als ausgestorben? Nach einem flüchtigen Blick auf die beiden Anstizen und ihren toten Artgenossen wandte ich mich an Tuxit. »Du bist uns nicht nur eine Erklärung schuldig.« Der Rhoarxi ging nicht darauf ein. »Ich habe mich lange genug vor der Verantwortung gedrückt, Atlan. Es ist Zeit, heimzukehren. Ich will mich endlich meinen Verpflichtungen stellen.« Er wiederholte in anderen Worten, was er kurz zuvor schon einmal gesagt hatte. Er will dir etwas begreiflich machen, flüsterte der Extrasinn. Hinter seinen Worten steckt ein Schicksal. Die zusammengenähten Flügel, sein Aufenthalt in der Ferne ... Mochte er meinetwegen ein Ausgestoßener sein, ein Flüchtling, der gegen die Gesetze seines Volkes verstoßen hatte, oder ein Schwerverbrecher, den sie am höchsten Pfosten ihrer Parzelle aufknüpfen würden. Es spielte keine Rolle bei dem, was mich bewegte. Der Flammenstaub! Das einzige Mittel gegen die Lordrichter! Das Elixier für eine friedliche Zukunft! Welche Gefahr die Lordrichter für die Zukunft vieler Galaxien

bedeuteten, konnten sich vermutlich nicht einmal die Rhoarxi vorstellen, schon gar nicht in der Isolation der Intrawelt. »Wir brechen auf«, sagte Tuxit in diesem Augenblick. »Ich will keine Zeit verlieren.« Nichts war mir lieber als das.

* »Halt!«, kreischte Jolo plötzlich. »Atlan, er will das Ding bewegen. Und was passiert dann?« »Ich schließe alle Tore des Hospizes«, hallte die Stimme des Rhoarxi durch den Raum. »Damit die Gefahr beseitigt wird, die Kartnich heraufbeschworen hat.« Er winkte mit der Hand, die im Cueromb steckte. Überall in den transparenten Farbflächen des Bauwerks erloschen blinkende Felder, verwandelten sich Fallen in harmlose Übergänge. »Wo ist der Hinweispfeil zur nächsten Speisekammer?« Niemand beachtete Jolo. Schließlich zog er sich mit einem Murren bis in den hintersten Winkel des Raumes zurück. Tuxit wandte sich an die beiden Anstizen Prielsnig , und Eggober. »Kümmert euch um den Toten. Sorgt für ein würdevolles Begräbnis. Die Nachwelt soll wissen, welch ein begnadeter Architekt er war. Eine große Zukunft hätte ihn erwartet, wenn ...« Er brach ab. »Ich werde dafür Sorge tragen, dass euer Volk Hilfe erhält. Es kann nicht sein, dass Wesen, die mit ihrer Aufgabe derart stark verbunden sind, darunter leiden oder daran zugrunde gehen.« Ich horchte auf. Es lag weniger an den Worten, die der Dhedeen auf meiner Schulter übersetzte, sondern wie er es sagte. Die Art und Weise, wie Tuxit sprach, unterschied sich von dem, was wir von ihm kannten. Gleichzeitig nahm er eine andere. Körperhaltung an, benutzte eine andere Gestik und Körpersprache. Aber da war noch etwas anderes. Ich empfand es, ohne es genau beschreiben zu können. Der Rhoarxi verströmte übergangslos eine Kraft, die jeden um ihn

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herum in ihren Bann zog. Jolos Flucht in die hinterste Ecke erhielt eine völlig neue Dimension. Am deutlichsten war die Wirkung auf die Anstizen. Ihre Körper platteten sich oben und unten sichtlich ab. Ich interpretierte es als ein Ducken unter dem Eindruck der Autorität des Rhoarxi. Ich blinzelte. Tuxits Körper veränderte sich. Oder war es nur Einbildung? Er wuchs oder blähte sich auf. Irgendetwas entstand in seinem Innern, wurde immer größer. Unwillkürlich machte ich ein paar Schritte zurück, um den Rhoarxi besser betrachten zu können. »Was tust du denn da?«, fragte ich ihn. Er gab keine Antwort. Seine Augen traten für ein paar Augenblicke wie unter einer starken Anstrengung aus dem Kopf. Die Farbe der Halskrause schwankte zwischen Dunkelgrau und Hellblau - ein Ausdruck des Wandels oder der Verunsicherung? Meine schulterlanges Haar fing an zu knistern. Ich spürte jede einzelne Strähne, wie sie unter dem Eindruck plötzlicher Schwerelosigkeit nach oben driftete. Mir standen sprichwörtlich die Haare zu Berge. Wäre die Situation nicht so verdammt ernst gewesen, hätte ich vermutlich gegrinst. So aber winkelte ich die Knie leicht an, schob die Schultern nach vorn und nahm die Arme seitlich an den Körper, um mich im Ernstfall möglichst schnell auf den Rhoarxi werfen zu können. Wovor hast du Angst?, spottete der Extrasinn. Was immer dich erwartet, du brauchst es, um das Universum zu retten. Starker Druck legte sich auf mein Bewusstsein, wie ich es von Hypnos und Suggestoren her kannte. Allerdings schloss ich ein solches Phänomen in diesem Fall aus. Meine Mentalstabilisierung widerstand herkömmlichen parapsychischen Kräften problemlos. Das hier war anders. Es handelte sich auch mehr um einen optischen Eindruck, fast schon eine Halluzination und dennoch ausgesprochen real. Ich spürte etwas Lebendiges, das im Körper des Rhoarxi wuchs und sich innerhalb weniger Augenblicke über ihn

hinaus ausdehnte. Eine dunkelblaue, alles verbrennende Flamme, die aus Tuxits Leib hervorwuchs - das war es. Sie manifestierte sich, während gleichzeitig ein Nebel aus flirrendem und glänzendem Staub ihn umschwirrte, sich zu einem Mantel erweiterte und ansonsten wirkungslos blieb. Aber dieser Eindruck, den ich empfand und den die Anstizen und Jolo in viel stärkerem Maß erfuhren, war genug. Er reichte aus, um in mir das bisher unterdrückte Fieber zu wecken. Ich musste das Phänomen unbedingt bändigen, es einfangen, einen Teil davon in meinen Besitz bringen... Von wegen »früher einmal«, stellte der Extrasinn fest. Tuxit trägt den Flammenstaub in sich. Er ist nach wie vor ein Hüter und vermutlich einer der Mächtigen seines Volkes. Als Sklave eines Nomaden?, hielt ich ihm entgegen. Das wäre vergeudete Zeit. Der Gedanke an eine Intrige drängte sich auf, die zu seinem Abschied oder seiner Flucht geführt hatte. In der derzeitigen Situation hielt ich das allerdings für zweitrangig. Etwas anderes war weitaus wichtiger für mich. Was hatte die Rhoarxi in die Isolation getrieben? Kannten sie ihre eigene Vergangenheit und die Bedeutung ihres Versteckes noch? Und vor allem, wie groß waren die Mengen Flammenstaub, die sie besaßen? Um Antworten auf all diese Fragen zu bekommen, mussten wir Tuxit zu seinem Volk begleiten und gleichzeitig versuchen, ihm immer wieder Antworten zu entlocken. »Wir« war vielleicht ein wenig übertrieben. Jolo eignete sich gut als Gesprächspartner, wenn es ums Essen ging. Aber vielleicht ließ er sich von mir so weit beeinflussen, dass er Ablenkungsmanöver zustande brachte und ich den Rhoarxi überrumpeln konnte.

* Tuxit hantierte am Cueromb. Wir folgten den beiden Anstizen, die ihren toten

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Artgenossen in seine Schwarzkammer schoben und diese abtransportierten. Das Hospiz war zur Ruhe gekommen, als habe man die Maschinen abgeschaltet, die den Albtraum erzeugt hatten. In traumwandlerischer Sicherheit führte uns Tuxit durch das Labyrinth. In ihrer gleichmäßigen Ausleuchtung wirkten die Korridore und Räume jetzt harmlos. Sie hätten in jedem beliebigen Gebäude oder Raumschiff liegen können. Vor einer großen Halle, die an einen Hangar erinnerte, trennten wir uns von den beiden Anstizen. Ich sagte ihnen Lebewohl. Wir würden ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht wieder begegnen. Eine innere Stimme ließ mich wissen, dass ich dem Ziel meines Vorstoßes so nahe war wie nie zuvor. Die Tage meines Aufenthalts in der Intrawelt waren ab heute gezählt. Wir betraten die Halle. Täuschte ich mich, oder schrumpfte die Hülle aus flirrendem Staub, die den Rhoarxi umgab? Aus dem Hintergrund näherte sich eine Lastenplattform auf Antigravbasis. Tuxit sprang auf. Ich folgte ihm in dem festen Vorsatz, dieses Wesen keinen Augenblick mehr aus den Augen zu lassen. »Ich gehe keinen Schritt weiter, wenn ich nicht etwas zu essen bekomme!«, protestierte Jolo. Ich beachtete ihn nicht. Die Plattform setzte sich in Bewegung, er kletterte hastig über den Rand und postierte sich in der Mitte. Vielleicht gab es dort ja ein Schild, auf dem »Schmollwinkel« stand. Tuxit räusperte sich. »Essen kannst du, wenn wir am Ziel angelangt sind.« Der Rhoarxi sagte es in dem sattsam bekannten Tonfall der Bescheidenheit, die er in den letzten Wochen permanent an den Tag gelegt hatte. Ich musterte ihn intensiv. Die Aura um ihn herum war verschwunden, mein Empfinden einer gewaltigen Macht in und um seinen Körper ebenfalls. Der Dhedeen auf meiner Schulter machte sich klein, als Tuxit das Fahrzeug rasant beschleunigte und uns der Fahrtwind um die Ohren pfiff.

Der Rhoarxi schien sein Ziel genau zu kennen. Er lenkte die Plattform durch eine breite Tür, die sich am hinteren Ende der Halle öffnete. Ich musterte die Umgebung, suchte vergeblich nach Anzeichen, ob wir uns noch im Hospiz befanden oder schon draußen in der Bodenwelt. Anstizen begegneten uns. Sie wichen uns unter wechselnden Deformationen aus, bezeugten auf diese Weise ihre Hochachtung gegenüber dem Rhoarxi. Das waren gewachsene historische Verhaltensregeln aus ferner Vergangenheit. Rhoarxi hatte man in den Parzellen der Intrawelt schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, sonst wäre es einem Proporzen wie Luck nie in den Sinn gekommen, Tuxit als seinen Sklaven zu halten. »Wo genau liegt dein Ziel?«, fragte ich Tuxit nach einer halben Stunde. Wir rasten durch die Bodenwelt mit ihren wimmelnden Baustellen, wichen unzähligen Transporten aus und kamen in der Nähe einer Öffnung vorbei. Einen flüchtigen Augenblick lang sah ich tief unter uns den Schimmer der Membran, die das Normaluniversum von der Intrawelt trennte. Der Rhoarxi gab mir keine Antwort. Stattdessen verspürte ich einen leichten mentalen Druck, den ich auf den Flammenstaub in seinem Körper zurückführte. Es war nicht die feine Art, mich von meiner Neugier zu heilen, und ich sah keinen Grund, mich auf diese Weise ins Bockshorn jagen zu lassen. »Du willst zu deinem Volk und weißt den Weg nicht?«, versuchte ich es nach einer Weile erneut. Er reagierte ein wenig ungehaltener, aber dennoch sanft. Und schwieg. Ich verständigte mich mit Jolo durch ein paar Gesten. Der Kleine verließ seinen »Schmollwinkel« und schlich sich von hinten an Tuxit heran. »Willst du wirklich meinen Tod riskieren?«, rief er, hüpfte auf die Steuerkonsole der Plattform und produzierte ein Kindchengesicht, bei dem

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selbst ein Massenmörder Gewissensbisse bekommen hätte. »Bitte etwas zu essen, großer Tuxit. Du weißt doch, wie weh das da drinnen tut. Das Loch wird immer größer.« Tuxit kannte das, es glitt an ihm ab. Er wusste auch, dass Jolo die meisten Probleme bei der Verdauung hatte, nicht beim Fasten. Der verlegte sich aufs Betteln. Mitten in sein Gejammer sagte ich: »Lass es gut sein, Kleiner. Bis wir die Parzelle der Rhoarxi erreichen, wirst du es schon noch aushalten! « Etwas stach in meinen Kopf, erst schmerzhaft, dann leise, als sei der Verursacher über die Wucht des Ausbruchs selbst erschrocken. Volltreffer!, gratulierte der Extrasinn. Die Rhoarxi oder zumindest die vom Aspoghies-Stamm leben also in einer Parzelle. Mit Ausnahme der Anstizen kannte vermutlich niemand in der Intrawelt ihr Aussehen. Die Parzelle lag höchstwahrscheinlich in einer Gegend, wo nicht einmal die Nomaden hinkamen. Schätzungsweise zwei Stunden vergingen, bis Tuxit den Kurs der Plattform änderte. Er lenkte sie nach oben, der metallenen Decke der Bodenwelt entgegen, über der die Parzellen der Intrawelt lagen. »Bei allen Schutt- und Schrotthalden dieser Welt!«, pfiff Jolo erschrocken. »Gleich gehört dieses Fahrzeug dazu.« »Unterlasst alle weiteren Versuche, mich in meiner Konzentration zu stören«, zischte der Rhoarxi. Er wirkte nervös und verärgert. Ein paar Atemzüge lang sah es tatsächlich so aus, als würden wir an der Decke zerschellen. Jolo schrie, hüpfte von der Konsole und klammerte sich an eines der dicken Vogelbeine. Im letzten Moment entstand eine Öffnung, doppelt so groß wie die Plattform. Das Fahrzeug schoss aufwärts in eine dunkle Röhre, deren Länge ich auf ungefähr fünfhundert Meter schätzte. Von oben drang Licht herab. Ungefähr zwei Minuten dauerte es, dann tauchte die Plattform wie aus einem

Brunnen in das Tageslicht auf und ging in Horizontalflug über. Kalter Wind fegte über uns hinweg. Links lag eine Gondelstation mitten im ewigen Eis. Drum herum spitzten gewaltige Schneeberge in die Höhe, eingerahmt von einem Meer aus Eisspeeren. Der Gondelstation fehlt der Schutzschirm!, stellte der Extrasinn fest. Ich schwieg. Tuxit wusste besser als ich, wie er diesen Umstand beurteilen sollte. »Wenn ich nicht schnell etwas zu essen bekomme, halte ich diese Kälte keine hundert Atemzüge durch«, jammerte Jolo. »Dies ist die Parzelle Frozenhaim!« Tuxit setzte zur Landung an. In diesem Augenblick traf ein Schlag die Plattform.

3. Flammenstaub-Schock

»Dreizehn Prozent«, schnabelte Leloykoss, »das schaffen wir in einem einzigen Arbeitsgang.« Uquart sah ihm zu, wie er den Dhedeen streichelte,, kurz seine Schwanzfedern festhielt und dann mit einem schnellen harten Ruck mehrere davon ausriss. Das kleine Wesen merkte nichts davon, es dämmerte in tiefer Narkose vor sich hin. Aus seinem Kopf ragten Elektroden, zwischen denen die Metallplatte der Schädelelektronik leuchtete. »Dreizehn Prozent sind zu wenig.« Uquart war überzeugt, dass der Wissenschaftler aus dem Neonturm ihn letztes Mal falsch verstanden hatte. »Dreiundzwanzig sollen es sein.« »Dreiundzw... Gut, das ist auch kein Problem. Gib mir ein paar Assistenten mehr, und wir präsentieren dir das Ergebnis in zwei Tagen.« »Sobald Aspoghie die Parzelle Nabuzym verlässt und in eine wenig nährstoffreiche Zone vordringt, solltest du fertig sein.« »Du bist der Oberste Brüter, und weil du es sagst, soll es so geschehen. Und zwar bevor, die nächste Brut schlüpft.« Uquart steckte die Anzüglichkeit wortlos weg. Er nahm sie als Ausdruck des

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Wohlbefindens, außerdem hatte er in den letzten Tagen tatsächlich wenig für die kommende Brut getan. Als Oberster Brüter saß er zwar nicht auf Eiern, aber seine vornehmste Pflicht stellte immer noch die Pflege der zahlreichen Artgenossinnen in ihren Nestern dar. Außerdem musste er sich dringend um die Desinfektion des Horstes kümmern für den Zeitpunkt, wenn die Eier aus ihren Brutkammern hinaufgebracht wurden, wo sie die letzten Tage unter den Federn einiger Glucken brüteten und schließlich unter dem aufmerksamen Blick des Obersten Brüters schlüpften. Horstgeborene hatten früher immer ein wenig von oben herab auf andere geblickt, bis das Gesetz erlassen worden war, dass alle Rhoarxi der Stadt das Licht im Horst zu erblicken hatten. Es sei denn, sie schafften es nicht rechtzeitig bis Aspoghie. Initiator des Gesetzes war der Feigling gewesen, dessen Namen Uquart ganz schnell aus seinem Gedächtnis strich. Er machte sich dafür lieber auf in die Experimentalkammern, wo zwischen wogenden Tischen und silizialen Werkzeugen die ersten optimierten Teile des neuen Wächtermodells wuchsen. Auf Teph sollte möglichst bald Tepher folgen. Außerdem trug sich Uquart mit dem Gedanken, der Außenstation auf dem vorgelagerten Asteroiden zusätzliche Sicherungssysteme zu verpassen, einen ganzen Kordon von Fallen etwa, die es Ankömmlingen je nach ihrer Befähigung und Eignung erschwerten, bis in die eigentliche Station vorzudringen. Intrawelt-Tourismus durfte es nicht geben, wie es ihn in der Vergangenheit auch nie gegeben hatte. Aber es waren viel zu viele Völker und mit ihnen auch Organismen hereingekommen, die hier nichts zu suchen hatten oder sich zu einem Problem für alle anderen Populationen entwickelten. Hier lag es an den Rhoarxi, korrigierend einzugreifen und die Weichen für die Zukunft richtig zu stellen. Uquart war sich durchaus bewusst, dass es nach all den Jahrhunderttausenden immer

schwieriger wurde, die expandierende Biosphäre Intrawelt unter Kontrolle zu halten. Bisher hatte es einigermaßen funktioniert, wobei die Geschichtsschreibung nicht unbedingt lückenlos zu nennen war. Die Rhoarxi der heutigen Generationen nahmen es als Hinweise auf dunkle Flecken in der eigenen Geschichte und der ihres größten Bauwerkes, der Intrawelt. »Leloykoss verbessert die Molekularstruktur der Dhedeen«, empfing Dhaomer den Obersten Brüter. »Dadurch benötigen sie deutlich weniger Blut als Nahrung, werden von ihren Wirten freundlicher aufgenommen und gepflegt. Ähnliches planen wir mit dem neuen Wächtermodell. Es soll kräftiger sein, gleichzeitig wendiger.« »Ich werde mit den anderen Brütern sprechen.« Uquart schickte sich an, den Labortrakt zu verlassen. »Vielleicht führen wir einen regelmäßigen Wachwechsel ein. Jeder Wächter, der zurückkehrt, erhält ein neues Gedächtnismodell, denn das alte nimmt beim Abstieg meist Schaden.« Und natürlich auch beim Aufstieg, dachte er. Aber dafür hielten die Wissenschaftler inzwischen einen Kopfschutz bereit, der ähnliche Eigenschaften besaß wie die Membran der Intrawelt. Der Unterschied bestand hauptsächlich im Material, aus dem er gefertigt wurde: Potista. »Lass es mich wissen, sobald Tepher seine ersten Tests absolviert«, sagte er zum Abschied, dann nahm ihn das Gewusel von Künstlern und Baumeistern wieder auf, das Tag und Nacht die Nebenstraßen am vorderen Ende der Stadtmauer erfüllte. Hier trafen sich die Intellektuellen unter den Rhoarxi, denn hier gab es die beste Aussicht und das beste Schaumeiweiß mit Honig. Für ein paar Augenblicke ging der Oberste Brüter wie auf Federn durch die Gassen, vertraute sich den schwankenden und sich ohne Vorwarnung in die Breite ziehenden Gehwegen an. Aspoghie hatte wieder einmal einen Engpass in der Landschaft hinter sich gebracht, und jetzt bewegten

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sich die Dehnungsfugen, weil die Stadt ihre alten Maße wiederherstellte. Kluge Impostoren und kluge Baumeister, dachte Uquart. Es war kein Wunder, dass eine solche Stadt nie genug Kapitäne haben konnte.

* Übergangslos holten ihn am Fuß des Turmes die Probleme wieder ein. Erst war es nur ein leichter Geruch, der von der Nähe eines Sterbenden kündete. Dann fand der Oberste Brüter die ersten Folien mit eingegrabenen Schriftzeichen, das Vermächtnis eines alten Architekten. Uquart las es, und je mehr Spalten er von oben nach unten durchstreifte, desto stärker schnürte ihm die Beklemmung seinen wohlgefälligen Leib ein. Der alte Mann hieß Jasbadag, und am Ende seines Lebens hatte er nichts Besseres zu tun, als dem Volk von Aspoghie die Eierschalen zu öffnen. Ja, er tat gut daran, auch wenn Uquarts Schnabel bei jeder Wortfolge härter knirschte und er nicht mehr auf den Weg achtete. An der achten Kehre des Wendelgangs trat er ins Leere und wäre um eine Feder abgestürzt. Er rettete sich durch Klammern mit den Krallen. Dafür flatterten die Folien ins Leere des Turminnern, und er wendete die halbe Nacht dafür auf, sie mühsam mit einer langen Pinzette aus der Tiefe zu fischen und zu reinigen. Erst dann machte er sich auf die Suche nach dem Alten. Er fand ihn in einem Nebengebäude des Turms, zusammengekauert zwischen alten Schränken, die das Potista bereits in Marsch gesetzt hatte. Die untere Hälfte der Möbel war schon diffundiert, sank abwärts-auswärts, und der Alte klemmte dazwischen. Uquart war nicht einverstanden, dass Jasbadag sein Leben auf diese würdelose Weise beendete. Aber der alte Rhoarxi wollte ein Signal senden, sein Volk aufrütteln. Der Oberste Brüter erkannte die kaum wahrnehmbaren Zuckungen der Muskulatur. Der Alte lebte noch, stellte sich lediglich tot.

