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Deliberate practice als einziger Schlüssel zum Erwerb musikalischer Expertise?

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Page 1: Deliberate practice als einziger Schlüssel zum Erwerb musikalischer Expertise?

Deliberate practice als einziger Schlüssel zum Erwerb musikalischer Expertise?

Der Stellenwert von deliberate practice neben allgemeinen lernpsychologischen Aspekten

beim Erwerb musikalischer (instrumentaler) Expertise.

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung S. 3

2. Aktueller Forschungsstand S. 3

2.1. Der Expertisebegriff S. 3

2.2. Deliberate practice S. 4

2.3. Der Talentbegriff innerhalb des DP-Ansatzes S. 5

3. Deliberate practice und Expertiseerwerb S. 7

3.1. Aufnahme und Verarbeitung von Musik im Gehirn S. 7

3.1.1. Das Hören S. 7

3.1.2. Musikverarbeitung im Gehirn S. 8

3.2. Die Rolle von DP beim Erwerb musikalischer

(intrumentaler) Expertise S. 9

3.3. Die Rolle weitere lernpsychologischer Aspekte

neben DP S. 11

3.3.1. Gesetze des Einprägens von Gedächtnismaterial S. 11

3.3.2. Gewohnheitsbildung S. 11

3.3.3. Bedürfnistheorie S. 12

3.3.4. Beobachtungslernen S. 13

4. Schlussbemerkung S. 14

5. Literaturverzeichnis S. 15

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1 Einleitung

Begabung, Talent, besondere Veranlagung - Mit diesen Begriffen werden weitläufig überdurchschnittliche oder außerordentliche Fertigkeiten eines Menschen erklärt. Insbesondere in der Musik wird beispielsweise oft von einer „musisch veranlagten“ Familie gesprochen, in der ein Künstler aufgewachsen ist. Dieses begünstigende Umfeld wird dann ebenso als Erklärung seines Könnens herangezogen wie die scheinbare Existenz einer besonderen Begabung des Musikers selbst. Aber ob die Idee einer vererbten oder angeborenen Begabung als Erklärung für herausragende Fähigkeiten ausreicht, ist äußerst umstritten. Neuerdings wird versucht das Erreichen von Höchstleistungen durch den Expertiseansatz zu erklären. Oliver Vitouch beschäftigt sich in seinem Essay „Erwerb musikalischer Expertise“ insbesondere damit, wie sich das so genannte „deliberate practice“ (Vitouch 2005 S. 658), also das zielgerichtete und geplante Üben, auf das Ergebnis von künstlerischen Leistungen auswirkt.Als großes Untersuchungsfeld erwies sich gerade die musikalische Expertise als ergiebig, da sich dort empirisch besonders gut das Verhältnis zwischen erbrachter Übungsleistung und dem tatsächlich erreichten musikalischen Niveau nachweisen ließ (s. Vitouch 2005).

Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich mich mit dem Lernen eines Instrumentes hinsichtlich dieser Thematik befassen und dafür zunächst den Expertiseansatz und das Konzept des deliberate practice, sowie den Talentbegriff im Zusammenhang der musikalischen Expertise darstellen. Danach werde ich die tatsächliche Rolle des deliberate practice für den Instrumentalen Fertigkeitserwerb genauer hinterfragen und im gleichen Zuge auch anderer lerntheoretischer Bereiche vorstellen, die neben dem deliberate practice für das Lernen eines Instrumentes von Bedeutung sind.

2. Aktueller Forschungsstand

2.1 Der Expertisebegriff

Als Experte wird üblicherweise bezeichnet, wer spezielle kognitive Leistungen, meist im Zuge einer Wissenschaft oder als Sachverständiger, erbringen kann. Er ist sozusagen ein Fachmann oder Kenner auf einem bestimmten Gebiet (Brockhaus Bd. 7). In der Psychologie spricht man von Expertise, wenn „nach einer langen Übungsphase spezialisierte Höchstleistungen erbracht werden können“ (Vitouch 2005 S. 658) die sowohl kognitiv als auch psychomotorisch sein können. Dabei ist zu bedenken, dass ein früher Ausbildungsbeginn (in der Regel im Kindesalter) sowie eine lange Phase des Trainings mit einer hohen Anzahl an gezielten

