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586 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 75 (2006), Heft 7 Wie kein anderer vor ihm gründete Gerstner in seinem dreibän- digen „Handbuch der Mechanik“ die Festigkeitslehre auf das Experiment. Hierzu referierte er die klassischen Festigkeitsver- suche Musschenbroeks, Rondelets, Eytelweins, Rennies, Telfords, Browns, Brunels, Barlows, Tredgolds, Naviers und Dufours, die er durch eigene umfangreiche Versuchsserien ergänzte. Letztere gewann er mit von ihm entworfenen Apparaten zur Ermittlung der Zug- und Biegefestigkeit. Gerstners Versuche zur Zugfestigkeit von Schmiedeeisen und Stahl beispielsweise setzten – was zahlenmäßige Genauigkeit, Methode und Anwen- dungen betrifft – Maßstäbe. So gab er im Rahmen des geplanten Baus einer Kettenbrücke in Prag einen Polynomansatz des Span- nungs-Dehnungs-Diagramms von Stahl und Schmiedeeisen an, dessen Parameter er experimentell bestimmte. Dabei unterschied Gerstner klar zwischen einem linearen Bereich („vollkommene Elastizität“) und nichtlinearen Bereich („unvollkommene Elasti- zität“) und warnte vor der Überschreitung der Proportionalitäts- grenze insbesondere bei Kettenbrücken. Auch der Biegefestig- keit von Holz- und Eisenkonstruktionen räumte er breiten Raum ein. Mit seiner empirisch akzentuierten Festigkeitslehre schuf Gerstner die Grundlagen einer physikalisch begründeten Proportionslehre des Bau- und Maschineningenieurs, die historisch-logisch den Übergang zur Baustatik und der klassischen Bemessungstheorie Naviers bildete. On the relationship between construction engineering and strength of materials in Gerstner’s „Handbook of Mechanics“. Commemorating Franz Joseph Ritter von Gerstner’s 250 th birth- day. Like nobody else before him Gerstner based the theory of material strength in his „Handbook of Mechanics“ on experi- ments. To this end he discussed the classic experimental stress analyses undertaken by Musschenbroek, Rondelet, Eytelwein, Rennie, Telford, Brown, Brunel, Barlow, Tredgold, Navier and Dufour. He also carried out extensive test series himself, for which he designed his own devices for determining tensile and bending strength. Gerstner’s experiments on the tensile strength of wrought iron and steel, for example, set standards in terms of precision, methodology and application. As part of the design work for a chain suspension bridge in Prague he developed a polynomial formula for the stress-strain diagram of steel and wrought iron, the parameters for which he determined himself through experiments. Gerstner clearly differentiated between a linear region („perfect elasticity“) and a nonlinear region („im- perfect elasticity“) and warned against exceedance of the pro- portionality limit, particularly for chain suspension bridges. He also dealt extensively with the bending strength of timber and iron structures. With his empirically accentuated theory of material strength Gerstner established the basic principles of a physically substan- tiated theory of proportions for structural and machine engineers, which formed the historical-logical transition to structural theory and classic dimensioning theory. 1 Franz Joseph Ritter von Gerstner In der Kanonade von Valmy hielten die französischen Re- volutionstruppen am 20. September 1792 erstmals dem Druck der aus Österreich, Preußen und einigen deutschen Kleinstaaten bestehenden Allianz stand; danach gingen die Revolutionstruppen im ersten Koalitionskrieg von der Defensive in die Offensive über, den sie 1795 mit der Er- oberung Savoyens, des gesamten linken Rheinufers und die Niederlande siegreich beenden konnten. Angesichts der tragenden Rolle der höheren technischen Bildung für den Sieg des französischen Revolutionsheeres nahm 1795 die „Hofkommission für Revision des öffentlichen Schul- wesens“ in Österreich ihre Arbeit auf. Zu ihrem Primus in- ter pares avancierte der Professor für höhere Mathematik an der Universität Prag, Franz Joseph Ritter von Gerstner (1756–1832) (Bild 1). Schon während seiner Gymnasialzeit machte sich der am 23. Februar 1756 in Komotau (Böhmen/Österreich) ge- borene Franz Joseph Ritter von Gerstner mit den in seiner Heimatstadt ansässigen Handwerken bekannt. Von 1773 bis 1779 studierte er an der Universität Prag; dort hörte er Philosophie, Theologie, Griechisch, Hebräisch, Elementar- mathematik, Astronomie und Höhere Mathematik. Durch Orgelspiel und Nachhilfeunterricht in Mathematik und Phy- Das Verhältnis von Bautechnik und Festigkeitslehre in Gerstners „Handbuch der Mechanik“ Zum 250. Geburtstag von Franz Joseph Ritter von Gerstner Karl-Eugen Kurrer Fachthemen DOI: 10.1002/stab.200610062 Bild 1. Franz Joseph Ritter von Gerstner (1756–1832) (Quelle: [1]) Fig. 1. Franz Joseph Ritter von Gerstner (1756–1832) (source: [1])

Das Verhältnis von Bautechnik und Festigkeitslehre in Gerstners “Handbuch der Mechanik” – Zum 250. Geburtstag von Franz Joseph Ritter von Gerstner

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Wie kein anderer vor ihm gründete Gerstner in seinem dreibän-digen „Handbuch der Mechanik“ die Festigkeitslehre auf dasExperiment. Hierzu referierte er die klassischen Festigkeitsver-suche Musschenbroeks, Rondelets, Eytelweins, Rennies,Telfords, Browns, Brunels, Barlows, Tredgolds, Naviers undDufours, die er durch eigene umfangreiche Versuchsserienergänzte. Letztere gewann er mit von ihm entworfenen Apparatenzur Ermittlung der Zug- und Biegefestigkeit. Gerstners Versuchezur Zugfestigkeit von Schmiedeeisen und Stahl beispielsweisesetzten – was zahlenmäßige Genauigkeit, Methode und Anwen-dungen betrifft – Maßstäbe. So gab er im Rahmen des geplantenBaus einer Kettenbrücke in Prag einen Polynomansatz des Span-nungs-Dehnungs-Diagramms von Stahl und Schmiedeeisen an,dessen Parameter er experimentell bestimmte. Dabei unterschiedGerstner klar zwischen einem linearen Bereich („vollkommeneElastizität“) und nichtlinearen Bereich („unvollkommene Elasti-zität“) und warnte vor der Überschreitung der Proportionalitäts-grenze insbesondere bei Kettenbrücken. Auch der Biegefestig-keit von Holz- und Eisenkonstruktionen räumte er breiten Raumein. Mit seiner empirisch akzentuierten Festigkeitslehre schuf Gerstnerdie Grundlagen einer physikalisch begründeten Proportionslehredes Bau- und Maschineningenieurs, die historisch-logisch denÜbergang zur Baustatik und der klassischen BemessungstheorieNaviers bildete.

On the relationship between construction engineering andstrength of materials in Gerstner’s „Handbook of Mechanics“.Commemorating Franz Joseph Ritter von Gerstner’s 250th birth-day. Like nobody else before him Gerstner based the theory ofmaterial strength in his „Handbook of Mechanics“ on experi-ments. To this end he discussed the classic experimental stressanalyses undertaken by Musschenbroek, Rondelet, Eytelwein,Rennie, Telford, Brown, Brunel, Barlow, Tredgold, Navier andDufour. He also carried out extensive test series himself, forwhich he designed his own devices for determining tensile andbending strength. Gerstner’s experiments on the tensile strengthof wrought iron and steel, for example, set standards in terms ofprecision, methodology and application. As part of the designwork for a chain suspension bridge in Prague he developed apolynomial formula for the stress-strain diagram of steel andwrought iron, the parameters for which he determined himselfthrough experiments. Gerstner clearly differentiated between alinear region („perfect elasticity“) and a nonlinear region („im-perfect elasticity“) and warned against exceedance of the pro-portionality limit, particularly for chain suspension bridges. Healso dealt extensively with the bending strength of timber andiron structures.

With his empirically accentuated theory of material strengthGerstner established the basic principles of a physically substan-tiated theory of proportions for structural and machine engineers,which formed the historical-logical transition to structural theoryand classic dimensioning theory.

1 Franz Joseph Ritter von Gerstner

In der Kanonade von Valmy hielten die französischen Re-volutionstruppen am 20. September 1792 erstmals demDruck der aus Österreich, Preußen und einigen deutschenKleinstaaten bestehenden Allianz stand; danach gingendie Revolutionstruppen im ersten Koalitionskrieg von derDefensive in die Offensive über, den sie 1795 mit der Er-oberung Savoyens, des gesamten linken Rheinufers unddie Niederlande siegreich beenden konnten. Angesichtsder tragenden Rolle der höheren technischen Bildung fürden Sieg des französischen Revolutionsheeres nahm 1795die „Hofkommission für Revision des öffentlichen Schul-wesens“ in Österreich ihre Arbeit auf. Zu ihrem Primus in-ter pares avancierte der Professor für höhere Mathematikan der Universität Prag, Franz Joseph Ritter von Gerstner(1756–1832) (Bild 1).

