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Das unabhängige Nachrichtenmagazin Österreichs Nr. 11 • 47. Jg. • 14. März 2016 € 3,95 www.profil.at P.b.b. GZ 02Z032111 W Verlagsgruppe NEWS Gesellschaft m.b.H., Taborstraße 1-3, 1020 Wien Retouren an Postfach 100, 1350 Wien . Envoi à taxe réduite . Ausland € 4,50 DIE MACHT DER KRÄNKUNGEN WIE SIE UNS AGGRESSIV UND DEPRESSIV MACHEN, ABER AUCH KREATIV UND AUSSERGEWÖHNLICH. Christian Rainer Krieg den Bärtigen!“ Rosemarie Schwaiger Europa, eine Illusion“ Ro Raftl über den angeblichen Umbruch in „ihrem“ Kuba Eva Linsinger „Müssen Frauen Griss wählen?“

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Das unabhängige Nachrichtenmagazin Österreichs

Nr. 11 • 47. Jg. • 14. März 2016€

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Die Macht Der KränKungenWie sie uns aggressiv unD Depressiv Machen, aber auch Kreativ unD aussergeWöhnlich.

christian rainer

„Krieg den bärtigen!“

rosemarie schwaiger

„europa, eine illusion“

ro raftl über den angeblichen

umbruch in „ihrem“

Kubaeva linsinger „Müssen

Frauen griss wählen?“

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VerletzungsgefahrKränkung ist die Ursache für die meisten Gewaltverbrechen, Auslöser für psychische Krankheiten, aber auch Quelle von Kreativität. Jetzt setzen sich Seelenforscher und Psy-chiater verstärkt mit dem Phänomen und dessen oft zerstörerischen Wirkung auseinander.

Angelika Hager und Salomea Krobath, Mitarbeit: Johanna Habring

Seine Armstümpfe wirbelte er wild durch die Luft und schrie dabei Parolen wie „Ausländerblut, nein dan-ke“ oder „Reinrassige Tschuschenregierung, nein dan-

ke“. Franz Fuchs, der als „Bombenhirn“ in die österreichi-sche Kriminalgeschichte einging, musste bereits am ers-ten Verhandlungstag im Jahr 1999 in Graz vom Richter aus dem Verhandlungssaal gewiesen werden. Im Namen der „Bajuwarischen Befreiungsarmee“ hatte der Vermes-sungstechniker und frühere Hilfsarbeiter, der sich später in seiner Zelle unter bis heute ungeklärten Umständen das Leben nehmen sollte, vier Menschen durch Brief- und Rohrbomben getötet und 15 weitere, viele davon lebens-gefährlich, verletzt.

Für den Vorarlberger Psychiater und Gerichtsgutachter Reinhard Haller ist Franz Fuchs das Paradebeispiel eines Kapitalverbrechers, der seine Antriebskraft, seine Energi-en und seinen überschäumenden Hass aus einer Kette von Kränkungen speiste (siehe Interview), die weniger in sei-nem Elternhaus als in seiner späteren Biografie festzuma-chen waren.

Fuchs litt wie viele Amokläufer, Familienmörder und Terroristen an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die ihn überempfindlich für alle Widrigkeiten des Alltags machte und jede Form von Frustrationstoleranz in seiner Psyche lahmlegte.

Die Chronikteile der Zeitungen sind voll mit Berichten über Gewaltverbrechen und Bluttaten, die Kränkungen als Initialzündungen und oftmals lang zurückliegende Ursachen für spätere Verbrechen hatten. Wie Franz Fuchs das Bauen von Bomben als eine Möglichkeit empfand,

„sein verlorenes Selbstwertgefühl zu kompensieren“, so der „Profiler“ Thomas Müller, so bekamen auch viele Schul-

amok-Täter nach Zurückweisungen und sozialem Mob-bing durch ihren Gewaltrausch endlich wieder jenes lan-ge schmerzlich vermisste Gefühl von Macht und Kontrol-le. Die wenigsten Amokläufer litten übrigens an einem markant kaputten Elternhaus, sondern vielmehr an Iso-lation und Einsamkeit in ihrer Peer-Gruppe.