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Übungsstunden nötig sind, um bestimmte Höchstleistungen erbringen zu können. Von Simon und Chase (1973, s. Vitouch 2005) wurde beispielsweise eine 10 jährige Vorbereitungsphase bei Schachgroßmeistern nachgewiesen, die im Laufe der Zeit auf viele Bereiche generalisiert werden konnte. Das Pensum der Übungsstunden in diesem Zeitraum beläuft sich nach Ericsson und Crutcher (1990, s. Vitouch 2005) in der Regel auf circa 10.000.In der kognitiven Psychologie haben viele ältere Arbeiten einige generalisierbare Elemente aufgezeigt, die den Fertigkeitserwerb begünstigen. Darunter fallen Erkenntnisse wie die Lernförderlichen Methoden der zeitlich verteilten Übung und der separaten Übung von Teilaspekten. Auch wurde der große Nutzen von direktem Feedback, sowie positiven und negativen Transfereffekten nachgewiesen (Vitouch 2005 S. 661).Neuere Arbeiten setzen an diesen Erkenntnissen an und ließen außerhalb von Laborexperimenten die Beobachtung machen, dass weniger die „reine Erfahrungsexploration, denn das Ausmaß an systematischer und gezielter Übung“ (Vitouch 2005 S. 661) ausschlaggebend für den Trainingserfolg sind. Aus diesem Grund wurde von Ericcson (1993) das empirisch erstaunlich gut nachweisbare Konzept der deliberate practice eingeführt 1.

2.2 Deliberate Practice

Deliberate practice2 - das planvolle und zielgerichtete Üben - ist eine Möglichkeit um methodisch abgestimmt auf bestimmte Höchstleitungen hin zu trainieren. Dabei wird ein überdurchschnittlich hohes Niveau auf einem stark eingegrenzten und spezialisierten Gebiet angestrebt (etwa dem Erlernen eines Instrumentes, von Sportarten, oder rein kognitiver Fähigkeiten).Neuere Studien haben gezeigt, dass dabei tatsächlich nicht die reine Beschäftigung mit einer bestimmten Tätigkeit, sondern die mit fokussierter Arbeit an der direkten Leistungssteigerung verbrachte Zeit für den Erfolg ausschlaggebend ist (nach Ericsson, 1993. s. Vitouch 2005 S. 661). So macht das Modell des DP, möchte man es möglichst allgemein gültig fassen, mehr Aussagen über das Wie denn über das Was des Übens. Ein Anliegen der DP-Arbeiten ist laut Vitouch zu zeigen, „dass das Expertisekonzept hohen Erklärungswert für zahlreiche Leistungsdomänen hat“. Dies rührt daher, „da die Menge an qualifizierten Übungsstunden im Laufe der Ausbildung den einzig zuverlässigen - und dabei einen sehr guten - Prädikator für das erreichte Leistungsniveau darstellt“ (Vitouch 2005 S. 662).Im Idealfall wird beim DP das Übeprogramm von einem Lehrer oder Experten begleitet, beziehungsweise auf den jeweiligen Schüler und seine Aufgabe genau angepasst. Trotzdem ist eine konsequente und disziplinierte Selbstüberwachung (monitoring) von Seiten des Lernenden erforderlich. Das Üben selbst muss direkt auf konkrete Fehler und Schwächen des Lernenden abzielen. DP wird so zu einem anstrengenden und ressourcenfordernden Prozess und ist nicht

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1 Ein großes Forschungsfeld liegt dabei im Bereich der musikalischen Expertise, wo das Verhältnis von dezidierten Übungsstunden und dem dadurch erreichten Maß an Perfektion besonders gut nachzuweisen ist.

2 im folgenden DP

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selten über längere Zeit hinweg von Rückschlägen und wenig selbstverstärkenden Phasen der Praxis geprägt (Vitouch 2005 S. 662). Aus diesen Gründen ist DP in seiner Dauer auf wenige Stunden am Tag limitiert.