Schon während seiner Gymnasialzeit machte sich deram 23. Februar 1756 in Komotau (Böhmen/Österreich) ge-borene Franz Joseph Ritter von Gerstner mit den in seinerHeimatstadt ansässigen Handwerken bekannt. Von 1773bis 1779 studierte er an der Universität Prag; dort hörte erPhilosophie, Theologie, Griechisch, Hebräisch, Elementar-mathematik, Astronomie und Höhere Mathematik. DurchOrgelspiel und Nachhilfeunterricht in Mathematik und Phy-

Das Verhältnis von Bautechnik und Festigkeitslehrein Gerstners „Handbuch der Mechanik“Zum 250. Geburtstag von Franz Joseph Ritter von Gerstner

Karl-Eugen Kurrer

Fachthemen

DOI: 10.1002/stab.200610062

Bild 1. Franz Joseph Rittervon Gerstner (1756–1832)(Quelle: [1])Fig. 1. Franz Joseph Rittervon Gerstner (1756–1832)(source: [1])

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sik mußte er einen Teil seines Lebensunterhaltes bestrei-ten. Seinem Sprachfehler zum Trotz unterzog er sich zweiöffentlichen Doktorprüfungen zur Astronomie und zuNewtons „Principia“, die er mit glänzendem Erfolg absol-vierte. Danach diente er als Vermessungsingenieur bei der„Robot-Abolitions-Hofcommission“, die von Kaiser JosephII. im Zuge der Abschaffung der Frondienste ins Leben ge-rufen wurde. Angeregt durch dessen Aufklärung von oben,trieb Gerstner medizinische Studien, behielt jedoch seinernsthaftes Interesse an astronomischen und mathemati-schen Fragen.

1789 veröffentlichte Gerstner seine „Einleitung in diestatische Baukunst“ [2], die zum wichtigen Dokument derInitialphase der Baustatik (1775–1825) avancierte. Im sel-ben Jahr erfolgte die Berufung zum Professor der HöherenMathematik an der Universität Prag, wo Gerstner alsbalddie Hörerzahl von 3 bis 4 auf 70 bis 80 steigern konnte. Ei-ner seiner Hörer war der spätere Mathematiker und Philo-soph Bernard Bolzano (1781-1848), dessen Genie Gerstnererkannte und nach Kräften förderte; fünf Jahre nach demTod seines Lehrers im Jahre 1832 setzte ihm Bolzano miteiner Biographie ein Denkmal [3]. Gerstners Interesse kon-zentrierte sich mehr und mehr auf die „Emporbringung

der vaterländischen Gewerbe durch wissenschaftlichenUnterricht“ [1, S. V].

So wurden Gerstners Vorstellungen über die Reformder naturwissenschaftlichen Studien sogar von KaiserFranz II. am 27. September 1797 mit Befriedigung ange-nommen: „Ich erwarte, daß bei der Reorganisation desphilosophischen Studiums auch der detaillierte Plan eineshöheren technischen Institutes ausgearbeitet wird, dessenvortrefflicher Nutzen bereits aus der vorgelegten Skizzehervorgeht“ [4, S. 125–126]. Im darauffolgenden Jahr legteGerstner diesen „detaillierten Plan“ vor, der von den böh-mischen Ständen mit Begeisterung angenommen wurde.Mit einigen, der unsicheren Zeit der Napoleonischen Kriegegeschuldeten Abstrichen vom ursprünglichen Plan Gerst-ners, nahm am 10. November 1806 die „Königliche techni-sche Ständelehranstalt“ (heute Technische Universität Prag)als zweitälteste Technische Hochschule Europas ihrenUnterricht auf. Gerstner leitete das Prager Polytechnikumbis 1822 und vertrat dort die Fächer Mathematik und Me-chanik. 1811 ernannte ihn der Kaiser zum Wasserbaudirek-tor Böhmens; Franz Joseph Ritter von Gerstner wurde zumbegehrten Ratgeber für zahlreiche technische Projekte sei-nes Heimatlandes. Zusammen mit seinem Sohn Franz An-ton Ritter von Gerstner (1793–1840) (Bild 2) betrieb er inden 1820er Jahren den Bau der ersten Eisenbahnlinie Kon-tinentaleuropas, der Pferdeeisenbahn zwischen Linz undBudweis, die seit 1832 von Budweis bis Urfahr an der Donauund seit 1835 bis Linz befahren werden konnte [5, S. 5–6].

2 Das „Handbuch der Mechanik“

Das von Franz Anton Ritter von Gerstner auf der Grund-lage derVorlesungen seines Vaters herausgegebene dreibän-dige „Handbuch der Mechanik“ (1831–1834) (Bild 3) istdas erste umfassende deutschsprachige Werk der Techni-schen Mechanik. Im Untertitel heißt es: „(…) mit Beiträ-gen von neuern englischen Konstruktionen vermehrt (…)von Franz Anton Ritter von Gerstner“ (s. Bild 3). Die Listeder 1834 veröffentlichten Vormerker liest sich wie ein „Who

Bild 2. Franz Anton Rittervon Gerstner (1793–1840)(Quelle: Bildarchiv derÖsterreichischen National-bibliothek, Wien)Fig. 2. Franz Anton Rittervon Gerstner (1793–1840)(source: Picture archives ofAustrian national library,Vienna)

Bild 3. Titelblätter des a) ersten (aus: [1]), b) zweiten (aus: [6]) und c) dritten (aus: [7]) Bandes des „Handbuch der Mechanik“Fig. 3. Title pages of a) first, b) second and c) third volume of the „Handbook of Mechanics“ (source: a): [1], b): [6] c): [7])

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is Who“ der Technik des damaligen Kontinentaleuropas.Von den ca. 1900 Vormerkern entfielen 30,35 % auf dasBau- und Verkehrswesen, 22,78 % auf den Buchhandel,9,63 % auf das Handwerk, Fabrik-, Maschinen- und Hüt-tenwesen, 6,62 % auf Bibliotheken, 5,15 % auf den Berg-bau, 4,37 % auf die Forschung und Lehre, 3,95 % auf dasMilitärwesen, 2,63 % auf die Land- und Forstwirtschaft und14,52 % auf Sonstige [8, S. 502]. Als Krönung des tech-nisch-wissenschaftlichen Lebenswerkes von Franz JosephRitter von Gerstner beeinflußte das „Handbuch der Mecha-nik“ die Konstituierungsphase der Technischen Mechanikin den deutschsprachigen Ländern nach 1830 neben dererst ein Dezennium später anhebenden Rezeption derklassischen französischen Beiträge eines Navier, Poncelet,Coriolis etc. dieser technikwissenschaftlichen Grundlagen-disziplin bis 1850 nachhaltig. Mehr noch: Was die beidenGerstner unter dem bescheidenen Titel „Handbuch derMechanik“ veröffentlichten, ist das herausragende deutsch-sprachige Kompendium der verwissenschaftlichten Tech-nik in der ersten Jahrhunderthälfte; in ihm erfährt die zeit-genössische Bau- und Maschinentechnik im Übergangvon der Manufaktur zur Technik der Industriellen Revolu-tion für den Technikbeflissenen eine solche wissenschaft-liche Bearbeitung, daß es aus heutiger Sicht als Knoten-punkt in der Herausbildung des Systems der klassischenTechnikwissenschaften gewertet werden kann.

3 Gerstners Festigkeitslehre

Gerstner teilt die Mechanik ein in die Technische Mechanikund Theoretische Mechanik (Bild 4). Als erster deutschspra-chiger Technikwissenschaftler hat Gerstner den Gegen-standsbereich derTechnischen Mechanik bestimmt und die-sen Terminus in die deutsche Sprache eingeführt [8, S. 503]:„Die technische Mechanik (mécanique industrielle ou mé-canique appliquée aux arts) hat die Vollführung aller derje-nigen Arbeiten zum Gegenstande,wodurch die Produkte desGewerb- und Kunstfleisses erzeugt und nach Maassgabe derzu befriedigenden Lebensbedürfnisse dargestellt werden.Alle menschlichen Arbeiten werden theils aus freier Hand,theils mit Anwendung der Instrumente und Maschinen ver-

fertigt. Der Unterricht in der Mechanik hat für beide Artenvon Arbeiten die Gesetze und Regeln anzugeben, nach wel-chen sich die Arbeiter zu benehmen, ihre Instrumente undMaschinen zweckmässig vorzurichten, sie zu prüfen und zugebrauchen haben. Zur Verrichtung einer jeden Arbeit isteine Kraft nöthig (…). Wir haben daher in der Mechanikbloss die Gesetze der Natur genau zu beobachten, die Eigen-schaften der zu bearbeitenden Körper umsichtig zu untersu-chen und dadurch die zweckmässigsten Mittel zur Bewir-kung unsererArbeiten aufzufinden“ [1, S. 3].

