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Ladungsbegriffe DOI: 10.1002/ange.200803605 Das Teil im Ganzen – Missverständnisse um chemische Konzepte Martin Jansen* und Ulrich Wedig* Elektronische Struktur · Heuristische Konzepte · Ladungsbegriffe · Quantenchemie 1. Prolog What is the relationship between static electric charges and oxidation sta- tes? None.“Diese markige Feststellung ist in einer jɒngeren Ausgabe eines un- serer attraktivsten Wissenschaftsjour- nale nachzulesen; [1] sie ist die Quintes- senz einer Serie von First-Principle-Be- rechnungen der Ladungen von einzel- nen Ƞbergangsmetallatomen jeweils eingebettet in einer ausgedehnten Fest- kɆrpermatrix mit ɒberwiegend ioni- scher und kovalenter Bindung, sowie in einer intermediȨren Bindungssituati- on. [2] Die Ɛnderung der Gesamtelek- tronenzahl des Systems, kompensiert durch eine universelle Hintergrund- ladung, wird dabei einer Ɛnderung der Oxidationsstufe des Ƞbergangsmetall- atoms gleichgesetzt. Es wird festgestellt, dass sich dabei eine nur geringfɒgige Ɛnderung der effektiven lokalen La- dung ergibt, und daraufhin die Sinnhaf- tigkeit des Begriffs „Oxidationsstufe“ in Zweifel gezogen. Der informierte Chemiker reibt sich erstaunt die Augen: Offensichtlich kann man auch heute noch durch Einrennen offener Tɒren hɆchste Aufmerksamkeit erlangen ! Mancher mag es als besonders befremdlich empfinden, dass die Be- weisfɒhrung, mit der der Begriff Oxidationsstufe in Frage gestellt wird, selbst auf tɆnernen Fɒßen steht. Wie kann es dazu kommen? Wie so oft sind auch hier die Ursachen vielschichtig. Vordergrɒndig liegt eine klare Miss- achtung des Definitionsbereichs des breit eingefɒhrten und scharf umrisse- nen Begriffes „Oxidationsstufe“ vor. [3] Die Fehlinterpretation wurzelt jedoch viel tiefer. Ihr liegt der fundamentale Irrtum zu Grunde, man kɆnne quan- tenmechanische (First-Principle-)Be- rechnungen von elektronischen Struk- turen chemischer Verbindungen will- kɒrfrei auf allgemeine Konzepte abbil- den. Gleichwohl erscheint ein solcher Schritt unerlȨsslich, denn eine mathe- matische Beschreibung oder Simulation eines NaturphȨnomens schafft keines- wegs automatisch eine konzeptionelle Struktur, vor allem begrɒndet sie noch kein „VerstȨndnis“. [4] Der Preis, den man fɒr eine Abbildung der „realen“ Welt auf ein Ordnungsprinzip zu zahlen hat, ist jedoch hoch: Verlust an Genau- igkeit und Detailtreue oder gar Verzer- rung der Sachverhalte. Um diesen Nachteil so gering wie mɆglich zu hal- ten, sollten die ordnenden Konzepte so genau wie mɆglich definiert und die Definitionen bei der Anwendung sorg- fȨltig beachtet werden. 2. Heuristische Konzepte in der Chemie Das Postulat der atomaren Struktur der Materie, die Entdeckung zahlreicher Elemente und ihrer Ordnung in Form des Periodensystems, die Formulierung der Grundzɒge der chemischen Ther- modynamik und Kinetik, die Entwick- lung erster Bindungsvorstellungen und AufklȨrung grundlegender Prinzipien der Konstitution chemischer Verbin- dungen bilden die Grundlagen des Ge- dankengebȨudes der modernen Chemie, welches bereits im 19. Jahrhundert in seinen Grundzɒgen entworfen wurde. Dieses darf man sicherlich als eine in- tellektuelle Glanzleistung anerkennen: Die Schlussfolgerungen ɒber die mi- kroskopische (atomare) Welt mussten aus makroskopischen Experimental- befunden, die zudem hȨufig unvollstȨn- dig und ungenau waren, gezogen wer- den. Die Vorgehensweise war stets in- duktiv, es wurden Fakten gesammelt, diese nach Kriterien (die keineswegs immer auf KausalitȨtsbezɒgen beruh- ten) klassifiziert und schließlich allge- mein gɒltige ZusammenhȨnge abgelei- tet. Diesem fɒr die Chemie so außeror- dentlich erfolgreichen Ansatz tritt erst heute der deduktive an die Seite. [5] Aus der beschriebenen ersten Phase der wissenschaftlichen Chemie stam- men zahlreiche noch heute genutzte Ordnungsprinzipien und Konzepte, die im darauf folgenden Jahrhundert schȨr- fer gefasst und denen weitere hinzuge- fɒgt wurden. Dazu gehɆren Systeme von atomaren Inkrementen verschiedener Art wie ElektronegativitȨt, Wirkungs- radien, Volumeninkremente, Koordina- tionszahlen oder Ladungsbegriffe ganz unterschiedlicher Definition. Diese Konzepte sind auch heute noch unver- zichtbar und von unschȨtzbarem Wert bei dem Versuch, der ungeheueren KomplexitȨt der chemischen Stoffe Herr zu werden, etwa bei der Struktu- rierung vorhandenen Wissens oder der Einordnung neuer Beobachtungen und nicht zuletzt als Instrumente der didak- tischen Reduktion in Ausbildung und Lehre. Sie wurden schon mit EinhɆr- nern verglichen, [6] die, obwohl aus dem Reich der Fabeln stammend, Symbole fɒr Gesetz und Ordnung, Gesundheit und Glɒck in einer ansonsten chaoti- [*] Prof. Dr. M. Jansen, Dr. U. Wedig Max-Planck-Institut fɒr FestkɆrperfor- schung, Heisenbergstraße 1 70569 Stuttgart (Deutschland) Fax: (+ 49) 711-689-1502 E-Mail: [email protected] [email protected] Hintergrundinformationen zu diesem Bei- trag sind im WWW unter http://dx.doi.org/ 10.1002/ange.200803605 zu finden. Essays 10176 # 2008 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Angew. Chem. 2008, 120, 10176 – 10180