2.3 Der Talentbegriff innerhalb des DP-Ansatzes

Da eine solche Art der andauernden Übung also sicher ein notwendiger Faktor für das Erreichen hoher Leistungen ist, stellt sich die Frage ob sie auch ein hinreichender Faktor ist. Reicht Übung alleine um beispielsweise ein großartiger Schachspieler oder Musiker zu werden, oder gibt es doch noch andere (messbare) Faktoren wie beispielsweise Anlage, Begabung oder Talent, die mit entscheidend für den Erfolg innerhalb einer speziellen Karriere sind? Vitouch verweist hinsichtlich dieser Fragestellung auf zwei Modelle, die versuchen der Frage nach dem Stellenwert des Talentkonzeptes innerhalb des Expertiseansatzes nachzugehen. Diese zeigen, dass es durchaus schwierig ist, das Talentkonzept empirisch verlässlichen zu untermauern. Zum einen gibt es eine fünfgliedrige, explizite und pragmatische Definition zur Beschreibung des Nutzens und der Prüfbarkeit von Talent (nach Howe et al. 1998, s. Vitouch 2005 S. 666):

(1) Talent basiert auf genetischen Strukturen, ist also wenigstens teilweise „angeboren“. (2) Es gibt irgendeine Form von Indizien für die frühe Erkennung. (3) Diese frühen Indizien geben eine Prädikationsbasis für späteren Erfolg.(4) Talent ist selten, und(5) Talente sind relativ bereichsspezifisch.

Kritisch zu betrachten sind nach Vitouch hierbei besonders die Punkte (2) und (3), da ohne deren Erfüllung (also der frühzeitigen Erkennung von Talent mit Rückschlussmöglichkeit auf späteren Erfolg) keine sinnvolle Aussage über (1) und (4) getroffen werden kann. So könnte beispielsweise Talent vorhanden sein, aber aufgrund vom Ausbleiben eindeutiger Indizien einfach nicht frühzeitig erkannt werden. Auch gibt es keine klaren Aussagen über die Art der Indizien, beziehungsweise über effektive Methoden der frühzeitigen und vor allem verlässlichen Erkennung von Talenten.Gerade in der Musik wird noch heute versucht entweder nur durch standardisierte Testverfahren oder durch Expertenurteile Talent „nachzuweisen“, was nicht selten einseitig betrachtete Ergebnisse oder sogar Fehleinschätzungen nach sich zieht. Und besonders im Bereich des Musikunterrichts an allgemein bildenden Schulen machen viele Lehrer (und auch Eltern!) den „Fehler“ einzelne Schüler als besonders begabt oder unbegabt abzustempeln (s. Bruhn 1995 S. 13). Und gerade in diesem Bereich ist das Auseinanderklaffen an vorhandener oder nicht vorhandener Vorbildung so groß wie nirgends sonst. Alleine die Umstände, dass ein Schüler eigenes Interesse für das Fach zeigt, oder neben der Schule ein Instrument lernt

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(und somit ja zusätzliche gezielten Unterricht erhält) könnten für einen großen Unterschied in der musikalischen Bildung und der Entwicklung musikalischer Fertigkeiten verantwortlich sein.

Des weiteren führt Vitouch die von Schneider (1997) formulierte Idee des Schwellenwert-Modelles ein. Laut diesem Modell besteht „Eignung“ oder Aussicht auf Erfolg bei Überschreitung eines gewissen Dispositions-Schwellenwertes, wobei dispositionelle Schwächen durch intensivere Übung im Laufe der Zeit zumindest teilweise kompensiert werden können (s. Vitouch 2005 S. 666). Ebenso wie das Problem des Messens von Talent, stellt sich hier die Schwierigkeit in den Vordergrund die dispositionellen Schwellen zu definieren und ihrerseits zu messen. Man muss dabei auch beachten, dass diese je nach betrachteter Disziplin und ihrem Umfeld alleine schon von der Idee her sehr unterschiedlich ausfallen können und müssen.

Einen weiteren Aspekt, der den Talentbegriff und die Theorie der angeborenen Begabung entkräftet, sind die Umstände unter denen versucht wurde, musikalische Begabung mittels Ahnenforschung und Familienstammbäumen nachzuweisen. So gilt der Familienstammbaum der Bach-Familie als besonders beeindruckendes Beispiel, da sich in sieben Generationen 60 Musiker und Komponisten nach Hans Bach finden lassen (Bruhn 1991 S. 15). Allerdings gibt es gravierende Einwände, diesen Umstand einfach so als Erklärung für musikalische Begabung zu nehmen (Bruhn 1991):

(1) Frauen werden in den Stammbäumen nur in Ausnahmen erwähnt, da ihnen bis in das 20. Jahrhundert hinein der Beruf des Musiker und Komponisten verschlossen blieb (nach Haecker und Ziehen 1911/12). So wird das Ergebnis eines Stammbaumes verfälscht.