Gerstners Gegenstandbestimmung folgt im wesentlichender Auffassung Jean-Victor Poncelets (1788–1867), der dieKonstituierungsphase der Technischen Mechanik (1825–1850) mit seinen grundlegenden Beiträgen tief beeinflußte.Poncelets Lehrveranstaltungen über die „Mécanique indu-strielle“ an der „École d’Application de l’Artillerie et duGénie“ in Metz wurden – wie andere auch – von der schul-eigenen Lithographieranstalt in Auflagen von etwa 500Exemplaren dokumentiert [9, S. 75]; so verweist der Pon-celet-Forscher Konstantinos Chatiz auf drei zwischen1827 und 1830 von M. Goesselin redigierten lithogra-phierten Vorlesungsmanuskripte Poncelets zur „Mécani-que industrielle“ [10, S. 353].

Nach Gerstner zerfällt die Technische Mechanik in dieDynamik und in die „Lehre vom Widerstande, worin dieGrösse der vorkommenden Widerstände und die Gesetzeerörtert werden, nach welchen dieselben bei allen Arbeitender angebrachten Kraft entgegenwirken“ [1, S. 6]. Die„Lehre vom Widerstande“ wiederum untergliedert Gerstnerin die Theorie der Reibungswiderstände, statische Baukunstund Festigkeitslehre. Statische Baukunst und Festigkeits-lehre sind bei Gerstner noch nicht zur Baustatik zusammen-gefaßt. Während Gerstner die statische Baukunst als An-wendung der Statik im Sinne der Lehre vom Gleichgewichtauf den Objektbereich der Bautechnik versteht, faßt er dieFestigkeitslehre weiter: „Bei dem Baue der Maschinen undGebäude ist es von Wichtigkeit, allen Theilen eine solcheStärke und Festigkeit zu geben, damit sie bei ihrem Gebrau-che nicht zerreissen, sich nicht übermäßig biegen oder garbrechen; dagegen dürfen diese Theile auch nicht so starkund massiv gemacht werden, dass sie den Kostenaufwandunnöthig vermehren, oder durch ihre zu grosse Schwere dieWiderstände der Bewegung vergrössern, oder wohl gardurch ihr eigenes Gewicht brechen“ [1, S. 241].

Den damaligen Gepflogenheiten folgend unterscheidetGerstner vier Beanspruchungsarten:– „Absolute Festigkeit“ (= Zugfestigkeit)– „Relative Festigkeit“ (= Biegefestigkeit)– „Rückwirkende Festigkeit“ (= Druckfestigkeit)– „Widerstand gegen Verdrehen“ (= Torsionsfestigkeit)

Wie kein anderer vor ihm gründet Gerstner die Festig-keitslehre auf das Experiment. Mit seiner empirisch akzen-tuierten Festigkeitslehre schuf Gerstner die Grundlagen ei-ner durch Experimente begründeten Proportionslehre desBau- und Maschineningenieurs, die historisch-logisch denÜbergang zur Baustatik und der klassischen Bemessungs-theorie bildete.

4 Gerstners Festigkeitsversuche

Gerstners Versuche zur Zugfestigkeit von Schmiedeeisenund Stahl beispielsweise setzten – was zahlenmäßige Ge-

Bild 4. Struktur der Mechanik nach Gerstner (eigene Zeich-nung)Fig. 4. Structure of mechanics according to Gerstner (diagramby author)

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nauigkeit, Methode und Anwendungen betrifft – Maßstäbe.So gibt er im Rahmen des geplanten Baus einer Ketten-brücke in Prag einen Polynomansatz des Spannungs-Deh-nungsdiagramms von Stahl und Schmiedeeisen an, dessenParameter er experimentell bestimmt. Dabei unterscheidetGerstner als erster klar zwischen einem linearen Bereich(„vollkommene Elastizität“) und nichtlinearen Bereich(„unvollkommene Elastizität“) und warnt vor der Über-schreitung der Proportionalitätsgrenze insbesondere beiKettenbrücken. Auch der Biegefestigkeit von Holz- undEisenkonstruktionen räumt er breiten Raum ein; im Ge-gensatz zu Navier (s. [11]) gelingt es Gerstner nicht, einein sich konsistente Technische Biegetheorie zu formulie-ren.

4.1 Entwurf und Bau von Hängebrücken im frühen 19. Jahrhundert

Gerstners intensive Beschäftigung mit der Festigkeit vonEisen geht auf dessen Anwendung beim Bau von Ketten- undDrahtseilbrücken zurück. 1824 wurde Gerstner als böhmi-scher Landeswasserbaudirektor aufgefordert, ein Gutachtenüber die Anwendbarkeit des in Böhmen erzeugten Eisenszum Bau einer in Prag über die Moldau zu errichtendenKettenbrücke abzugeben [1, S. 259]. Bis zu diesem Zeitpunktsind bereits in mehreren Ländern Hängebrücken entstan-den wie beispielsweise– in den Vereinigten Staaten von Nordamerika nach dem1801 patentierten Brückensystem von James Finley [12, S.28–33],– in der Schweiz nach den Entwürfen Guillaume HenriDufours seit 1822 [12, S. 79 ff.],– in Frankreich nach den Entwürfen von Marc Seguinseit 1822 und Navier seit 1823/24 [13, S. 68],– und in Rußland nach den Entwürfen von Wilhelm vonTraitteur seit 1823/24 [14, S. 123–151].

Von 1818 bis 1826 entstand nach den Entwürfen vonThomas Telford die 175 m weit gespannte Hängebrückeüber die Menai-Strait in Wales. Telfords Hängebrückesollte bis weit über die Jahrhundertmitte zum Leitbauwerkdes Kettenbrückenbaus im 19. Jahrhundert avancieren.

Auch Österreich erzielte schon früh bedeutende Fort-schritte beim Bau von Hängebrücken: So verlieh der öster-reichische Kaiser Franz I. (bis 1806 Franz II. – Kaiser desHeiligen Römischen Reichs deutscher Nation) der 1823 vonIgnaz Edler von Mitis gegründeten „Aktiengesellschaft fürden Bau von Kettenbrücken“ das Privileg, in Wien eineHängebrücke zu bauen und 40 Jahre lang Brückenzoll zuerheben [15, S. 92–93 u. S. 123–125]. Gemeinsam mit demPlaner der Brücke, Johann von Kudriaffsky, den AlfredPauser zu Recht als Mitbegründer der Wiener Schule desBrückenbaus bezeichnet [15, S. 123], widmete sich Mitisdem Bau und vor allem den von Navier geschaffenen bau-statischen Grundlagen dieses neuen Teilgebiets des Brücken-baus [16]. Somit war die 1825 als Fußgängersteg fertigge-stellte Sophienbrücke (Bild 5) in Wien mit einer Spann-weite von knapp 76 m die erste, „nach einer aufwendigenstatischen Analyse erstellte Hängebrücke“ [15, S. 123], dieerst 1872 einem neuen Bauwerk weichen mußte. Die kurzzuvor von Navier entworfene und berechnete Hänge-brücke über die Seine in Paris dagegen, mußte aufgrundeines formalen Einwands noch vor der Verkehrsfreigabe

abgebrochen werden [15, S. 124]. Schon 1828 konnte mitdem Karlskettensteg über den Donaukanal die zweiteKettenbrücke Österreichs eingeweiht werden. Diese vonMitis entworfene und berechnete Fußgängerbrücke über-spannte 95 m bei einem Durchhang von nur 6 m – waralso kühner als die Sophienbrücke. Die durch das sehr ge-ringe Eigengewicht bedingte Schwingungsanfälligkeitführte immer wieder zu Sperrungen und schließlich zumAbbruch des Karlskettenstegs im Jahre 1870 [15, S. 124].

