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Viele Fragen und die Suche nach Antworten –Auswirkungen ethischer Entscheidungen
in Grenzsituationen
De
Dr. med. Susanne HirsmüllerMSc. Palliative Care (Uni Freiburg), M.A., QPÄ
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1. Ich habe im Hinblick auf diesen Vortrag keinerlei Interessenkonflikte
2. Bei der Nennung von weiblichen oder männlichen Bezeichnungen sind stets auch alle anderen Geschlechter mitgemeint
3. Bei der Nennung von „Patientinnen“ sind stets auch Gäste oder Bewohner mitgemeint
4. Bei der Nennung von „Begleitenden“ sind stets alle Berufsgruppen sowie die Ehrenamtlichen mitgemeint, soweit es nicht explizit anders erwähnt wird
Allgemeines vorweg:
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1. Annäherung
1.1 Grenzsituationen
1.2 Ethische Entscheidungen
2. Ethische Grenzsituationen
2.1 Schweigepflicht
2.2 Wer bekommt das nächste freie Bett?
2.3 Todeswunsch
3. Exemplarische Darstellung am Beispiel der Palliativen Sedierung
Inhalt
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Nach Karl Jaspers (1883 – 1969):
• Ich muss sterben• Ich muss leiden Diese Grundsituationen • Ich muss kämpfen unseres Daseins • Ich bin dem Zufall unterworfen nennt er Grenzsituationen• Ich verstricke mich in Schuld
Auf Grenzsituationen reagieren durch eine ganz andere Aktivität:das Werden der in uns möglichen Existenz.
Wir werden wir selbst, indem wir in diese Grenzsituationen offenen Auges eintreten. Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe.
Grenzsituationen
Lit: Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, Zürich 1950, 20f, Philosophie II, 3. Aufl. 1956, 204
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Leid – was einem widerfährt Leiden – der aktive Umgang mit dem Leid
Im medizinischen Kontext:
a) hat Leid(en) eine starke normative Aufforderung (appellative Komponente) und kann dadurch andere Sorgfaltskriterien überwiegen
b) verstehen und definieren Patienten, Nahestehende und Behandler unerträgliches Leid unterschiedlich
c) ist Leid(en) nicht ausreichend differenziert – für die Linderung welcher Leiden istdie Medizin zuständig oder eventuell auch nicht?
Definition: „Unerträgliches Leiden beschreibt die individuelle und subjektiv empfundene Intensität von Symptomen oder Situationen, deren andauerndes Empfinden bzw. Erleben so belastend ist, dass sie von einem Patienten nicht akzeptiert werden kann.“ (Müller-Busch, Radbruch, Strausser 2006, Dt. Med. Wochenschrift 129(13) 701-704)
Unerträgliches Leid
Bozzaro (Ethik Med (2015) 27:93-106
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Ethische Prinzipien im Gesundheitswesen
Respekt vor der
Autonomie
Fürsorge Wohltun
Nicht Schaden
Gerechtigkeit
Lit: Beauchamp T., Childress J: (1979) Principles of Biomedical Ethics
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• „Was immer ich bei der Behandlung sehe oder höre oder auch außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen, soweit man es nicht ausschwatzen darf, werde ich darüber schweigen, solches als heiliges Geheimnis achtend.“ Hippokratischer Eid
• Genfer Gelöbnis (2017): „Ich werde die mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod der Patientin oder des Patienten hinaus wahren.“
• Ist genuine Grundlage der Vertrauensbeziehung zwischen Patientin und Behandlern
Schweigepflicht
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• Wo Menschen in Beziehungen stehen, spielen Aspekte von Gerechtigkeit eine Rolle
• Ausgleichende Gerechtigkeit = gleichmäßige Verteilung ohne Berücksichtigung von Merkmalen
• Austeilende Gerechtigkeit = ungleiche Verteilung in Abhängigkeit von Merkmalen
• Frage: Wer legt die Kriterien, anhand derer verteilt wird, fest?
Wer bekommt das nächste freie Bett?