»Ein Rhoarxi ist ebenso wenig Abfall wie Potista«, verkündete Uquart mit lauter Stimme, die Jasbadag aus seinem Stumpfsinn riss. Aus rot verquollenen Augen sah der Sterbende den Obersten Brüter an. »Du wirst deine letzten Atemzüge im Kreis deines Volkes verbringen, wie es Sitte ist.« Jasbadag nuschelte etwas, und beinahe hätte Uquart die Absicht des Alten nicht erkannt. Er wollte die eigene, dicke Wanstzunge verschlucken, um daran zu ersticken. Uquart versetzte ihm einen Schlag gegen den Hinterkopf. Jasbadag riss die Augen auf, sprachlos vor Entsetzen über den Einbruch in seine Federzone. »Wir sitzen alle in einer Stadt und in einem Kosmos. In der Intrawelt ist nichts so klein, dass es keine Bedeutung besäße. Willst du dein Leben wirklich wegwerfen?«, fuhr der Oberste Brüter den Alten an. »Bedeutet dir meine Autorität so wenig?« »Nichts, rein gar nichts!«, grunzte Jasbadag. Er schlug die nackten Flügelreste aneinander. »Wer bist du denn? Oder was bist du denn?« Schockiert ließ Uquart von ihm ab. Er rannte zurück in den Turm, stieß mehrmals mit dem Körper gegen Wände, blieb an einem Türrahmen hängen und verlor ein paar Federn dabei. Was bin ich?, rasten seine Gedanken. Ein Nichts? Ein Wesen aus Luft? Er lauschte auf die Schwingungen der vielen Rhoarxi in den benachbarten Gebäuden. Viel spürte er nicht, aber der Grundtenor deutete in eine bestimmte Richtung. Die Stimmung unter den Aspoghies war schlecht, schon seit langem. Er als Oberster Brüter hatte es nur nie richtig wahrhaben wollen. Schon lange lief es in der Stadt nicht mehr so, wie es eigentlich sollte. Er war der Oberste Brüter und damit auserwählter Träger des Flammenstaubs, doch er fühlte sich nicht imstande, seinen Stamm so zu lenken, wie es erforderlich gewesen wäre. Aspoghie versank im Mittelmaß. Seine Amtsbrüder Rutvaul in der Stadt Zirnatim und Ebenze

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in Benenses wussten es wohl. Allein die Höflichkeit verbot ihnen, das Problem direkt anzusprechen. Vermutlich hofften sie, die Zeit würde alle Wunden heilen. Uquart fühlte sich mit einem Mal schwach und krank. Am liebsten hätte er mit dem Alten getauscht, Jasbadag seine Würde und seinen Staub anvertraut und sich zwischen die Möbel gelegt. Einfach nur weg von hier in ein besseres Leben. Eine Lösung war das nicht, aber Uquart sah auch keine Möglichkeit, selbst etwas an der Lage zu ändern. Eigentlich sollte ein anderer auf seiner Stange sitzen, einer, der damals die höchste Achtung unter allen Aspoghies genossen hatte bis zu dem Tag, an dem sich das Schicksal des Stammes wendete. Wieder spürte der Oberste Brüter diesen unbändigen Hass auf Tuxit in sich, das Bedürfnis, ihn in winzige Fetzen zu zerreißen, die der Wind forttrug. Dann aber war er wieder froh, dass ein Oberster Brüter und Rhoarxi nicht über solche gewaltigen Psi-Fähigkeiten verfügte. »Leg dich endlich schlafen«, sagte Uquart zu sich selbst. »Sonst bist du bald ein Wrack. Was wird dann aus deinem Flammenstaub?« Müde machte er sich auf den Weg, aber dann fiel ihm der Alte wieder ein. Hastig kehrte er in das Nebengebäude zurück. Jasbadag war verschwunden und mit ihm die Möbel. Das Potista hatte den Ausscheidungsprozess des alten, ausgelaugten Materials vollzogen. Irgendwo hinter der Stadt standen jetzt die Tische, Schränke und Sessel, zwischen ihnen der alte Mann, der vermutlich im Potista erstickt war. Ersticken, vielleicht war das gar kein so schlechter Tod. »Wir ersticken hier doch alle!« Uquart hoffte, dass niemand seine Worte hörte. Als Oberster Brüter war Uquart gleichzeitig auch Oberster Lenker. Mit Hilfe des Flammenstaubs beeinflusste er das Potista zu bestimmten Handlungen, gab die Richtung vor, in die sich die Stadt bewegte, und regulierte die Verhältnisse innerhalb der Stadt. Manchmal passten

Rhoarxi nicht auf, gerieten an abgestorbenes Material, verunglückten oder fanden den Tod. Bei einer Einwohnerschaft von 40.000 Individuen stellte der Tod von zwanzig, dreißig Rhoarxi innerhalb von zehn Tagen eine durchaus bedenkliche Quote dar. Um einen Rückgang der Population auszugleichen, hätten die Aspoghies ihr Brutgeschäft verstärken müssen. Da sie lieber künstlerischen und handwerklichen Tätigkeiten nachgingen, blieb dem Obersten Brüter nichts anderes übrig, als über sie zu wachen, an neuralgischen Stellen der Stadt Aufpasser zu postieren, die Tag und Nacht präsent waren. Manchmal ließ Uquart leichtere Strafen für besonders nachlässige Bürger verhängen. Zehn Tage Untätigkeit zählte da schon zu den schlimmeren Maßnahmen hart am Rande der Folter. Es half alles nichts, eine Stadt brauchte ab und zu eine harte Kralle und einen kräftigen Halsschlag. Beim intensiven Gedanken daran gelangte Uquart aber schnell wieder dahin, wo er vor ein paar Stunden schon verharrt hatte. Ein Flammenstaubträger mit Charisma wirkte durch sein Vorbild und seine Aura, nicht durch Gewalt. Der Oberste Brüter gab sich einen Ruck. Nicht der Vergangenheit nachtrauern, das hatte er sich zum Leitsatz seiner Regentschaft gemacht. Was brachte es, seine eigenen Leistungen daran zu messen, was ein stärkerer, besserer Oberster Brüter gemacht hätte? Nichts, rein gar nichts. Von seinem Horst aus beobachtete Uquart den neuen Tag. Übergangslos tauchte sanftes, weißgelbes Licht Nabuzym in den Tag. Aspoghie hatte die Parzelle bis hinein ins Zentrum »abgegrast« und näherte sich jetzt wieder der Grenze. Ein paar Tage noch, dann würde das Potista den Übergang in die Nachbarparzelle vollziehen. Uquart setzte die Geschwindigkeit der Stadt weiter herab. Er gab dem Potista Anreize, so viele Rohstoffe wie möglich zu bunkern. Die Parzelle, die sie als nächste durchqueren würden, bot relativ wenig Nahrung. Da hieß es vorbauen, denn zum

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Bohren blieb keine Zeit. Potista bedeutete Leben, Potista hieß Bewegung. Potista konnte nicht stillstehen, es lebte und baute sich permanent um, erneuerte altes Gewebe durch frisches, stieß abgestorbenes hinten aus, fraß vorn Nahrung in sich hinein, sog mit den Fibrillenstrukturen des Sockels alles auf, was verwertbar war, ließ alles andere liegen für Lebewesen, die darauf angewiesen waren. Potista - für Uquart zählte es zum Wunderbarsten, was die Schöpfung jemals hervorgebracht hatte. Die Schöpfung der Rhoarxi natürlich, ihr eigenes Produkt, Symbol und - Vorzeigemodell, wie einst Impostor Pullman es genannt hatte. Mit dem Potista und den drei Städten hatte sich das Volk der Rhoarxi neben der Intrawelt ein weiteres Denkmal für die Ewigkeit gesetzt. Der Gedanke daran erinnerte Uquart, dass es höchste Zeit für den nächsten Routine-Kontakt mit den Obersten Brütern der anderen Wanderstädte war. Aber Schmerzen? Hatte er davon nicht schon genug? Seit jeher waren die Rhoarxi in drei Karawanen unterwegs. Sie pflegten unterschiedliche Baustile und hatten in der Großbaustelle Intrawelt unterschiedliche Aufgaben übernommen. Aber schon vor dieser Zeit, als sie noch die Galaxis Dwingeloo durchkämmt hatten, waren sich die drei »Schwärme« ziemlich grünmadig gewesen. Deshalb kam es auch heute noch nur etwa alle 50.000 Intrawelt-Tage zu einem persönlichen Treffen zwischen den Bevölkerungen, die es hauptsächlich zur Auffrischung des Genmaterials benutzten. Da wurde dann befruchtet und gelegt, bis die Nester platzten. Und der uralte Spruch geträllert: »Rhoarxi-Sitte aus der Mitte, schwing die Hüfte in die Lüfte, Tradition seit 'ner Million.« Uquart schob die Reminiszenzen beiseite und konzentrierte sich auf den Kontakt. Die geistige Verbindung mit den beiden Kollegen funktionierte nicht automatisch. Der Oberste Brüter musste in seinem Kopf

einen virtuellen Schalter umlegen, dazu eine Winzigkeit des Flammenstaubs in mentaler Nachbarschaft aktivieren, der als Verstärker diente. Uquart hielt dazu den Atem an, die einzige Übung, die half. Die Augen fielen ihm dabei fast aus dem Kopf, aber er kannte das und maß ihm keine Bedeutung bei. Ein stechender Schmerz jagte vom Nacken bis zur Stirn, wo der Schnabel entsprang. Uquart stöhnte leise, aber er hörte ein Rauschen im Hintergrund, aus dem sich nach und nach zwei wohlbekannte Stimmen schälten. Ich grüße euch, Rutvaul und Ebenze, dachte Uquart. Unsere Koordinaten sind folgende ... Er gab ihnen den Standort Aspoghies durch und informierte sie über ein paar kleinere Kursänderungen der Stadt. Aspoghie erfreut sich guter Gesundheit, was wir auch für euch hoffen. Die beiden stimmten ihm zu. Ebenze aus Benenses wusste eine Neuigkeit. Es heißt, in Poricium sei ein einzelnes Wesen aus dem Schlauch gekommen, also von draußen. Weiß einer, wo es geblieben ist? Nein!, dachten Uquart und Rutvaul aus Zirnatim. Und Uquart fügte hinzu: Wer weiß, ob es noch am Leben ist. Ein Einzelner hat keine große Chance. Vielleicht als Sklave. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass er nicht mehr am Leben ist. Wir werden es wohl nie erfahren, genauso wenig, wie es uns mit dem vierten Schwarm ergangen ist. Viel wussten sie nicht mehr darüber. Die Überlieferung berichtete, er habe sich vor 1,5 Millionen Jahren vom lockeren Verbund der Rhoarxi losgesagt, also lange vor dem Zeitpunkt, an dem die drei anderen mit dem Bau der Intrawelt begonnen hatten. Schon damals hatte er als verschollen gegolten, nie mehr hatte man etwas von ihm gehört. Vielleicht war seine Flotte aus Versehen in einer Sonne materialisiert. Solche Unfälle gab es, auch wenn sie extrem unwahrscheinlich waren. Der vierte Schwarm bleibt Legende, dachte Ebenze. Wie jedes Volk braucht auch unseres solche Legenden und Geheimnisse. Sie richten die Gedanken und das Bewusstsein auf Dinge, die jenseits unseres

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Alltagshorizonts liegen. Das ist das Wichtige daran. Wer sich mit dem begnügt, was vor seiner Nase liegt, verkümmert. Seine Nachkommen verkümmern noch mehr, und irgendwann sind sie ausgestorben. Ebenze schrie plötzlich voller Schmerz auf. Uquart zuckte zusammen, und im selben Moment traf ihn ein mentaler Schock, der das Gewimmer der beiden Kollegen in den Hintergrund drängte. Hitze durchflutete seinen Kopf, wollte seine Gedanken verbrennen und die Hirnwindungen schmelzen. Ladindaun!, hörte er noch den hastig hervorgestoßenen rituellen Gruß der beiden. Ladindaun! Uquart stürzte zu Boden. Er merkte nicht, wie er sich mühsam abfing und sich beinahe den linken Arm brach. Das Feuer tobte in seinem Innern. Er keuchte, versuchte den mentalen Ansturm zu bremsen. Erst glaubte er an einen Angriff. Dann aber spürte er, dass es nichts mit ihm selbst zu tun hatte. Keiner der drei Obersten Brüter befand sich in Gefahr. Und dennoch - etwas Gutes konnte es nicht bedeuten. Nach schier endloser Zeit ebbte der Schock in Uquarts Kopf endlich ab. Er tastete mit seinen Gedanken. Nein, sein Gehirn und sein Bewusstsein schienen keinen Schaden davongetragen zu haben. Der Schmerz ebbte langsam ab, aber noch immer fühlte sich sein Körper vom Hals abwärts merkwürdig taub an. Mühsam wälzte Uquart sich auf die Seite, froh, weil sein Sehvermögen zurückkehrte. Er konnte wieder riechen, und der Horst um ihn herum hatte sich nicht verändert. Der Oberste Brüter richtete sich auf. Benommen schüttelte er den Kopf. Aus dem rechten Auge lief ein Blutfaden, wie jedes Mal, wenn er den Kontakt mit Rutvaul und Ebenze hinter sich gebracht hatte. Ein Mentalschock, wie er ihn noch nie erlebt hatte - Uquart dankte dem Schicksal, dass er ihn überlebt hatte. Gleichzeitig versuchte er die Konsequenzen des soeben

Erlebten zu begreifen. Es gab nur eine Erklärung. Jemand hatte in diesem Augenblick den Flammenstaub verwendet. Das Wesen war ein Rhoarxi. Und da gab es nur einen, der in Frage kam. »Abschaum des Universums!«, schrie Uquart voller Zorn. Die Rhoarxi drunten in den Gassen und auf den Straßen blickten erschrocken zu den Zinnen des Horstes hinauf. »Warte nur, wenn ich dich kriege!« In diesem Augenblick schwanden alle seine Zweifel, ob er der Richtige am richtigen Platz war.

4. Eis-Kreationen

Der harte Schlag warf die Antigravplattform aus der Bahn. Diesmal schrie Jolo laut und gellend. Er warf sich gegen Tuxit, rutschte in Zeitlupe an dem massigen Leib nach unten und klammerte sich an eines der Beine. Der Rhoarxi nahm den Schnabel zu Hilfe, um die Fluglage der Plattform zu stabilisieren. Über uns flammte, ein gelbliches Schutzfeld auf, das die Landschaft dahinter nur verzerrt wiedergab. Ein zweiter Schlag wirbelte das Fahrzeug in die Höhe. Ich spürte die Schwerkraft weichen, suchte vergebens nach einem Halt. Irgendwo im flachen Leib der Plattform sprang mit lautem Wummern ein Aggregat an. Kraftfelder erfassten uns, sie bannten uns an den Boden. In deutlicher Schräglage raste die Antigravplattform dahin. Tuxit stieß ein Schnattern aus, das kein Dhedeen übersetzte. Ich ging davon aus, dass der Rhoarxi schimpfte. Irgendwann, nach dem fünften oder sechsten Schlag, wandte er den Kopf nach hinten. »Eisquallen!«, pfiff er. »Die Viecher haben die Kluft durchquert und greifen die ungeschützte Gondelstation an.« Die Plattform beschrieb einen weiten Bogen in die ursprüngliche Richtung. Ich stapfte zum Rand, der Druck des Kraftfeldes vermittelte mir eine

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Schwerkraft von mindestens 1,5 Gravos. Von Eisquallen oder anderen Lebewesen war weit und breit nichts zu sehen. Der Rhoarxi fantasierte offensichtlich. Dann aber hörte ich Jolo erneut schreien. Mit meinem Blick folgte ich seinem dünnen Ärmchen, das auf die andere Seite des Fahrzeugs deutete. Über den Rand krochen zackige Kristallfinger, wanden sich an dem Metall entlang, versuchten den gelben Energievorhang zu durchdringen. Dort, wo sie ihn berührten, schmolzen sie und verwehten als winzige Wasserdampfschwaden. Tuxit versetzte die Plattform ins Taumeln. Die Kristallfinger verloren den Halt, rutschten ab und verschwanden in die Tiefe. Ich spähte hinab, suchte nach einer Bewegung, einem Hinweis, aber da war nichts. Als hätte es sich um eine Spukerscheinung gehandelt. Die Eisquallen waren verschwunden. »In Frozenhaim solltest du deinen Augen nicht trauen, Atlan.« Tuxit sprach freundlich. Wie gewohnt beließ er es bei diesem einen Satz. »Frozenhaim besitzt im Wasserdampfhaushalt der Atmosphäre vermutlich eine wichtige Funktion«, stellte ich fest. »Eine einzige solche Parzelle dürfte allerdings nicht ausreichen.« »Es gibt mehrere. Die Eisquallen existieren allerdings nur in Frozenhaim. Sie gehören zu den Völkern, die Teph hereingelassen hat.« Teph, der Pförtner. Teph, das unglückliche Wesen in der Zugangsstation auf der Außenseite der Intrawelt. Einst hatte man das Krakenwesen eingesetzt, damit es zwischen Berechtigten und Unberechtigten unterschied. Wieder traf ein Schlag die Antigravplattform, diesmal von der Seite. Trotz Kraftfeld verlor ich das Gleichgewicht und stürzte. Im Fallen riss ich die Arme nach vorn, fing mich mit den Händen ab und landete unsanft auf der Seite. Keine zwei Meter entfernt schob sich ein armdicker Eisstrang empor, schwankte unsicher hin und her. An seiner

rasiermesserscharfen Spitze stülpte sich eine Art Blütenkelch aus, dessen Eisblätter sich im Zeitraffer auffalteten. Ein milchiges, faustgroßes Facettenauge aus Kristall glotzte mich an, spiegelte alle Farben des Regenbogens und drehte sich hin und her. »Verschwinde!«, krähte Tuxit. Er vollführte mit der Plattform einen Schlenker. Mit der Außenseite traf sie das Auge, schleuderte es weit weg. Ich sah, wie der Kristallstrang abriss und sich ein bläulicher Splitterregen über die Landschaft ergoss. Die blaue Farbe,, sie lieferte mir den Hinweis auf das, was dort unten vor sich ging. Das Eis der Umgebung schimmerte weiß bis grau. Das blaue und teilweise grünlich leuchtende Band, das mussten die Eisquallen sein. Es zog sich ringförmig um die Gondelstation, den Abstand schätzte ich auf einen halben Kilometer. »Ich sehe sie jetzt, Tuxit. Was haben diese Quallen vor? Sind sie intelligent?« »Halb intelligent. Nicht einmal die Impostoren könnten die Frage beantworten, warum Teph sie hereingelassen hat.« »Ihm war wohl kalt wie mir, und er wollte sie schnell loswerden.« Jolo klapperte mit den Zähnen. »Es wird schon wärmer«, sagte ich. »Der gelbe Schirm besitzt eine eingebaute Heizung.« Der Rhoarxi quittierte es mit einem gackernden Lachen. »Manchmal verblüffst du mich wirklich, Atlan. Deine Art, schwierige Situationen zu meistern oder auch nur zu entschärfen, ist einmalig.« »Wahrscheinlich bin ich deshalb hier.« Er und seine Rhoarxi konnten sich schon mal warm anziehen. »Fafner, ein früherer Maulspindler dieser Station, hat die Gefahr frühzeitig erkannt«, fuhr Tuxit fort. »Er rief die Anstizen und ließ sie einen Graben in das Eis brennen, zu tief und zu breit für die Eisquallen. Doch mit den Generationen haben sie dazugelernt. Es muss ihnen gelungen sein, den Graben an einer Stelle so zu präparieren, dass sie hinabsteigen und ihn

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von unten her ausfüllen konnten. Der heutige Maulspindler hat es vermutlich noch nicht einmal bemerkt. Nicht umsonst nennen sie ihn Pleile, den Schläfer.« Für kurze Zeit herrschte Ruhe, aber dann griffen die Eisquallen erneut an. Wir hätten ihren Attacken entgehen können, indem wir die Flughöhe änderten. Aber das wollte Tuxit augenscheinlich nicht. Er provozierte die Angriffe offenbar, wollte die Eisquallen reizen und erreichen, dass sie alle Vorsicht aufgaben. Der Rhoarxi schaffte es in kurzer Zeit. Jolo kam zu mir gerannt, klammerte sich an meine Beine. »Da geht es los, siehst du das, Atlan?« Der Graben wogte. Blaue Eismassen gerieten in Bewegung, bildeten unzählige Gliedmaßen aus. Tentakel tasteten nach der Umgebung, bohrten sich in das weiße und graue Eis, setzten ihre Gliedmaßen als Anker und schoben den . Körper nach. Die Eisquallen fingen an, das Gelände zwischen der Kluft und der Station zu erobern. »Du bist ganz sicher, dass die Station in Gefahr ist?«, fragte ich Tuxit. »Der Maulspindler auf alle Fälle. Davon abgesehen, ob er sich gern als Delikatesse für Eisquallen sehen würde, dürfen wir es nicht zulassen, dass die Gondelstation zerstört wird.« Das Argument erschien mir angesichts des komplizierten Gondelsystems einleuchtend. »Was willst du dagegen tun?« »Ich opfere die Plattform.« »Ich will erst etwas zu essen!«, rief Jolo. »Hinter den Türen deiner Konsole gibt es garantiert Notrationen.« Der Rhoarxi hielt es keiner Erwiderung für wert. Er ließ die Plattform über die rechte Seite abkippen.

* Etwas stimmte nicht. Ich merkte es in dem Augenblick, als der linke Rand der Plattform nach oben raste, bis er fast in der Senkrechten stand. Glitzernde Stränge aus Eis schleuderten empor, knallten gegen

den. Gelbschirm und zerstoben in blauem Widerschein. Die Quallen klammerten sich an die Unterseite der Plattform. Das Fahrzeug stürzte sich in die Tiefe, raste den Eismassen diesseits der Kluft entgegen. Ein zweites Kraftfeld erfasste mich und Jolo. Es drückte uns fest gegen den Untergrund, so dass wir auch bei einer schweren Erschütterung nicht stürzten. »Ein Verrückter!«, stöhnte Jolo. Sein Gesicht verlor jeden Ausdruck, die Mimik verharrte in Nullstellung. Sein Körper erstarrte. Wenigstens verwandelte er sich nicht gleich in blauen Kristall, wie ich ironisch feststellte. »Kamikaze«, murmelte ich. »Was ist das?« Ich erhielt keine Gelegenheit, es ihm zu erklären. Tuxit fing die Plattform dicht über dem Boden ab. . Der Bug des Fahrzeugs berührte den Untergrund. Funken sprühten nach allen Seiten, ein Zittern und Beben durchlief die Konstruktion. Ich blickte nach hinten, wo blaue , Eisstrukturen in bizarren Fetzen davonflogen, teilweise rauchend von der Reibungshitze, die entstand. Ein schrilles Wimmern erfüllte übergangslos die Plattform. Jolo fing unnatürlich an zu zittern. Er starrte zu mir empor. »Es sind die Kristalle, die diesen Lärm erzeugen«, sagte ich. Sie flogen in hohem Bogen davon. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass Tuxit den Eisquallen half, endgültig auf dieser Seite der Kluft Fuß zu fassen. Ein Blick des Rhoarxi aus dem linken Auge traf mich. Sollte er beruhigen oder warnen? Ich wusste es nicht. »Wir sind gleich am Ziel, Atlan.« Die Gondelstation mit ihrem »Kassenhäuschen« wanderte durch mein Blickfeld und verschwand wieder, während die Antigravplattform rasch an Höhe gewann. Eine Bewegung hatte ich keine wahrgenommen, weder an der Station noch in ihrer Nähe. Der Maulspindler verschlief die Auseinandersetzung vermutlich. Oder er traute sich aus Angst nicht ins Freie.