Wie war es um den Hängebrückenbau im Deutschlandder frühen 1820er Jahre bestellt? Sieht man ab von derChristian Gottfried Heinrich Bandhauer entworfenen, 1824fertiggestellten und ein Jahr danach während eines Fackel-zuges eingestürzten Schrägseilbrücke über die Saale beiNienburg, die 52 Menschen in den Tod riß [17, S. 33], sogab es vorerst nur Projekte, nichts als Projekte: So beschäf-tigte sich der junge Johann August Röbling seit 1824/25mit Hängebrücken und scheiterte mit drei Entwürfen Ende1828 [18, S. 127–128]. Röblings 487 m weit gespannteBrooklyn-Brücke in New York – nach seinem Tod von sei-ner Frau Emily und seinem Sohn Washington 1883 vollen-det – avancierte zur Ikone des technischen Fortschritts imBrückenbau.

Über einen Seitenarm der Morava bei Stráznice (Strass-nitz) in Mähren entwarf Bedrich (Friedrich) Schnirch fürden Grafen Magnis die erste am 8. Juni 1824 dem Verkehrübergebene Kettenbrücke des europäischen Festlandes;die Spannweite dieser Brücke betrug 29,70 m [19]. Die inBild 6 dargestellte Zeichnung trägt den Titel „Ansicht derKettenbrücke und des Schlosses bei Strassnitz“ und ist aufden 13. April 1824 datiert [20].

Graf Karel Chotek, der oberste Burggraf Böhmens, er-nannte 1827 Schnirch zum Straßenkommissar der Bau-direktion Böhmens mit der besonderen Aufgabe, eine Ket-tenbrücke über die Moldau in Prag zu entwerfen. Aus fünfeingereichten Vorschlägen des Brückenwettbewerbs wähltedie „Gesellschaft für Brückenbau“ Ende 1828 SchnirchsEntwurf aus. Auf Anregung von Franz Joseph Ritter vonGerstner nahm die „Gesellschaft für Brückenbau“ Kontaktmit dem Ingenieur der 1827 in London fertiggestelltenHammersmith-Brücke, William Tierney Clark, auf. Nach-dem Clark die Projektunterlagen seiner Brücke nach Pragsandte, kam Schnirch zu dem Ergebnis, daß die vorge-

Bild 5. Sophienbrücke in Wien: Erste österreichische Hänge-brücke (Kettenbrücke) (Quelle: [15, S. 123])Fig. 5. Sophienbrücke in Vienna: First suspension bridge(chain bridge) in Austria (source: [15, p. 123])

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schlagene Stellung der Pylone in Prag nicht realisierbarwaren und überdies die Durchbiegung des ClarkschenEntwurfes zu groß ausfallen würden; so erhielt er nichtdie notwendige Stimmenmehrheit und der Bau mußte ver-tagt werden [19]. So wurden Schnirch und Clark zu „Intim-feinden“ [15, S. 64]. Erst 1836 gelang es Graf Chotek wie-der, das Prager Kettenbrückenprojekt voranzutreiben. Mitdem Entwurf wurde Schnirch beauftragt; der Bau der Ket-tenbrücke begann am 19. April 1839 und konnte im Okto-ber 1841 abgeschlossen werden [19] (Bild 7).

4.2 Zugfestigkeit des Eisens

Gleichwohl regte das 1829 „auf Eis gelegte“ Prager Ketten-brückenprojekt Gerstner dazu an, seine experimentell ak-

zentuierte Festigkeitslehre wesentlich voranzutreiben. ImMittelpunkt standen dabei die mechanischen Eigenschaf-ten der gebräuchlichen Eisen- und Stahlsorten.

Das Kapitel „Absolute Festigkeit des Eisens“ [1,S. 242– 259] leitet Gerstner mit dem Proportionalitätsge-setz linear-elastischer Körper – dem Hookeschen Gesetz –ein:

q : Q = [(f · a)/�] : [(F · a')/L] (1)

In Gerstners Worten: Die Gewichte q und Q, welche zweivollkommen elastische Körper von verschiedenen Dimen-sionen, jedoch gleichen Materials ausdehnen, verhaltensich wie die Produkte ihrer Querschnittsflächen f und Fin die Verhältnisse der Ausdehnungen a und a' zu ihrerLänge � und L [1, S. 243]. Auf die Proportion (1) kommtGerstner in seiner Festigkeitslehre immer wieder zurück.Gerstners Proportion (1) schließt sich die Besprechungder Versuche an, die Musschenbroek, Eytelwein, Rennie,Telford und Brown, Brunel, Barlow, Tredgold, Navier, Du-four, Rondelet und Soufflot durchführten [1, S. 253–259]und die er durch eigene umfangreiche Versuchsserien er-gänzt [1, S. 259– 263]. Im Tafelband stellt Gerstner dieZeichnung der Versuchsvorrichtung von Eytelwein zurErmittlung der Zugfestigkeit von Eisen dar (Bild 8), dieGerstner aus Eytelweins zweiten Band des „Handbuchder Statik fester Körper“ [22] übernommen hat. Mit sol-chen Versuchsvorrichtungen konnte zwar die Zugfestig-keit von Eisenstäben experimentell bestimmt werden,nicht aber sein Kraft-Verformungsverhalten vor dem Zug-versagen. Schließlich faßt Gerstner die Zugfestigkeitsver-suche von Musschenbroek, Rondelet und Soufflot, Na-vier, Dufour sowie Telford und Brown in Zahlentabellenzusammen.

Bild 6. Zeichnung der Kettenbrücke bei Stráznice (Strassnitz)in Mähren (Quelle: [20])Fig. 6. Drawing of the chain bridge near Stráznice (Strassnitz)in Moravia (source: [20])

Bild 7. Kaiser-Franzens-Kettenbrücke in Prag (Foto: FrantisekFridrich)Fig. 7. Kaiser-Franzens-Kettenbrücke in Prague (Photo: Fran-tisek Fridrich)

Bild 8. Eytelweins Apparat zur Bestimmung der Zugfestig-keit (Quelle: [21, Tafel Nr. 14, Figuren 9–11])Fig. 8. Eytelwein’s device for determining tensile strength(source: [21, plate no. 14, figs. 9–11])

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4.3 Gesetze für die Festigkeit des Eisens

Seine Erkenntnisse über die „Gesetze für die Festigkeit desEisens“ ermittelt Gerstner aus 13 Versuchsreihen mit Kla-vierdrähten unterschiedlichen Durchmessers, die weit überden Stand des Wissens der von ihm besprochenen Autorenhinausgehen. Zu diesem Zwecke bedient sich Gerstner einesvon ihm entworfenen Apparates (Bild 9). Dieser besteht auseinem 4,73 m langen Hebelarm CA als Zeiger für die SkalaDA, einem kürzeren Hebelarm BC mit Gegengewicht Hund einem Laufgewicht. Der ca. 1,25 m lange Versuchsdrahtmn wird am unteren Ende n festgeklemmt und mit demoberen Ende m um eine Rolle mittels eines Zahnrades vonder Spindel in Spannung gesetzt. Die Verlängerung D� kannin 54facher Größe mit dem Zeiger CA auf der Skala ADabgelesen werden. Mit dieserVersuchsvorrichtung gelingt esGerstner, das Kraft-Verformungsverhalten von Eisendrähtenvor dem Zugversagen mit großer Genauigkeit zu messenund algebraisch zu erfassen, sowie die gesamte Verlänge-rung D�test klar in den elastischen D�elast,test und den plasti-schen D�plast,test Anteil aufzuspalten.

Aus einem Polynomansatz leitet Gerstner das parabo-lische und dimensionslose Kraft-Verformungsgesetz vonEisendrähten ab [1, S. 265]:

F(D�)/Fmax = (D�/D�max) · [2 – (D�/D�max)] (2)

Die Gl. (2) ist in Bild 10a schematisch dargestellt: „DieserAusdruck enthält die allgemeine Gleichung, welche zwi-schen dem größten Gewichte Fmax, welches ein Draht tra-gen kann, der größten hiedurch bewirkten AusdehnungD�max, der zufälligen Belastung F(D�) und der hiedurch be-wirkten Ausdehnung D� statt findet“ [1, S. 265]. Die Para-meter Fmax und D�max bestimmt Gerstner aus 13 Versuchs-reihen. Für kleine Werte von D�/D�max geht Gl. (2) in einelineare Beziehung über. Zur Verifizierung von Gl. (2) stelltGerstner 10 Versuchsreihen an Klavierdrähten, gewöhnli-chen Drähten, stählerner Uhrfedern und ausgeglühtemDraht mit seinem Versuchsapparat (s. Bild 9) vor und fin-det, daß die Abweichung zwischen Versuch und Rechnunggering ist.