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• Eigene Haltung reflektieren
• Durch offene Fragen versuchen, die Situation besser zu verstehen
• Versuch „Druck rauszunehmen“ und abzuklären, um welche Art Todeswunsch es sich handelt
• Depressionen erkennen und behandeln, bei Bedarf psychiatrische Expertise
• Optionen „Sterben zulassen“, „Therapiezieländerung“ und „Palliative Sedierung“ erwägen und besprechen
• Das offene Eingehen kann schon eine Entlastung bringen
• Und schließlich aushalten, dass einzelne Situationen nicht befriedigend zu lösen sind
Lit: R. Voltz (2019) Sterbewunsch. In: Öchsle K, Scherg A Hrsg: FAQ Palliativmedizin, Urban & Fischer S. 187-191
Umgang mit Todeswünschen
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Definition EAPC: „Überwachter Einsatz von Medikamenten mit dem Ziel einer verminderten oder aufgehobenen Bewusstseinslage (Bewusstlosigkeit), um die Symptomlast in anderweitig therapierefraktären Situationen in einer für Patienten, Angehörige und Mitarbeiter ethisch akzeptablen Weise zu reduzieren.“(Palliat Med 23(7):581-593)
Palliative Sedierung – Begriffe und Definition
Leiden lindern Warten könnenDer Mensch darf gegenüber dem Leiden
anderer nicht gleichgültig sein
Der Mensch darf den natürlichen Verlauf
der Krankheit nicht beeinflussen
Extremform: Extremform:
Um Leiden zu lindern, kann Leben auch
verkürzt werden
Trotz Leiden darf Leben nicht verkürzt
werden
Monteverde, S (2017) Leiden lindern, warten können: Ethos und Ethik in Palliative Care. In: Steffen-
Bürgi, B. et al Hrsg. Lehrbuch Palliative Care. 3. Aufl. Hogrefe Bern, S. 832-48
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In der Finalphase bei :- kurzfristig während belastender Behandlungen (z.B. Verbandswechseln)- irreversiblem Delir/agitierter Verwirrtheit- anhaltendem Stuhlerbrechen- heftigster Dyspnoe- therapierefraktären Schmerzkrisen- psychischen Krisen (Demoralisation, unerträglichem Leid)- in Notfallsituationen (letale Blutung, akutes Ersticken …)- terminalem Weaning (Entwöhnung von Beatmung am Lebensende)
Palliative Sedierung – Indikationen
Alt-Epping, Sitte, Nauck, Radbruch. Leitlinie für den Einsatz sedierender Maßnahmen in der Palliativversorgung
Der Schmerz. 2012; 24(4): 342-54
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• Dfd
Palliative Sedierung - Formen
Form Bemerkung
Primär Primäre Maßnahme mit dem Ziel, das Bewusstseinsniveau zu senken
SekundärNebenwirkung von palliativ verabreichten Medikamenten, deren primäre Indikation nicht die Sedierung, sondern z.B. Schmerzlinderung ist
IntermittierendVerabreichung mit Unterbrechungen, um damit Phasen der Wachheit und ggf. Kommunikationsfähigkeit zu ermöglichen
KontinuierlichVerabreichung ohne Unterbrechung bis zum Tod des Patienten
Oberflächlich
Bewusstseinserhaltende Sedierung bis zur optimalen Angst- und Symptomreduktion bei weitgehend erhaltener Kommunikation und z.B. gelungener Rückkehr zum Tag-/Nachtrhythmus
Tief Sedierung bis zum Erreichen der Bewusstlosigkeit
Lit: Kayser, Kieseritzky, Sittig (Hg.) Kursbuch Palliative Care. Bremen 2009
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• Paradoxe Agitiertheit (Übererregung statt Bewusstlosigkeit)• Inadäquate Symptomkontrolle• Sedierung nicht suffizient durchführbar• Unterschiedliche Haltungen zur Sedierung
(innerhalb der Gruppe der An- und Zugehörigen, innerhalb des Teams)• Komplikationen (Aspiration)
aber:• Daten weisen darauf hin, dass eine adäquat durchgeführte Sedierung nicht zur
Beschleunigung des Todes führt
Palliative Sedierung - Risiken
(Müller-Busch / Stone, Phillips, Spruyt / Morita, Tsunoda, Inoue)
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Palliative Sedierung unterscheidet sich von Euthanasie dadurch, dass:• das Ziel die anderweitig nicht erreichbare adäquate Symptomlinderung und nicht die
Herbeiführung des Todes ist
• zur Erreichung dieses Ziels eine differenzierte und angemessene Vorgehensweise erforderlich ist sowie
• der Tod des Patienten kein Erfolgskriterium für die Effektivität dieser Therapiemaßname darstellt
Palliative Sedierung – Abgrenzung zur Euthanasie
Schröer, Hirsmüller (2014) Palliative Sedierung. In: Fink et al: Werkbuch Medizinethik Bd. 2, Fromm Verlag, S. 191-203
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Ist durch palliative Sedierung ein „besseres Sterben“ möglich?• Veränderung der Elemente und Vorstellungen eines guten Todes • Ruhiges Sterben = gutes Sterben?• Patient ist ruhig gestellt - aber was erlebt er in der Sedierung und kann es nicht
mitteilen? • Fehlender Raum für Sinnfragen und Abschied?Oder bedeutet die Palliative Sedierung sogar den ‚sozialen Tod‘ des Patienten?