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Tuxit hob den Arm mit dem Cueromb. Ich sah, wie er umständlich mit der freien Hand und dem Schnabel Einstellungen an dem Gerät vornahm. Schwerelosigkeit umfing mich, die mich nach oben zum Gelbschirm treiben ließ. In zwei Manneslängen Abstand kam ich zum Stillstand. Jolo hing wie ein Klammeraffe an meinem Bein und verkrallte sich in den Stoff. »Lasst euch treiben, ich passe auf euch auf!« Tuxit hantierte wieder am Cueromb. Der Gelbschirm erlosch übergangslos. Eisige Sturmböen rissen uns von der Oberfläche der Plattform. Ich zog den Kopf ein, legte das Kinn auf die Brust. Ich vermisste meinen Varganenanzug, der mich in Situationen wie dieser zuverlässig schützte. So aber vermochte die Kleidung nicht einmal, die beißende Kälte von mir fern zu halten. »Atlan! « Hoch über mir entdeckte ich den Rhoarxi. Er hantierte am Cueromb, nahm Dutzende von Einstellungen vor, immer wieder dieselben. Das Gerät ist defekt!, durchfuhr es mich. Ich versuchte die Höhe über dem Boden zu schätzen. Dreißig, vierzig Meter waren es bestimmt. In diesem Augenblick setzte der freie Fall ein. Auch der Rhoarxi stürzte ab. Jolo fing an zu schluchzen, ich konnte es ihm nicht verdenken. Schräg hinter uns sah ich erste blaue Wogen, die über das graue Eis in Richtung Station schwappten. Es handelte sich um die Eisquallen, die sich an die Unterseite der Plattform geklammert hatten. Sie zogen weitere Artgenossen aus der Kluft nach, eine Art Prozession entstand. So schnell, wie sich die Prozedur vollzog, konnte ich kaum schauen. Noch fünf Sekunden bis zum Aufschlag, bemerkte der Extrasinn lakonisch. Etwas Hartes klatschte gegen meinen Rücken. Ich warf mich herum, versuchte die Tentakel der Eisqualle abzuwehren. Aber da war nichts, gegen das ich mich zur Wehr setzen konnte. Unter mir nahm ich einen Schatten wahr. Gleichzeitig verschwand das Gefühl des

freien Falls. Der aus einer Mischung aus glatten Flächen und scharfkantigen Brüchen bestehende Eisboden wich vor mir zurück. Etwas bremste mich ab, bis ich beinahe reglos über dem Boden schwebte, mit dem Gesicht und Jolo nach unten. Dann fiel das Cueromb erneut aus. Ich landete auf Händen und Knien. Jolo stieß sich den Kopf. Er unterbrach sein Gejammer wenigstens für kurze Zeit. Aus den Augenwinkeln sah ich die wuchtige Gestalt des Rhoarxi, der noch immer verzweifelt an dem Gerät herumfingerte. Ich packte Jolo und warf ihn von mir, in Richtung der Gondelstation. »Lauf um dein Leben! « Auf seinen dünnen Beinen hetzte er los, ich hinter ihm her. Bald hatte ich ihn mit meinen langen Schritten eingeholt. Das Echsenwesen vollführte groteske Sprünge. Die Saugnäpfe an den Fußtatzen blieben am Eis kleben. Ein Rauschen kündigte Tuxit an. Der Rhoarxi schnellte sich an uns vorbei, ein wuchtiger Schatten mit zwei ausgestreckten Armen, die wild das Cueromb bearbeiteten. »Er lässt uns im Stich, Atlan!« »Nein. Er versucht, genügend Abstand zwischen dem Gerät und den Eisquallen zu schaffen.« Längst war mir klar, dass die Störung des wertvollen Allzweckgeräts nur mit den Eiswesen zu tun haben konnte. Andererseits wunderte es mich, dass das Cueromb anfällig gegen solche Einflüsse war. Wenn du alle Besonderheiten der Intrawelt kennen lernen willst, solltest du dich auf einen mindestens hundertjährigen Aufenthalt einrichten. Die Logikergüsse des Extrasinns waren für meine Begriffe im Augenblick fehl am Platz. So schnell meine Stiefel mich auf dem glatten Boden trugen, rannte ich auf die Gondelstation zu. Hinter uns wogten Eisquallen in die Höhe, immer mehr und immer bedrohlicher. Ich hielt nach der Antigravplattform Ausschau, die nur noch als dunkler Fleck am nebelgrauen Himmel zu erkennen war.

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Tuxit wollte sie opfern. Ich rätselte noch, wie er es tun konnte. Inzwischen türmten sich die Eisquallen als Gebirge über dem Rand der Kluft auf. Sie rückten näher. Ihr Abstand zu uns betrug vielleicht fünfhundert Meter. Es konnten aber auch nur dreihundert Meter sein. Die Höhe der Massen schätzte ich inzwischen auf mindestens vierzig Meter. Der Rhoarxi hatte inzwischen die Hälfte der Strecke zur Station zurückgelegt. Mit seinen Fußkrallen fand er guten Halt im Eis, während wir uns mehr schlecht als recht vorwärts kämpften. Pleile, der Maulspindler, schien noch immer den Schlaf des Gerechten zu schlafen, denn er reagierte nicht auf die Funkanrufe, die Tuxit mit Sicherheit seit unserem Eintreffen in Frozenhaim an die Station schickte. »Atlan, ich kann nicht mehr! « Jolo hinkte nur noch. An den Saugnäpfen seiner Füße hingen die Schuppen in Fetzen, vom klebrig kalten Eis zermalmt. Der Atem des Echsenwesens ging rasselnd, er hielt sich die linke Seite. Seitenstechen? Bei einer Echse? Ich sollte mich langsam daran gewöhnen, dass es in der Intrawelt nichts gab, was es nicht gab. »Komm her!« Er schlingerte auf mich zu, fiel in meine Arme. Ich warf ihn mir über die linke Schulter - auf der rechten saß mein Dhedeen und bibberte vor Kälte. »Locker bleiben, lass dich hängen, dann kann ich dich am besten tragen.« Ein Blubbern kam als Antwort. Die Eisquallen schienen zu wittern, dass sich mehrere Wärmezentren über das Eis bewegten. Sie rollten und schnellten ihre Extremitäten noch heftiger vorwärts. Ihre Entfernung ließ sich inzwischen deutlich besser einschätzen, sie betrug etwas mehr als zweihundert Meter. Die vordersten Ausläufer jagten als Eisschlangen über den Boden, immer auf der Spur unserer Stiefel und Füße. Es sind vor allem die Wärmeabdrücke Jolos� stellte der Extrasinn fest. Da du ihn jetzt trägst, wird sich ihr Vorstoß bald verzögern.

Er behielt Recht. Der Vorstoß stockte, ungefähr hundertfünfzig Meter von uns entfernt. Augenblicke später erreichte Tuxit die Gondelstation. Ich sah, wie er erneut den Arm hob und an dem Gerät hantierte. Die Tür des Häuschens öffnete sich, er verschwand im Innern. Dann schloss sich der Eingang ... Die Eisquallen holten auf, näherten sich bis auf hundert Meter und weniger. Dann waren es nur noch fünfzig. Ein heftiges Vorwärtsschnellen der blauen Eiskristalle, und sie würden uns in wenigen Sekunden erreichen. Vielleicht half Hakenschlagen, um ein paar Sekunden länger unbehelligt zu bleiben. . Ein Jaulen hoch über uns in der Luft ließ mich aufblicken. Ich sah den überaus schnell anwachsenden Schatten der Antigravplattform. In steilem Winkel raste sie dem Boden Frozenhaims entgegen. »Er bringt uns um«, gurgelte Jolo. »Sag, haben wir das verdient, Atlan?« Ich rannte unbeirrt weiter. Die Eisquallen-Tentakel nahmen die Verfolgung wieder auf, oder sie wollten sich vor der drohenden Gefahr in Sicherheit bringen. Die Plattform erreichte die Oberfläche auf der Höhe der Kluft. Ich sah, wie sie in die Eisquallen einschlug. Mehrere hundert Meter hoch spritzten die Kristallfontänen in die Luft. Ein Feuerball glühte auf, wir erkannten lediglich die obere Wölbung. Der Rest fraß sich in die Tiefe. Dennoch reichte die Druckwelle aus, mich von den Beinen zu fegen. Geistesgegenwärtig ging ich in die Knie, legte mich auf die Seite und ließ mich über das Eis treiben. Bei den Verfolgern entstand Durcheinander. Die Hitzwelle, die über Jolo und mich hinwegraste, ließ die Eisquallen und ihre Tentakel schmelzen. Ein Rauchschleier bildete sich dort, wo sich das Material dieser Wesen auflöste. Die Druckwelle ließ nach, aber noch immer schlitterten wir über den Boden, als zöge uns jemand am Seil hinter sich her. Eine zweite Explosion in der Tiefe der Kluft erfolgte. Diesmal schoss eine bläulich weiße Stichflamme in den Himmel und verschwand im Nebel der

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wasserdampfgesättigten Atmosphäre. Die Tentakel der Eisquallen versuchten einen letzten Angriff. Sie stießen steil nach oben, beschrieben eine ballistische Kurve zum Boden zurück, deren Zielpunkt auf Jolo und mich deutete. Mitten in der Bewegung zerfielen die Strukturen. Eiskristalle regneten zu Boden, bildeten sinnlose Haufen aus Splittern und verwandelten sich in einer blitzschnellen Transformation in Lachen. Sie verdampften im selben Rauch, den wir schon beobachtet hatten. Das Zugfeld, das uns im Schlepptau hatte, ließ nach. Ich wandte mich der Station zu, die vor uns aufwuchs. Ein rötliches Flimmern umgab sie. Der Schutzschirm arbeitete wieder. Dicht davor stand Tuxit mit erhobenem Arm. »Das Cueromb funktioniert wieder«, rief er uns zu. »Was du nicht sagst«, stieß ich halblaut zwischen den Zähnen hindurch und setzte Jolo ab. Das Echsenwesen sah sich furchtsam um. »Du kannst unbesorgt sein. Die Luft ist rein.« »Bist du dir sicher, Atlan?« Er deutete zur Station, wo soeben der Maulspindler auftauchte. »Der Kerl dort ist mir keinesfalls geheuer.«

5. Symbolische Flamme

Ein Rhoarxi benutzte den Flammenstaub, irgendwo da draußen! Uquart taumelte. Völlig ohne sein Zutun verdrehten sich seine Beine, schlugen im Stehen übereinander. Er geriet ins Trudeln, fasste nach der Brüstung mit dem Flaum der Neugeborenen. Ein paar Federn riss er ab - nein, sie blieben an seinen Krallen und Armen hängen. Lieber wäre er in die Tiefe gestürzt, als dem Flaum Gewalt anzutun. »Verschwinde!« Seine Stimme hallte weit über die Stadt. Das Potista in seiner Nähe nahm die Schwingungen auf, hielt in seinen Bewegungen inne. Sein Programmablauf war gestört.

Der Oberste Brüter verspürte in sich das Bedürfnis zu platzen, vor Wut und Zorn, vor Hass und allem, was es sonst noch an negativen Gefühlen gab, die ein Rhoarxi für einen Artgenossen übrig haben konnte. Es war nicht viel, denn wer konnte schon sagen, was Hass wirklich war. Uquart kannte andere Dinge, die ihn und seine Artgenossen ängstigten, Dinge, die mit der Kathedrale und dem Flammenstaub zu tun hatten, die aus einem selbst kamen und doch nicht von einem selbst stammten. Auf dem Weg zur Kathedrale tauchten aus dem Nichts Schrifttafeln auf. Projektionen in Wort und Bild verkündeten schlimme Dinge von schwachen Trägern des Flammenstaubs, die in ihrer Labilität zu Mördern wurden oder sich an Rhoarxi oder Potista vergriffen. Letzteres war das schlimmste Verbrechen von allen. Für Uquart allerdings war das Furchtbarste, wenn einer sich der Verantwortung nicht stellte, sondern sich feige verdrückte. Sich wegstehlen vor der Verantwortung - wie oft hatte sich der Oberste Brüter nicht vor den Spiegel gestellt und sich mit diesem Gedanken auseinander gesetzt. Es bedeutete, alle anderen im Stich zu lassen, die Stadt nicht führerlos, aber steuerlos ihrem Schicksal zu übereignen. Potista, was aus dir wird, ist mir egal. Auch ich selbst wollte das schon tun, gestand er sich ein. Am liebsten wäre ich Tuxit hinterher, den ich heute beschimpfe und verteufle. Es war ein gewaltiger Unterschied zwischen einer Absicht und einer Tat. Dem Nachbarn Übles wünschen und ihm Übles tun, dazwischen lagen die Freiheit der Gedanken und der Tod durch den Henker. Licht überzog übergangslos den Horst und erhellte ihn. Uquart blinzelte verwundert. Erst glaubte er, es käme von außen. Dann merkte er, es stammte von innen, aus ihm selbst. Es glitzerte und flirrte, blähte sich auf wie Kleider, vom Wind gebauscht. Der Flammenstaub! Uquart stöhnte leise. Er fand endlich sein Gleichgewicht wieder, breitete die Arme aus und blieb mit angewinkelten Beinen stehen. Seine

Atlan Arndt Ellmer 18 Das Symbol der Flamme

Amtsrobe, die er nur an wenigen Tagen trug, spannte sich beängstigend um den leicht verkrümmten Leib. Ein einziges Mal hatte er es miterlebt, als die Weihe vollzogen worden war. Damals hatte das Zeremoniell ihn so beschäftigt, dass er dem Vorgang nur am Rande Beachtung schenkte. Vielleicht war das ein Fehler, und aus ihm wäre ein besserer Oberster Brüter geworden. Jetzt stand plötzlich dieses Bild wieder vor seinen Augen, ein gewaltiges, bis in den Himmel ragendes, ebenmäßiges Leuchten, unten rund und nach oben immer schlanker mit harmonisch in der Spitze sich findenden Flanken. Die dreidimensionale Gestalt war von geometrischer Makellosigkeit und optischer Schönheit, wie er es nie irgendwo anders gesehen hatte. Es fehlte das Flirren des Staubs, aber das war angesichts des gewaltigen Symbols auch nicht nötig. Uquart sah, wie die Flamme immer höher wuchs, sich gleichmäßig ausdehnte, bis sie den gesamten Hohlraum der Intrawelt ausfüllte und mit ihrer Spitze alle Parzellen gleichzeitig berührte. Es kann nicht sein!, loderten seine Gedanken. Es ist eine Halluzination! Seine Krallen verloren den Halt, er stürzte zu Boden, kugelte auf seinem runden Leib halb um sich selbst. Plötzlich lag er da, auf der Seite und mit dem Kopf unter einer seiner Schwingen. Fassungslos starrte er die Flamme an, die genau an der Stelle loderte, wo er soeben gestanden hatte. Das Symbol der Staubflamme, rein und vollkommen, endete an seinen Füßen. Es schien aus ihnen herauszuwachsen, und als er sie enger an den Körper zog, wanderte die Symbolflamme mit. Uquart setzte sich auf. Er starrte seine Füße an, aus deren Krallen Licht zu wachsen schien. Drunten in den Gassen wurden die Rhoarxi inzwischen auf das Licht aufmerksam. Er hörte das Scharren von Füßen im Turm, mindestens ein Dutzend Rhoarxi bewegten sich die Rampe des Wendelgangs herauf. Manchmal rutschte einer aus, denn in der Wüste wurde es nachts kalt. Dann bildete sich auf

steinernen Böden Kondenswasser, ganz gleich ob die Steine echt oder nachgemacht waren. »Oberster Brüter!«, hörte er einen Rhoarxi rufen. »Bist du da oben?« »Ja! - Ja!« Er krächzte so heiser, dass jeder Verdacht schöpfen musste. Das Kratzen wurde schneller, kurz darauf tauchten die ersten Rhoarxi am Eingang zum Horst auf. »Das Symbol der Flamme!«, empfing er sie. »Verneigt euch in Ehrfurcht.« Sie warfen sich zu Boden. Um die Tragweite des Gesehenen zu erfassen, brauchten sie eine ganze Weile. »Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Doch schweigt still. Behaltet das Wissen für euch. Die Stadtbewohner sollen sich nicht in Angst und Streit gegenseitig zerfleischen. Das wäre unser nicht würdig.« Einer wagte einen Einwand. »Wer kommt da, Uquart?« »Es gibt nur einen, der das wagt, Brüder und Schwestern. Nur einen.« Er murmelte ein Gebet, gab dem Potista neue Anweisungen, denn er wollte es dem Feigling nicht zu leicht machen. Die Rhoarxi zogen sich zurück, und er blieb allein in der Geräumigkeit des Horsts. Vermutlich würde er bald Gesellschaft erhalten. Das Symbol der Flamme - der Oberste Brüter wollte es noch immer nicht glauben. »Tuxit, wagst du es wirklich? Ein Feigling bleibt immer ein Feigling, oder?« Seine Worte klangen nur halb beherzt und wenig überzeugend. Tuxit wusste nichts vom Flammensymbol in Aspoghie, er konnte es nicht wissen. Und er war nicht nah genug, um es zu sehen. Dafür steckte Uquart mittendrin. Und er empfand es als Demütigung, dass die Kathedrale ihm das Symbol schickte wie damals, als man ihn erwählt hatte und doch jeder um das Trauerspiel wusste. Es motivierte nicht besonders, zweite Wahl zu sein, und in seinem Fall ging es nicht nur um das Amt, sondern um die geistige Führung des Volkes. Kapitän und Lenker

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konnte jeder sein, Vorbild und Mentor fast keiner. »Und jetzt kommst du!«, murmelte Uquart deprimiert. »Du lobst nicht, du dankst nicht. Du kommst und teilst durch dein Erscheinen mit, dass es einen neuen Führer zu bestimmen gilt. Du scheußliches, bestialisches Symbol einer Flamme. Und damit du es weißt, ich werde kämpfen. Keiner kann verlangen, dass ich meinen Staub freiwillig zurückgebe. Staub, wem Staub gebührt. Ich war in meinem Leben kein Held, aber nie ein Feigling. Ich war da, als man mich brauchte. Und jetzt verschwinde. Empfange diesen Ketzer, diesen Lumpen, diesen Tuxit.« Nicht umsonst hielten sie in der Stadt die Erinnerungen an jene schlimme Zeit wach, brachten den jungen Rhoarxi schon im frühesten Kindesalter bei, wer der verfluchte Tuxit war. Und sie erzählten ihnen seine Geschichte. Das Flammensymbol tat ihm keinen Gefallen. Es blieb, als gehörte es zu ihm...

Vergangenheit Genterandy hatte es in der ersten Stunde nach dem Anschalten der Sonne besonders eilig. Er hüpfte aus dem Haus, ohne dass die nachtaktive Temmetilli es bemerkte. Nicht einmal der Dhedeen kam hinterher, obwohl er aus einer Zucht für Sofortumschalter stammte. Nicht, dass Genterandy einen Dhedeen gebraucht hätte. In der Stadt sprachen alle gleich. Er gehörte zum aktuellen Beta-Test-Programm. Genterandy war einer der Ersten, die das neue Modell testen durften, nicht auf seinen Durst, sondern auf seine Haltbarkeit hin. Widerstandsfähige Dhedeen sollten das Leben in vielen Parzellen erleichtern, zäh und gleichzeitig aufmerksam, nicht nur als Übersetzer, sondern auch als Betreuer und Vermittler. Dhedeen würden nie zulassen, dass ein Driete sich an den Irrsinn verlor. Genterandy trug die Gerätschaften ins Freie. Er lud sie in den nagelneuen Potista-Wagen und fuhr mit ihnen zum Vorplatz.

Dicht an den Fassaden der Frontbauten baute er sie auf. Der Dhedeen flatterte um die Ecke, sein »Schwapp-Schwapp« kündigte ihn schon von weitem an. Er setzte sich auf den Rand des Wagens, blickte Genterandy neugierig an und tickte mit dem spitzen Schnabel gegen das Werkzeug. »Du wirst es nicht glauben, aber heute ist ein besonderer Tag«, meinte Genterandy freundlich. »Deshalb habe ich auch etwas Besonderes gebaut. Du wirst staunen. Es handelt sich um ein neues Stecksystem, mit dem man in Windeseile Häuser errichten kann.« Der Dhedeen warf den Kopf zurück. »Hör mal«, klang es dumpf aus seinem Schnabel, »was erzählst du uns da?« »Ich rede mit dem Dhedeen, nicht mit euch im Testlabor. Euch geht das gar nichts an.« »Na gut, wir klinken uns aus.« »Es reicht, wenn ihr dreimal am Tag den Datenspeicher des Übersetzers abfragt.« Das hätte noch gefehlt, dass sie mit Hilfe des Vogels seine Konstruktionsgeheimnisse ausspähten. »Ein Stecksystem also.« Der Ingenieur im Labor hatte es noch immer nicht begriffen. Seine Neugier war größer als seine Höflichkeit. »Häuser in Windeseile. Soso.« »Laust und milbt mich!« Endlich hielt der Kerl seinen vorlauten Schnabel. Genterandy zog den Plan aus der Tasche, wandte dem Dhedeen seinen Rücken zu und linste auf die Zeichnungen. Schnell ließ er den Plan wieder verschwinden, legte die ersten Handgriffe an. Es ging ganz leicht. Während er die Konstruktion an der Wand hochzog, erklangen von den Türmen und Hochhäusern die ersten Trillerakkorde. Der Weckruf für den Helden! Genterandy freute sich, noch viel mehr aber freute er sich auf den Zeitpunkt, wenn der junge Rhoarxi sein Geschenk entgegennehmen würde. Eines von vielen, versteht sich, aber eben ein besonderes. Das machte Genterandy keiner so schnell nach. Das Gestänge bestand aus purem Metall, nichts daran war aus Potista gemacht. Die

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ersten Versuche und Pläne stammten noch von seinem Großkücker, die Familie hatte sie lange Zeit in einem Zwischenboden des Nestes aufbewahrt. Mit etwas Glück waren sie der Entsorgung des Hauses entgangen und nicht auf dem Boden einer Parzelle gelandet, zwischen lauter krummen Regalen und Häuserteilen. Temmetilli tauchte auf. Sie bog so schnell um die Ecke, dass er erschrak. »Hier steckst du also. Du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt.« »Ich bin nicht der Großkücker«, antwortete er in Erinnerung an dessen schlimmes Schicksal. »Mich verschluckt das Potista nicht. Wieso schläfst du nicht? Es ist Tag!« »Glaubst du, ich lasse mir entgehen, wenn ganz Aspoghie feiert? Das ist doch fast so toll wie beim Dreistädtetreffen. Und noch um einiges wichtiger.« Genterandy nickte bedächtig. »Natürlich. Besonders genießen kannst du es an der frischen Luft. Auf dem Grünkernturm zum Beispiel.« Sie zog die Kopfhaut ein Stück nach hinten, klapperte mit dem Schnabel einen hektischen Rhythmus. »Auf dem Grünkernturm zum Beispiel«, äffte sie ihn nach. »Du willst keine Zuschauer, das ist alles.« »Schließlich soll es eine Überraschung werden.« »Für ihn, nicht für mich.« Genterandy gackerte zurück. »Wenn du es weißt, weiß es die Nachbarin rechts unten quer, und deren Nichte arbeitet für die Impostoren. Dann weiß es in einer Stunde der Zofer von Uquart, und der wiederum gehört zum inneren Kreis der Brüter.« Sie gab sich geschlagen, murmelte etwas von Krautblätterumschlägen und trollte sich. Genterandy vervollständigte seine Konstruktion. Anschließend klopfte er an. Die zuständigen Techniker wussten Bescheid, die Erlaubnis des Hauswarts lag vor. Das Potista reagierte. Es öffnete einen Spalt in der Wand, aus dem neues Material hervorquoll. Genterandy justierte das Rohr, damit das Material in die Maschine rutschte und nicht daneben fiel.