Im nächsten Schritt verallgemeinert Gerstner seinenAnsatz nach Gl. (2): „Die angeführten 10 Versuche wer-den hinreichen, um hiernach allgemeine Gesetze über dieFestigkeit, Ausdehnung und Elasticität der Körper über-haupt und insbesondere für das Eisen aufzustellen“ [1,S. 272]:

Bild 9. Gerstners Apparat zur Be-stimmung des Kraft-Verformungs-Diagrammes von Eisendrähten(Quelle: [21, Tafel Nr. 14, Fig. 8])Fig. 9. Gerstner’s device for determi-ning the force-deformation-diagramof iron wires (source: [21, plate no.14, fig. 8])

Bild 10. Schematische Kraft-Verformungs-Diagramme vonEisen nach Gerstner (eigene Zeichnung)Fig. 10. Schematic force-deformation-diagrams for iron ac-cording to Gerstner (diagrams by author)

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F(D�) = D� · (a1 – a2 · D�) (3)

Die Parameter a1 und a2 müssen nach Gerstner für jedeMaterialart aus Versuchen bestimmt werden. Schließlichfragt er „wie weit das vom Gewichte F(D�) ausgedehnte Ei-sen nach seiner Befreiung von dieser Belastung wiederzurückgehen werde“ [1, S. 272] und kommt nach Auswer-tung zum Ergebnis, daß die Beziehung

D�test = D�elast,test + D�plast,test (4)

gilt (Bild 10c). Das von Gerstner gefundene Phänomen derVerfestigung des Eisens ist in Bild 10b dargestellt: Bela-stung von 0 auf F1, Entlastung auf der Hookeschen Geradebis zur bleibenden Verlängerung D�plast,1, Belastung aufder Hookeschen Gerade bis F1 und dann auf der Kurve bisF2 und schließlich Entlastung auf der Hookeschen Geradebis zur bleibenden Verlängerung D�plast,2. Seine Erkennt-nisse über die Verfestigung des Eisens nutzt Gerstner fürdie Dimensionierung von Kettenbrücken dahingehend,daß er vorschlägt, die Kettenstäbe bis zu einer Kraft Ftestim hinreichenden Abstand zu Fmax (Ftest = Fmax/3) vordem Einbau vorzuspannen und im Gebrauchszustand nursolche Kräfte zuzulassen, welche die Bedingung F £ Ftest/2erfüllen. In diesem Zusammenhang kritisiert Gerstner diedamals gängige Praxis, „dass man zur Erzielung hinläng-licher Sicherheit den eisernen Stäben nur die Hälfte derje-nigen Last anvertrauen dürfe, von welcher sie zerrissenoder zerbrochen werden würden“ [1, S. 277]. Dies würdedazu führen, daß die Hängebrücken im Gebrauchszustandzu stark deformiert würden.

Die Schwäche von Gerstners semi-empirischer Festig-keitstheorie des Eisens besteht darin, daß er keine Kraft-Verformungsdiagramme, sondern sie nur in Gestalt von Ta-bellen und algebraischen Formeln angibt: so blieb Gerstnerdas Phänomen des Fließens verschlossen. „Zeichnen ist dieSprache des Ingenieurs“, notierte der Erfinder der graphi-schen Statik Karl Culmann (1821–1881) bündig und visio-när im Vorwort seiner 1866 veröffentlichten Monographie„Die graphische Statik“ [23]. Diese Kraft der Zeichnungfür den technikwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß warschon um 1830 eine Selbstverständlichkeit für Ponceletund seine Schüler an der „École d’Application de l’Artille-rie et du Génie“ in Metz. So entdeckte Andreas Kahlow imFond Poncelet, Carton 7, doc 149 „Note sur les Expérien-ces à Metz pour étudier la résistance de l’extension dans lefils métalliques“ in einem Bericht an Poncelet ein Kraft-Verformungsdiagramm für Eisen in dem nicht nur derHookesche Bereich und das Fließplateau deutlich erkenn-bar sind, sondern auch der Elastizitätsmodul angegebenwurde, wenn auch ohne Angabe der Dimension (Bild 11).

Basierend auf seinen Erkenntnissen der Gesetze fürdie Festigkeit des Eisens entwickelt Gerstner im Kapitelüber die „Statische Baukunst“ seines Handbuches einebrauchbare Bemessungstheorie für Hängebrücken, die eraus kritischer Analyse der ausgeführten Kettenbrücken inEngland, Frankreich und Deutschland gewinnt und aufden Entwurf der 142,25 m weit gespannten und 10,75 mdurchhängenden Prager Kettenbrücke über die Moldauanwendet [1, S. 449–488]. Eine kurze Zusammenfassungvon Gerstners Theorie der Hängebrücken findet sich in derMonographie „Geschichte der Baustatik“ [24, S. 109–111].

4.4 Biegefestigkeit

Gerstners Biegetheorie ist i. w. eine durch Experimente be-gründete Proportionslehre des Bau- und Maschineninge-nieurs. In seinem Kapitel über die Biegefestigkeit analysiertGerstner zuerst das Biegebruchproblem in derTradition vonGalilei [1, S. 291–322] und geht dann zur Untersuchung desGebrauchszustandes des Biegebalkens über [1, S. 322–364].

So gibt er für einen mit der Einzellast EU (Biege-bruchkraft) an der Spitze belasteten Kragarm der Länge Lmit dem Querschnittsbreite B und Querschnittshöhe Hfolgende Formel an:

EU = (m · B · H2)/L (5)

In Gl. (5) ist der Proportionalitätsfaktor m material- undquerschnittsabhängig und durch Versuche zu bestimmen.Würde man beispielsweise ideal-elastisches und ideal-pla-stisches Materialverhalten zugrunde legen mit sF alsFließspannung, so würde m für Baustoffe mit ausgeprägterFließgrenze folgende Werte annehmen:– im elastischen Grenzzustand: m = sF/6– im vollplastischen Zustand (Traglast bzw. Biegebruch-kraft): m = sF/4

Bild 11. Kraft-Verformungs-Diagramm für Eisen aus einemBericht an Poncelet um 1832 (Quelle: [9, S. 101])Fig. 11. Force-deformation-diagram for iron from a report toPoncelet c. 1832 (source: [9, p. 101])

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In Auswertung von Musschenbroeks Biegebruchver-suche von Eichen-, Ulmen- und Kiefernholzbalken stelltGerstner eine Tabelle für die Werte m zusammen [1, S. 297].Weitere Werte für m aus Einfeldträgern mit mittiger Biege-bruchkraft tabuliert Gerstner aus den Versuchen von– Barlow für Tannenholz,– Eytelwein für diverse Holzarten,– Rondelet für Gußeisen,– Tredgold für diverse Natursteine und– Barlow für Ziegel.

Anschließend berechnet Gerstner die Traglast von ein-fachen statischen Systemen für Einzel- und Gleichstrecken-lasten. Eine wichtige Anwendung der Festigkeitslehre stelltnach Gerstner die Dimensionierung von Brücken dar [1,S. 311]. So stellt er die statische Ähnlichkeitsbeziehung fürein einfaches hölzernes Brückenmodell auf. Konsequenttrennt er zwischen ständiger Last (Eigengewicht) und Ver-kehrslast (z. B. Fuhrwerke).

Zukunftsweisend sind Gerstners Ableitungen zur Bie-gefestigkeit von Kragträgern rechteck-, kreis- und ellipsen-förmigen Querschnitts mit der Einzellast EU an der Spitze[1, S. 316–317]. Dort legt er den Begriff der Spannung (i. S.der Bruchspannung) zugrunde. Das Einspannmoment Merrechnet er für den Rechteckquerschnitt zu

M = EU · L = (k/f)·[(B · H2)/6]. (6)

In Gl. (6) ist k/f die Bruchspannung; bei ideal-elastischemund ideal-plastischem Materialverhalten ist k/f die Fließ-spannung sF. Aus Koeffizientenvergleich der Gln. (5) und(6) ergibt sich für m = sF/6. Der Inhalt der eckigen Klam-mer von Gl. (6) ist das Widerstandsmoment des Rechteck-querschnitts. Die Spannung k/f bestimmt Gerstner durchVersuche. In gleicher Weise spaltet Gerstner mit Hilfe derInfinitesimalrechnung für Kreis- und Ellipsenquerschnittedas Produkt in Bruchspannung und Widerstandsmomentauf. Obwohl die Gl. (5) und die nach EU aufgelöste Gl. (6)mathematisch äquivalent sind, bringt die Gl. (6) den phy-sikalischen Kern der Biegetheorie wesentlich klarer zumAusdruck als Gl. (5). Leider blieb Gerstner der Proporti-onslehre der Balkenbiegung verhaftet.

Für die Biegebemessung schließlich gibt Gerstner dieSicherheitskoeffizienten für Holz zu 10 und Eisen zu 2 bis 3an. Soviel zur Gerstnerschen Analyse des Bruchzustandesbei Biegung.