Das Teil im Ganzen – Missverständnisse um chemische Konzepte

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LadungsbegriffeDOI: 10.1002/ange.200803605

Das Teil im Ganzen – Missverst�ndnisse um chemischeKonzepteMartin Jansen* und Ulrich Wedig*

Elektronische Struktur · Heuristische Konzepte ·Ladungsbegriffe · Quantenchemie

1. Prolog

„What is the relationship betweenstatic electric charges and oxidation sta-tes? None.“Diese markige Feststellungist in einer j�ngeren Ausgabe eines un-serer attraktivsten Wissenschaftsjour-nale nachzulesen;[1] sie ist die Quintes-senz einer Serie von First-Principle-Be-rechnungen der Ladungen von einzel-nen �bergangsmetallatomen jeweilseingebettet in einer ausgedehnten Fest-k�rpermatrix mit �berwiegend ioni-scher und kovalenter Bindung, sowie ineiner intermedi�ren Bindungssituati-on.[2] Die �nderung der Gesamtelek-tronenzahl des Systems, kompensiertdurch eine universelle Hintergrund-ladung, wird dabei einer �nderung derOxidationsstufe des �bergangsmetall-atoms gleichgesetzt. Es wird festgestellt,dass sich dabei eine nur geringf�gige�nderung der effektiven lokalen La-dung ergibt, und daraufhin die Sinnhaf-tigkeit des Begriffs „Oxidationsstufe“ inZweifel gezogen.

Der informierte Chemiker reibt sicherstaunt die Augen: Offensichtlich kannman auch heute noch durch Einrennenoffener T�ren h�chste Aufmerksamkeiterlangen! Mancher mag es als besondersbefremdlich empfinden, dass die Be-weisf�hrung, mit der der BegriffOxidationsstufe in Frage gestellt wird,selbst auf t�nernen F�ßen steht. Wie

kann es dazu kommen? Wie so oft sindauch hier die Ursachen vielschichtig.Vordergr�ndig liegt eine klare Miss-achtung des Definitionsbereichs desbreit eingef�hrten und scharf umrisse-nen Begriffes „Oxidationsstufe“ vor.[3]

Die Fehlinterpretation wurzelt jedochviel tiefer. Ihr liegt der fundamentaleIrrtum zu Grunde, man k�nne quan-tenmechanische (First-Principle-)Be-rechnungen von elektronischen Struk-turen chemischer Verbindungen will-k�rfrei auf allgemeine Konzepte abbil-den. Gleichwohl erscheint ein solcherSchritt unerl�sslich, denn eine mathe-matische Beschreibung oder Simulationeines Naturph�nomens schafft keines-wegs automatisch eine konzeptionelleStruktur, vor allem begr�ndet sie nochkein „Verst�ndnis“.[4] Der Preis, denman f�r eine Abbildung der „realen“Welt auf ein Ordnungsprinzip zu zahlenhat, ist jedoch hoch: Verlust an Genau-igkeit und Detailtreue oder gar Verzer-rung der Sachverhalte. Um diesenNachteil so gering wie m�glich zu hal-ten, sollten die ordnenden Konzepte sogenau wie m�glich definiert und dieDefinitionen bei der Anwendung sorg-f�ltig beachtet werden.