»Und los!« Ein klein wenig Unsicherheit befiel ihn. Die Maschine hatte keinen Probelauf absolviert, sonst wäre sie kein Geheimnis mehr gewesen und das Ergebnis an diesem Tag keine Überraschung. Er ging ein wenig zur Seite, lauschte nach den Gesängen, die in den Häusern und Nestern erklangen, sich abwechselnde von oben nach unten und unten nach oben durch die ganze Stadt fortsetzten. Sechs Stunden noch blieben bis zum Mittag, dann fand die feierliche Zeremonie statt. Davor begleiteten die Brüter den hoffnungsvollsten ihrer Kollegen durch die Stadt. »Ping!«, machte es hinter Genterandys Rücken. Er fuhr herum. Im Rohr klaffte ein Loch, aus dem Potista quoll. Genterandy flatterte vor Schreck mit den Stummelflügeln. Er beugte sich über das Rohr, untersuchte die Stelle genau. Ein Materialschaden war das nicht. Das Rohr war ungleichmäßig gerissen und nach innen gedellt. Ein scharfer Gegenstand. Er wandte langsam den Kopf, ging drei Schritte zurück und tat, als sei nichts geschehen. Blitzschnell streckte er den Arm aus, ehe das Ungeheuer auf der Fensterbank reagieren konnte. Er packte den Dhedeen und hielt ihn sich vors Gesicht. »Glaube nicht, du kannst mich mit deinem Unschuldsgesicht täuschen. Das Loch hast du gemacht. Verdammt schnell bist du ja, aber sonst?« Er stopfte den Dhedeen in die Tasche und verschloss sie. In seinem Handwerkszeug fand sich zum Glück eine Blechschere, mit der er die scharfkantigen Teile nach außen bog und abschnitt. Anschließend versiegelte er das Leck mit Potista. Ein leiser Gong stellte das Signal der Maschine an ihn dar. Es ging los. Genterandy konnte es kaum erwarten. Bis zum Mittag würde das Werk vollendet sein.

*

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Die Stadt hatte sich herausgeputzt. Die Farbbeimengungen des Potistas leuchteten in diesen Tagen besonders frisch und kräftig, ein Zeichen, dass die Organisatoren des Regenerationskomitees ganze Arbeit geleistet hatten. Darüber hinaus schmückten die Aspoghies ihre Stadt für die feierliche Prozession. Genterandy ließ sich von der Stimmung mitreißen. Überall hüpften und hoppelten Aspoghies in Richtung des Horstes, an dessen Fuß die Prozession begann. Im Horst selbst blieb alles leer, wie es Brauch war. Erst mit der Wahl des neuen Obersten Brüters kehrte das Leben in ihn zurück und mit ihm die Eier. Erste Sprechchöre hallten durch die Stadt. »Tuxit, Tuxit!« Schon lange eilte ihm der Ruf eines der fähigsten Brüter voraus. Seine Jugend stellte kein Hindernis dar, seit sich drei Viertel aller Brüter hinter ihn gestellt und ihn empfohlen hatten. Der Wahlvorschlag ging jedoch nicht von den Brütern aus, sondern vom Mob und von den Impostoren, die den Willen des Volkes repräsentierten. Mit dem Namen Tuxit verband sich der Glaube an eine ganze Generation, die Aufbruch zu neuen Ufern und Ausbruch aus den festgefahrenen Gedankenhäusern bedeutete. Seit vielen hundert Tagen gab es keinen einzigen Aspoghie mehr, der sich nicht von dieser Stimmung anstecken ließ., Der fähigste Brüter sollte Lenker werden, nicht der listigste. Damit kehrte das Ritual des Flammenstaubs zu seinen Wurzeln zurück, von denen es sich im Lauf vieler Jahrtausende entfernt und wieder angenähert hatte, ein ewiges Hin und Her. Den Rhoarxi hatte es augenscheinlich gut getan, denn ihr Volk existierte noch immer, verteilt auf die drei Städte in der Intrawelt. Es hieß, dass Aspoghie die wunderbarste von allen war und ihre Bewohner die gesündesten. Genterandy fieberte auf dieser Welle mit, dachte wie alle anderen und jubelte wie jeder. Selbst die Brüter, die anfangs Vorbehalte gegenüber Tuxit geäußert hatten, stimmten jetzt für ihn.

Ob das tatsächlich stimmte, wusste Genterandy nicht. Es interessierte ihn auch nicht besonders. Er lauschte den Strömungen und Stimmungen in der Stadt, fing ein wenig davon für sich selbst ein. Es machte ihn stark, es brachte ihn voran, während hinter seinem Rücken die Maschine ein wundervolles Werk zu formen begann. An vier verschiedenen Ecken fing es an, zog die Grundlinien und schickte anschließend die Seitenlinien hinaus zur zentralen Spitze. Ein ums andere Mal erlebte Genterandy mit, welche vielfältigen Eigenschaften das Potista besaß. Die Linien wurden zu Kanten, als sich zwischen ihnen die flachen Seitenschrägen bildeten. Im Innern entstanden gleichzeitig Kammern und Räume, ein großer Stufensaal im Zentrum mit Lichtschächten, die senkrecht zur Neigung der Außenwände verliefen. Ein paar Passanten warfen ihm erstaunte Blicke zu, nahmen ihn in ihre Mitte- und zogen ihn mit sich zur großen Prachtstraße unterhalb des Horstes. Von dort sah er, wie sich die Prozession aufstellte und die Himmelswagen in Position fuhren. Spannende Erwartung durchströmte die Stadt und ließ niemanden aus. Zuversicht und Zuneigung gesellten sich dazu, die Bereitschaft zum Dienen für alle und der feste Wille, die Stadt einer besseren Zukunft entgegenzuführen. Das war Tuxit, der junge Held! Genterandy sah ihn nur von weitem, als er seinen Himmelswagen bestieg, ein Gefährt aus dünnen Leisten und Papier auf einer unsichtbaren Antigravplattform. Um ihn herum schwebten die Brüter in hellblauen Gewändern mit goldenen Stickereien, ebenfalls auf unsichtbaren Plattformen, so dass es aussah, als würden sie mit ihren prächtig geschmückten Flügeln frei in der Luft schweben. Genterandy verfolgte die Prozession, bis sie außerhalb der Stadt aus seinem Blickfeld geriet. Für die Aspoghies war es das Signal, das Fest zu beginnen. Von einem Augenblick auf den nächsten verwandelten sich die Straßen in wogende Seen. Das Leben brodelte über Stunden,

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bis die Beobachter auf den Türmen die Rückkehr der Prozession meldeten. Die Nachricht vom Erfolg eilte ihr voraus und trieb die Aspoghies an die Stadtmauer. Ein wenig stöhnte und ächzte die Stadt unter der einseitigen Gewichtsverlagerung. »Die Kathedrale hat sich für ihn geöffnet«, eilte die Botschaft durch die Stadt. »Die Brüter haben Tuxit mit dem Flammenstaub gefüttert. Er ist am Leben!« Wie aus dem Nichts stand plötzlich Temmetilli neben Genterandy. »Ich habe es schon immer gewusst«, trillerte sie. »Tuxit ist unsere Zukunft! « Sie sahen ihn schon von weitem. Er schwebte vor der Prozession her, und er trug den roten Mantel des Flammenstaubs mit den silbernen Schnüren. Obwohl das Gewand seinen Körper verdeckte, erkannten sie die Selbstsicherheit und den Glauben an die Zukunft, die er verströmte. »Ja, Tuxit ist unsere Zukunft«, wiederholte Temmetilli. »Unter seinem Patronat werden wir großartige Monumente schaffen. Eine Zeit strahlender Bautätigkeit wird anbrechen. Wer weiß, vielleicht vollenden wir die Intrawelt frühzeitig. Dazu brauchen wir Frieden und Harmonie mit den beiden anderen Städten. Tuxit wird das schaffen. Ich spüre seine positive Ausstrahlung bis hierher.« Gemeinsam beobachteten sie, wie die Prozession der Würdenträger im Triumphzug in die Stadt zurückkehrte. Manche Aspoghies warteten weit draußen vor den Mauern, schwebten in der Luft oder bildeten farbige Bilder am Boden der Parzelle. In der Zwischenzeit wanderte Aspoghie unbeirrt weiter, langsam allerdings, denn ihr Weg führte zur Feier des Tages über grünes Grasland. »Herrliche Zeiten brechen an!«, schwärmte die Rhoarxi. Genterandy verabschiedete sich. »Du sagtest etwas von Monumenten. Unser neuer Oberster Brüter wird jetzt die Geschenke entgegennehmen.« Schon von weitem sah er die aufgeregten Gesten seiner Landsleute auf dem Vorplatz. Er rannte los, verwundert und noch immer im Glauben an seine

Maschine. Sie funktionierte tadellos, das hatte er selbst erlebt. Von der Pyramide, die er gebaut hatte, war jedoch nur ein hässlicher Haufen Klumpen übrig. Der Dhedeen flatterte hektisch daran herum und hackte immer wieder Stücke heraus. Genterandy griff an die Tasche, spürte das Loch im Stoff. Hastig drängte er sich durch die Menge. Er wartete, bis das Kunstgeschöpf in seine Nähe kam. Wieder packte er es, aber dieses Mal ließ er keine Gnade walten. Er zerquetschte das Ding zwischen seinen Krallen, bis Rauch aufstieg. Es dauerte nicht lange, bis zwei Techniker des Entwicklungslabors auftauchten. »Den Schaden wirst du uns ersetzen!«, schimpften sie. Er führte ihnen sein zerstörtes Bauwerk vor. »Den Schaden werdet ihr mir ersetzen. Und wenn die Maschine nicht mehr funktioniert, könnt ihr das sowieso nicht wiedergutmachen.« Er baute sie ab, verstaute alles in seinem Wagen und fuhr nach Hause. Den Rhoarxi von der Prozessionsleitung trug er auf, den Platz mit der zerstörten Pyramide besser nicht zu besuchen. Als Temmetilli am nächsten Morgen heimkam, saß er immer noch da und starrte Löcher in die Wand. »Hoffentlich ist es kein schlechtes Omen! « Sie nahm ihn in den Arm. »Ich habe auf dem Heimweg mit zwei Technikern gesprochen. Der neue Prototyp taugt nichts, er ist sogar gefährlich. Es wird vorläufig keinen weiteren geben.« Stillstand statt Fortschritt, war es das, was sie erwartete? Nein! Jetzt, da Tuxit Oberster Brüter war und die emotionalen Geschicke der Stadt lenkte, gehörten solche Rückschläge bald der Vergangenheit an.

6. Fäden der Heimkehr

»Nennt mich Plei-ttt-e«, blubberte es aus den Hautfalten. »Plei-ttt-e Ischmail. Willkommen in ZERB678!« Der Maulspindler besaß einen Sprachfehler,

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das war klar. In einer der Beinklauen hielt er einen Stab, den ich für einen Kodegeber hielt. Immer wieder drückte er das Gerät an verschiedenen Stellen. Meistens erzeugte er damit eine Reaktion im Cueromb an Tuxits Arm. Der Rhoarxi hatte längst die Kontrolle über die Gondelstation an sich gezogen. »Hallo, Pleile«, antwortete ich. »Ich hoffe, wir machen dir nicht zu viel Unannehmlichkeiten.« »Annehmlichkeiten - durchaus, immer zu Diensten. Ihr reist zu dritt?« »Ja«, antwortete der Rhoarxi an meiner Stelle. »Bring uns zur nächsten Flachstation.« »Das ist kein Problem.« Der Maulspindler spreizte die Beine und ließ seinen Unterleib fallen. Es schmatzte, als er den eisigen Boden vor der Station berührte. Die Kälte schien ihm nichts auszumachen. Ich musterte Tuxit. Er zog einen Hauch des Flammenstaubs mit sich, den ich deutlich spürte. Er hat Pleile schon mental bearbeitet, überlegte ich. Anders war die Zuvorkommenheit des Maulspindlers nicht zu erklären. Nur zu gut erinnerte ich mich an Abertack, das maulige Wesen mit seiner Höhenangst. Bei Pleile war es der Sprachfehler. »Wir brechen auf!«, befahl der Rhoarxi. »Sofort, Herr, ich sause, ich spindle!« Mit einer affenartigen Geschwindigkeit wetzte der Maulspindler zu seinem Häuschen zurück. Wir folgten ihm grinsend. Wie alle Gondelstationen in den einzelnen Parzellen bestand auch diese aus einer Plattform mit einem Wartehäuschen. Die Wahrscheinlichkeit war sehr hoch, dass auch Pleile regelmäßig seine Sprechstunden abgehalten hätte, wenn es denn in dieser Region Fahrgäste gegeben hätte. So aber hatte er es höchstens ab und zu mit einem Falschfahrer zu tun, der aus Versehen in eine verkehrte Gondel gestiegen war. Wer einmal nach Frozenhaim kommt, tut es bestimmt nie wieder. Wir warteten, bis Pleile die zigarrenförmige Gondel herbeigeschoben

hatte. »Gute Fahrt, heile Beförderung, glückliche Ankunft ...« Sein Gemurmel von Segenswünschen endete in der unvermeidlichen Formel: »Euer Fahrer ist Plei-ttt-e.« Er schloss die Kupplung der Gondel, dann sprang er mit einem gewagten Satz ins Innere. Es gab einen leichten Ruck, als das ständig durchlaufende Seil die Gondel mit sich riss, über die Plattform hinaus und hoch in die Luft zog. Es ging steil aufwärts. Je höher wir kamen, desto stärker zerrte der Wind an der Gondel. Ich warf einen letzten Blick hinab auf die Station und den Sicherheitsgraben. Vom blauen Eis der Quallen, die die gesamte Kluft ausgefüllt hatten, war nichts mehr zu sehen. An manchen Stellen stieg noch Rauch auf. »Es ist ausgestanden«, sagte Tuxit, als er meinen Blick bemerkte. »Die Explosion der Antigravplattform hat das Intelligenzzentrum der Eisquallen vernichtet, gerade noch rechtzeitig. Sonst hätten sie sich über die Station hergemacht und sich mit Hilfe der Gondel über die gesamte Intrawelt ausgebreitet.« Eine Schmarotzerintelligenz also! Langsam verstand ich die Besorgnis des Rhoarxi in Bezug auf Teph, den Hüter des Eingangs zur Intrawelt. »Atlan!«, jammerte Jolo. »In dieser Gondel gibt es keine Nahrungsmittel.« »Ein bedauerlicher Fehler«, surrte Pleile. »Aber da sie so selten benutzt wird, verderben die Vorräte nur. Es ist besser, wenn die Gondel auf solche. Art von Ausrüstung verzichtet.« Die Zigarre erreichte die Nebelzone. Die Oberfläche der Parzelle verschwand hinter dicken Schwaden. Kurze Zeit später tauchte die Sonne des riesigen Kunstgebildes auf, fern im Zentrum der eine Lichtsekunde durchmessenden Kugel. Ich versuchte unsere Höhe über der Oberfläche zu bestimmen und schätzte sie auf ungefähr dreißig Kilometer. Auf einem herkömmlichen Planeten wäre es hier oben eiskalt gewesen, die Luft längst zu dünn zum Atmen. Nicht so in der Intrawelt. Unabhängig von der Höhe herrschten hier

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ein identischer Luftdruck und eine einheitliche Temperatur, die je nach Wolken oder Sonne höchstens um ein paar Grad schwankte. Und wir konnten mit offenem Fenster fahren wie weiland die Helden des terranischen Schriftstellers Jules Verne, die auf dem Flug zum Mond unterwegs das Fenster geöffnet hatten, um ihr Flugziel besser sehen zu können. In dieser von Gleichmäßigkeit erfüllten Welt oberhalb der Parzellen mit ihren unterschiedlichen Klimazonen fiel es schwer, Entfernungen zu messen oder gar die verstrichene Zeit. Ich musste mich auf Schätzungen verlassen und auf die Erkenntnisse meines Extrasinns. In einer Welt wie dieser machte er sich endlich einmal bezahlt. Als nach ungefähr drei Stunden die Flachstation in Sicht kam, betrug unser Abstand zur Oberfläche ungefähr 450 Kilometer. Der Maulspindler hatte die ganze Zeit reglos verharrt, in Richtung des Rhoarxi mit geducktem Körper und dreifach eingeknickten Beinen. Vermutlich handelte es sich um ein angezüchtetes Verhalten oder eine Art Urinstinkt, der nach Hunderttausenden von Jahren noch immer wirkte. Endlich kehrte das Leben in un seren Chauffeur zurück. Er ließ ein Krächzen hören. »Habt ihr das leichte Rucken des Zugseils bemerkt? Sie sehen uns und geben uns zu verstehen, dass sie in LOB-78 auf unsere Ankunft warten.« Unsere Gondel verlangsamte. Pleile bewegte sich unruhig hin und her. Er benutzte wieder seinen Stab, aber der gab lediglich ein schrilles Pfeifen von sich. Wenn jetzt das Seil reißt... Narr! Du mit deiner ewigen Schwarzseherei, sagte der Extrasinn. Wir sind doch nicht auf Terra! Ein heftiger Ruck ging durch die Gondel. Wir spürten starken Zug am Seil. Doppelt so schnell wie bei unserer bisherigen Fahrt bewegten wir uns auf die Flachstation zu. Erst kurz davor bremsten die Maschinen der Station wieder ab. Im Unterschied zu den Seilbahnen auf Terra befanden sich die Seilwinden in den Bergstationen. Der

Vergleich hinkte allerdings, denn in der Intrawelt dienten die Flachstationen ihrerseits als Talstationen für die Hochstationen draußen im Leerraum. Ein Dreiebenensystem sozusagen, bei dem aus Gründen des Kraft- und Energieaufwands die Antriebsaggregate in der Mitte lagen. Unsere Gondel schwebte in die Gondelkammer. Mechanische Greifer klinkten sie aus. Tuxit öffnete die Tür. »Folgt mir!«, krächzte er. »Beeilt euch! « Pleile blieb zurück. Er verharrte selbst dann noch in gebückter Haltung, als der Rhoarxi längst außer Sichtweite war. LOB-78 platzte schier vor Leben. Das Gewimmel in der Flachstation verhinderte jede Übersicht. Ich schätzte, dass hier mindestens vier Dutzend Gondelwege zusammenführten. Wir bemerkten ein Dutzend Flachwärter, die in dem Gedränge nicht viel ausrichteten. Sie bewachten einen einzigen Zugang. Vermutlich führte er zu den Maschinenräumen der Station. Tuxit arbeitete mit dem Cueromb. Zweimal wechselte er die Richtung, dann schien sein Kompass endlich gefunden zu haben, was der Rhoarxi suchte. Wir durchquerten die halbe Flachstation, hasteten unter den hektischen Blicken von Drieten, Anstizen und Angehörigen anderer Spezies eine Rampe empor. Irgendwo gellte eine schrille Stimme auf. Sie schrie etwas von einem Gründer. Die Menge erstarrte, als habe jemand die Zeit angehalten. Dann schauten alle in unsere Richtung. Ich schloss hastig zu Tuxit auf. »Damit bist du gemeint!« Er musterte mich aus seinem rechten Auge, ohne etwas zu sagen. Ein einziges Mal schnaufte er lauter. Mehr Kommentar zu meiner Frage schien ihm unnötig. Stattdessen schritt er schneller aus, fing an zu rennen. Die Gondel wackelte, als er hineinsprang. Wir schafften es gerade noch durch die sich schließende Tür. »Macht euch auf einen längeren Aufstieg gefasst«, verkündete der Rhoarxi nach einer Weile. »Unser nächstes Ziel ist Hochstation OB-66.«

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*

Unter anderen Umständen hätte ich mich nicht solcherart in Geduld geübt. Ich hätte Tuxit im übertragenen Sinne Daumenschrauben angelegt. So aber musste ich warten. Es war mein eigener Fehler gewesen, ihm das Cueromb zu geben, das ich aus Peonus Hütte entwendet hatte. Mit dem Gerät hatte ich ihn vermutlich unangreifbar gemacht. Der Gedanke an Peonu erinnerte mich daran, dass es zwischen dem Seelenhorter und mir eine unterschwellige Verbindung gab. Er hatte mir ein Stück meiner Seele entwendet. Seit drei Stunden saß ich in einer Ecke der Gondel. In Gedanken kaute ich Dutzende von Möglichkeiten durch, wie ich den Rhoarxi doch noch aus der Reserve locken konnte. Schlussendlich sah ich ein, dass ich viel zu wenig über dieses Volk und seine Machtmittel wusste, um sinnvoll agieren zu können. Folglich beschränkte ich mich aufs Beobachten. Tuxit machte es mir verdammt schwer. Er ging räumlich auf Distanz. Bis zur Begegnung mit Kartnich im Hospiz und seiner Enttarnung war er immer ganz nahe bei mir gewesen, ein Schatten und ein Freund. So hatte ich gedacht. Inzwischen glaubte ich, dass er nur auf eine Möglichkeit gelauert hatte, mir den Leatherman zu entwenden, dieses Cueromb, das einst einem Rhoarxi gehört hatte. Tuxit beanspruchte es jetzt für sich. Sollte ich mich so gründlich in diesem Wesen getäuscht haben? So bist du eben!, machte mir der Extrasinn begreiflich. An der falschen Stelle vertrauensselig und auch noch an der falschen Stelle misstrauisch. Und Lebenserfahrung habe ich sowieso keine, nicht wahr? Manchmal lässt sie zu wünschen übrig. Jetzt zum Beispiel. Du willst mit deinen Blicken vermutlich Löcher in den Rhoarxi bohren, bis er tot umfällt und du das Cueromb zurückholen kannst. Richte deine