Eine deutsche Expertenkommission erhob im Rahmen einer internationale Studie zum Phänomen Schulamok 2014, dass unter den zu 96 Prozent männlichen Amokläu-fern während der letzten 20 Jahre 88 Prozent zuvor ge-hänselt, ausgeschlossen, physisch attackiert, von Lehrern vor der Klasse gedemütigt oder von Mädchen nicht erhört worden waren.

Auch die ganz Österreich traumatisierende Amokfahrt in Graz, bei der der damals 26-jährige gebürtige Bosnier Alen R. an einem Samstagvormittag im Juni 2015 in ei-nem Geländewagen mit einer Geschwindigkeit von 100 Stundenkilometern durch die Fußgängerzone raste und dadurch drei Leute in den Tod riss und Dutzende schwer verletzte, ist durch Machtverlust, Ohnmacht und Krän-kung zu erklären. Knapp vor der tödlichen Fahrt, die kei-ne Kurzschlusshandlung, sondern geplant war, wie sich

Franz Fuchs Der Bombenattentäter entwickelte einen krankhaften Hass auf alles, womit er frühere Kränkungen assoziierte.

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später herausstellte, war die Frau des oftmals im Vorfeld häuslich gewalttätigen Familienvaters mit den gemeinsa-men zwei Kindern aus dem Haus geflüchtet und hatte an einem geheimen Ort Unterschlupf gefunden.

„Ich habe viele Menschen getroffen“, so der beim FBI ausgebildete Kriminalpsychologe Thomas Müller, „die gan-ze Familien ausgelöscht haben, weil sie nicht in der Lage zur direkten Kommunikation waren und es nicht ver-kraften konnten, aus ihrer subjektiven Sicht plötzlich kei-ne Bedeutung mehr bei Frau und Kindern zu haben.“

Die forensische Psychiaterin und mehrfache Buchau-torin Heidi Kastner, die unter anderem Josef Fritzl und die Eissalonmörderin Estibaliz Carranza gerichtlich begutach-tete (die beide nicht kränkungsgetrieben waren), ist sich ebenfalls sicher, „dass den meisten Gewalttaten eine Krän-kung zugrunde liegt“.

Als Kränkung mit ausgeprägter Verletzungsgefahr de-finiert sie „eine nachhaltige Erschütterung der Selbstdefi-nition durch eine relevante Person“. Die Relevanz einer Person wäre ein wichtiger Punkt, so Kastner, und erzählt von einem Straftäter, der vor einigen Jahren seine gelieb-te Großmutter „sehr gründlich tötete“: „Die Großmutter war die einzige, die noch zu ihm gehalten hatte, alle an-deren hatten ihn, der nie einen Job lange halten konnte und generell beziehungsunfähig war, längst aufgegeben. Als sie, als einzig relevante Person in seiner Welt, auch ir-gendwann begann, ihrem Enkel wegen seines Lebenswan-dels leise Vorwürfe zu machen, musste sie sterben.“

Jene Menschen, die ihre Selbstwertschwäche nicht neu-tralisieren können, weil sie beispielsweise an einer Per-sönlichkeitsstörung leiden, können angesichts von winzi-gen Details und Lappalien, die als Entwertung empfunden werden, explodieren. Besonders gefährdet für sturmarti-ge Reaktionen im Falle verletzter Eitelkeiten sind die hoch-empfindlichen und kritikunverträglichen Narzissten, Per-fektionisten und jene Typen, die nie gelernt haben, ihre Gefühle zu entladen, und gewohnt sind, Ärger, Wut und Kränkungen unkommentiert hinunterzuschlucken.

„Erstaunlicherweise hat die Psychiatrie und Psychothe-rapie der Kränkung und den destruktiven Energien, die sie freisetzt, über Jahrzehnte kaum Raum gegeben“, wun-dert sich Haller, der weder bei seinem Psychiatriestudium, noch bei seiner Ausbildung zum Psychotherapeuten je mit dem Phänomen und seinen möglichen Auswirkungen kon-frontiert worden ist. „Der ganze Fokus lag auf der Trauma-forschung.“

In der Regel schlagen sich verdrängte Verletzungen des Selbstwertgefühls natürlich nicht in Amokläufen und Tö-tungsgemetzeln nieder, sondern können sich psychoso-matisch in Form von Rückenproblemen, Herzbeschwer-den, Brustdruck oder Migräneattacken auswirken, um nur einige Symptome zu nennen. Sie manifestieren sich aber auch in psychischen Störungen wie Depressionen, Melan-cholieschüben, Stimmungsschwankungen und hoher Reiz-barkeit.