2. Heuristische Konzepte in derChemie

Das Postulat der atomaren Strukturder Materie, die Entdeckung zahlreicherElemente und ihrer Ordnung in Formdes Periodensystems, die Formulierungder Grundz�ge der chemischen Ther-modynamik und Kinetik, die Entwick-lung erster Bindungsvorstellungen undAufkl�rung grundlegender Prinzipiender Konstitution chemischer Verbin-dungen bilden die Grundlagen des Ge-

dankengeb�udes der modernen Chemie,welches bereits im 19. Jahrhundert inseinen Grundz�gen entworfen wurde.Dieses darf man sicherlich als eine in-tellektuelle Glanzleistung anerkennen:Die Schlussfolgerungen �ber die mi-kroskopische (atomare) Welt musstenaus makroskopischen Experimental-befunden, die zudem h�ufig unvollst�n-dig und ungenau waren, gezogen wer-den. Die Vorgehensweise war stets in-duktiv, es wurden Fakten gesammelt,diese nach Kriterien (die keineswegsimmer auf Kausalit�tsbez�gen beruh-ten) klassifiziert und schließlich allge-mein g�ltige Zusammenh�nge abgelei-tet. Diesem f�r die Chemie so außeror-dentlich erfolgreichen Ansatz tritt erstheute der deduktive an die Seite.[5]

Aus der beschriebenen ersten Phaseder wissenschaftlichen Chemie stam-men zahlreiche noch heute genutzteOrdnungsprinzipien und Konzepte, dieim darauf folgenden Jahrhundert sch�r-fer gefasst und denen weitere hinzuge-f�gt wurden. Dazu geh�ren Systeme vonatomaren Inkrementen verschiedenerArt wie Elektronegativit�t, Wirkungs-radien, Volumeninkremente, Koordina-tionszahlen oder Ladungsbegriffe ganzunterschiedlicher Definition. DieseKonzepte sind auch heute noch unver-zichtbar und von unsch�tzbarem Wertbei dem Versuch, der ungeheuerenKomplexit�t der chemischen StoffeHerr zu werden, etwa bei der Struktu-rierung vorhandenen Wissens oder derEinordnung neuer Beobachtungen undnicht zuletzt als Instrumente der didak-tischen Reduktion in Ausbildung undLehre. Sie wurden schon mit Einh�r-nern verglichen,[6] die, obwohl aus demReich der Fabeln stammend, Symbolef�r Gesetz und Ordnung, Gesundheitund Gl�ck in einer ansonsten chaoti-

[*] Prof. Dr. M. Jansen, Dr. U. WedigMax-Planck-Institut f�r Festk�rperfor-schung, Heisenbergstraße 170569 Stuttgart (Deutschland)Fax: (+ 49)711-689-1502E-Mail: [email protected]

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Hintergrundinformationen zu diesem Bei-trag sind im WWW unter http://dx.doi.org/10.1002/ange.200803605 zu finden.

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schen Welt darstellen. So nutzbringenddie f�r die Chemie so charakteristischenheuristischen Konzepte in der Hand desKundigen sind, so heillos wird Verwir-rung gestiftet, wenn sie im falschenKontext oder außerhalb des jeweiligenDefinitionsbereiches angewendet wer-den. Besonders h�ufig kann man einenoberfl�chlichen Umgang und in derFolge eine �berdehnung bei den ver-schiedenen in der Chemie gebr�uchli-chen Ladungsbegriffen feststellen.