4.5 Gesetze für die Biegung

In derAnalyse des Gebrauchszustandes bei Biegung geht esGerstner um die Beschränkung der Deformation – modernausgedrückt um die Gebrauchstauglichkeit: „Man fordertallgemein, dass die Bestandtheile einer Maschine oder einesGebäudes nicht bloss gegen den Bruch sicher gestellt wer-den, sondern auch ihren festen Stand gegen Biegung undSchwankungen aufrecht erhalten; wir müssen daher nochdie Biegung der Körper berücksichtigen. Es ist bekannt, dasslange Stäbe oder Balken, wenn sie auch eine daraufliegen-de Last vollkommen zu tragen vermögen, doch hiebei ofteine so grosse Biegung annehmen, dass diese in andererRücksicht dem Zwecke der Maschine hinderlich wird, in-dem nämlich die bewegten Bestandtheile schlottern, dieZähne und Getriebe aus dem Eingriffe kommen usw. Der-

selbe Fall tritt ein, wenn die Endsbäume bei einer Brückezwar die darauf befindliche Last tragen, sich jedoch in ih-rer Mitte biegen, wodurch nicht bloss die Form der Bögenverunstaltet wird, sondern auch ein lebhafterVerkehr überdie Brücke nicht stattfinden kann“ [1, S. 322–323].

Wiederum kann sich Gerstner in das Reich der Pro-portionslehre bewegen, diesmal aber bedingt durch dieHerrschaft des Hookeschen Gesetzes. Am Beispiel zweierKragbalken findet er das Verhältnis der Durchbiegung derKragarmspitzen U : u zu (Bild 12)

U : u = (Q · L3)/(B · H3) : (q · �3)/(b · h3). (7)

Für Biegeversuche bevorzugt Gerstner den auf zwei Stützenfrei aufliegenden Balken mit den Versuchslasten G bzw. gin Feldmitte. Wiederum leitet er eine der Proportion (7)ähnliche Beziehung ab:

W : w = (G/B) · (L/H)3 : (g/b)/(�/h)3 (8)

Wie bei der Herleitung der Gln. (7) und (8), so taucht invergleichbaren Rechengängen zum Gebrauchszustand un-ter Zug, Biegung, Druck und Torsion stets der Faktor[(F · a')/L] bzw. Q/[(F · a')/L] aus der Proportion (1) auf,der – wie weiter unten gezeigt wird – dem Elastizitätsmo-dul E entspricht.

So schnell Gerstner das Reich der Proportionslehrebetreten hat, so schnell verläßt er es wieder: „Zur Bestim-mung der Festigkeit, die mit biegsamen Körpern zu errei-chen ist, werden nun abermals genaue Versuche erfordert.Wir finden solche Versuche in den neueren Abhandlungenüber die Festigkeit der Körper, ersehen jedoch aus ihrerVergleichung, dass sie selbst bei gleichen Materien sehrverschiedene Resultate liefern“ [1, S. 325–326].

Wie schon bei seiner Analyse der Gesetze des Eisensweist Gerstner auch im Falle der Biegung auf die aus Über-

Bild 12. Biegebalken nach Gerstner (Quelle: [21, Tafel Nr. 15,Fig. 22])Fig. 12. Bending beam according to Gerstner (source: [21, plateno. 15, fig. 22])

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schreiten der Elastizitätsgrenze resultierenden plastischenDeformationen hin. Um die Gesetze der Biegung vor demVersagen quantitativ zu erfassen, konzipiert Gerstner einenVersuchsapparat zur genauen Bestimmung der Durchbie-gung in der Feldmitte von auf zwei Stützen frei aufliegendenHolzbalken (Bild 13). In Analogie zu seinen Versuchen mitKlavierdrähten führt Gerstner hiermit 14 Versuchsreihen mitEichenholzstäben durch und erkennt, „dass die Biegung An-fangs eben so, wie es bei derAusdehnung des Eisens der Fallwar, den aufgelegten Gewichten proportional blieb, später je-doch immer größer wurde“ [1, S. 329]. Für die AbhängigkeitderVersuchslast F von der Durchbiegung f in Feldmitte legt erdeshalb denselben Ansatz wie in Gl. (2) zugrunde (s. Bild 10):

F(f) = f · (A – B · f) (9)

Die ParameterA und B bestimmt er aus Biegeversuchen undkommt zum Schluß, „dass die Biegung der Körper densel-ben Gesetzen wie ihre Ausdehnung unterliegt“ [1, S. 331].Gleichwohl weist der Vergleich der Rechen- mit den Ver-suchswerten auf, daß ihre Abweichungen gering sind undF(f) im praxisrelevanten Bereich proportional zu f ist:

F(f) = f · A (10)

Die inhomogene Struktur der Holzstäbe aber auch des ge-wöhnlichen Stabeisens folgt „nur sehr unvollkommen jenenGesetzen (…), welche wir bei dem vollkommensten in Cla-vierdrähten und Uhrfedern enthaltenen Eisen gefunden ha-ben“ [1, S. 333]. Aus diesem Grund plädiert Gerstner bei derDimensionierung auf Biegung im Gebrauchszustand, dieElastizitätsgrenze nicht zu überschreiten, ihr also Gl. (10)zugrunde zu legen. Nun ist Gerstner in der Lage, mit Hilfeder Proportion (8) und Biegeversuchen nach (10), dieDurchbiegung W eines Holzstabes mit anderer Geometriezahlenmäßig zu bestimmen.

Anschließend berichtet Gerstner von weiteren eigenenBiegeversuchen am Prager Polytechnikum und bestimmtdabei die Parameter A und B nach Gl. (9):– 11 Biegeversuche mit Eichen-, Buchen-, Fichten- undTannenholz, mit unterschiedlicher Faserrichtung und An-zahl der Jahresringe [1, S. 338–344].– 7 Biegeversuche mit Gußeisenschienen aus böhmischenHüttenwerken [1, S. 347–352].

– 7 Biegeversuche mit schmiedeeisernen Balken aus böhm-ischen Hüttenwerken [1, S. 353–358].

Als Resümee hält Gerstner fest: „Mit Hilfe der vorigenVersuche und der aus denselben abgeleiteten Gleichungenkönnen alle Aufgaben, die Dimension der Balken, Stäbeoder Barren nach Maassgabe ihrer Biegung zu bestimmen,aufgelöst werden“ [1, S. 359]. Damit ist für Gerstner dasProblem der Balkenbiegung gelöst.

Gerstner gibt mehrere Beispiele für Anwendung derTheorie der Balkenbiegung aus dem sein Vergleich des Preis-Leistungs-Verhältnisses von auf zwei Stützen frei aufliegen-den Biegeträgern aus unterschiedlichen Materialien abergleicher Geometrie herausgegriffen sei. So verhalten sichdie mittigen Lasten für Balken bei gleicher Durchbiegungin Feldmitte aus Eichen-, Buchen-, Fichten- und Tannen-holz sowie Guß- und Schmiedeeisen wie 1:1,08:1,62:1,46:8,97:17,42; diese Zahlen berechnete Gerstner ohne Berück-sichtigung des Eigengewichts [1, S. 358]. Aus den Materi-alpreisen in den Häfen von Wales, kommt Gerstner zumSchluß, daß das Gußeisen am günstigsten sei; dagegen seiin Böhmen Holz zu bevorzugen.

4.6 Druck- und Knickfestigkeit

Für das Kraft-Verformungsverhalten von druckfesten Ma-terialien geht Gerstner wie bei zugfesten Materialien vomHookeschen Gesetz aus; die Proportion (1) soll hiernochmals in moderner Schreibweise angegeben werden:

F1 : F2 = (A1 · D�1/�1) : (A2 · D�2/�2) (11)

In der Proportion (11) bedeuten F1 und F2 die Kräfte, A1und A2 die Querschnittsflächen, D�1 und D�2 die Verlänge-rungen bzw. Verkürzungen und �1 und �2 die Längen derStäbe 1 und 2. Setzt man in die Proportion (11) die Span-nungen s1 = F1/A1, s2 = F2/A2 und die Dehnungene1 = D�1/�1 und e2 = D�2/�2 ein, so erhält man:

s1 : e1 = s2 : e2 (12)

Die Proportion (12) ist nichts anderes als der Elastizitäts-modul E. Für das Kraft-Verformungs-Diagramm wähltGerstner wie bei Zug den Ansatz nach Gl. (3) mit dem Un-terschied, daß der zweite Term positiv ist, und in die Gl.