profil interviewte Psychiater, Kreativitätsforscher, Psy-chotherapeuten, Beziehungsexperten und Entwicklungs-psychologen zum Thema Kränkung. Und fand Antworten auf Fragen wie „Wie stärke ich die Kränkungswiderstands-fähigkeit meines Kindes?“, „Warum sind Narzissten so krän-kungsempfindlich?“, „Wie schütze ich mich vor Kränkun-gen?“ und „Wie und warum können Minderwertigkeits-gefühle produktiv genützt werden?“

Als „profil“ mit dem Dichter Peter Turrini in seinen Kärntner Heimatort Maria Saal reiste, erzählte er von den Kränkungen, im Ort stets als „das dicke Tischler-kind“ verspottet worden zu sein. Eigentlich begann er aus Kummer Lyrik zu schreiben, „weil ich bei den Bau-ernmädchen nicht landen konnte“. Er erzählte aber auch vom Komponisten Gerhard Lampersberg, der die poe-tische Kraft des jungen Turrini sehr früh erkannte, ihn auf sein Landgut, den Tonhof, einlud und ihn förderte und ernst nahm, wo er nur konnte. Auch Thomas Bern-hard, der ebenfalls am Tonhof künstlerisch sozialisiert worden war, berichtet in seinen Erinnerungen „Ein Kind“ von der magischen Kraft seines Großvaters, eines er-folglosen Schriftstellers, der seinen Enkel zu Abenteu-ern ermutigte und ihm ein prächtiges Gegenuniversum zu den schwarzpädagogischen Erziehungsmethoden der 1930er-Jahre bot. In dem Buch erzählt Bernhard auch von entsetzlichen Demütigungen in NS-Erzie-hungsanstalten, wo das Leintuch des bettnässenden Thomas jeden Tag vor allen Mitschülern aufgehängt wurde.

Die erste Kränkung des Menschen beginnt de facto mit dem Eintritt ins Leben und dem damit verbunde-nen Geburtsschock. Die Entwicklungspsychologin Bri-gitte Rollett sieht in einem stabilen familiären Umfeld, in dem auch ein Ausweichen auf andere Vertrauens-personen möglich ist, einen Grundstein für die spätere Kränkungsresilienz eines Kindes.

Schulische Mobbing-Situationen können bei Kin-dern später trotz eines verlässlichen Elternhauses zu

„Erstarrung, Angststörungen, Depressionen, aber auch einer Offenheit für radikale Gruppen wie IS-Organisa-tionen führen“. Deswegen wäre es so wichtig, „Kinder sofort aus solchen Situationen herauszuholen“. Die rich-tige Balance zwischen Fördern und Fordern zu finden, sehen sowohl Rollett als auch Haller als die Vorausset-zung für ein gutes emotionales Immunsystem. Kinder, die von ihren Eltern ständig überhöht und mit Lob überhäuft werden, laufen Gefahr, narzisstische Antei-le sowie eine zersetzende Überempfindlichkeit und Kränkungsunverträglichkeit zu entwickeln.

Die beste Voraussetzung für späteren pathologischen Narzissmus legt das Fehlen einer Frustrationstoleranz beim Baby und Kleinkind. Kinder, denen von ihren He-likopter-Eltern sämtliche Widrigkeiten und mögliche Enttäuschungen aus dem Weg geräumt wurden und die mit unangemessenem und übertriebenem Lob über-häuft wurden, „laufen Gefahr, schmerzliche Erfahrun-gen nicht normal integrieren zu können“, so der welt-weite Spezialist für Narzissmus Otto Kernberg im pro-fil-Interview. In Kindern, die von ihren Eltern „wie ein Triumph herumgetragen und idealisiert werden“, ver-festige sich der Glaube: „Auf Liebe kann ich nicht ver-trauen, auf Bewunderung schon.“ Im besten Fall wer-den solche Kinder im späteren Leben Rockstars, Schau-spieler und Top-Manager, im schlimmsten Fall (und in Kombination mit einer schweren Persönlichkeitsstö-rung) Serienkiller. „Der Kern und das Zentrum des Nar-

Das gekränkte Kind und der Aufbau von Selbstwert

Narzissten und ihre Unfähigkeit, Kränkungen zu ertragen

Thomas Bernhard Demütigungen in NS-Erziehungsanstalten. Das Leintuch des Bettnässers wurde täglich aufgespannt.