Man unterscheidet Ionenladung,Oxidationsstufe (synonym: Oxidations-zahl), formale Ladung und effektiveLadungen, wobei letztere auf unter-schiedlichste Weise bestimmt sein m�-gen.[7] Die Ionenladung ist am unmiss-verst�ndlichsten definiert und charak-terisiert die Ladung eines Ions wie sie in(elektrischen) Transportexperimentenin Erscheinung tritt. Sie betr�gt stets einganzzahliges Vielfaches der Elementar-ladung. Die Oxidationsstufe leitet sich,wie etymologisch leicht nachvollzieh-bar, von den verschiedenen �quivalen-ten an Sauerstoff ab, die ein Elementbinden kann. Eine entsprechende sehrfr�he Definition wird von F. W�hlergegeben.[8] Heute gibt es f�r die Be-rechnung von Oxidationszahlen klareVorschriften.[3] Sie ist ein rein formalerBegriff, und an keiner Stelle ihrer De-finition wird behauptet, dass derOxidationszahl eine reale Ladung asso-ziiert werden k�nne. Gleichwohl ist derBegriff n�tzlich, und eine bestimmteOxidationszahl l�sst sich mit realenGegebenheiten korrelieren. So kannman Unterschiede in Oxidationszahlenmittels Redox-Titrationen ganzzahligbestimmen und Oxidationsstufen von�bergangsmetallen eine Anzahl unge-paarter Elektronen zuordnen. Mit derOxidationsstufe eines Elementes istdar�ber hinaus ein typischer Wert f�rdessen atomaren Wirkungsradius undeine bevorzugte Koordinationszahl bzw.ein charakteristisches Koordinations-polyeder verkn�pft. Am h�ufigstenschließlich finden Oxidationsstufen beider Einrichtung von chemischen Glei-chungen praktische Verwendung. Vor-dergr�ndig erweckt der Ausdruck ef-fektive Ladung den Eindruck einerphysikalisch wohldefinierten Gr�ße.Aber das Gegenteil ist der Fall. Es istunm�glich, die „tats�chliche“ Ladungeines Atoms eingebettet in eine be-

stimmte chemische Umgebung objektivanzugeben. Ihre Bestimmung erfordertn�mlich eine Bilanzierung der Kernla-dung gegen die Anzahl der diesemAtom „geh�renden“ Elektronen unddamit eine Aufteilung des Raumes, dieZuordnung eines bestimmten Volumensund die darin enthaltenen Elektronenzu dem betrachteten Atom. Grenzzie-hungen zwischen den Atomen einerchemischen Verbindung sind stets will-k�rlich, es gibt hierf�r keine objektivenKriterien. Dieses Dilemma tritt auch beider experimentellen Bestimmung dereffektiven Ladung auf, da die charakte-ristischen Reichweiten der verschiede-nen Sonden variieren und diese jeweilseinen zuf�llig definierten Raum erfas-sen. Die formale Ladung schließlichwird verwendet, um bei der Darstellungder Konstitution von Molek�lverbin-dungen in der Lewis�schen Valenz-strichschreibweise die Elektronenzah-len formal anzugleichen. Ihr kommtkeine physikalische Bedeutung zu.

3. Quantenmechanische Beschrei-bung chemischer Systeme undderen Interpretation

Die beschriebenen heuristischenKonzepte wurden aufgestellt, ohne dassdie physikalischen Grundlagen f�r dieWechselwirkung zwischen Elektronenund Atomkernen verstanden waren.Dazu bedurfte es der Entwicklung derQuantenmechanik bis hin zur Schr�-dinger-Gleichung,[9] die heute dieGrundlage f�r die First-Principle-Be-schreibung chemischer Systeme dar-stellt. Dennoch haben die vorquanten-mechanischen Konzepte �berlebt. Dererste der Gr�nde ist auf den Umstandzur�ckzuf�hren, dass die exakte Wel-lenfunktion als L�sung der Schr�dinger-Gleichung f�r Mehrelektronensystemepraktisch nicht zu bestimmen ist. Bei derunvermeidlich notwendigen Entwick-lung von N�herungsverfahren habenvorquantenmechanische Konzepte einegroße Rolle gespielt,[10] etwa die Vor-stellung von der Elektronenpaar-Bin-dung bei der Ausarbeitung der Valence-Bond-Methode.

Der zweite Grund ist gewichtiger.Mit der Schr�dinger-Gleichung wird dieChemie strukturlos. Jedes chemischeSystem f�r sich wird durch eine eigene

Wellenfunktion beschrieben. Mit derBerechnung der Wellenfunktion kanndas entsprechende Molek�l oder derFestk�rper noch nicht in spezielleSchubladen wie polar, nichtpolar, ge-s�ttigt, nicht ges�ttigt, Elektronenman-gelverbindung usw. einsortiert werden.Dazu bedarf es einer wie auch immergearteten Abbildung der spezifischenWellenfunktion auf das jeweilige che-mische Konzept. Umgekehrt kann na-t�rlich auch die Fundierung eines Kon-zepts dahingehend �berpr�ft werden, obeine solche Abbildung m�glich undsinnvoll ist. Nach welchen Vorschriftendie jeweilige Abbildung zu vollziehenist, dar�ber gibt es unterschiedlicheMeinungen. Die Faraday Discussions135,[11] die im September 2006 in Man-chester stattfand, hat eine Vielzahl vonWegen aufgezeigt, wie Chemical Con-cepts from Quantum Mechanics abge-leitet werden k�nnen, ohne dass einEnde der Debatte abzusehen ist. Dabeiwird auch deutlich, dass viele Konzeptenicht durch eine Theoriereduktion ausden Prinzipien der Quantenmechanikerreichbar sind (siehe hierzu z. B.Lit. [12]), da sie heuristisch als Ord-nungskriterien eingef�hrt wurden.