Aufmerksamkeit lieber auf deinen kleinen Freund. Seit unserer Ankunft in LOB-78 hatte Jolo kein einziges Wort mehr gesprochen. Selbst der Hunger schien ihm vergangen zu sein, seit er die Vorräte der Gondel bis auf den letzten Chlorophyllriegel verputzt hatte. Ich musterte den Gefährten unauffällig. Das einen Meter große Wesen stand an einem der Fenster, aber es blickte weder nach oben noch nach unten. Es sah überhaupt nicht zum Fenster hinaus. Es hielt die Nickhäute über die Augäpfel gezogen. Ich sah, dass seine Nüstern bebten. Die Schuppen am Hinterkopf und im Nacken öffneten und schlossen sich, als atme er mit ihnen. Am deutlichsten sah ich es an seinen Händen. Er hielt die linke Tatze in der rechten und rieb sie unaufhörlich aneinander. Es entstand ein leises, mahlendes Geräusch. Nur seine Füße standen unbeweglich auf einem Fleck. Eine halbe Stunde lang sah ich ihm zu. Dann stand ich auf und trat neben ihn. »Du hast etwas gegessen, was dir nicht bekommen ist.« Er maß mich erstaunt. »Mir geht es gut. Langsam bekomme ich wieder Hunger.« »Dann hast du dich vielleicht überfressen.« »Aber Atlan, du weißt doch, dass das nicht möglich ist. Meine Verdauung funktioniert bestens.« Es stimmte nicht, und er wusste es ebenso gut wie ich. Jolo besaß einen nervösen Magen, was für einen Echsenabkömmling wie ihn wiederum erstaunlich war. Oder auch nicht. Ich deutete auf das offene Fenster. »Falls du dich übergeben musst ...« Er tat es nicht, und er litt auch nicht unter Magenkrämpfen. In seinem Gedärm gluckerte es kein bisschen. Das Essen aus den Wandboxen der Gondel schien für ihn wie geschaffen. Was aber war es dann? Höhenkoller? In diesem Fall hielt ich es für das Beste, das Fenster zu schließen und. die Türsicherung einzurasten. Ein Sprung aus der Gondel war aus dieser Höhe sicher ein

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unglaubliches Erlebnis, aber eben auch das letzte. Von diesem Augenblick an behielt ich beide im Auge, die kleine Echse und den wuchtigen Rhoarxi. Tuxit ließ sich nichts anmerken, aber ich spürte, wie es in ihm arbeitete. Seine Andeutungen ließen auf keine besonders angenehmen Erinnerungen an seine Heimat schließen. Dass er den Rückweg dennoch wagte, hing wohl damit zusammen, dass es in der Intrawelt Fehlentwicklungen gab. Allein mit der Macht des Flammenstaubs konnte er die Völker in den Parzellen beeindrucken. »Ich sehe die Hochstation!«, verkündete Jolo. »Wir sind gleich da!« Ein deutlich wahrnehmbares Knacksen erklang, als habe jemand einen mechanischen Schalter betätigt. Augenblicke später wurde es dunkel. Die Konstrukteure der Intrawelt waren vorausschauende Leute gewesen. In ihrem Bemühen, gleiche Lebensbedingungen für alle Teile der Biosphäre zu schaffen, hatten sie ein Hohlmaß gewählt, bei dem Licht und Wärme gleichzeitig und innerhalb einer einzigen Sekunde auftrafen. Gleichzeitig mit der Dunkelheit gingen in der Hochstation die Lichter an. Das Gebilde verwandelte sich in ein Ungeheuer mit Tausenden winziger Augen, das dort oben am Firmament hing und gierig auf seine Beute wartete, die den Faden entlangkroch. Obwohl wir sie schon deutlich über uns sahen, dauerte es noch eine ganze Stunde, bis wir in die Hochstation einfuhren. »Lass uns in ein Restaurant gehen«, sagte Jolo. Es klang weder lustig noch gierig, eher unbeteiligt, als sage er es nur, weil man es von ihm erwartete. »Ich habe einen gewaltigen Hunger.« »Wir haben keine Zeit zum Aufenthalt.« Tuxit verkündete es und übte mit der Macht des Flammenstaubs Druck auf mein Bewusstsein aus. Jolo schien nichts zu spüren, aber dennoch führte ich seinen schlechten Zustand auf die negative Ausstrahlung des Rhoarxi zurück. OB-66 empfing uns vorbereitet. Von LOB-78 aus hatte man die Hochwärter offenbar

vorgewarnt. Zwei von ihnen empfingen uns im Durchgang zur großen Halle. Sie lagen am Boden, im Staub, und sie wagten es nicht, Tuxit anzusprechen. Der Rhoarxi entfaltete seine Macht. Wieder funkelte und glitzerte es über seinem Körper, verströmte sein Bewusstsein jene Kraft, die den Maulspindlern in die genetische Wiege gelegt schien. Sie erkannten ihn sofort als unumschränkten Befehlshaber an. Hätte er es verlangt, hätten sie sich aus der Station in die Tiefe gestürzt oder sich gegenseitig aufgefressen oder ... Du fantasierst! Die eindringlichen Worte des Extrasinns ließen mich zusammenzucken. Versuche, dich besser gegen die mentalen Einflüsse abzuschirmen! Wenn das so einfach gewesen wäre. Ich presste die Lippen zusammen, bemühte mich um einen betont lässigen Gang und versuchte mich innerlich zu entspannen. Beinahe wäre ich gegen Tuxit geprallt, der plötzlich stehen blieb und in die durchsichtige Röhre mitten in der Publikumshalle spähte. Dahinter führte ein Seil senkrecht nach oben. Das musste einer der Ultrafäden sein, von denen ich schon gehört hatte, die weiter hinaufführten Richtung Zentrum der Hohlkugel. Tuxit musterte den Strang mehrere Minuten lang. Als er sich schließlich abwandte, übermittelte sein Flammenstaub mir ein Gefühl der Sehnsucht. »Später könnte es nötig werden, einen der Ultrafäden zu benutzen«, sagte er wie im Selbstgespräch, aber voller Aufmerksamkeit, ob ich es auch hörte. Er ging zwischen kauernden Maulspindlern und vor Ehrfurcht trocknenden Drieten hindurch zu einer der Türen auf der unteren Ebene. Wir schlichen hinterher und wussten nicht so recht, ob wir Gefolge darstellen oder besser nicht dazugehören wollten. Wir nahmen die Gondel zu einer benachbarten Hochstation. Draußen war es inzwischen vollständig dunkel geworden. Es kühlte deutlich ab, in einer Höhe von ungefähr 20.000 Kilometern über dem

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Boden kein Wunder, in der Intrawelt aber künstlich erzeugt. Jolo sagte plötzlich: »Wir nähern uns den Regionen der Angst und des Untergangs. Noch können wir umkehren.« Ich hatte keine Ahnung, woher er seine Weisheit bezog. Aber über eines war ich mir absolut im Klaren. Umkehren wäre jetzt die größte Dummheit gewesen. Dann hätte ich gleich in Dwingeloo bleiben und mir zusammen mit Kythara ein paar schöne Tage machen können. Nein, um feige zu sein, hatte ich nicht so lange gelebt. Feigheit zählte zu den Dingen im Universum, die ich verabscheute. Zumindest, was meine Person betraf.

7. Vergangenheit: bis zum Schandtag

Brüter Uquart empfand aufrichtige Freude über den neuen Mentor und Lenker der Stadt. Er hatte zu den Kritikern Tuxits gehört, sich aber von dessen Fähigkeiten überzeugen lassen. Dennoch, ein kleiner Rest Skepsis blieb, nicht gegenüber Tuxit als Rhoarxi, sondern wegen seiner Jugend. Es fehlte ihm die Erfahrung. Fünfzig Jahre Brüter unter einem Lenker und Hüter wie Sferabad reichten nach Uquarts Meinung nicht aus. Aber auch hier täuschte er sich. Das Potista blühte unter Tuxits Betreuung regelrecht auf. Die Stadt wuchs um ein Drittel an, stellte neue Flächen für Häuser und Paläste zur Verfügung, was unter anderen Umständen einem Raubbau am Potista selbst gleichgekommen wäre. Es war Tuxits Verdienst, dass Aspoghie Parzellen mit übergroßem Siliziumanteil entdeckt hatte. Die Stadt schwelgte in den Leckereien. Um nicht zu dick zu werden, ließ Tuxit sie mit Höchstgeschwindigkeit durch die Landschaft rasen. Überhaupt schien in diesen neuen Zeiten alles schneller von der Kralle zu laufen. Uquart merkte es an sich selbst. Dinge, für die er früher einen ganzen Tag benötigt hatte, schaffte er jetzt in einem halben. Sie hatten es einzig und allein Tuxit zu verdanken. Kein anderer außer ihm hätte

das geschafft. Der Oberste Brüter dankte seinem Volk durch höchstmöglichen Einsatz und avancierte dadurch nicht nur zum Helden einer ganzen Generation, sondern zu dem aller Rhoarxi. Gesandtschaften der beiden anderen Städte nahmen die mühsame Reise über das Gondelsystem auf sich, um aus weit entfernt liegenden Parzellen der Intrawelt nach Aspoghie zu gelangen und Verträge. für neue Bündnisse zu unterbreiten. Tuxit unterschrieb sie, nachdem er sie mit allen Brütern, Impostoren und Mobs nächtelang durchdiskutiert hatte. Uquart bewunderte ihn, weil er seine emotionale Überzeugungskraft bewusst bremste, damit jeder Volksvertreter seine eigene Meinung äußern konnte. Spätestens jetzt war Uquart endgültig überzeugt, dass sie mit Tuxit die richtige Wahl getroffen hatten. Und er war jung. Sie würden ein langes Patronat erleben. Brüter Uquart machte sich auf den Weg zum Horst. Er wollte Tuxit um eine Audienz bitten und ihm Tag und Nacht seine Unterstützung anbieten. Zwar war es spät, die Kunstsonne schien schon lange nicht mehr, aber das spielte für jemanden wie Tuxit keine Rolle. Der Oberste Brüter arbeitete Tag und Nacht. Uquart verließ sein Heim und schritt durch die Gassen. Auf halbem Weg zum Horst blieb einer seiner Füße hängen. Uquart stürzte, kein Problem bei den vielfältigen Eigenschaften des Potistas. Uquart fiel sanft. Er rollte sich auf den Bauch und besah sich das Hindernis. Es handelte sich um Potista, eine Gewebewucherung offensichtlich, die an dieser Stelle nichts zu suchen hatte. Uquarts eigene Fähigkeiten reichten aus, das Hindernis durch Einflussnahme auf das Potista zu beseitigen. Die Wucherung entschwand nach unten und würde sich in wenigen Stunden als kleines Häufchen auf der Spur der Stadt wiederfinden. Brüter Uquart setzte seinen Weg fort. Er lauschte auf die positiven Schwingungen, die die Stadt durchdrangen. Uquart empfand sie als nicht so intensiv wie noch

Atlan Arndt Ellmer 28 Das Symbol der Flamme

vor Stunden. Tuxit war offenbar schon schlafen gegangen. Der Brüter wollte umkehren, aber dann entschied er sich doch dagegen. Gemächlichen Schrittes legte er den Rest des Weges zurück und klopfte beim Pförtner an. »Nein«, beschied man ihm, »Tuxit arbeitet noch.« Uquart trug seine Bitte vor. Der Pförtner fragte nach, dann verriet das Klimpern eines Schlüsselbunds, dass er die altertümliche Tür öffnen würde. Er ließ Uquart ein, und dieser stieg drei Etagen empor bis in das Arbeitszimmer des Obersten Brüters. Tuxit saß zwischen mehreren Kissen. Er sichtete Baupläne, machte sich Notizen und diktierte nebenbei noch den Text für eine Rede, die er zur Einweihung von Neubauten halten wollte. Uquart fand, dass Tuxit schlecht aussah, der Schnabel grauorange, das Gefieder gelichtet, die Krallen stumpf, gerade so, als litte er unter einer Krankheit. Vielleicht liegt es am Flammenstaub, überlegte er. Vereinzelt war es in den Jahrhunderttausenden wohl vorgekommen, das ein Rhoarxi ihn auf Dauer nicht vertrug. Aber Tuxit? »Du mutest dir zu viel zu in deinem jugendlichen Ungestüm«, sagte er mit wohlwollendem Unterton. »Nimm das als Rat eines Älteren und bitte nicht als Kritik.« »Uquart, ich weiß wohl, wie es um mich bestellt ist. Ich nehme deinen Rat dankend an. Ab morgen arbeite ich nicht mehr so lange und suche abends mein Nest früher auf.« Von seiner Familie sprach er nicht, wie er es früher gern getan hatte. Uquart ließ sich nichts anmerken. Er brachte sein Lob an und verabschiedete sich. Draußen wählte er einen Umweg nach Hause. Von der Prachtstraße aus hatte er das Arbeitszimmer Tuxits- noch lange im Blick. Das Licht dort ging noch lange nicht aus. Es brannte die ganze Nacht.

Uquart beschloss, in Zukunft genauer auf den Obersten Brüter zu achten.

* Auf dem Weg in die Statistikkonferenz begegnete Uquart mehreren Dutzend Rhoarxi. Sie erwiderten seinen Gruß nicht, gingen einfach vorüber, als sei er Luft für sie. Irgendwann wurde es ihm zu bunt. »He!«, rief er. »Schlaft ihr am helllichten Tag?« Sie erschraken, fanden mühsam Worte, um sich zu entschuldigen. Diese Rhoarxi sind deprimiert, erkannte er. Es war ein schlechtes Zeichen, und es bestätigte das, was er in den letzten Tagen selbst empfand. Die positiven Schwingungen des Obersten Brüters wurden immer schwächer. Anfangs hatten sie es nur ab und zu gespürt und auf die Unerfahrenheit ihres Obersten Brüters geschoben. Jetzt aber wurde es offensichtlich. Impostor Velentain hätte die Statistik am liebsten gar nicht verlesen. Die Produktivität der Aspoghies war um fünfzehn Prozent gesunken, ihre Kreativität um das Doppelte. Hochgerechnet würden beide Werte schon in wenigen Tagen ihr altes Level vor dem Amtsantritt Tuxits erreicht haben. Uquart erhob seine Stimme, wunderte sich über ihr Schwanken, das ihn zusätzlich verunsicherte. »Wir sollten uns über eine Krankheit des Obersten Brüters Gedanken machen, über eine Unverträglichkeit des Flammenstaubs vielleicht.« Sie nahmen es mit offenen Schnäbeln zur Kenntnis, und Uquart fühlte sich hinterher elend. Er beabsichtigte alles andere, nur keine Palastrevolution. Es ging ihm um die Gesundheit Tuxits, nicht um seinen Sturz oder Schlimmeres. Er verließ die Konferenz vorzeitig und hastete durch die Straßen, als könnte er durch sein Tempo die verlorenen Schwingungen einholen. Er entdeckte Rhoarxi-Künstler, die ratlos vor misslungenen Werken standen. Einer verlor vollends die Fassung, er zerstörte das Standbild, das er in mühevoller Arbeit

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in zwanzig Tagen geschaffen hatte. Zornig stapfte er davon, trat die Tür seines Hauses ein und schleuderte die Trümmer auf die Straße. »Reiß dich zusammen!«, rief Uquart ihm hinterher. »Du hättest mich verletzen können!« Der Rhoarxi streckte den Kopf ins Freie. »Selbst schuld. Was suchst du auch hier?« Schockiert suchte Uquart das Weite. Er rannte heim in seine Ruhekammer, lauschte auf die Schwingungen in der Stadt.' Er sammelte sie, entdeckte dabei die Ballungen negativer Energie, die sich in seinem Bewusstsein zu einer mannshohen Kugel manifestierten. Uquart sah sie über die Prachtstraße rollen, und sie wuchs und wurde immer schneller. Gleichzeitig neigte sich die Straße immer mehr nach unten, verlor der Untergrund Potista-Substanz, als würde jemand sie wegschmelzen. Uquart rief seinen Botengänger. »Gib Alarm! Die Stadt verändert sich.« »Die Rhoarxi tun es auch!«, lautete die Antwort. Der Mann rannte davon, schlug laut den Gong in den Straßen. Tuxit im Horst konnte es nicht überhören. Uquart hatte es plötzlich sehr eilig. Seit seinem Besuch im Hort waren gerade mal fünf Tage vergangen. Tuxits Lebenswandel hatte sich seither nicht verändert. Er verbarrikadierte sich im Turm, ließ niemanden mehr zu sich. In den Straßen drängten sich Rhoarxi. Uquart fand kein Durchkommen. Er wich auf Seitengassen aus, entdeckte grobporige Wände mit ausfällender Farbe, Zeichen schlampiger Arbeit. An anderen Stellen fehlte der Feinschliff von Wänden, und im Bodenbelag der Gassen wucherte das Potista, als sei es von einer unheilbaren Krankheit befallen. Lautes Geschrei ließ den Brüter schneller gehen. Er bog um eine Ecke und blieb stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Mehrere Rhoarxi stritten sich im Zorn. Ein Wort gab das andere, dann prügelten sie mit ihren Krallen aufeinander ein. Uquart warf sich dazwischen. Die Rhoarxi änderten ihre

Meinung sofort und wandten sich gemeinsam gegen ihn. Er musste Federn lassen, bis er sich endlich befreit und in Sicherheit gebracht hatte. »So etwas hat es in Aspoghie selten gegeben«, krächzte er. In Gedanken suchte er nach einer Lösung, aber die Bilder der Stadt, die seine Augen wahrnahmen, stimmten immer weniger mit denen überein, die er aus der Vergangenheit kannte. Er entdeckte Scharen von Rhoarxi auf der Flucht, es mussten Hunderte sein. Er rief ihnen hinterher, bat um Auskunft, aber sie hörten ihn nicht. Uquart kehrte um. Egal wie, er musste den Obersten Brüter sprechen. Das Cueromb an seinem Arm piepste. Er schaltete es ein und hörte die rasselnde Stimme eines Impostoren. »... vermutlich ein Sturm auf das Verwaltungszentrum. Die Wände und der Boden wackeln. Wir evakuieren.« Uquart bekam es mit der Angst zu tun. Mühsam rang er die negativen Empfindungen in seinem Innern nieder. Er wählte eine Verbindung mit dem Konferenzzentrum. »Kämpft dagegen an, es ist möglich. Ich schaffe es - noch.« »Uquart!« Das war die Stimme von Pagenhag, einem Mob. »Wo bist du?« »Auf dem Weg zum Horst. Ich hole Tuxit da heraus!« »Eine Abordnung von uns ist unterwegs. Du wirst sie treffen.« Der Brüter hastete weiter. Aus dem Cueromb drangen Meldungen aus verschiedenen Teilen der Stadt. Eine davon rüttelte Uquart endgültig auf. Genterandy war freiwillig ins Potista gegangen, weil er sich die Schuld an den ganzen negativen Strömungen gab. Mit dem Prototyp einer neuen Dhedeen-Baureihe hatte alles angefangen. »Welch ein Unsinn!«, schimpfte Uquart und schlug gegen die Hauswand neben sich. »Es sind allein die Schwingungen des Obersten Brüters, die das alles verursachen.« Genterandy nützte es nichts mehr. Er hatte bereits Selbstmord begangen, und das Potista schied ihn aus, eingebacken in totes

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Material, das nicht mehr konjugieren konnte. Uquart kreuzte den Weg der Abordnung. Gemeinsam schafften sie es, sich eine Gasse bis zum Horst zu bahnen. Die Rhoarxi demonstrierten vor dem Turm. Sie trafen Anstalten, die Tür einzuschlagen. Uquart und die Abordnung aus Brütern und Mobs drängte sie zur Seite. Der Pförtner öffnete ihnen. Er wirkte alt und eingefallen, war innerhalb kurzer Zeit um Jahrzehnte gealtert. Nein, er wusste nicht, wieso Tuxit sich nicht rührte. Er hatte ihn auch nicht weggehen sehen. Uquart konzentrierte sich. Vergebens suchte er nach den Anzeichen des Flammenstaubs. Er fand sie nicht, und eine Durchsuchung des Turms bestätigte seine Befürchtung. Tuxit war nicht da. Der Oberste Brüter hatte den Horst verlassen. Die positiven Schwingungen, verstärkt durch den Flammenstaub, fehlten ganz. Uquart wandte sich an seine Begleiter. »Erzählt es niemandem. Sie werden es früh genug merken. Tuxit ist entweder tot, oder er hat die Stadt verlassen.« An der Tragweite seiner Worte zerbrach er fast. Er ließ die Abordnung stehen und kehrte auf dem schnellsten Weg in sein Haus zurück. Was für ein Tag! Uquart hoffte, so einer würde nie mehr wiederkommen.