Peter Turrini Man nannte ihn „das dicke Tischlerkind“. Um Zurückweisungen zu verarbeiten, begann er zu dichten.

Johann Wolfgang von Goethe Das Dichtergenie holte sich Inspiration aus Kränkungen. So schuf er auch „Die Leiden des jungen Werther“.

Alen R. Der gebürtige Bosnier raste im Juni 2015 in die Grazer Fußgängerzone, nachdem er von seiner Frau verlassen wurde.

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zissten sind seine eigene Großartigkeit, die ein schwer gespaltenes Selbst auszugleichen hat“, so der 87-jähri-ge Wiener Emigrant, der heute in New York lebt und noch immer lehrt und praktiziert. „Wenn primitive Ag-gression dieses Gefühl der Großartigkeit infiltriert, dann kommt es zu bösartigem Narzissmus.“ Ein prägender Wesenszug des Narzissten ist seine Unfähigkeit, mit Kränkungen und Abwertungen umzugehen, wobei er selbst seine Bezugspersonen mit diesen emotionalen Kalt-Warm-Duschen bei der Stange hält. Was die Psy-chotherapierbarkeit einer solchen Störung angeht, sieht Haller wenig Chancen: „Ich kann den Involvierten nur raten, einen großen Bogen um solche Menschen zu ma-chen, wenn es sich um eine echte Störung handelt, al-lerdings sind narzisstische Reaktionen sehr wohl ver-änderbar.“

Mit zunehmenden Leidensdruck – solche Narzissten fallen mit fortschreitendem Alter in Isolation und Ein-samkeit – würde sich laut Kernberg jedoch immer wie-der der Wunsch nach Veränderung bemerkbar machen.

„Mit schwindender Attraktivität und wachsendem Al-ter und Einsamkeit suchen solche Patienten dann doch Hilfe“, erzählt er aus seiner Praxiserfahrung. Bezie-hungsleben mit Narzissten sind ein Biotop für psycho-somatische Störungen der oftmals masochistischen Partner, denn die Dauerkränkung durch den Mangel an Empathie wirkt seelisch zersetzend und ist „neuro-wissenschaftlich betrachtet genauso krankmachend wie eine physische Verletzung“, so die Wiener Entwicklungs-psychologin Brigitte Rollett.

„Ich hasse dich, verlass mich nicht“ lautet ein Buchtitel unter den zahllosen Psychoratgebern, die sich mit der zerstörerischen Dynamik von Beziehungen auseinan-dersetzen, wie sie Edward Albee und August Strindberg in ihren Dramen erzählen oder Brad Pitt und Angelina Jolie in ihrem kürzlichen Kinoflop „By The Sea“ nach-stellten. Häufig speist sich dieses „Krankheitstheater“ – den Begriff prägte Thomas Bernhard – aus den Quellen der Abwertung, Bloßstellung und Demütigung, allesamt Facetten einer Kränkungsdramaturgie, aber auch aus obsessiven Besitzansprüchen wie Eifersucht. Der pa-thologisch verliebte Oskar Kokoschka lief zum Beispiel nächtelang vor Alma Mahlers Haus auf und ab, weil er sie dauerverdächtigte, ihn zu betrügen. Partner mit ei-nem pathologischen Othello-Komplex leiden meist an einem geringen Selbstwertgefühl oder traumatisieren-den Verlusterfahrungen in der eigenen Kindheitsge-schichte. Die Psychologen Sonja Nufer und Hans Chris-tian Schrader, Autoren des Buchs „Wenn Liebe zum De-saster wird“, gehen davon aus, dass solche Mobbing-Szenarien „in 80 Prozent der Partnerschaften an der Tagesordnung sind“. Dass der ursprünglich in der Arbeitswelt angesiedelte Begriff des Mobbings, – was übersetzt so viel wie „anpöbeln“ bedeutet – in der neu-eren Psychologie immer wieder auch auf Beziehungs-welten transponiert wird, liegt daran, dass „die Mecha-nismen sich da wie dort sehr ähnlich sind“, so der deut-sche Paarspezialist Wolfgang Schmidbauer. Die Beteiligten wären meist „stark voneinander abhängig und deswegen auch sehr verletzbar“. Auch die psycho-