Bild 13. Gerstners Apparat für Biegeversuche mit Holzstäben (Quelle: [21, Tafel Nr. 16, Figuren 1–4])Fig. 13. Gerstner’s device for bending tests with wooden bars (source: [21, plate no. 16, figs. 1–4])

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nur die Beträge einzusetzen sind. Die beiden Parameter a1und a2 kann Gerstner leider nicht bestimmen, da die da-maligen Apparate für Druckversuche für Verformungs-messungen ungeeignet waren – dies sollte erst ca. 50 Jahrespäter Johann Bauschinger gelingen [24, S. 146]. Dennocherkannte Gerstner, daß die Kraft-Verformungsdiagrammefür Zug und Druck nicht punktsymmetrisch sind [1,S. 366].

Zur Knickfestigkeit von Stützen leitet Gerstner diekritische Last Pkrit für die beidseitig gelenkig gelagerteStütze (zweiter Eulerfall) ab. Im Falle einer Stütze derLänge � aus Tannenholz mit rechteckigen Querschnitt derSeitenlänge b und h nimmt die kritische Last die Form

Pkrit = [(Q · L)/(B · H · a')] · [(b · h3)/12] · (p/�)2 (13)

an. Den Ausdruck [(Q · L)/(B · H · a')] in Gl. (13), derauch in der Proportion (1) enthalten ist, bestimmt Gerst-ner aus Biegeversuchen an Tannenholzstäben mit recht-eckigen Querschnitt der Seitenlängen B und H; Q stelltdie Kraft, a' die Verlängerung und L die Stablänge desVersuchskörpers dar. Werden für die QuerschnittsflächeF = B · H, die Spannung s = Q/F und für die Dehnunge = a'/L gesetzt, dann ist

[(Q · L)/(B · H · a')] = [(Q · L)/(F · a')] = s/e = E. (14)

Gl. (14) ist also der Elastizitätsmodul, den Gerstner das„elastische Kraftverhältnis“ und Tredgold den „Modulus ofelasticity“ nennt [1, S. 384]. Mit dem TrägheitsmomentI = (b · h3)/12 und Gl. (14) kann die Gl. (13) nunmehr wiefolgt geschrieben werden:

Pkrit = E · I · (p/�)2 (15)

Als Anwendung der Erkenntnisse über die Druckfestigkeitstellt sich Gerstner die Aufgabe, die nach unten zuneh-mende Dicke der Mauern eines mehrstöckigen Gebäudesnach dem Grundsatz zu berechnen, „dass alle diese über-einanderstehenden Mauern gegen das Zerdrücken gleichgesichert seyn sollen“ [1, S. 371]. Er kommt zu dem Ergeb-nis, „dass die Dicken der Mauern von oben herab in einergeometrischen Progression zunehmen müssen, wenn dieZahl der Stockwerke nach der arithmetischen Reihe 0, 1,2, 3, 4...n wächst“ [1, S. 371].

4.7 Torsionsfestigkeit

Zur experimentellen Ermittlung des funktionalen Zusam-menhangs zwischen dem Torsionsmoment Mt und demDrehwinkel j gibt Gerstner eine eigene Versuchsapparaturan. Allerdings untersucht er nur Vollkreisquerschnitte,kreisrunde Hohlquerschnitte, Vollquadratquerschnitte undHohlquadratquerschnitte. Für den Torsionsstab der Länge �mit Vollkreisquerschnitt (Durchmesser D = 2R) leitet Gerst-ner das Torsionsmoment mit

Mt = [(Q · L)/(F · a')] · (p · R4) · (p/180) · (j/�) (16)

ab. DerAusdruck in der eckigen Klammer entspricht nachGl. (14) dem Elastizitätsmodul E, (p · R4) ist das doppelteTorsionsträgheitsmoment also 2 · It und j der Torsions-

winkel in Altgrad. Wird Gl. (16) mit diesen modernen Be-ziehungen eingesetzt, dann ergibt sich:

Mt = E · (2 · It) · (p/180) · (j/�). (17)

In der richtigen Formel muß in Gl. (17) der Steifigkeitsfak-tor E · (2 · It) durch die Torsionssteifigkeit G · It (G = Schub-modul) ersetzt werden. Wie in den Fällen fürZug, Biegungund Druck plädiert Gerstner dafür, im Gebrauchszustanddie Elastizitätsgrenze nicht zu überschreiten. Seine Er-kenntnisse wendet Gerstner in erster Linie zur Bemessungvon Maschinenelementen wie etwa Wellen und Schäftefür Wasserräder an. Ein für die Ingenieurpraxis geeignetesallgemeingültiges Bemessungsverfahren für elastische Tor-sionsstäbe gab erst 1917 August Föppl an [24, S. 288–289].

5 Gerstners Zusammenfassung der Festigkeitslehre

Seine Festigkeitslehre faßt Gerstner auf zwei Druckseitenzusammen. Er weist nochmals darauf hin, daß in den Be-anspruchungsarten Zug, Biegung, Knickung und Torsionder Faktor [(Q · L)/(F · a')] auftaucht; nach Gl. (14) istaber dieser Faktor mit dem Elastizitätsmodul E identisch.Demnach besteht die Aufgabe der Festigkeitslehre darin,aus den Proportionen für– Zug von insgesamt vier Größen drei zu wählen und dieVierte zu errechnen– Biegung von insgesamt fünf Größen vier zu wählen unddie Fünfte zu errechnen– Knickung von insgesamt vier Größen drei zu wählenund die Vierte zu errechnen– Torsion von insgesamt fünf Größen vier zu wählen unddie Fünfte zu errechnen

Im Fall der Biegung eines Trägers auf zwei Stützender Länge � mit Rechteckquerschnitt der Seitenlängen b(= Breite) und h (= Höhe) und mittiger Einzellast G gibtGerstner folgende Proportion an [1, S. 326]:

G : (b · h) · [(4 · h2)/�2] · (U/�) = Q : [(B · H) · (a'/L)] (18)

Die rechte Seite der Proportion (18) entspricht dem Elasti-zitätsmodul E und wird durch Biegeversuche bestimmt.Übrig bleiben die Größen G, �, b, h und die DurchbiegungU in Feldmitte. Werden vier Größen vorgegeben dann kanndie Fünfte bestimmt werden. Demnach kann aus der Pro-portion (18) eine dieser fünf Größen bei vier gegebenenGrößen berechnet werden. Wird etwa U gesucht so kanndie Proportion (18) unter Berücksichtigung von Gl. (14)und dem Ausdruck für das Trägheitsmoment I = b · h3/12in die bekannte Formel

U = (G · �3)/(48 · E · I) (19)

überführt werden. Nach dieser exemplarisch aufgezeigtenSystematik kann für sämtliche Beanspruchungsarten dasBemessungsproblem im Sinne der Gebrauchstauglichkeitvon Bau- und Maschinenkonstruktionen gelöst werden.Die aus seinen wichtigsten Zug- und Biegeversuchen er-mittelten „elastischen Kraftverhältnisse“ – die Elastizitäts-moduli E – gibt Gerstner in einerTabelle an (Bild 14). Dortist E in der Dimension „Niederösterreichisches Pfund proQuadratzoll“ angegeben. Zur Umrechnung dieser Zahlen-

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werte in N/mm2 müssen diese mit dem Faktor 0,0081 mul-tipliziert werden. So ergibt sich für gewalztes Eisen derElastizitätsmodul zu

E = 24109000 · 0,0081 = 195283 N/mm2 (20)

und der durchschnittliche Elastizitätsmodul für Schmie-deeisen zu E = 178882 N/mm2. Für Baustahl wird heuteder entsprechende Wert mit 210000 N/mm2 angesetzt.Der von Gerstner angegebene Wert Gl. (20) liegt demnach7 % unter dem für Baustahl. Die Abweichungen der Elasti-zitätsmoduli für Schmiedeeisen, gewalztes Eisen, Klavier-drähte, gewöhnlichen Eisendrähten und stählernen Uhr-federn in Gerstners Tabelle sind in erster Linie jenem Um-stand geschuldet, daß die chemische Zusammensetzung,das Werkstoffgefüge und die Herstelltechnologien dieserMaterialien sehr unterschiedlich waren. Die Klassifikationvon Eisen und Stahl setzte in Deutschland erst nach 1876ein [25, S. 796–797].