8. Unbequemer Gast

Jolo richtete sich so heftig auf, dass ich erwachte. »Was ist?«, flüsterte ich. »Hörst du das?« , Ich lauschte. Außer dem leisen Säuseln des Windes an der Gondelaußenseite vernahm ich nichts. »Nein! « »Da ist jemand oder etwas!« Draußen war es dunkel - die zweite Nacht, die wir auf den Verbindungsfäden zwischen den Hochstationen reisten. Es gab für mich zwei Erklärungen, warum Tuxit hier oben auf den Fernstrecken blieb. Entweder war es ziemlich weit bis zu den

Behausungen seines Volkes, oder er wollte möglichst unbemerkt dicht an sein Ziel gelangen. Ohne Zeugen und ohne eine Nachricht von seinem Eintreffen, die ihm vorauseilte. »Du hast geträumt«, murmelte ich. »Tuxit, was meinst du?« Der Rhoarxi antwortete nicht. Meine Augen versuchten das Dunkel zu durchdringen. Ich sah einen Schatten in der uns gegenüberliegende Ecke. Entschlossen erhob ich mich, tastete nach dem Schalter und machte das Licht an. Tuxit lag am Boden, den Arm mit dem Cueromb unter dem Körper geborgen. Er schlief. Schnell machte ich das Licht wieder aus. Er braucht Ruhe, sagte ich mir. Wer weiß, was ihm bevorsteht. Er wird dich brauchen!, warf der Extrasinn ein. Und zwar dringender denn je. Ich grinste in mich hinein. Auf mich konnte er sich verlassen. Ich würde keinen Augenblick von seiner Seite weichen, immer das Gerät im Blickfeld, das nicht nur ihm, sondern auch mir wertvolle Dienste leisten konnte. Ein paar Einstellungen und Sensorkombinationen hatte ich mir gemerkt, ich konnte sie im Notfall nachvollziehen. Ob sie in jedem Fall funktionierten, nahm ich nicht an. Das Cueromb korrespondierte höchstwahrscheinlich mit der Persönlichkeit des Rhoarxi und funktionierte nur im Zusammenspiel mit einem Angehörigen seines Volkes perfekt. »Da ist es wieder!«, zischte Jolo. Das leichte Vibrieren seiner Nasenflügel erzeugte ein kaum wahrnehmbares Geräusch, das ich hörte. Etwas anderes nahm ich nicht wahr. Ich beugte mich zu dem Echsenwesen hinunter. »Wo kommt es genau her?« »Von draußen. Wir sollten das Fenster schließen.« »Wenn du meinst.« »Bitte übernimm du das, Atlan!« Ich erhob mich und durchquerte die Gondel. Die Fenster besaßen innen und außen Griffe, die man umklappen konnte. Dadurch löste sich die Verriegelung. Ich

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schob das Fenster nach oben und verriegelte es. Mit ein paar Schritten kehrte ich zu meinem Platz zurück. Jolo hatte es sich auf dem warmen Boden gemütlich gemacht, wo ich bisher gelegen hatte. »So ist das also.« Ich stieß ihn leicht mit dem Stiefel an. »Dir ist einfach nur kalt.« Er tat, als schliefe er fest und tief. »Jolo, Jolo, mit dir wird es noch schlimm enden.« Ich suchte mir einen anderen Winkel, wo ich mich niederließ. Jolos Verhalten musste einen anderen Grund haben als das Bedürfnis nach Wärme. Oder wenigstens nicht ausschließlich. Die Gondeln waren mit allem ausgestattet, was man bei einer Reise benötigte, mit Heizung, Speisen und Getränken, Waschgelegenheit bis hin zur ausklappbaren Sanddusche für Reptiloiden oder Avoiden. In Gedanken stellte ich mir das weit gespannte Netz der Fäden vor, die den Himmel über der Intrawelt durchzogen. Zweitausend Hochstationen gab es ungefähr, ziemlich wenig für eine Hohlwelt wie diese. Die Zahl der Flachstationen ließ sich vermutlich nicht genau ermitteln, sie musste in den Hunderttausendern liegen. Genau wussten es vermutlich nur die, die das System damals entwickelt hatten. Das Gondelsystem setzte eine gewisse technische Stabilität voraus, es brauchte eine Ausgewogenheit von Zug- und Fliehkräften. Dennoch erschien es mir unwahrscheinlich, dass es sich bei teilweise stürmischen Winden selbst hielt, im Zentrum aufgehängt an den Ultrafäden. Wenn nur ein Faden riss, konnte das die Zerstörung des gesamten Systems nach sich ziehen. Dem hatten die Erbauer mit Sicherheit vorgebeugt, etwa in Form von Schwerkraftprojektoren, die einen Ausgleich schufen. Jolo fuhr auf. »Hast du es jetzt gehört?« »Du meinst dieses leise Schaben? Das ist die Gondel. Die Kupplung vermutlich. Beruhige dich.« Ich hörte, wie Jolo sich erhob. Er ging zu den Fenstern auf der anderen Seite, als gäbe es in der vollkommenen Dunkelheit draußen etwas zu sehen.

»Da ist es wieder«, hauchte er. »Du kannst viel behaupten, Atlan, aber nicht, dass ich taub bin.« Seinen Hunger schien er angesichts seines permanenten Gefährdungszustands völlig vergessen zu haben. Vier Stunden Nachtfahrt ohne Mahlzeit, wie hielt der arme Kerl das bloß aus? Das Schaben wurde lauter. Gleichzeitig vibrierte die Gondel, als habe der Wind zugenommen. Oder es übertrug sich irgendeine Kraft auf das Zugseil. Ich erhob mich ebenfalls und ging zum Fenster, das ich geschlossen hatte. Mit einem Ruck öffnete ich es und streckte den Oberkörper ins Freie. Meine Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Dennoch sah ich nichts. Zwei Lichtpunkte in der Ferne, es musste sich um Positionslampen von Hochstationen handeln. Die beiden Punkte schwankten, eine relative Beobachtung in einer sanft schaukelnden Gondel. Allerdings bewegten sich die Punkte in unterschiedlicher Richtung auseinander und wieder zurück. Ich schloss das Fenster wieder, damit Jolo beruhigt war. »Ich habe keine Geräusche gehört. Das Zugseil ist in Ordnung.« Die Maulspindler befuhren ihre Strecken regelmäßig, und sie kontrollierten das durchlaufende Seil an ihren Stationen. Sobald sie einen Fehler entdeckten, machten sie sich sofort an die Arbeit. Ein Maulspindler auf dem Dach einer Gondel beim Spinnen des Fadens, das war mit Sicherheit ein aufregendes Erlebnis. Dennoch wollte ich nicht unbedingt dabei sein oder erst, wenn das Seil repariert war. »Lass uns schlafen, ja?« Ich streckte mich wieder auf dem Boden aus. Es gab Betten in der Gondel, angefertigt für unterschiedliche Lebewesen. Aber keiner von uns verspürte Lust, sie in Anspruch zu nehmen. Dabei waren sie unter Garantie hygienisch rein. »Ich versuche es«, antwortete Jolo. Tatsächlich gelang es mir, wieder einzuschlafen, obwohl ein Rest Zweifel im hintersten Winkel meines Bewusstseins

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blieb und beständig nagte. Wenigstens machte er dabei keine Geräusche. Wie viel Zeit verging, wusste ich hinterher nicht zu sagen. Ich schrak auf, weil mir der Wind ins Gesicht blies. Jolo? Ich hörte seinen gleichmäßigen Atem. Von Tuxit war überhaupt nichts zu hören, aber das Fenster stand offen, das ich schon zweimal zugemacht hatte. Mit einem Satz war ich auf den Beinen, ging instinktiv in Abwehrstellung, während ich nach dem Lichtschalter tastete. Das gelbe Licht beruhigte und zeigte mir obendrein, dass alles in Ordnung war. Jolo schlief, Tuxit auch. Die gleichmäßigen Atemzüge der beiden ließen sie herzhaft gähnen. Du hast vergessen, die Griffe umzulegen, sagte ich mir. Das Fenster ist von allein aufgegangen. Ich überlegte, ob ich mich nochmals schlafen legen sollte. Besser war es vielleicht. Tuxit erholte sich mit Hinblick auf die bevorstehende Heimkehr, und Jolos Nervosität tat ein tiefer Schlaf ebenfalls gut. Ich besaß zwar meinen Zellaktivatorchip, aber auf seine regenerierenden Kräfte wollte ich mich nicht ausschließlich verlassen. Also war Schlafen angesagt, danach ein ausgiebiges Frühstück, das wir vermutlich schon in der nächsten Gondel zu uns nehmen würden. Draußen klatschte etwas gegen das Metall der Gondel. Der Wind trug das Geräusch davon, aber ich war sicher, dass es von oben gekommen war. Ein Schmatzen folgte. Im Lichtschein, der ins Freie drang, ließ sich nichts erkennen. Eine Dachluke gab es nicht, und um einen Blick auf die Oberseite der zigarrenförmigen Kabine zu werfen, hätte ich an ihr hochklettern müs sen., Wieder hörte ich ein Schmatzen, dann ein Schaben. Irgendetwas war da draußen. Jolo hatte also richtig gehört. Oder irgendjemand ...

*

Das Schmatzen näherte sich auf der anderen Seite der Gondel. Ich ging hinüber, spähte durch das geschlossene Fenster hinaus. Nichts. Was immer da oben auf der Außenseite lauerte, es ließ sich hören, aber nicht sehen. Ich kehrte zum offenen Fenster zurück und machte es wieder zu. Dabei wandte ich der anderen Seite für ein paar Augenblicke den Rücken zu. Ein Kribbeln im Nacken warnte mich und zeigte mir den Fehler auf, den ich soeben begangen hatte. Das Geräusch des nach unten fallenden Fensters ließ mich herumfahren. Ich sah einen Schatten, eine helle geschuppte Fläche, die übergangslos das Fenster ausfüllte. Ein Ruck, und ein Teil der Masse plumpste in das Innere der Gondel. Der Rest folgte. Es handelte sich um einen mehr als einen Meter großen Sack mit etlichen Fetzen, der sich wie ein Wurm wand. Ich sah den blutigen Lamellensockel und dann den Oberkörper, der sich aufrichtete. Die Zitzen fehlten, ich hatte folglich einen Mann vor mir. Es war ein Driete, und er schien offenbar in Not. »Wacht auf!«, rief ich den Gefährten zu. »Wir haben Besuch!« Der Driete warf sich auf Jolo. Der zuckte hoch, schrie wie in höchster Todesangst und versuchte, sich aus dem Griff der drei dünnen Armpärchen zu befreien. Ich sah den schmalen Kopf des Wesens mit gelbrot verfärbten Glupschaugen. Der breite Froschmund stand weit offen und zeigte zersplitterte Zahnleisten mit teilweise messerscharfen Zacken. »Lass ihn los! «, fuhr ich den Drieten an. Der schien mich gar nicht zu hören. Er wollte seine Zacken in den Körper des zappelnden Jolo schlagen. Ohne lange zu überlegen, packte ich den Eindringling da, wo es ihm vermutlich am meisten wehtat, an den Kopffühlern. Ich riss daran. Er warf den Oberleib herum, griff mich sofort an. Ich korrigierte hastig meine Einschätzung. Dieses Wesen befand sich nicht in Not, es war auf Beutezug.

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»Hör auf!«, fuhr ich es an. Es missachtete die Worte. Er versteht dich nicht, meldete sich mein Extrasinn. Sieh genau hin! Er hatte Recht. Nirgends am Körper des Drieten konnte ich einen Dhedeen entdecken. Entweder war er geflohen, oder der Breite Mann hatte ihn aufgefressen. Ich duckte mich unter dem Kopfstoß hinweg, den der verrückte Driete gegen mich führte. Ich bekam Jolo am linken Arm zu fassen. Das Echsenwesen war in Starre verfallen. Während ich ihn festhielt, verpasste ich den Armpaaren des Angreifers mehrere Tritte. Endlich ließ er los, um aber umso heftiger wieder zuzufassen. »Tuxit! «, brüllte ich. »Wach endlich auf!« Der Rhoarxi rührte sich nicht, er lag wie tot da. Mein Geschrei lenkte allerdings die Aufmerksamkeit des Drieten auf ihn. Er erstarrte zunächst, dann stieß er ein Wimmern aus, gefolgt von einem langen Seufzer. Einen kurzen Augenblick ließ ich mich ablenken. Der Driete versetzte mir einen Stoß, der mich zurückschleuderte. Ich landete unsanft 'auf meinem Allerwertesten, während der Verrückte sich zum offenen Fenster wälzte. Ich warf mich hinterher, rutschte in der Schleimspur aus, landete erneut unsanft auf dem Boden. Wahrscheinlich war es Glück, dass ich gegen den mächtigen Leib des Rhoarxi prallte und ihn unsanft aus seinem tiefen Schlummer riss. »Hilf uns!«, keuchte ich. Der Driete zwängte sich mit dem Hinterleib voran aus dem Fenster. Er gab ein Blubbern von sich, das vermutlich Worte sein sollten oder eher Gestammel eines Verrückten. Erneut warf ich mich auf ihn, versetzte den Ärmchen ein paar Dagor-Schläge, führte einen weiteren gegen den Kopf des Wesens. Es kreischte mich an, versuchte mit den Fühlern zu schlagen. Es gelang mir, Jolo seinen halb gelähmten Extremitäten zu entreißen, dann rutschte der Angreifer auch schon rücklings ins Freie.

Der Schlag gegen den Kopf schien seine Orientierung zu stören. Er kroch abwärts, rutschte mit dem Lamellensockel des Hinterleibs plötzlich ins Leere und wollte sich mit den Ärmchen an der Gondel festklammern. Es klappte nicht. Sie glitten ab, eine Saugwirkung kam nicht zustande, weil der Körper des Drieten zu schwer war. Mit einem lauten Ächzen stürzte er in die Tiefe. Ein Schlag warf mich zur Seite. Ich stürzte, noch immer Jolo in den Armen, zum dritten Mal zu Boden. Diesmal war Tuxit es gewesen, der mich umgestoßen hatte. Ich sah, wie er das Cueromb justierte, danach den Oberkörper durch das Fenster ins Freie zwängte. Ein Geräusch hörte ich nicht, aber das sich entfernende Kreischen des Drieten hörte auf. Ich half Tuxit, ohne Federverlust zurück in die Kabine zu kommen. Der Rhoarxi entschuldigte sich für sein rüdes Verhalten. »Die entsprechende Funktion des Cueromb besitzt keine unbegrenzte Reichweite. Ich musste mich beeilen.« »Schon gut. Du hast ihn zerstrahlt, oder?« »Atomisiert, ja. Er hätte die Fäden des Gondelsystems gefährdet und bei seinem Aufschlag auf der Oberfläche sicherlich Unheil angerichtet.« Ich kümmerte mich um Jolo. Er hatte vor Schreck das Bewusstsein verloren. Bis er wieder zu sich kam, würde es wohl noch eine Weile dauern. »Dieser männliche Driete«, wandte ich mich an Tuxit, »wo kam er her? Fuhr er die ganze Zeit auf dem Dach der Gondel mit?« Der Rhoarxi stieß ein Krächzen aus. »Er kam über den Faden, ein armes Wesen mit verwirrtem Geist und behindertem Körper. Ein genetischer Defekt, soweit ich das erkennen konnte. Er konnte sich nicht verwandeln, war ein Ausgestoßener in seiner Sippe. Er entfernte sich immer mehr von seiner Parzelle, bis er zum Gondelräuber wurde. Von seinen Überfällen hat er sich ernährt.« »Du hast das erkannt?«, überlegte ich halblaut. »Mit dem Cueromb?«

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Tuxit gab keine Antwort darauf. Er wandte sich ab, musterte das Innere der Kabine, lauschte gleichzeitig in sich hinein. »Wir kommen bald an. In OB-87 steigen wir zum vorletzten Mal um.« Es ging also wieder abwärts zu einer Flachstation und von dort vermutlich zur Oberfläche. Jolo erwachte gerade rechtzeitig, damit wir ihn nicht aus der Gondel zu tragen brauchten. Diesmal erregten wir kein solches Aufsehen wie bisher. Tuxit verhielt sich unauffällig, und er setzte seinen Flammenstaub nicht ein. Geduldig warteten wir in der Schlange, bis wir an die Reihe kamen. Einen Vorteil hatte es, wenn man von oben kam und nach unten wollte. Kein Gondelwärter fragte einen nach dem Grund der Reise. Sie erkundigten sich nach dem Befinden und verbuchten es auf ihrem Pluskonto, wenn sie lauter frohgelaunte und zufriedene Passagiere hatten. Zwei Stunden ungefähr mussten wir warten, dann endlich führte man uns in die Gondel, die hinab zur Flachstation führte. Ein letztes Umsteigen, wohin genau, das erfuhr ich nicht. Tuxit nannte weder den Namen der Gondelstation noch den der Parzelle. Er stellte sich einfach am betreffenden Faden an. Die Gondel sank langsam abwärts. An das geringere Fahrtempo mussten wir uns nach den eineinhalb rasanten Tagen im Hoch-Netz erst wieder gewöhnen. Ein laut und deutlich vernehmbares Knacken drang an unsere Ohren. Gleichzeitig wurde es draußen hell. Die Kunstsonne hatte sich wieder eingeschaltet.

* Unter uns erstreckte sich eine weitläufige Wüste. Lediglich weit hinten am Dunst-Horizont entdeckte ich einen grünen Fleck, eine Oase vermutlich. Das Seil - der Faden - unserer Gondel führte mitten in den Sand hinein, als habe ihn jemand einfach in den Boden gesteckt.

Tuxit reagierte nicht. Der Rhoarxi stand neben mir und blickte in dieselbe Richtung. Der Grund wurde mir Minuten später klar. Im Sand tauchte ein winziger dunkler Fleck auf. Er entpuppte sich als kleines Häuschen, das auf einer sandbedeckten Plattform stand. Dahinter rotierte mit hörbarem Quietschen der Umlenker des Seils. Als wir uns dem Ziel bis auf ein paar hundert Meter genähert hatten, entdeckten wir die vielbeinige Gestalt des Maulspindlers. Mit einem großen Fächer fegte er den Sand von der Landestelle. »Wundere dich nicht«, sagte Tuxit, »wenn ich den Namen des Wärters nicht kenne. Er interessiert niemanden, denn die Station ist namenlos. Das färbt eben ab.« »In eine solche Einöde führst du uns?«, empörte sich Jolo. »Müssen wir unser Essen etwa in Säcken mit uns schleppen?« »Vielleicht. Iss noch einmal kräftig. Wer weiß, wie viele Stunden unser Marsch dauern wird.« Jolo machte sich über die wenigen noch gefüllten Wandfächer her. Was er bis zum Entkoppeln der Gondel nicht in den Mund gestopft bekam, schob er unter seine Jacke und in die weiten Taschen seiner Hose. Ich öffnete die Tür. Draußen stand der Maulspindler. Er musterte mich und Jolo abschätzig, dann erblickte er den Rhoarxi und brach in allen Beinen ein. Es gab ein paar ordinäre Geräusche, als der Leib des Wesens gegen den Boden prallte und die Luft entwich. »Willkommen in meiner Heimat Aspoghie«, sagte der Rhoarxi. »Sie befindet sich derzeit in der Parzelle Nabuzym.« Jolo brach in wüstes Jammern aus.

9. Vergangenheit: der Albtraum

Angst schlich durch Aspoghie. Sie suchte sich Opfer, und sie fand sie in den Herzen der Rhoarxi, die vergebens auf eine Besserung ihres Zustandes warteten. Uquart schickte Ärzte in die Häuser, aber ein Teil der Gebäude war nicht mehr

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zugänglich. Eingestürzte Stockwerke, zerbröselte Fassaden: In Aspoghie gab es keinen Winkel mehr, der nicht an den Weltuntergang erinnerte. Gleichzeitig schwankte die Stadt wie unter hohem Seegang. Alles litt, alles war krank, und aus der Angst in den Herzen der Rhoarxi entwickelte sich Hysterie. Aus der Hysterie wurde Panik. Uquart sprang auf. Ein dumpfes Grollen tief im Innern der Stadt alarmierte ihn. »Ins Freie!«, donnerte seine Stimme durch das Haus. »Los, los, Kinder und Eier zuerst! Wer hilft?« Sie schienen nur darauf gewartet zu haben. Die Familie, die Bediensteten, alle hasteten mit gepackten Nestern und Koffern herbei. Sie scharten sich um ihn, ihn, den ruhenden Pol, den Einzigen in ihrer Nähe, der noch so etwas wie Zuversicht verströmte. Uquart evakuierte seine Familie. Mit einer Transportplattform schickte er sie weg, hinaus ins Grüne, wo sie in nächster Zeit besser aufgehoben waren. Er ließ sich bei dieser Entscheidung von seinem Instinkt leiten. Kaum war die Plattform abgeflogen, stürzte sein Haus ein. Er rettete sich vor den herabfallenden Potista-Trümmern in die gegenüberliegende Seitengasse. Aus den Trümmern klaubte er anschließend ein paar wichtige Unterlagen und Wertgegenstände, bevor das Potista sie im Eiltempo in die unergründlichen Tiefen seines Leibes gezogen hatte. Ein Ruck riss ihn von den Beinen. Die ganze Stadt wackelte, und sie sank abwärts. Uquart sah Türme einbrechen und Häuser in der Tiefe versinken. Er lauschte auf das Schwanken, verharrte auf der Stelle, bis die Abwärtsbewegung aufhörte. »Es ist der Sockel!«, schrie er. »Etwas stimmt mit dem Sockel nicht! « Die ganze Stadt hing nach links. Die Straßen und Wege waren um einige Grad geneigt. Es erschwerte das Gehen erheblich. Bald tat Uquart das linke Bein weh, weil es stärker belastet wurde als das

rechte. Er stöhnte, schleppte sich aber weiter. In einer der Gassen ertönten Schreie. Uquart ging ihnen nach. Sie verklangen, und als er den Ort erreichte, floss ihm Blut entgegen. Ein Dutzend Rhoarxi lagen tot am Boden. In manchen Leibern steckten noch die Messer. Diese Aspoghies waren überfallen und vermutlich beraubt worden, als sie sich in Sicherheit bringen wollten. Erst jetzt begriff Uquart, dass er mitten in einem untergehenden Schiff stand. Erneut schüttelte Aspoghie sich. Der Brüter rannte los. Er hatte nur noch eines im Sinn: Er musste hinauf in den Turm. Dort hing in einem Holzverschlag die Glocke aus alter Zeit. Sie war aus Metall, die Halterung aus Holz. Wenn etwas den Untergang dieser Stadt überstand, dann die Glocke. Mochten die Rhoarxi sterben, das Potista vergehen, die Glocke würde immer bleiben. Uquart rannte, so schnell seine Beine ihn trugen. Er fing an zu keuchen, aber es störte ihn nicht. Seine Beine füllten sich scheinbar mit Blei, er beachtete es nicht. Weiter, immer weiter. Die Vorgänge in der Stadt zogen wie ein Film an ihm vorbei. Hunderte von Toten sah er, teils von ihren Häusern erschlagen oder von den Kunstwerken, die sie zu schützen trachteten. Er beobachtete Kämpfe, entfesselte Rhoarxi, in denen die Urgewalten früher Vorfahren erwacht schienen. Der Brüter sah Dinge, von denen er geglaubt hatte, sie wären in der Zivilisation der Rhoarxi längst nicht mehr möglich. Mit dem Cueromb rief er die Amtsbrüder. Nur wenige antworteten. Die anderen befanden sich in wilder Flucht vor ihren Artgenossen. Endlich, der Horst! Uquart erreichte ihn schneller als sonst, weil es zwischen zerborstenen Häusern einen Pfad direkt dorthin gab. Er kletterte hinauf, musste anhalten, weil seine Beine ihn nicht mehr trugen. Nach schier endlosen Atemzügen schaffte er es doch. Der Verschluss war noch intakt, er öffnete ihn nach einem kurzen Stoßgebet. Mit bebenden Flügeln

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klappte er die Verschläge der vier Seiten auf, packte das Seil des Klöppels. Erste Glockenschläge hallten über Aspoghie. Jeder, der sie hörte, wusste sofort, was er zu tun hatte. Raus aus der Stadt. Weg von hier. Es bestand höchste Lebensgefahr. Uquart schrie seinen Schmerz und seine Qual hinaus, während er Sturm läutete. Seit der Erschaffung der Stadt war es mit hoher Wahrscheinlichkeit das erste Mal, dass Aspoghie evakuiert werden musste. Stunden später schlich Uquart gebeugt aus der Stadt. Vorn am Bug klaffte ein riesiges Loch. Ein ganzer Stadtteil war abgebrochen. In der Nähe der Trümmer entdeckte er Impostoren, die den Verlust beweinten. »Beweint euch selbst!«, rief Uquart ihnen zu. Er tappte hinaus ins Grasland, in dem die Stadt zum Stillstand gekommen war. Wenn es nur der Stillstand gewesen wäre, die Rhoarxi hätten das verkraftet. Aber es war der Untergang. Die Stadt hing schräg, die meisten Türme fehlten. Die Stadtmauer war eingestürzt, der Sockel Aspoghies zersetzte sich nach und nach. »Seht, dort ist Uquart«, hörte er jemanden sagen. »Er hat die Glocke geläutet und Tausenden von uns das Leben gerettet!« Na schön, dachte er ohne einen Funken Stolz. Habe ich nicht einfach nur meine Pflicht getan? Mit einem Mal spürte Uquart diese Urgewalt in sich, erlebte etwas, das er in seinem bisherigen Leben nicht gekannt hatte. Es war Hass, Hass auf den, der das alles verursacht hatte. Falls er noch am Leben war. War Tuxit gestorben, konnte er nichts dafür. Dennoch würde seine kurze Amtszeit als die- schlimmste in die Annalen der Aspoghies einziehen...