Oxidationsstufen, die aus konkre-tem Anlass einen Schwerpunkt diesesBeitrags bilden, sind der Kategorie derheuristischen Ordnungskriterien zuzu-ordnen und k�nnen nicht direkt aus derWellenfunktion abgeleitet werden. Al-lenfalls k�nnen Zahlen, die aus quan-tenchemischen Rechnungen nach einergegebenen Vorschrift erhalten werdenund die mit dem Begriff Ladung ver-kn�pft sind, mit den Oxidationsstufenkorreliert werden. In diesem Falle ist esm�ßig, �ber deren physikalische Be-deutung nachzudenken. Es gen�gt, reinpragmatisch die Brauchbarkeit derKorrelation zu �berpr�fen. Pragmatis-mus ist aber von Natur aus immer mitWillk�r verbunden.

Vorschriften zur Berechnung vonLadungen gibt es in großer Vielzahl, undwir m�chten sie an dieser Stelle nichtrezensieren. In der Arbeit von Meisterund Schwarz[7] ist dazu ein umfangrei-cher �berblick zu finden. Wir betrach-ten hier beispielhaft zwei Wege, atoma-re Ladungen aus quantenchemischenRechnungen zu bestimmen. Der ersteWeg basiert auf dem LCAO-Formalis-mus (Linear Combination of Atomic

AngewandteChemie

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Orbitals) und geht auf Mulliken zu-r�ck.[13] Die Ladungen werden durchAnalyse der Besetzungszahlen derAtomorbitale bestimmt (Populations-analyse). Die Abh�ngigkeit dieses Ver-fahrens von der Wahl des verwendetenBasissatzes kann reduziert werdendurch die Projektion auf einen minima-len Satz modifizierter Atomorbitale(MAO).[14]

Ein anderer Weg ist die Aufteilungdes Ortsraums in Bereiche, die einzel-nen Atomen zugewiesen werden. DieLadung der Atome wird durch Integra-tion der Elektronendichte in den dazu-geh�renden Bereichen berechnet. Einenicht-�berlappende, raumf�llende Auf-teilung erh�lt man im Rahmen einertopologischen Analyse der Elektronen-dichte (Atoms in Molecules,[15, 16] AIM).Dieses Verfahren ist nicht nur im Zu-sammenhang mit quantenchemischenRechnungen anwendbar. Experimentellbestimmte Elektronendichten k�nnengleichermaßen analysiert werden (vgl.z. B. Lit. [17]).

In Tabelle 1 sind sowohl nach Mul-liken als auch im Rahmen von AIMberechnete Atomladungen f�r einfacheBeispiele den Oxidationsstufen gegen-�bergestellt. Diese Zahlen stellen na-t�rlich keine neue Erkenntnis dar. Siesollen nur die in diesem Essay vertrete-nen Sichtweisen illustrieren. Wie er-wartet, werden die Oxidationsstufenvon keinem der Rechenverfahren re-produziert. Es kann kein proportionalerZusammenhang zwischen berechneten

Ladungsverteilungen und Oxidations-stufen festgestellt werden, und eineKorrelation ist umso weniger sinnvoll, jeunpolarer die Bindungen im Molek�loder Festk�rper sind. Die Mulliken-Po-pulationsanalyse liefert wenigstens inpolaren F�llen im Trend Atomladungen,die proportional zu den Oxidationsstu-fen sind, die Absolutwerte sind jedochviel zu klein. Die AIM-Methode ergibtin diesen F�llen h�here Absolutwerteund somit eine st�rkere Ladungstren-nung, ein Trend, der auch durch eineFaktorenanalyse umfangreichen Daten-materials best�tigt wird.[7]

Vor dem Hintergrund mangelnder�bereinstimmung stellt sich die Frage,ob es �berhaupt sinnvoll ist, berechneteAtomladungen mit Oxidationsstufen zukorrelieren. Wir beantworten die Frageunter gegebenen Umst�nden mit „ja“.Es gibt eine Reihe bekannter Zusam-menh�nge zwischen Oxidationsstufenund bestimmten physikalischen Gr�ßen.Sollen neue Verbindungen, bei denen

die Oxidationstufen der Bestandteilenicht offensichtlich sind, in ein solchesSchema eingeordnet werden, so kanndie Bestimmung von Atomladungenund eine Korrelation mit Oxidations-stufen durchaus hilfreich sein. Als Bei-spiel sei hier die Verschiebung der Pt-(4f7/2)-Bande im ESCA-Spektrum einerVerbindung im Vergleich zu elementa-rem Platin erw�hnt. F�r positive Oxi-dationstufen des Platins wird eine Ver-schiebung von ca. 1.2 eV pro Stufe be-obachtet.[18, 19, 20] Eine Reihe von neuenbin�ren Platinverbindungen, Cs2Pt,[21]