6 Der Elastizitätsmodul bei Gerstner und Navier

Der Elastizitätsmodul besitzt nicht nur eine empirische,sondern auch eine theoretische Seite. Gleichwohl soll hierweder auf die naturtheoretischen Implikationen des Ela-

stizitätsmoduls (s. [26]) noch auf dessen Erfindungsge-schichte (s. [27]) eingegangen werden, sondern auf seineRolle in der von Navier und Gerstner wissenschaftlich be-gründeten Ingenieurpraxis. Wie Gerstner so weist Navierschon 1826 dem Elastizitätsmodul – neben der Zug- undDruckfestigkeit – eine zentrale Rolle zu. Ihr gravierenderUnterschied liegt in der Methode:– Navier stellt zwar Youngs Definition des Elastizitätsmo-duls an die Spitze seiner Baustatik [28, S. X], betrachtetihn aber als Materialkonstante [28, S. XII] und nicht alsProportion im Sinne von (14) wie Gerstner.– In seiner Baustatik bewegt Navier den Elastizitätsmodulals technikwissenschaftlichen Begriff: In ihm werden Ver-suche im Sinne einer Materialkonstante generalisiert; beiGerstner dagegen bezieht sich die zum Elastizitätsmoduläquivalente Proportion (14) auf einen und nur einen Ver-such.– Für Schmiedeeisen beispielsweise geht Navier generellvon einem aus zahlreichen Versuchen gewonnenen Durch-schnittswert von 200000 N/mm2 aus [28, S. XII].– Navier leitet die Formeln für die Deformationen derBalkenbiegung – wie etwa Gl. (19) – unmittelbar aus derlinearisierten Differentialgleichung für Balkenbiegung abund kann damit auch statisch unbestimmte Probleme lösen[24, S. 206–209].– Navier bricht konsequent mit der durch Galilei 1638begründeten Proportionslehre in der Balkentheorie im Be-sonderen und der Festigkeitslehre im Allgemeinen; Gerst-ner dagegen treibt die experimentell abgesicherte Propor-tionslehre in seiner Festigkeitslehre und statischen Bau-kunst auf die Spitze.

Auf der Ebene der elastischen Balkentheorie gelangNavier die Synthese von Festigkeitslehre und Statik zurBaustatik. Bei Gerstner ist der Zusammenhang von Festig-keitslehre zu statischer Baukunst äußerlich (s. Bild 4): „Diestatische Baukunst hat diejenigen Regeln zum Gegen-stande, wodurch die Festigkeit der Gebäude in Hinsicht aufdie Stärke der einzelnen Theile und ihre Zusammenstel-lung begründet wird. In den vorigen Kapiteln (über Festig-keitslehre – d. Verf.) haben wir bereits die Festigkeitslehreder einzelnen Theile eines Gebäudes aufgestellt, es bleibendaher für die statische Baukunst noch hauptsächlich dieGesetze für ihre Zusammenstellung übrig“ [1, S. 385].

Im Gegensatz zu Gerstner diskutierte Navier keineaparten Gesetze für die Zusammenstellung der einzelnenTragstrukturelemente zum gesamten Tragsystem des Bau-werks. Eine integrierende Analyse des gesamten Tragsystemsdes Bauwerks sollte freilich erst mit der computergestütz-ten Mechanik (Computational Mechanics) gelingen.

So setzte Gerstner historisch und methodisch denSchlußstein der Vorbereitungsperiode der Baustatik (1575–1825), wohingegen Navier den Grundstein der Disziplin-bildungsperiode der Baustatik (1825–1900) legte.

Literatur

[1] Gerstner, F. J. v.: Handbuch der Mechanik, Band 1, 2. Aufl.(1. Aufl. 1831), hrsgn. v. F. A. v. Gerstner. Prag: Johann Spurny1833.

[2] Gerstner, F. J. v.: Einleitung in die statische Baukunst. Prag:Schriften der k. k. Normalschul-Buchdruckerei 1789.

Bild 14. Tabellarische Zusammenfassung der Zug- und Biegeversuche Gerstners (Quelle: [1, S. 384])Fig. 14. Synopsis of Gerstner’s tensile and bending tests(source: [1, p. 384])

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[3] Bolzano, B.: Leben Franz Joseph Ritter von Gerstner. Prag:Gottlieb Haase Söhne 1837.

[4] Kraus, I.: Dejiny technickych ved a vynálezu° v ceskychzemích (Geschichte der technischen Wissenschaften und Er-findungen in Böhmen). Prag: Academia 2004.

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[7] Gerstner, F. J. v.: Handbuch der Mechanik, Band 3, hrsgn. v.F. A. v. Gerstner. Wien: J. P. Sollinger 1834.

[8] Kurrer, K.-E.: Das Technische in der Mechanik des F. J. Rit-ter v. Gerstner (1756–1832). Österreichische Ingenieur- undArchitekten-Zeitschrift (ÖIAZ) 135 (1990), H. 10, S. 501–508.

[9] Kahlow, A.: Jean Victor Poncelet und die Schwierigkeitendes visuellen Denkens in den klassischen Technikwissen-schaften. Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwis-senschaften (1994), Heft 23/1, S. 70–78 u. (1994), Heft 23/2,S. 94–101.

[10] Chatzis, K.: Mécanique physique, expérimentation et tra-dition dans la science des constructions de J.-V. Poncelet(1788–1867). In: Becchi, A., Corradi, M., Foce, F. und Pede-monte, O. (Hrsg.), Towards a history of construction. Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser 2002.

[11] Navier, C. L. M. H.: Résumé des Lecons données à l’EcoleRoyale des Ponts et Chaussées sur l’Application de la Méca-nique à l’Etablissement des Constructions et des Machines.1er partie: Leçons sur la résistance des materiaux et sur l’éta-blissement des constructions en terre, en maçonnerie et encharpente. Paris: Firmin Didot père et fils 1826.

[12] Peters, T. F.: Transitions in Engineering. Guillaume HenriDufour and the Early 19th Century Cable Suspension Bridges.Basel/Boston: Birkhäuser 1987.

[13] Wagner, R., Egermann, R.: Die ersten Drahtkabelbrücken.Düsseldorf: Werner-Verlag 1987.

[14] Fedorov, S. G.: Wilhelm von Traitteur. Ein badischer Bau-meister als Neuerer in der russischen Architektur. Berlin:Ernst & Sohn 2000.

[15] Pauser, A.: Brücken in Wien. Ein Führer durch die Bauge-schichte. Wien: Springer-Verlag 2005.

[16] Navier, C. L. M. H.: Rapport et Mémoire sur les Ponts sus-pendus. Paris: Carilian-Goeury 1823.

[17] Pelke, E., Ramm, W., Stiglat, K.: Geschichte der Brücken.Zeit der Ingenieure. Germersheim: Deutsches Straßenmuseum2005.

[18] Güntheroth, N., Kahlow, A.: Johann August Röbling – JohnAugustus Roebling (1806–1869). In: Bundesingenieurkammer(Hrsg.), Ingenieurbaukunst in Deutschland 2005/2006. Ham-burg: Junius Verlag 2005.

[19] Hruban, I.: Kettenbrücken von damals. Neue Prager Pressev. 29. 10. 1982, Nr. 43.

[20] Hruban, I.: První retezovy most na evropské pevnine.http://www.payne.cz/2xS43907/FS01.htm

[21] Gerstner, F. J. v.: Handbuch der Mechanik,Tafeln, Band 1–3,hrsgn. v. F. A. v. Gerstner. Prag: Johann Spurny 1832–1834.

[22] Eytelwein, J. A.: Handbuch der Statik fester Körper. 3 Bände.Berlin: Realschulbuchhandlung 1808.

[23] Culmann, K.: Die graphische Statik. Zürich: Verlag vonMeyer & Zeller 1864/1866.

[24] Kurrer, K.-E.: Geschichte der Baustatik. Berlin: Ernst &Sohn 2002.

[25] Kurrer, K.-E.: 100 Jahre Normung im Stahlbetonbau. Beton-und Stahlbetonbau 98 (2003), H. 12, S. 794–808.

[26] Kahlow, A.: Thomas Young und die Herausbildung desBegriffs Elastizitätsmodul. NTM-Schriftenreihe Geschichte derNaturwissenschaften, Technik und Medizin 27 (1990), H. 1,S. 13–26.

[27] Beal, A. N.: Who invented Young’s Modulus? The Structu-ral Engineer, Vol. 18 (2000), No. 14, pp. 27–32.

[28] Navier, C. L. M. H.: Mechanik der Baukunst (Ingenieur-Mechanik) oder Anwendung der Mechanik auf das Gleichge-wicht von Bau-Constructionen, aus dem Französischen über-setzt nach der 2. Aufl. a. d. J. 1833 (Band 1) v. G. Westphal(1. Aufl. d. Übers. 1851) mit einem Anhang v. G. Westphal u.A. Föppl, 2. Aufl. Hannover: Helwing’sche Verlags-Buch-handlung 1833/1878.

Autor dieses Beitrages:Dr.-Ing. Karl-Eugen Kurrer,Verlag Ernst & Sohn GmbH & Co. KG,Bühringstraße 10,D-13086 Berlin