somatischen Begleiterscheinungen unterscheiden sich nicht. Dauerhaft seelischer Gewalt in Beziehungen aus-gesetzt zu sein, zieht ein erhöhtes Herzinfarktrisiko, Bandscheibenvorfälle, Migräne, Schlafstörungen und Depressionen nach sich. „Diese Art von Dauerstress“, er-klärt Mobbing-Forscher Schrader, produziere Hormo-ne, die den Körper sukzessive vergiften.

2003 wurde das psychiatrische Diagnose-Handbuch erstmals mit dem Begriff „posttraumatische Verbitte-rungsstörung“ bereichert, die, so der Wiener Psycho-therapeut Raphael Bonelli, nach Kränkungen wie einer zu Unrecht empfundenen Kündigung, falschen Beschul-digungen, Mobbing und Beziehungstrennungen ent-stehen kann. Das Wesen dieser Störung, die sich in De-pressionen, sozialer Isolation bis hin zum Selbstmord manifestieren kann, zeige sich in der Unfähigkeit des Betroffenen, „eigene Schuldanteile zu erkennen und zu verzeihen“. Bonelli: „Solche Menschen sehen nur das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, sie sind grundbe-leidigt und entwickeln eine generelle Bockigkeit dem Leben gegenüber.“ Die größten Risikogruppen für eine solche Störung wären Narzissten und Perfektionisten, die sich selbst nur Lebensberechtigung im Job attestie-ren und von Lob und Applaus überdimensional abhän-gig sind. Häufigste Ursache für „Burn-out“, dem gesell-schaftsfähigen Etikett für Erschöpfungsdepressionen, ist auch nicht ein zu viel an Arbeit, sondern die fehlen-de Anerkennung durch Autoritäten. Tragisches Beispiel für die massive Kränkbarkeit eines solchen Selbstopti-mierungsopfers ist der 44-jährige Schweizer Starkoch Benoît Violier, der sich, wenige Wochen nachdem sein Lokal zum besten Restaurant der Welt gekürt worden war, im vergangenen Februar erschoss. Mögliche Ursa-che des Freitods waren finanzielle Bredouillen, die ein unschönes Licht auf einen ansonsten so glanzvollen Karrieristen geworfen hätten. „Für Männer ist die wich-tigste Bühne des Lebens noch immer der Beruf“, so Reinhard Haller. „Für die Frau ist es die Familie.“

Womit auch die These des Kriminalpsychologen, dass gekränkte Frauen in der Regel nur „Menschen, die sie kennen“, töten, erklärt wäre. Männer hingegen würden durchaus auch Stellvertreterkriege führen, wie bei der Analyse von Amokläufern klar ersichtlich ist. Jens Hoff-mann, Leiter des deutschen Instituts für Bedrohungs-management, sieht in der Kränkung die größte Gefahr für solche Gewalträusche: „Von 20 Amokläufen, die ich untersuchte, entstand nur einer aus einem psychoti-schen Schub, der Rest hatte ganz klar Kränkungen als Ursache.“ Hoffmann unterteilt Amoktäter in zwei Grup-pen: „Die Wachsam-Paranoiden, die von klein auf misstrauisch sind und überall Feindseligkeit vermuten, und die Narzisstischen, die sich selbst als etwas Beson-deres empfinden, aber gekränkt darauf reagieren, dass die Umwelt es ihnen nicht gleichtut.“

Zur zweiten Gruppe zählte der Germanwings-Todes-pilot, aber auch der Grazer Amokfahrer Alen R. Hans-Geert Metzger, Psychiater und Autor des Buches

Drama-Junkies oder das „Krankheitstheater“ in Beziehungen

Erschöpfungsdepressionen und Kränkung am Arbeitsplatz

Der gekränkte Mann und explosiver Machtverlust

Benoît Violier Der Perfektionist galt als der beste Koch der Welt. Im Februar erschoss er sich, vermutlich wegen Geldproblemen.