Wie sieht die Entscheidung zur Ernährungs- und Medikamentengabe aus?Lebensverkürzung durch Flüssigkeits- und Ernährungsbeendigung →Futility (Sinn/- Nutzlosigkeit) oder aktive Sterbehilfe?
Palliative Sedierung – ethische Fragen 1
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• Sedierung ist kein Ersatz für Nähe, Pflege und professionelle Sterbebegleitung
• Sedierung nur durch geschultes und professionelles Team
• Abklärung von Patientenwünschen im Vorfeld
• Begleitung der Angehörigen erforderlich
• Begleitung/ Supervision der Behandelnden ebenso erforderlich
Palliative Sedierung – Fürsorge
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PRO:• Unerträgliches Leiden wird nicht mehr wahrgenommen:
Beseitigung des Symptoms, nicht des leidenden Menschen!
→ Effektive Symptomkontrolle ist - wo immer möglich- geboten
• Verhinderung möglicher Traumatisierung der Nahestehenden - durch massive
Unruhe oder andere massive Symptome des Sterbenden - über den Tod hinaus
CONTRA:• Risiko der paradoxen Agitation durch Sedativa
• Fehlende Chance, Abschied zu nehmen
• Ausweitung der Indikationsstellung und Vorverlegung des Startzeitpunkts
Palliative Sedierung – Schaden/Nutzen-Abwägung
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Handelt es sich um unerträgliches, therapie-refraktäres Leid(en), welches eine Palliative Sedierung legitimiert?
1. Leiden charakterisieren
© Annette Riedel
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2. Subjektivierung des Leidensreflektieren und absichern
Steht bei der Entscheidung explizit das subjektive Leid(en) des Gastes im Vordergrund?
© Annette Riedel
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3. Zeitpunkt der Einleitung ethisch reflektieren und absichern
Klärung der Wertepräferenzen:• Fürsorge der Mitarbeitenden• Selbstbestimmung des Gastes
© Annette Riedel
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• Durch immer neue medizinische Behandlungsmöglichkeiten ergeben sich immer wieder neue ethische Problemstellungen
• Die Autonomie der Patienten ist ein wichtiger Maßstab, dahinter darf die Autonomie der Behandelnden jedoch nicht unkritisch zurückgesetzt werden
• Die Pluralität innerhalb der Gesellschaft macht einen permanenten ethischen Diskurs sowie Respekt vor der jeweils anderen Meinung dringend erforderlich
• Neben der sicherlich wichtigen engen Beobachtung dessen, was Patienten in ihren letzten Lebensstunden erleben/erleiden, darf nicht außer Blick geraten, was sie in den Monaten der Therapie und Behandlung zuvor erlebt/erlitten haben
• Die Begleitung von schwerst- und sterbenskranken Menschen in Palliative Care (ggf. auch durch begleiteten Suizid) einerseits und die allgemeine Suizidprävention für psychisch erkrankte oder sozial verzweifelte Menschen andererseits sind unter-schiedliche Aufgabenbereiche im Gesundheitswesen, die sich nicht gegenseitig ausschließen
Fazit
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Riedel, A (2020) Palliative Sedierung im stationären Hospiz. Konstruktion einer Ethik-Leitlinie mittels
partizipativer Forschung. V&R, Göttingen
Heller, A u. Kränzle, S (2019) Tod durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (ToFVET). Sterben des
homo faber und seine organisationsethischen Implikationen. ZfmE 65(3):281-97
Schnell, M u. Schulz-Quach,C Hrsg. (2019) Basiswissen Palliativmedizin. 3. Aufl., Springer Berlin
Bozarro, C (2015) Der Leidensbegriff im medizinischen Kontext: Ein Problemaufriss am Beispiel der
tiefen palliativen Sedierung am Lebensende. Ethik Med (27):93-106
Monteverde, S (2017) Leiden lindern, warten können: Ethos und Ethik in Palliative Care. In: Steffen-
Bürgi, B. et al Hrsg. Lehrbuch Palliative Care. 3. Aufl. Hogrefe Bern, S. 832-48
Weixler, D u. Mattekat, K (2017) Palliative Sedierungstherapie. In: Steffen-Bürgi, B. et al Hrsg. Lehrbuch
Palliative Care. 3. Aufl. Hogrefe Bern, S. 873-87
Literatur
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