* Uquarts Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Er fühlte sich, als habe er alles noch einmal erlebt. Das Feuer in seinem Innern half ihm, es schneller zu verarbeiten. Dreißigtausend Tage war es inzwischen her. Damals war die

Zivilisation von Aspoghie zu einem großen Teil zerstört worden. In mühevoller und langer Arbeit entstand aus den Trümmern wieder ihre Stadt. Den Neustart hatten sie aber nur mit Hilfe der beiden anderen Wanderstädte geschafft, in deren Schuld sie seitdem standen. Aspoghie lebte wieder, und sie wanderte. Nur eines war nicht mehr wie früher. Seither hatte es keinen einzigen Obersten Brüter vom Format eines Tuxit mehr gegeben. Uquart wüsste es nur zu gut, dass er der bisher Letzte in einer Reihe schwacher Brüter war. Und jetzt, nach so langer Zeit, hatte er die Gewissheit, dass Tuxit lebte. Er war damals nicht gestorben, sondern aus der Stadt geflohen, aus welchen Gründen auch immer. Mochte der Hass von damals inzwischen versiegt gewesen sein, jetzt loderte er wieder empor, und kein. Oberster Brüter war stark genug, ihn in den Herzen der Aspoghies zu bändigen. Mit diesen Gedanken und reichlich verschmitztem Gefieder trat Uquart vor die Versammlung der Mobs. Diese Rhoarxi aus allen Schichten der Stadt besaßen ein großes Mitspracherecht bei allem, was der Oberste Brüter beschloss. Uquart lehnte es ab, allein zu herrschen. Er fühlte sich mehr als Behältnis des Flammenstaubs und damit als der, der demokratisch gefasste Beschlüsse dann auch durchsetzte. Die Beratungen in diesem Fall würden viel Zeit in Anspruch nehmen. Zeit für Tuxit, den Uquart jetzt deutlich spüren konnte. Er kam näher, immer näher. Es trieb dem Obersten Brüter erneut den Schweiß aus den Poren. Bald waren die gereichten Tücher nass, er brauchte neue. Bald würde er vielleicht keine mehr benutzen können. Es durfte in einer Stadt nur ein Behältnis geben, nur einen Obersten Brüter. Flammenstaub!, dachte er. Gib mir Kraft. Lass mich nicht im Stich. Ich muss diese Auseinandersetzung bestehen, diese Prüfung. Damit es kein zweites Mal eine solche Katastrophe gibt.

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10. Exkrementura

Meine Sinne waren aufs Höchste angespannt. In der unwirtlichen Umgebung würde es für Tuxit ein Leichtes sein, uns orientierungslos zurückzulassen. Bis wir uns zur nächsten Oase oder Ansiedlung durchgeschlagen hatten, war er mit dem Cueromb über alle Berge. Und mit dem Flammenstaub, den er in sich trug. Ob wir ihm jemals wieder begegneten, hielt ich bei der Größe der Intrawelt eher für unwahrscheinlich. In tausend Jahren vielleicht. Aber dann war es zu spät. Bis dahin existierte die Widerstandsorganisation »Konterkraft« nicht mehr, und der Kampf gegen die Lordrichter von Garb war sinnlos geworden, weil sie das Universum längst beherrschten. Also musste es jetzt geschehen, in diesem Leben. Ob Tuxit der geeignete Ansprechpartner für mein Anliegen war, bezweifelte ich. Alles deutete bisher darauf hin, dass er sich im Unfrieden von seinem Volk getrennt hatte. Wenn er jetzt zurückkehrte, um einiges in Ordnung zu bringen oder sich seiner Verantwortung zu stellen, dann war das für mich Anlass, mit dem Schlimmsten zu rechnen. Dass wir als Feinde empfangen und eingesperrt wurden zum Beispiel. Oder dass man uns für Spione hielt, besonders wenn sich herumgesprochen hatte, von wo ich kam. Den Ruf der Unbestechlichkeit seines pförtnerischen Urteils hatte Teph bekanntlich längst eingebüßt. Es konnte aber auch umgekehrt sein. Wenn man uns als Freunde aufnahm, fiel es mir leichter, meinen Wunsch vorzubringen und die Dringlichkeit meines Ansinnens zu verdeutlichen. Was aber unternahm ich, wenn man mir in beiden Fällen kein Gehör schenkte? Diebstahl des Flammenstaubs, kam das überhaupt in Frage? Die Rhoarxi bewahrten ihn mit Sicherheit nicht in handlichen Kassibern auf, die man unter dem Arm davontragen konnte.

Während wir Tuxit zum Rand der Plattform folgten, überlegte ich, ob es nicht doch am besten war, das Cueromb so schnell wie möglich wieder in meinen Besitz zu bringen. Ich hatte es dem Rhoarxi auf seine ausdrückliche Bitte hin überlassen. Es hatte einst einem seiner Artgenossen gehört. Ganz sicher ging er davon aus, dass ich es nie wieder zurückfordern würde. Frage ihn doch einfach! Bei aller Logik besaßen die Vorschläge des Extrasinns manchmal eine entwaffnende Naivität. Tuxit hätte sich dann erst recht vorgesehen und sich von uns getrennt. Genau das musste ich verhindern. An den Flammenstaub in seinem Körper kam ich nicht heran. An den seines Volkes vielleicht doch, wenn ich es geschickt genug anstellte. Der Rhoarxi hatte das Funkgerät des bewusstlosen Gondelwärters bearbeitet. Weit entfernt tauchte eine Antigravplattform auf, zog am Firmament empor und kam dann in einer eleganten Kurve neben der Gondelstation herunter. »Hör endlich auf zu jammern«, forderte ich Jolo auf. »Ich kann es nicht mehr hören. Und Tuxit auch nicht.« Das Echsenwesen sah mich mit zornigem Blick an, der genau meine Stimmung wiedergab. Anschließend setzte es eine erleichterte Miene auf. »Gut so, Atlan?« »Ja, Freund.« »He, du hast mich soeben >Freund< genannt. Ist das dein Ernst?« Ich nickte. »Was sonst? Und jetzt schalte deinen Spiegel wieder ab.« Sein Gesicht lieferte mir einen bekümmerten Ausdruck und zeigte mir deutlich, was ich wirklich empfand. Jolo war mir während unserer Irrfahrten durch die Intrawelt ans Herz gewachsen. Von den Gefährten aus der Anfangszeit war er als Einziger übrig. Tuxit zählte ich auch dazu, aber meine Einstellung zu ihm hatte sich gewandelt. Ich vertraute ihm, solange wir beisammen waren. Sobald sich unsere Wege trennten, standen wir auf verschiedenen Seiten.

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Zumindest lag die Wahrscheinlichkeit dafür sehr hoch. Die Plattform senkte sich vor uns nieder. Wir stiegen auf, verschwanden in den für Rhoarxi vorgesehenen Polstern - Jolo ganz, bei mir lugte wenigstens der Kopf hervor. Tuxit lenkte das Fahrzeug, das seinem Volk gehörte. Dennoch nagten in mir Zweifel. Die wandernden Städte sollten die Heimat der Rhoarxi sein, jener begnadeten Baumeister aus Dwingeloo? Narr! Warte es doch ab. Noch kennst du weder die Parzelle noch die Rhoarxi genau! Tuxit schwenkte seinen Sessel herum. Der Rhoarxi sah mich durchdringend an. »Die namenlose Station steht mitten in der Wüste Nabuzyms. Wir fliegen zum Rand der Parzelle, wo sich meine Heimatstadt zurzeit befindet.« »Heimatstadt«, nickte ich. »Das hört sich gut an. Sprich ruhig weiter. Wie heißt die Stadt? Wie viele Einwohner hat sie? Ist es möglich, deinem Volk eine Bitte zu unterbreiten, ohne gleich aufgefressen zu werden?« Als er schwieg, erhob ich mich. »Es missfällt mir sehr, an deine Dankbarkeit appellieren zu müssen. Aber auch ohne die Tatsache, dich aus der Sklaverei befreit zu haben, bist du mir ein paar Informationen schuldig.« »Ich hatte dich nicht gebeten, mich aus meinem Dasein zu reißen, das mir zur angenehmen Gewohnheit geworden war. Ältester Sklave mit Einfluss und eigenem Zelt, mehr hätte iah mir nicht wünschen können. Bis du kamst. Was habe ich jetzt?« »Du hast Recht«, lenkte ich ein. »Du weißt nicht einmal, ob du den nächsten Tag noch erlebst.« Trotz der Provokation strafte der Rhoarxi mich nicht mental ab. Es verstärkte meinen Verdacht um den Einsatz seines Flammenstaubs. Er hielt sich absichtlich zurück. »Deine Ankunft markiert vielleicht den Beginn einer neuen Epoche im Leben meines Volkes«, fuhr Tuxit fort. »Ob das

gut oder schlecht für uns Rhoarxi oder für dich ist, kann niemand im Voraus sagen. Wir werden es sehen. Die Stadt heißt Aspoghie.«

* Wir ließen die Antigravplattform zurück. Tuxit bestimmte das so. Es hing mit der Reichweite der Ortungsgeräte zusammen. Auf ihrem Weg durch die Wüste bestrich- die Stadt eine bestimmte kreisförmige Fläche mit ihren Tastern. Nach der Beschaffenheit der Oberfläche und des Untergrunds sowie nach dem Vorhandensein von Leben wählten die Lenker der Stadt deren Weg. Aspoghie, die wandernde Stadt. Die Vorstellung passte so gar nicht zu den Bauwerken, die die Rhoarxi in früheren Zeiten in Dwingeloo hinterlassen hatten. Vielleicht hatten sie alle jene Gebäude für Wesen eines anderen Kulturkreises errichtet. Nicht umsonst hing ihnen der Ruf begnadeter Baumeister selbst nach Jahrhunderttausenden nach. Tuxit fühlte sich in der Wüste ausgesprochen wohl. An den Boden geduckt, hüpfte er dennoch leichtfüßig voran, beobachtete das Gelände und achtete gleichzeitig darauf, dass auch wir uns nicht unnötig im Freien zeigten, gar auf einem. Hügelkamm oder einem Felsen stehen blieben, wo man uns schon von weitem sehen konnte. Wir bewegten uns im Randbereich der Parzelle Nabuzym an der Grenze zu einem Nachbarland, dessen Namen wir nicht kannten. Alles hier sah aus wie im Museum, die Konturen der Hügelketten und Dünen, die Felsriffe mittendrin - nichts wies auf langjährige Verwitterung hin. »Ist das alles neu hier?«, rief ich leise. Tuxit blieb stehen und wartete, bis wir zu ihm aufschlossen. »Anstizen und Drieten haben diese Parzelle erst vor wenigen Jahrzehnten angelegt«, bestätigte er. »Dennoch hat sich auch hier schon eine Schmarotzerpopulation niedergelassen.

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Wenn wir Pech haben, begegnen wir ihr auf unserem Weg zur Stadt.« Die Eisquallen waren folglich nicht die einzige Lebensform geblieben, die nicht dem Populationsschema der Intrawelt entsprach. Ihr Vorhandensein in jedem Fall dem Wächter anzulasten hätte sicher nicht den Tatsachen entsprochen. Bestimmt waren auch manche mit dem Erdreich oder den Felsen von fernen Planeten importiert worden, in wenigen Exemplaren, die mit der Zeit einen geeigneten Lebensraum fanden und sich vermehrten. »Wir Rhoarxi nennen sie Therabols, was so viel wie Löcherbohrer bedeutet«, fuhr Tuxit fort. »Bleibt jetzt dicht bei mir. Die Stadt nähert sich.« Die plötzliche Mitteilsamkeit des Rhoarxi sah ich durchaus nicht als Entgegenkommen an, sondern als Alarmzeichen. Je näher wir seinem Ziel kamen und je näher die wandernde Stadt rückte, desto nervöser wurde er. Nach einer Weile warf er sich hinter einem Sandhügel in Deckung. Wir folgten seinem Beispiel. Noch schluckte der Sand jedes Geräusch, aber auf einmal spürte ich übergangslos ein Zittern des Bodens, das sich auf meine Bauchdecke übertrug. Tuxit fiepte leise. Sein Gefieder stellte sich teilweise steil auf. Jolo neben mir fing hektisch an zu schnaufen. Ich legte ihm eine Hand auf die Schnauze, zur Warnung und Beruhigung. Ein wenig half es, aber dann tauchte Aspoghie in unserem Blickfeld auf. »Helden meiner Träume, steht mir bei!«, jaulte Jolo. »Ein Therabols-Ungeheuer! « Ich presste ihm die Schnauze zusammen. »Es ist Aspoghie. Begreif das endlich! « Von weitem erinnerte die Stadt an ein überdimensionales Fahrzeug mit zahllosen Aufbauten. Im Vergleich dazu kamen wir uns wie winzige Kreaturen aus einem Mikrouniversum vor. Tuxit krächzte leise vor sich hin, grub dann den Schnabel in den Sand, damit niemand ihn hören könnte. Die Stadt zog vorbei, ein gigantischer Wurm, den ich auf ungefähr vierhundert Meter Länge bei einer Breite von vielleicht fünfundzwanzig bis dreißig

Metern schätzte. Eine Mauer umgab die Stadt, bestimmt zwanzig Meter hoch. Die Gebäude ragten beinahe doppelt so hoch auf. Die Gebäude bewegten sich ununterbrochen. Manche wuchsen im Zeitraffertempo in die Höhe, andere wieder schrumpften, als würden sie im Innern der Stadt versinken. Alle möglichen Farben gab es, selbst Neongrün und Pink fehlten nicht. Jedes Gebäude, manchmal sogar jede Fassade leuchtete anders und zeugte ebenso vom Einfallsreichtum der Rhoarxi wie die teils bizarren Formen der Gebäude. Der Sockel hingegen vermittelte so etwas wie Ruhe und Gleichmäßigkeit entsprechend seiner Bewegung. Er ähnelte einer dickflüssigen Masse. Aspoghie erinnerte mich an ein gewaltiges Hoovercraft mit dem Unterschied, dass die Stadt nicht auf einem Luftkissen schwebte, sondern ein anderes Prinzip der Fortbewegung nutzte. Auf die Distanz von einem halben Kilometer ließ sich nicht genau erkennen, worum es sich dabei handelte. Aspoghie glitzerte rostig rot, die Kanten der Stadt wirkten scharf, aber das war vielleicht eine optische Täuschung. Auf ihrem Weg passierte sie mehrere Felsriffe mitten im Sand. Sie zwängte sich hindurch, zog ihre Formation in die Länge, bis sie passte, setzte den Weg fort und erhielt ein paar Meter weiter ihre ursprünglichen Maße wieder. Die Geschwindigkeit Aspoghies liegt bei dreißig Kilometern pro Stunde, stellte der Extrasinn fest. Und das ohne Räder und ohne Luftkissen. Wir starrten dem Gebilde hinterher, bis es zwischen hoch aufragenden Dünen verschwunden war. Dort, wo es seinen Weg genommen hatte, ragten seltsame Hinterlassenschaften auf. Es waren keine Felsen, denen die Stadt den Sand weggeschoben hatte. Eigenartige Gebilde lagen oder standen herum, die vorher nicht da gewesen waren. »Kommt mit«, sagte ich. »Das muss ich mir ansehen!« Ich erhob mich und lauschte. Von irgendwoher hörte ich Stimmen, einen

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Singsang, der auf die Anwesenheit von Lebewesen hindeutete. Ich sah mich um, beschattete mit der Hand die Augen und suchte. Die Töne wurden lauter und schriller. Der Singsang entpuppte sich als an- und abschwellendes Schreien in hoher Tonlage, hart an der Grenze zum Ultraschall. Blues hätten daran vermutlich ihre wahre Freude gehabt. Mir tat es in den Ohren weh, und ich presste die Hände auf die Muscheln. »Ich halte das nicht aus!«, schrie Jolo. Er stürzte davon, kehrte aber bald um und rannte in eine andere Richtung. Schließlich resignierte er und kam zu uns zurück. »Es ist überall, es kommt von allen Seiten!« »Therabols!«, pfiff Tuxit schrill. »Haltet eure Sinne beisammen!« Das Geschrei dieser Wesen ähnelte dem Gesang von Sirenen, wie ich sie aus der terranischen Geschichte kannte. In ihrem einschläfernden Singsang und dem schrillen Oberton lähmten sie alle Sinne, die ein Mensch besaß. Jolo fing an zu geifern, ein deutliches Zeichen, dass er sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiß mit den gelben Adern zu sehen war. Ich versuchte, die Eindrücke durch erhöhte Konzentration von mir fern zu halten. Ein paar Atemzüge lang klappte es. Und dann sah ich die Therabols. Sie ähnelten Skorpionen, waren doppelt so groß und besaßen statt eines Stachels eine Art Rassel wie von einer Klapperschlange. Diese erzeugte den lähmenden Lärm. Die Knopfaugen leuchteten rot und pulsierten im Rhythmus der Beinbewegungen. Im Unterschied zu terranischen Skorpionen gingen Therabols nicht seitwärts, sondern vorwärts. Als sie uns sahen, hielten sie an. Es waren einige hundert, rundherum verteilt. Ihre Rasseln bewegten sich lauter und ertönten noch schriller. Der Schmerz in den Ohren ließ mich rote Ringe vor den Augen sehen. Zermürbung durch Lärm, das war die Taktik dieser Tiere. Viel Intelligenz besaßen sie mit Sicherheit nicht, zumindest gemessen an der Größe ihrer Körper und ihrer Gehirne.

Mir wurde schwindelig. Ich taumelte, versuchte das Gleichgewicht zu behalten und nahm dazu die Hände von den Ohren. Es war, als breche eine gewaltige Woge über mich herein. Unsichtbare Kräfte warfen mich zu Boden. Schweiß tropfte mir aus allen Poren. Ich sah kaum noch etwas, und meine Haut kribbelte unter der nervlichen Folter durch die Angreifer. Mit aller Kraft, die mein Bewusstsein noch aufbrachte, stemmte ich mich gegen den hypnotischen Lärm. Jetzt bloß nicht aufgeben. Undeutlich nahm ich die Scharen dieser Kreaturen wahr. Sie bewegten sich noch immer nicht, schienen auf etwas zu warten, was wenig später als heiseres Bellen erklang. Das Signal zum Angriff. Die Therabols erkannten, dass ihre Opfer nun hilflos waren. Alles in mir bäumte sich auf. Ein winziges Stückchen meines Bewusstseins funktionierte noch und rief mir in Erinnerung, dass in der rechten Tasche meiner Hose das Messer steckte. Ich tastete danach, aber in diesem Augenblick legte sich ein mentaler Druck auf mich, der mich endgültig handlungsunfähig machte. »Nein, Tuxit!«, schrie ich. »Nicht das!« Ob er mich hörte oder ich mir mein Geschrei nur einbildete, vermochte ich nicht zu entscheiden. Vor meinen Augen wurde es finster, als habe jemand außerplanmäßig die Sonne ausgeknipst. Halb besinnungslos registrierte ich erste Berührungen an meinen Beinen und am Rücken. Winzige Klauen oder Greif er zerrten an meinen Kleidern. Ich war nicht mehr in der Lage, mich dagegen zu wehren. Meine Haut hing in Fetzen, die Therabols rissen mir die Haare aus. Etwas tastete über mein Gesicht, berührte die Nase, dann die Augen. »Tuxit!«, wollte ich erneut schreien. Ich brachte keinen Ton heraus. Etwas bohrte sich in meinen Arm, nicht tief, aber ich spürte warmes Blut, das mir über die Haut rann. Das Krabbeln auf meinem Körper verstärkte sich.