Adele Die britische Pop-Künstlerin verzog sich ins Studio, um ihre Liebeswunden zu heilen. Sie brach in Folge alle Rekorde.

Angelina Jolie & Brad Pitt In dem Beziehungsdrama „By The Sea“ stellte das Hollywood-Paar eine zersetzende Beziehung nach.

Adolf Hitler Der größte Verbrecher der Menschheitsgeschichte empfand sich sein ganzes Leben über als verkanntes Genie.

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57 14. März 2016 • profil 11

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„Fragmentierte Vaterschaften“ ortet Parallelen in beiden Fallgeschichten: „Da wie dort wurde durch psychische Labilität ein Traum gefährdet, was einer Kränkung gleichkam. Eine Kränkung, die nicht kompensiert wer-den konnte, was wiederum eine Wut auslöste, die nicht aufgefangen werden konnte.“

Als profil im vergangenen Sommer ein Dutzend In-terviews mit Männern, die wegen häuslicher Gewalt-taten inhaftiert waren, in diversen Justizanstalten führ-te, fielen in den Gesprächen zwei Rechtfertigungsphra-sen am häufigsten: „Ich stand mit dem Rücken zur Wand“ oder „Ich hab mir nicht mehr anders zu helfen gewusst.“ Der Macht- und Kontrollverlust, das Gefühl, keine Bedeutung mehr zu haben, die plötzliche, uner-wartete Autonomie ihrer Frauen und Trümmerland-schaften von Familien machen Männer, „die nie gelernt haben, sich ihren Kränkungen zu stellen und damit um-zugehen“ (Haller) in Extremfällen zu wandelnden Bom-ben, die jederzeit explodieren können.

Der größte Verbrecher der Menschheitsgeschichte sah sich zeit seines Lebens als verkanntes Genie – Adolf Hit-ler war 1907 bei der Aufnahmsprüfung an der Wiener Akademie für bildende Künste abgewiesen und ein Jahr später nicht einmal mehr zugelassen worden. Wie tief der kränkungsbedingte Hass saß, lässt sich am Gene-ralangriff gegen die Moderne nach der Machtübernah-me ablesen, die in der Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 gipfelte. Dass Zurückweisung, Kränkung und Min-derwertigkeitsgefühle durchaus auch produktive Kräf-te freisetzen können, beweisen zahlreiche Künstlerbio-grafien – von Picasso bis Karl Lagerfeld. Das beste Bei-spiel, so der deutsche Kreativitätsforscher Rainer Holm-Hadulla, wäre Johann Wolfgang von Goethe, der

„von seinem 14. Lebensjahr an auf Enttäuschungen mit kreativer Produktivität reagiert hatte“. Als Goethe im Alter von 22 Jahren von seiner angebeteten Charlotte Buff zurückgewiesen wurde und er in eine todessehn-süchtige Depression stürzte, kompensierte er sein psy-chisches Desaster mit „Den Leiden des jungen Werther“ in nur vier Wochen und löste damit eine Massenhys-terie aus. Auch die größte Popkarriere dieses Jahrhun-derts fußt auf einer Kränkung: Als die 21-jährige Britin Adele von ihrem Freund verlassen wurde, rächte sie sich mit einem Album über Liebe, Hass und Schmer-zen, das mit dem Song „Rolling In the Deep“ alle Rekor-de brach. Die Kraft, die Minderwertigkeitsgefühle zu kreativen Höchstleistungen transformiert, wurde übri-gens erstmals von dem abtrünnigen Freud-Jünger Alfred Adler erforscht, der mit dieser These die Indivi-dualpsychologie begründete. Doch schon Goethe hat-te mehr als ein Jahrhundert zuvor gewusst, dass „nichts elender ist, als der behagliche Mensch ohne Arbeit“. Und damit die besonders im 19. Jahrhundert beliebte The-orie vom Künstler, der Leid und Kränkungen braucht, um in Bestform zu gelangen, vorweggenommen. Doch auch dabei ist Selbstwert die wichtigste Voraussetzung, nicht wie Amy Winehouse zu enden, so Holm-Hadul-la: „Selbstwert macht widerstandsfähig. Und nur die Widerstandsfähigen haben auch die Disziplin, aus ih-ren Wunden Kraft zu schöpfen.“ n