(2) Oft wurden auch nicht alle Kinder aufgeführt, sondern nur diejenigen, die tatsächlich musikschaffend waren. Unter den 20 Kindern von Johann Sebastian Bach (die nachweislich alle im Familienstammbaum aufgeführt sind) finden sich so nur 7 Komponisten, was das Verhältnis Musiker, Nicht-Musiker sichtlich relativiert.

(3) Es wurde in der Forschung lange vernachlässigt, dass in den letzten Jahrhunderten das Zunft-Denken eine sehr große Rolle bei der Berufswahl der Kinder gespielt hat. So lassen sich in einer Schuhmacher- oder Bauernfamilie sehr wahrscheinlich mindestens genauso viele Schuhmacher- oder Bauernkindern finden wie in einer Musikerfamilie Komponisten und Instrumentalisten.

Obwohl der Talentbegriff äußerst diffus und nur schwer greifbar ist muss man schlussendlich aber auch anmerken, dass im Bereich der Vererbung von genetischen Anlage, die das Entwickeln von bestimmten Fähigkeiten optimieren könnten, zur Zeit viel geforscht wird. Insbesondere die Veränderung von Genen durch Umwelteinflüsse innerhalb der ersten Lebensabschnitte wird untersucht. So hat man beispielsweise bei Bienen herausgefunden, dass sie durch entsprechende Fütterung im Stock eine gewisse Larvendieät erhalten: Je nach dem wie die Larven gefüttert werden, blockieren Methylgruppen bestimmte Erbinformationen, fungieren quasi als biochemische

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Schlösser. Dieser so genannte epigenetische Einfluss ist bei Bienen besonders ausgeprägt und dominiert ihre gesamte Existenz. Beim Menschen ist ein solcher Einfluss kaum nachweisbar. Aber neuere Forschungen (am Gehirngewebe von Selbstmördern, die als Kinder misshandelt wurden und Ratten, die von ihren Müttern vernachlässigt wurden) geben Hinweise zur Veränderung des Erbguts auf Basis von Epigenetik. Diese resultieren sehr wahrscheinlich aus Zusammenhängen durch die Einwirkung von Umwelteinflüssen auf das Erbgut (Kastilan 2008). Inwieweit sich diese Erkenntnisse aber auf den Bereich der Musikalität oder eventuell vorhandener Gendispositionen, die die Musikalität fördern könnten, generalisieren und übertragen lassen, ist wissenschaftlich nicht erwiesen.

3. DP und Expertiseerwerb

Da DP also scheinbar eine der wenigen tatsächlich empirisch nachweisbaren Methoden zur Erklärung von überdurchschnittlich hohem Fertigkeitsniveau ist, lieg eine Untersuchung der Rolle von DP in bestimmten Domänen nahe. Dies kann man allgemein anstellen, da das DP-Konzept nach Vitouch als „Universalie des Fertigkeitserwerbs“ formuliert wurde (Vitouch 2005 S. 668). Somit hat es für die unterschiedlichsten Professionen, Disziplinen und Domänen einen gewissen Gültigkeitsanspruch. Nun stellt sich die Frage, inwieweit es bereichsspezifische, spezielle Ausprägungen hinsichtlich der Existenz, Art und Umfang von DP gibt.

Im Folgenden dient zum Hinterfragen dessen eine Posaunenschülerin als Beispiel, da an diesem Beispiel vieles gut veranschaulicht werden kann, und gerade das Lernen des Posaunenspiels einen Schüler mit einigen speziellen Schwierigkeiten konfrontiert, für die es gezielte und individuelle Übestrategien zu entwickeln gilt. Dem genaueren Blick auf das Lernen des Instrumentes, ist zunächst eine allgemeine Vorbemerkung hinsichtlich der Aufnahme und Verarbeitung von Musik im Gehirn vorangestellt.