BaPt,[22] Ba3Pt2[23] und Ba2Pt,[24] weist

jedoch Platin in einer negativen Oxida-tionsstufe auf. Bei den Ba-Pt-Verbin-dungen wurden tats�chlich Verschie-bungen der 4f7/2-Bande des Pt zu klei-neren Energiewerten hin gemessen,[25]

die zudem gut mit den berechnetenAIM-Atomladungen korrelieren (sieheAbbildung 1). Eine Zuordnung vonOxidationsstufen ist f�r die Elementedieser Verbindungen dennoch nicht of-

fensichtlich. Erst eine genaue Analyseder B�nder am Fermi-Niveau (z. B. de-lokalisierte Elektronen im Zwischen-schichtbereich in Ba2Pt) und der kova-lenten Wechselwirkung zwischen Pla-tinatomen (eindimensionale Ketten inBaPt und Pt2-Hanteln in Ba3Pt2) f�hrt zueiner konsistenten formalen Beschrei-bung: [Ba(2+)·e�]·Pt(1�), [Ba(2+)1.5·1.5e�]·Pt(1.5�) und [Ba(2+)2·2e�]·Pt(2�). Diese Beispiele verdeutlichen,dass neben der Berechnung von Atom-ladungen noch andere Aspekte in Be-tracht gezogen werden m�ssen, um einesinnvolle Verkn�pfung mit Oxidations-stufen zu erreichen.

Tabelle 1: Oxidationsstufen und berechnete Atomladungen verschiedener Molek�le und von MgOals einem Beispiel f�r Festk�rper. Details der Rechnungen sind in den Hintergrundinformationenzusammengefasst.

Oxidationsstufe berechnete atomare LadungenMulliken[13] Mulliken AIM[15]

Basis minimal erweitert erweitert

SF6 S + 6 + 1.02 + 1.21 + 3.89F �1 �0.17 �0.20 �0.65

SO2 S + 4 + 0.53 + 0.68 + 2.38O �2 �0.27 �0.34 �1.18

H2S S �2 + 0.04 �0.20 + 0.05H + 1 �0.02 + 0.10 �0.02

CO2 C + 4 + 0.28 + 0.37 + 2.25O �2 �0.14 �0.18 �1.12

CO C + 2 + 0.12 �0.03 + 1.18O �2 �0.12 + 0.03 �1.17

CH4 C �4 �0.31 �0.41 �0.07H + 1 + 0.08 + 0.10 + 0.02

MgO(f) Mg + 2 + 0.62 + 1.80 + 1.73O �2 �0.62 �1.80 �1.73

Abbildung 1. Atomare Bassins (AIM)[15] des Platin, AIM-Atomladungen qPt(AIM) und Verschie-bungen DBE der Pt(4f7/2)-Bande im Vergleich zu elementarem Platin f�r vier bin�re Platinverbin-dungen.[21–25]

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4. „Charge self-regulation uponchanging the oxidation state oftransition metals in insulators“[2]

Die Autoren der genannten Arbeit[2]

betrachten Dotierungen von halblei-tenden bzw. isolierenden Wirtgitternwie GaAs, Cu2O und MgO mit �ber-gangsmetallen als St�rstellen. Dabeizeichnen sie zun�chst ein qualitativesMolek�lorbital-Bild. Die Zust�nde desGesamtsystems werden unterschiedlichcharakterisiert. Solche, in denen Bei-tr�ge des �bergangsmetallatoms domi-nieren, werden als CFR (Crystal FieldResonance) bezeichnet, und solche mitdominierendem Anteil der Orbitale derWirtgitteratome als DBH (DanglingBond Hybrid). Die Autoren gehen da-von aus, dass sich mit einer Variation derBesetzung der Orbitale des �bergangs-metallatoms auch der Charakter derbindenden und antibindenden Zust�ndedes Gesamtsystems �ndert. Mit zuneh-mender Besetzung der �bergangs-metallatomorbitale werden DBH-Zu-st�nde bindend und damit zunehmendbesetzt, CFR-Zust�nde werden anti-bindend, die Besetzung nimmt ab. DieAutoren bezeichnen diesen Effekt als„self-regulated response“, der die lokaleLadung am �bergangsmetallatomweitgehend konstant halten soll.