profil: Gab es einen speziellen Fall im Zuge Ihrer Gutachtertätigkeit, der Ihnen die zerstörerische Kraft von Kränkung beson-ders drastisch vor Augen führte?Reinhard Haller: Den Auslöser für mein Buch gab eindeutig der Bombenattentä-ter Franz Fuchs, mit dem ich als sein Gut-achter nach seiner Verhaftung viele Tage verbracht habe. Am Ende ist eigentlich nur übrig geblieben, dass der Mann ein patho-logisch gekränktes Genie war und letztlich wegen Kleinigkeiten, die unsereiner wahr-scheinlich locker wegstecken würde, töd-liche Rachegedanken ersonnen hat. Ich erinnere mich noch gut, als eine Sozialar-beiterin einmal für ihn ein Zeitungs- abonnement abbestellt hat und ihr dabei ein Rechtschreibfehler passierte. Das allein hat ihn schon so wütend gemacht, dass er diese Frau nie wieder sehen wollte.profil: Lagen die Wurzeln der so verhee-renden Kränkbarkeit von Fuchs in des-sen Kindheit?Haller: Das glaube ich nicht. Sein Eltern-haus war rau, aber herzlich: Die Mutter war eine gestandene Person, der Vater eher ein weicher Typ. Dass Fuchs ein hy-persensibler und extrem kränkbarer so-wie narzisstischer Mensch war, ist auch mit seiner Veranlagung zu erklären. Als er ein Stipendium nicht in der erwarte-ten Höhe erhalten hatte, warf er sein Stu-dium hin. Als er sich in ein Mädchen ver-liebt hatte, es davon aber nichts wusste, hat er dies sofort als Zurückweisung in-terpretiert und einen unglaublichen Frau-enhass entwickelt. Als er bei Daimler ar-beitete, war er der Meinung, dass ein Aus-länder ihm eine bestimmte Stelle weggeschnappt hatte. Daraus entstand dieser extreme Ausländerhass, der dann auch zu seinen Anschlägen führte.profil: Heißt das, dass die aggressive Ent-ladung einer Kränkung oft durch kleine Anlässe hervorgerufen werden kann?Haller: Ja. Ich bin nicht der Meinung, dass die Auslöser große Traumen sind, sondern vielmehr Kleinigkeiten. Ein Flügelschlag eines Schmetterlings in Amazonien kann in Texas einen Wirbelsturm auslösen. Ich schreibe im Buch über einen deutschen Amokläufer, der als Grund für seine Tat angab, dass bei einer Klassenfahrt nach

Rom, die sieben Jahre zurücklag, keiner mit ihm das Zimmer teilen wollte. Krän-kungen ziehen oft über Jahre aufwühlen-de Prozesse nach sich, die sich durch Ver-brechen, aber auch durch psychosomati-sche Krankheiten Bahn brechen können.profil: Amokläufer leiden häufig an einer narzisstischen Störung. Narzissmus und Kränkbarkeit scheinen prinzipiell sehr eng verwoben.Haller: Natürlich. Das wird oft vergessen, denn es herrscht die fälschliche Meinung vor, dass Narzissmus mit einem überhöh-ten, übertriebenen Selbstwertgefühl gleichzusetzen ist. Narzissmus geht Hand in Hand mit einer extremen Empfindlich-keit. Bei vielen Schul-Amokläufern und Terroristen kann man Kränkung auch als Initialzündung werten. Der Abschlussbe-richt über den Todespiloten der German-wings-Maschine liegt noch nicht vor, aber ich bin mir ganz sicher, dass Kränkung in Form eines drohenden Jobverlusts ein maßgeblicher Auslöser für seine Tat war. Die Psychologie, die dahintersteht, lautet: Mir geht es schlecht und denen geht es gut. Und dieser heilen, verständnislosen Welt werde ich es jetzt zeigen.profil: In der Kriminalliteratur heißt es im-mer über die gefährlichsten und grau-samsten Psychopathen, sie wären im All-tag ihren Nachbarn unauffällig, introver-tiert und durchaus auch zuvorkommend erschienen.Haller: Das ist richtig. Es sind eher die Ver-haltenen, die, die alles in sich hineinfres-sen, wo sich das gesamte Frustrationspo-tenzial dann irgendwann eruptiv entlädt.profil: Es sind also nicht die jähzornigen, deren Impulskontrolle oft aus dem Ruder scheint, die man fürchten muss?Haller: Richtig. Aber diesem Irrglauben bin auch unterlegen. Ich dachte früher, dass die leicht verstimmbaren, impulsiven und emotional instabilen gefährlich werden könnten. Das war ein Irrtum: Die, die von ihren Mitmenschen gerne als eine Art