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Plötzlich wich der mentale Druck. Der Rhoarxi hatte endlich begriffen, was er mit seinem Flammenstaub anstellte. Gegen diese Tiere richtete er damit überhaupt nichts aus. Ich streckte den rechten Arm aus, bekam das Messer zu fassen. Mit der freien Hand packte ich das Ding auf meinem Gesicht. Es war weich und behaart. Ohne etwas zu sehen, spießte ich es mit dem Messer auf und warf es weg. Der nächste Therabol musste dran glauben, dann der dritte. Ein halbes Dutzend Kadaver warf ich von mir. Es gelang mir, mich aufzusetzen. Der Schwindelanfall war vorüber, das Geschrei der Therabols ließ ein wenig nach. Ich nahm undeutlich die Umgebung wahr. Kleine Schatten wuselten überall. Sie versuchten an mir hochzuspringen, aber eine schnelle Bewegung mit der Klinge beförderte sie als Kadaver zum Boden zurück. Die Therabols wichen zurück. Ich schützte wieder meine Ohren. Undeutlich nahm ich wahr, dass Jolo sich nicht mehr in der Nähe befand und Tuxit sich die Viecher durch wildes Stampfen vom Leib hielt. Nach und nach erstarb das Dröhnen des Bodens. Der Rhoarxi ließ ein schrilles Fiepen hören, ein Zeichen, dass die Therabols ihm ans Gefieder gingen. Meine Hoffnung, die aggressiven Bestien würden bei meiner heftigen Gegenwehr den Rückzug antreten, erfüllte sich nicht. Sie versammelten sich um einen ihrer Artgenossen, schwärmten nach einem aufmunternden Bellen erneut aus und änderten ihre Taktik. Diesmal formierten sie sich zu kleinen Gruppen und griffen von allen Seiten an. Sie gehen nach dem Rudelprinzip vor, erkannte ich. Sie haben einen Anführer, auf dessen Kommando sie hören. Möglicherweise täuschte das Aussehen der Therabols uns völlig, und es handelte sich um höhere Säugetiere mit hierarchischer Herdenstruktur. Einen Versuch war es wert. Ich fixierte jenen Ort, wo sich noch immer eine Gruppe aus sechs dieser Kreaturen um eine siebte scharte. Geduckt

rannte ich los. Wo es ging, trat ich die Therabols mit Wucht in den Sand. Mein Gleichgewicht bereitete mir noch immer Probleme, aber inzwischen war ich durch den Lärm zum Glück fast taub, so dass sich mein visueller Sinn weiter klärte und ich einigermaßen deutlich sehen konnte. Ungefähr dreißig Meter trennten mich von der Schar. Ich legte sie im Spurt zurück, wählte aber eine andere Richtung und schlug erst ganz zuletzt einen Haken. Es gelang mir, die Therabols zu überrumpeln. Ich warf mich auf den Anführer, stach ihn nieder und schleuderte den blutenden Kadaver davon. Die Reaktion der Therabols setzte sofort ein. Sie flohen in heller Panik, sofern man ihre Geschwindigkeit und die wirre Marschordnung so interpretieren konnte. Sofort rannte ich zu Tuxit hinüber, befreite ihn von einem Dutzend Therabols, die sich in seinem teils borstigen Gefieder verheddert hatten. Ich untersuchte seinen Körper nach Wunden, aber er hatte Glück gehabt. Das Cueromb fehlte, er grub es unter sich aus dem Sand, wo er es vor den Angreifern in Sicherheit gebracht hatte. Ich fragte mich, wieso er nicht wie bei dem verrückten Drieten in der Gondel den Atomisierer eingesetzt hatte. Die Erklärung lag wohl in der teilmentalen Steuerung des Geräts. Tuxit war im Fall der Therabol-Sirenen dazu nicht in der Lage gewesen. Nach und nach verebbte der Lärm, kehrte die wohltuende Stille der Einöde zurück. Was mich anging, war es zunächst eine wohltuende Taubheit, die erst nach und nach einem weniger angenehmen Tinnitus wich. Tuxit sagte etwas, ich verstand es nicht. Er stapfte zu mir herüber. »Danke, Atlan! Ich gehe jetzt deinen Freund suchen!« Mühsam schottete ich mich gegen den restlichen Flammenstaub ab, der ihn umflirrte und mir mentale Kopfschmerzen bereitete. Immerhin sprach der Rhoarxi diesmal so laut, dass ich ihn verstehen konnte. »Ich komme mit! « Wir fanden Jolo in der Flanke der übernächsten Düne. Er war in heller

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Aufregung geflohen und hatte sich in den Sand gegraben. Die Therabols hatten ihn in Frieden gelassen. Vielleicht lag es an seiner Ausdünstung, vielleicht an etwas anderem, dass sie ihn verschmäht hatten. Jedenfalls war er heilfroh und riss vor lauter Begeisterung gleich wieder ein paar Witze, die ich zum Glück nicht verstand. Erst zwei Stunden später hatten sich meine überreizten Hörnerven normalisiert, auch der Tinnitus war verschwunden. Wir kehrten zur Plattform zurück und tranken erst einmal jede Menge Wasser. Anschließend berieten wir unser weiteres Vorgehen. »Du hast Gründe, nicht sofort in die Stadt zu fliegen«, sagte ich Tuxit auf den Schnabel zu. »Ich akzeptiere das, es ist deine Angelegenheit. Ich würde mir zudem gern die Schneise ansehen, die Aspoghie im Sand hinterlassen hat.« »Diesem Wunsch entspreche ich gern«, erklärte Tuxit mit ausgesuchter Höflichkeit. »Immerhin hast du mir das Leben gerettet.« Er befand, dass sich die Stadt inzwischen weit genug entfernt hatte und den Gleiter nicht mehr orten würde. Wir starteten und flogen ein Stück in die Richtung, aus der Aspoghie gekommen war. Weitab davon glänzte in der Ferne eine graue Küste im Licht der Sonne. Darauf angesprochen, reagierte der Rhoarxi mit Nachdenklichkeit. »Es ist Nichts-Land. Dort existiert noch keine Parzelle. Wer weiß, vielleicht erklären die Regierenden der Stadt es zum Land der Verbannung.« »Manchmal gibt es im Leben Situationen, in denen man seine Ängste und Befürchtungen mit einem Freund teilen möchte«, versuchte ich Tuxit aufzumuntern. »Wenn du es tun willst, ich bin ein geduldiger Zuhörer.« »Wir haben keine Zeit, Atlan.«

* Die Stadt zog eine Straße durch den Sand. Roboter hätten beim Auftragen einer Metallplastschicht allerdings keine Freude

gehabt. Es gab so viel wegzuräumen. Wir sahen Rohre, Möbelstücke, Schränke und Kästen, teilweise bis zu zwanzig Meter hoch, dazwischen Kleinteile, die an Gerätschaften aus dem Alltag der Rhoarxi erinnerten. Eines der Dinger ähnelte in seinen Umrissen einem Cueromb. »Da hat jemand die Tür offen gelassen!«, rief Jolo verwundert. »Sind deine Artgenossen derart vergesslich, Tuxit?« Der Rhoarxi warf den Kopf nach hinten. »Deine Witze waren auch schon besser. Was du hier siehst, wurde absichtlich zurückgelassen.« Ich ging zu einem der Gegenstände hinüber. Es war ein Stuhl, der den Sesseln auf der Antigravplattform ähnelte. Das Material besaß eine rötliche Farbe, erinnerte in seiner Oberflächenbeschaffenheit an polierten Sandstein. Als ich den Stuhl in die Hand nehmen wollte, brach ein Stück ab. Ehe ich es genau betrachten konnte, glitt es mir zwischen den Fingern hindurch und fiel in den Sand. Ich brach mir ein anderes Stück ab, es zerfiel in feines Granulat, in dem winzige Kristalle zu erkennen waren. Die beiden Eigenschaften erinnerten mich an Kieselalgen. »Das Material frischt den Sand auf«, erläuterte Tuxit. »Aspoghie wird die Wüste von außen nach innen durchqueren und sorgt auf diese Weise für Erneuerung.« »Silizium«, sagte ich. »Alle diese Gegenstände basieren auf Silizium und seinen Derivaten.« »Leben eben.« Tuxit gackerte lauthals. »Wir nennen das Material Potista. Auch die drei Städte sind Potista. Es ist unsere Heimat.« »Drei Wanderstädte«, sagte ich nachdenklich. »Hier in der Intrawelt?« »Ja. Sie wandern durch verschiedene Teile dieser Welt, Zirnatim, Benenses und eben Aspoghie.« »Und das Potista? Wie funktioniert es?« »Es ist niederes Leben auf Siliziumbasis. Wir zwingen es dazu, sich nach unseren Befehlen zu bewegen. Wir gewinnen es aus einer Art Protoplasma, das Silikate

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enthält und sich vom Sand der Intrawelt ernährt. Die aufgenommenen Stoffe wandelt es in semiorganische Masse um. Das Potista vermehrt sich durch Zellteilung. Jede Tochterzelle erhält eines von zwei silikathaltigen Schalenteilen der Mutterzelle und bildet eine weitere Schale aus, die dazu passt. Diese Schalen sind das Schutzbehältnis des eigentlichen Lebewesens. Nach den biologischen Vorstellungen des Universums außerhalb entspricht es einem protozoischen Einzeller.« Das, erkannte ich verblüfft, war die Biologie des Siliziumlebens in wenigen Sätzen. »Die Einzeller innerhalb der Schutzschalen vermehren sich durch Konjugation, also durch den Austausch des Genmaterials. Dazu legen sich zwei Zellen aneinander und bilden eine Cytoplasmabrücke aus, über die eine Auxospore mit einer neuen zweiteiligen Schale entsteht. Wichtig für diesen Vorgang ist die ständige Zufuhr von Rohsilizium. Nach ungefähr fünfzig Konjugationen erschöpft sich das genetische Material, die betroffenen Zellen sterben ab und werden ausgeschieden.« Tuxit redete wie ein Wasserfall. Er schien froh zu sein, nicht länger den Geheimniskrämer spielen zu müssen. »Das Potista bewegt sich mit Hilfe von Raphen fort. Diese geißelähnlichen, extrazellulären Fäden stehen von den Zellen ab, bewegen diese vorwärts und strudeln auch Nahrung heran. Der Vorgang selbst ist mit bloßem. Auge nicht sichtbar. Myriaden der Potista-Zellen gleiten über den Boden und bewegen die Wanderstädte.« »Das ist fantastisch«, sagte ich. Jolo hingegen schüttelte den Kopf. »Könnte mir das einer zeigen? Ich verstehe nämlich kein Wort.« »Noch gewaltiger als die Fähigkeiten des Potistas sind die Künste meines Volkes!«, trumpfte Tuxit auf. »Sie regen das Potista in seinem Wachstum an oder bremsen es, passen das Potista an die Umgebung mit ihrem schwankenden Siliziumgehalt an, lassen die Städte in nährstoffreichen

Gegenden wachsen, während sie anderswo von allein wieder abmagern. Rhoarxi können das Potista dazu veranlassen, jede gewünschte Form anzunehmen. Daher die unterschiedlichen Bauten, die ihr gesehen habt. Und all das hinterlassen die Wanderstädte auf ihrer Spur, während sich eine Stadt wie Aspoghie innerhalb von fünftausend IntraweltTagen vollkommen erneuert.« Jolo fauchte böse. »Ich verstehe immer weniger! « »Wenn du in dieser Spur auf Möbel triffst wie den Stuhl dort oder auf ganze Häuser oder andere Gebäude, die aus dem Sand ragen wie bestellt und nicht abgeholt, dann handelt es sich dabei um SiliziumAusscheidungen der Stadt«, versuchte ich ihm klar zu machen. Die Augen wollten ihm schier aus dem Kopf treten. Er schnappte nach Luft. »Exkremente? Igitt!« »Jetzt hast du es doch verstanden«, meinte Tuxit anerkennend. »Es bleibt ein immerwährender Kreislauf. Der Sand vermischt sich mit den toten Silikaten, Mikroorganismen bauen ihn um, und nach einigen Rhoarxi-Generationen kommt die Stadt wieder hier vorbei, weil sie reichlich Nahrung findet.« Für die Rhoarxi musste das eine Spielwiese sein, wie es sie sonst nirgendwo gab. Ständig neue Gebäude und neue Umgebungen ganz nach Laune erschaffen zu können, die alten auszustoßen und täglich neu kreativ sein zu können, das musste für sie die Erfüllung ihrer Existenz sein. Aber dazu gehörten vermutlich noch andere Fähigkeiten als nur künstlerische Kreativität beim Erschaffen von Bauwerken. Die Stadt musste gesteuert werden, und das setzte einen intensiven mentalen Kontakt mit dem Organismus voraus. Es kam nicht von ungefähr, dass ich an die Emotionauten terranischer Schlachtschiffe denken musste. Dort verschmolz ein Einzelwesen mit einem technischen Giganten und erfüllte kraft seines Geistes die Funktionen einer

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gewaltigen Steueranlage - so ein kleines Menschengehirn! Bei Aspoghie siedelte ich das Lenksystem noch eine Etage höher an. Hier ging es um die Steuerung eines gewaltigen Organismus. Möglicherweise spielt der Flammenstaub dabei eine Rolle. Ich stimmte dem Extrasinn zu.

11. Das Duell naht

Die Entscheidung! Uquart sehnte keinen Moment seines Lebens so sehr herbei wie diesen. Als Oberster Brüter nahm Uquart die Präsens seines Kontrahenten wahr. Er spürte sie deutlicher als jemals zuvor. Dank des Flammenstaubs in sich vermochte er das zweite Behältnis mental zu »riechen«. Tuxit war ganz nahe. Und jetzt war er da.

12. Staubjagd

Tuxit hob den Arm und deutete nach vorn. Zum zweiten Mal innerhalb eines einzigen Tages tauchte die Stadt hinter den Dünen auf. Diesmal kreuzten wir sozusagen ihren Weg. Die Antigravplattform hatte Tuxit ein paar Kilometer weit im Hinterland tief in den Sand gegraben. Wir selbst steckten ebenfalls bis zu den Köpfen im weichen Untergrund. Jolo hatte uns vorgemacht, wie man durch schnelle Körperdrehungen eine möglichst tiefe Kuhle bildete. Bei Tuxit brachte das nichts. Sein runder, fast kugelförmiger Körper hätte ein Loch von gut zwei Metern Tiefe benötigt. Also behalfen wir uns damit, ihn mit Sand zuzuschütten. Als gelehrige Schüler rhoarxischer Baumeister schoben wir den Sand rundherum so auf, dass er wie eine gestauchte Düne aussah, aus der eine Halskrause mit einem fleckigen Schnabel und ziemlich farblosem Gesicht ragte. Jetzt, da wir ihn eingegraben hatten und er zumindest kurzfristig zu keiner Gegenwehr fähig war, beschloss ich, diese Gelegenheit zu nutzen. Ich stellte mich neben seinen

Kopf, den Stiefel dicht am empfindlichen Hals. »Du kennst den Grund, warum ich in der Intrawelt bin. Und du weißt, dass ich nicht ohne den Flammenstaub zurückkehren werde. Du wirst mir eine Portion dieses Stoffes besorgen.« »Alles zu seiner Zeit, Atlan«, klang es müde aus dem dicken Hackschnabel. »Mir scheint jedoch, dass du ein wenig vergesslich geworden bist. In erster Linie wolltest du Informationen. Die wirst du bekommen, sobald wir nach Aspoghie vorgedrungen sind. Was den Flammenstaub angeht, nun, da solltest du Realist bleiben. Er ist tabu. Er darf nie ins Normaluniversum gelangen. Oder was, glaubst du, ist der Grund, warum wir seit 1,1 Millionen Jahren an der Intrawelt bauen? Nur äußerst langlebige Völker dürfen sich an ein solches Werk wagen. Die meisten überleben die ersten zehntausend Jahre ihrer raumfahrenden Zivilisation nicht. Ist ein Erfahrungswert.« »Auch ich habe Erfahrungswerte«, gab ich zur Antwort. »Die genaue Beurteilung eines Sachverhalts für meinen Lebensraum ist erst dann möglich, wenn ich die nötigen Informationen besitze. In den Anfangszeiten meines Volkes haben unsere Vorfahren Nahrungsmittel gesammelt, später dann benötigten sie Wissen zum Überleben. Das ist bis heute so geblieben. Warum also muss der Flammenstaub so dringend vom Normaluniversum fern gehalten werden? Was macht ihn so gefährlich?« »Die Antwort wird dich verblüffen. Er zeigt bei Nicht-Rhoarxi deutlich gefährlichere und stärkere Auswirkungen. Nur Rhoarxi sind in der Lage, mit diesem Stoff umzugehen. Bei allen anderen Lebewesen wird er zur Todesfalle. Du könntest mit dem Flammenstaub den Bestand des Multiversums gefährden, wärst nicht in der Lage, das Unheil aufzuhalten. Und wenn du selbst diesen Stoff zu dir nähmest, würdest du über kurz oder lang daran zugrunde gehen.« Ich lächelte unmerklich. Auf die Wirkung meines Zellaktivators konnte ich mich

Atlan Arndt Ellmer 45 Das Symbol der Flamme

verlassen. Die Existenz dieses Geräts musste ich Tuxit aber nicht unbedingt auf die Nase binden. Woher nimmst du die Gewissheit, dass er es nicht längst weiß?, bohrte mein Extrasinn. Du vergisst die vielfältigen Möglichkeiten des Cueromb. Ganz sicher bin ich mir ja auch nicht. Bei Tuxit handelte es sich nicht um ein Wesen, das leichtfertig Vermutungen äußerte, sondern immer genau wusste, was es sagte. Der Rhoarxi war auch der Meinung, dass zu diesem Thema genug gesagt war. Er wechselte abrupt das Thema. »Die Stadt zieht vorüber. Bisher hat sie uns nicht bemerkt. Brechen wir auf, bevor es zu spät ist.« Das war ausgesprochen zweideutig formuliert, aber ich verkniff - mir eine entsprechende Frage. Wie Schlangen glitten wir aus dem Sand und rannten geduckt los.

* Die Stadt bewegte sich langsamer als bei unserer ersten Begegnung. Wenn man in den technischen Abteilungen Aspoghies auch nur annähernd aufmerksam die Tasteranzeigen beobachtete, mussten die drei organischen Wesen in der Nähe der Wanderstadt auffallen. Oder wenn das aus verschiedenen Gründen nicht geschah, gab es bestimmt irgendwo Messgeräte, die auf den Flammenstaub reagierten und die Nähe Tuxits anzeigten. Der Rhoarxi schien sich Ähnliches zu überlegen. Er hatte es plötzlich ungemein eilig. Mit wirbelnden Beinen fegte er durch den Sand, warf Fontänen in die Höhe, die uns die Sicht nahmen, uns aber gleichzeitig gegenüber der Stadt Sichtschutz boten. Die Entfernung zu Aspoghie schätzte ich auf dreihundert Meter - Luftlinie. Wir mussten ungefähr die doppelte bis dreifache Strecke zurücklegen, um nicht mühsam über Dünenkämme klettern zu müssen. So gesehen waren wir keinen Meter zu nah an der Stadt, die mit schätzungsweise zwanzig

Stundenkilometern an uns vorbeizog. Auf kurze Strecke war das im Spurt zu bewältigen, auf lange hingegen hatten wir keine Chance mit Ausnahme des Rhoarxi. »Beeilt euch!«, krächzte Tuxit denn auch wie zum Hohn. »Ich kann nicht auf euch warten!« Entschlossen packte ich Jolo und warf ihn mir wie schon einmal über die Schulter. Er war klein und leicht, ein Fliegengewicht im Vergleich zu Tuxit, dessen Körpergewicht ich auf das Dreifache meines eigenen schätzte. Geniale Baumeister waren die Rhoarxi, und in ihren Körpern schien Energie für weitere Jahrmillionen zu stecken. Zwischen zwei Dünenkämmen tauchte der Sockel des Potistas in meinem Blickfeld auf. Zum ersten Mal erhielt ich einen vagen Eindruck dessen, was diese Stadt war. In den fließenden, schichtweisen Bewegungen der Mikrostrukturen lag ein majestätisches Dahingleiten, untermalt von einem Flimmern, mit dem meine Augen nicht zurechtkamen. Es war kein flirrendes Licht, aber auch keine äußerliche Farbe, eher ein Eindruck, der sich in mein Bewusstsein brannte und dem Gehirn vorgaukelte, etwas zu sehen, was nicht vorhanden war. Es wirkte sich auf meine Motorik aus. Meine Beine wollten nicht mehr dorthin laufen, wo der Rhoarxi vor uns herrannte. Sie produzierten Abweichungen, und ich geriet ins Stolpern. Im Altertum Terras hatte ich ähnliche Symptome schon am eigenen Leib gespürt, und jetzt holte das Glitzern alle jene versunkenen Erinnerungen wieder hervor, öffnete meinen Mund und ließ mich reden. Ich wehrte mich dagegen, aber es wirkte nicht. Diesen inneren Zwang kannte ich aus der Vergangenheit zur Genüge. Er hatte sich nie abstellen lassen. »Atlan, hierher!«, schrie Tuxit. Ich nahm es wie von weitem wahr. Die wogende Wand des Potistas überzog sich mit einem Schleier, der in Wahrheit vor meinen Augen hing. Ich stolperte, spürte schmerzhaft Jolos Krallen, mit denen er sich instinktiv an mich klammerte. Ich

Atlan Arndt Ellmer 46 Das Symbol der Flamme

streckte den freien Arm aus, um rechtzeitig vor dem Zusammenstoß mit der Stadt gewarnt zu sein. Etwas Hartes schlug in meine Handfläche. Gleichzeitig verschwand der Schleier, klärten sich blitzartig meine Sinne. Ich sah Tuxit vor mir. So fest es ging, klammerte ich mich an die Kralle. Er riss mir fast den Arm aus, als er sich vorwärts schnellte und einen Satz ins Innere des Potistas machte, das sich sofort wie Gallert um mich schloss. Ich wollte einen Schreckensruf ausstoßen, öffnete dabei den Mund - es schoss wie ein überdimensionaler Korken hinein, drängte in Mund und Rachen, löste den Schluckreflex aus. Ich hatte den Eindruck, gewaltige Massen Silizium hinuntergeschluckt zu haben. Und es drängte immer mehr nach. Irgendetwas geht hier gewaltig schief! Das war mein letzter Gedanke.

13. Häppchen-Spuren

Manchmal kam Peonu in diesen Tagen außer Atem. Es gestaltete sich mühsam, den Spuren seines Seelenhäppchens zu folgen. Atlan trieb es kreuz und quer durch die Intrawelt, manchmal schnell, manchmal gemächlich. Wäre der

Seelenanker nicht so stark gewesen, Peonu hätte irgendwann die Fährte und den Kontakt verloren. So aber ... Der Seelenhorter schickte zusätzlich seine Häppchen aus, um Informationen über den Arkoniden und seine Begleiter einzuholen. Was sie herausfanden, überstieg alles, was er erwartet hatte. Einer von Atlans Begleitern musste von großer Bedeutung in der Intrawelt sein. Die Gondelwärter, aber auch Anstizen und Drieten erstarrten vor Ehrfurcht, wenn er sich näherte. Das Wesen benutzte angeblich diesen seltsamen Armreif, das High-Tech-Gerät der Rhoarxi, als würde es ihm gehören. Aber das konnte nicht sein, überlegte Peonu, während er aus einer Gondelstation trat und sich auf den Weg in die neu errichtete Parzelle machte. Nach ein paar Stunden auf der Spur seines Seelenhäppchens entdeckte er das gewaltige Gebilde, das sich durch die Wüste schleppte. Peonu wusste bei dem Anblick nicht, ob er triumphieren sollte. Eines wusste er aber genau: Atlan war irgendwo in der Nähe. Es war Zeit, dass der Seelenhorter die Initiative ergriff.

E N D E

Die wandernde Stadt Aspoghie hält für Tuxit, den Träger des Flammenstaubs, Atlan und Jolo einige Überraschungen bereit. Hier endet Atlans lange und beschwerliche Reise zunächst einmal - das glaubt jedenfalls der Unsterbliche. Ob sich die Hoffnung unseres Arkoniden erfüllen wird und er endlich am Ziel angelangt ist, verrät Hans Kneifel in seinem Folgeband

WANDERSTADT ASPOGHIE