Diese qualitativen Betrachtungensind plausibel, und der daraus abgelei-tete Ladungsausgleich wird durch dieDichtefunktionalrechnungen der Auto-ren best�tigt. Die Rechnungen wurdendurchgef�hrt f�r Superzellen der Wirt-verbindungen mit 64 bis 128 Atomen, indenen eines der Kationen durch ein�bergangsmetallatom ersetzt wurde.Variable Elektronenzahlen im Gesamt-system wurden durch eine universelleHintergrundladung kompensiert, umLadungsneutralit�t zu gew�hrleisten.An diesen Rechnungen ist nichts aus-zusetzen. Allerdings kann die Art undWeise kritisiert werden, wie die Atom-ladung des jeweiligen �bergangsmetallsberechnet wird, n�mlich durch Integra-tion der Elektronendichte in einer Ku-gel mit dem willk�rlichen Radius von1.3 �. Die „Wirkungsbereiche“ derFremdatome werden aber von �ber-gangsmetall zu �bergangsmetall variie-ren und auch von der Art der Wirtver-bindung und von der Gesamtzahl derElektronen im System abh�ngen. Aus

der Abbildung 5 der Arbeit wird deut-lich, dass die Differenz der Elektronen-dichten eines Systems mit unterschied-licher Elektronenzahl gerade am �ber-gangsmetallzentrum positive und nega-tive Werte aufweist und der integraleWert mit Sicherheit von der Wahl desRadius abh�ngt. Inwieweit die Wahl desRadius die Ergebnisse beeinflusst, gehtaus der Arbeit nicht hervor.

Die Arbeit von Raebiger et al. istinteressant, doch was hat sie mit dem imTitel genannten Begriff Oxidationsstufezu tun? Die Oxidationsstufe h�ngt perDefinition von allen Atomen im Systemab. Im vorliegenden Fall wird das Ge-samtsystem definiert durch die Atomedes Wirtkristalls, das Fremdatom, dieGesamtelektronenzahl und die kom-pensierende Hintergrundladung. Wiebeeinflussen nun diese verschiedenenMerkmale die Zuordnung einer Oxida-tionsstufe f�r das �bergangsmetall-atom? Die Atomsorten �ndern sich inden verschiedenen Ladungszust�ndeneines bestimmten Systems nicht, folglichbleiben die Oxidationsstufen unter die-sem Aspekt definitionsgem�ß unver�n-dert. Die Hintergrundladung ist nichtlokalisiert und kann keinem einzelnenAtom zugeordnet werden. Einzig die�nderung der Gesamtelektronenzahlk�nnte zu �nderungen von Oxida-tionsstufen f�hren, wenn die Auswir-kungen auf einzelne Atome lokalisiertw�ren. Dies ist jedoch nicht der Fall, wiedie Abbildung 5 der Arbeit zeigt. DieDifferenzen der Elektronendichtenverdeutlichen, dass die Unterscheidungzwischen CFR- und DBH-Zust�nden,so wie sie der formalen Betrachtunganfangs zugrunde gelegt wurde, in denrealen Systemen nicht mehr m�glich ist.Somit ist die Zuordnung unterschiedli-cher Oxidationsstufen f�r die �ber-gangsmetallatome bei �nderung derGesamtelektronenzahl mehr als frag-w�rdig. Unsere Kritik an der bespro-chenen Arbeit zielt also genau auf diebeiden Aspekte – Bestimmung der La-dung und Festlegung von Oxidations-stufen –, die Resta[1] in seinem Kom-mentar zum Anlass genommen hat, unszum Umdenken aufzufordern.

5. Schlussbemerkungen

Ein Ensemble von Atomen, seien eseinzelne Molek�le oder ausgedehnteFestk�rper, reagiert immer als Kollek-tiv. Man kann versuchen, die Rolle eineseinzelnen Atoms zu beschreiben, dochdie daf�r notwendige Inkrementalisie-rung ist immer mit einer gewissen Will-k�r verbunden. Zweifellos sind objekti-vierbare Verfahren f�r die Ableitungvon Inkrementen, etwa f�r die Zuord-nung von Ladungen oder Koordinati-onszahlen, hilfreich, gestatten sie dochdie gleiche Messlatte bei unterschiedli-chen Verbindungen anzulegen. Aberauch hier gibt es Grenzen der Ver-gleichbarkeit, die seri�serweise nicht�berschritten werden sollten.