„graue Maus, der man das nie zugetraut hätte“ bezeichnet werden, neigen eher zu Gewaltverbrechen. Die Wut, die ständig hinuntergeschluckt wird, muss irgend-wann hinaus.profil: Menschen, die sich durch über-

durchschnittliche Empfindlichkeit cha-rakterisieren, haben möglicherweise als Babys und Kleinkinder nicht gelernt, eine Frustrationstoleranz zu entwickeln. Wie kann ich als Elternteil mein Kind so krän-kungsresistent wie möglich machen?Haller: Das ist die große Aufgabe, das Maß zu finden zwischen Fordern und Verwöh-nen. Risikoanfällig für Kränkungen sind meistens nur zwei Sorten von Menschen: Jene, die zu viel Zuneigung und Zuwen-dung erhalten haben, und die, die eben zu wenig davon bekommen haben. Das Ergebnis ist letztendlich das gleiche: Der Unterversorgte wird sein Leben danach hungern. Beim anderen Typus muss die Dosis ständig erhöht werden, und er wird gekränkt sein, wenn ihm diese – für ihn – Selbstverständlichkeiten vorenthalten werden. Erziehung ist aber immer eine Gratwanderung, die man nicht mit Richt-linien und Ratgebern lösen kann.profil: Durch die Psycholiteratur des ver-gangenen Jahrzehnts geistert das Bild des

„gekränkten Mannes“. Auch auf den Chro-nikseiten ist bei männlichen Gewaltver-brechern – wie zum Beispiel beim Grazer Amokfahrer – häufig von vorangegange-nen Kränkungen die Rede, etwa eine von der Frau betriebenen Trennung.Haller: Männer können schlechter mit Kränkungen umgehen als Frauen. Das kommt daher, dass sie von klein auf dar-auf konditioniert sind, ihre Verletzungen zu verdrängen, anstatt sich ihnen zu stel-len. Im Falle von Graz geht es wahrschein-lich auch wie bei vielen anderen Famili-entragödien, in denen Männer ihre Frau und Kinder umgebracht haben, um eine Reaktion auf Machtverlust. Diese Männer haben ihre Position innerhalb der Fami-lie verloren, die Frauen verselbstständi-gen sich, das können diese Männer nicht verkraften. Dann schwören sie sich inner-lich: Ein Mal werde ich es euch noch zei-gen, ein Mal habe ich noch einen letzten Sieg und eine todsichere Lösung. Diese Männer sind psychisch häufig nicht krank, sondern zerstören aus rein egoistischen Motiven. Diese erweiterten Morde steigen statistisch an. Sie sind für mich eine neue Form des Bösen.

Interview: Angelika Hager

Reinhard Haller ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Er leitet das Vorarlber-ger Behandlungszentrum für Suchtkranke und ist Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeuti-schen Klinik in Vorarlberg. Seit 1983 fungiert er auch als psychiat-rischer Gutachter und untersuchte u. a. die Fälle Jack Unterweger und Franz Fuchs. Seine Forschungs-schwerpunkte sind: Sucht und Suizid, Forensische Psychiatrie und Kriminologie. Haller hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter

„Die Seele des Verbrechers“, „Die Narzissmusfalle“ und zuletzt „Die Macht der Kränkung“ bei Ecowien.

„Und dieser heilen Welt werde ich es jetzt zeigen“Der Psychiater Reinhard Haller über die Empfindlichkeit von Narzissten und den aggressiven Umgang mit Machtverlust.

Leidensgenial und Kränkung als Kreativitätsquelle

„Männer können schlechter mit Kränkungen um-gehen als Frauen. Das kommt da-her, dass sie von klein auf darauf konditioniert sind, ihre Verlet-zungen zu verdrängen.”

reinhard Haller„Die Macht der Kränkung“

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59 14. März 2016 • profil 11

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58 profil 11 • 14. März 2016