Die Werte, die bei der Bestimmungvon Atomladungen in quantenchemi-schen Rechnungen erhalten werden,variieren stark, je nachdem welche Me-thode verwendet wird. Davon und vonder Art des betrachteten Systems h�ngtes ab, ob eine Korrelation dieser Wertemit Oxidationsstufen sinnvoll ist. Diesist eine altbekannte Tatsache und wirddurch die Zahlen in Tabelle 1 illustriert.Die Ergebnisse, die in der Arbeit vonRaebiger et al. vorgestellt werden, wi-dersprechen in keiner Weise dieser Er-fahrung. Allerdings ignoriert der dorthergestellte Zusammenhang von La-dungen mit Oxidationstufen die Defi-nition diese Begriffes und ist daher ohneAussagekraft. Warum wir in einer Re-aktion auf diese Arbeit[1] zum Umden-ken aufgefordert werden, ja gar unserSchulwissen ins Reich der Mythen ver-weisen sollen, das ist nicht nachzuvoll-ziehen.

Eingegangen am 24. Juli 2008Online ver�ffentlicht am 17. November 2008

[1] R. Resta, Nature 2008, 453, 735.[2] H. Raebiger, S. Lany, A. Zunger, Nature

2008, 453, 763.[3] http://goldbook.iupac.org/O04365.html.[4] R. Hoffmann, J. Mol. Struct. 1998, 424, 1.[5] „The Deductive Approach to Chemis-

try, a Paradigm Shift“: M. Jansen inTurning Points in Solid-State, Materialsand Surface Science (Hrsg.: K. M. Har-ris, P. Edwards), RSC, Cambridge, 2008.

[6] G. Frenking, A. Krapp, J. Comput.Chem. 2007, 28, 15.

[7] J. Meister, W. H. E. Schwarz, J. Chem.Phys. 1994, 98, 8245.

AngewandteChemie

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[8] F. W�hler, Grundriss der Chemie, Un-organische Chemie, Duncker undHumblot, Berlin, 1835.

[9] E. Schr�dinger, Ann. Phys. IV 1926, 79,361; E. Schr�dinger, Ann. Phys. IV 1926,79, 489; E. Schr�dinger, Ann. Phys. IV1926, 79, 734; E. Schr�dinger, Ann.Phys. IV 1926, 81, 109.

[10] K. Gavroglu, A. Simes, Hist. Stud.Phys. Sci. 1994, 25, 47.

[11] „Chemical Concepts from QuantumMechanics“: Faraday Discussions,Vol. 135 (Hrsg.: P. Earis), The RoyalSociety of Chemisty, Cambridge, 2007.

[12] H. Primas, Chem. Unserer Zeit 1985, 19,109.

[13] R. S. Mulliken, J. Chem. Phys. 1955, 23,1833.

[14] C. Ehrhardt, R. Ahlrichs, Theor. Chim.Acta 1985, 68, 231.

[15] R. F. W. Bader, Atoms in Molecules: AQuantum Theory, Oxford UniversityPress, Oxford, 1990.

[16] Die „Quantum Theory of Atoms inMolecules“ ist nat�rlich weit mehr alseine Vorschrift zur Berechnung vonatomaren Ladungen. Im Rahmen diesesEssays wird sie aber nur als solche ge-nutzt.

[17] DFG-Schwerpunktprogramm 1178:„Experimentelle Elektronendichte alsSchl�ssel zum Verst�ndnis chemischerWechselwirkungen“. http://www.stalke.chemie.uni-goettingen.de/spp/index.html.

[18] W. E. Moddeman, J. R. Blackburn, G.Kumar, K. A. Morgan, R. B. Albridge,

M. M. Jones, Inorg. Chem. 1972, 11,1715.

[19] W. M. Riggs in Electron Spectroscopy(Hrsg.: D. A. Shirley), North-Holland,Amsterdam, 1972, S. 713.

[20] D. Cahen, J. E. Lester, Chem. Phys. Lett.1973, 18, 108.

[21] A. Karpov, J. Nuss, U. Wedig, M. Jansen,Angew. Chem. 2003, 115, 4966; Angew.Chem. Int. Ed. 2003, 42, 4818.

[22] A. Karpov, J. Nuss, U. Wedig, M. Jansen,J. Am. Chem. Soc. 2004, 126, 14123.

[23] A. Karpov, U. Wedig, M. Jansen, Z.Naturforsch. B 2004, 59, 1387.

[24] A. Karpov, U. Wedig, R. E. Dinnebier,M. Jansen, Angew. Chem. 2005, 117, 780;Angew. Chem. Int. Ed. 2005, 44, 770.

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Essays

10180 www.angewandte.de � 2008 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Angew. Chem. 2008, 120, 10176 – 10180