3.1 Aufnahme und Verarbeitung von Musik im Gehirn

3.1.1 Das HörenAkustische Reize zwischen 20 und 20.000 Hz werden über das Ohr wahrgenommen da die Schallwellen das Trommelfell in Schwingung versetzen. Im Mittelohr werden diese Vibrationen über die Gehörknochen Hammer, Amboss und Steigbügel auf das Cortische Organ übertragen. Dort erfolgt über Sinneshärchen die Umwandlung der physischen Reize in elektrische Nervenimpulse. Die so gewonnen Informationen über die akustische Umwelt werden über die Hörnerven an das Gehirn zur Verarbeitung geleitet (nach Post 1999, s. Quast 2005 S. 40). Schallwellen werden aber gleichzeitig auch über die Schädelknochen aufgenommen und verändern so zum Beispiel

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maßgeblich die Wahrnehmung der eigenen Stimme. Im späteren Beispiel ist dies interessant zu wissen, da auch Instrumentalisten die ein Blasinstrument spielen einen anderen Klang von ihrem Spiel wahrnehmen als ein Zuhörer. Dies rührt von den Klängen her, die durch Vibrationen im Mundraum (durch Blättchen, Mundstück etc.) entstehen und daher nur vom Instrumentalisten selbst wahrgenommen werden können. Dafür sollte bei Schülern ein Bewusstsein geschaffen werden, damit der Klang durch den Spieler richtig interpretiert und geformt werden kann.

3.1.2 Verarbeitung von Musik im GehirnWird als akustischer Reiz Musik wahrgenommen, wird diese wie alle anderen akustischen Reize zunächst an den Kortex geleitet. Aktuelle Experimente haben gezeigt, dass bei der Wahrnehmung von Musik eine Arbeitsaufteilung im Gehirn stattfindet: Während die linke Hemisphäre auf rhythmische Informationen spezialisiert ist, verarbeitet die rechte Hemisphäre mehr melodische und harmonische Informationen (nach Herbert & Peretz 1997, s. Quast 1995 S. 41). Dieser Befund ist allerdings nur bedingt allgemein gültig, denn die Verarbeitung von Musik ist nach anderen Untersuchungen personenabhängig. So gibt es laut Decker-Voigt (1991) einen Unterschied zwischen „Hörern mit Genuss und Hingabe“ (stärkere Aktivierung der rechten Hemisphäre) und „kritisch-wertenden, analysierenden Hörern“ (stärkere Aktivierung der linken Hemisphäre). Bei Musikern wurde eine besonders hohe Aktivität beider Hirnhemisphären nachgewiesen (nach Schuster 1982, Bradshaw 1985, Ohnishi 2001) wohingegen bei Nicht-Musikern überwiegend die rechte Hemisphäre aktiviert wird. Musizieren kann durch die Verarbeitung der Musikalischen Reize (beim Hören UND Spielen) zu Dispositionen im Gehirn führen: Schlaug, Jancke, Haung, Staiger & Steinmetz (1995) begründen mit dem regen Informationsaustausch der Hemisphären bei der Verarbeitung von Musik eine größere Anzahl von Nervenverbindungen zwischen den beiden Gehirnhälften bei Musikern als bei Nicht-Musikern. Des weiteren soll auch der häufige Umgang mit Musik zur Bildung neuer Synapsen führen (nach Bruhn, 2000 s. Quast 2005 S. 42). Viele Nervenbahnen, die Gehörtes verarbeiten und weiterleiten, laufen über den Thalamus zum limbischen System wo sich unter anderem das temporoamygdaläre System, das Zentrum für Emotionen und Motivationen, befindet. Das limbische System ist gleichzeitig aber auch die Zentralstelle des vegetativen Nevensystems. Post (1999) erklärt durch die enge Verbindung von Hörorgan und limbischem System, dass Musik emotionale Reaktionen hervorrufen, sowie den Hormonhaushalt, den Puls und die Herzfrequenz beeinflussen kann (s. Quast 2005 S. 43).Es gibt ferner kein neuronales Zentrum zur Verarbeitung von Musik. Das „Erfahren“ von Musik ist ein komplexer Prozess der von vielen neuronalen Bereichen verarbeitet wird (nach Tramo 2001, Spitzer 2002, s. Quast 2005 S. 44). So ist das Gehirn beim aktiven musizieren neben der Verarbeitung von Sinneseindrücken auch mit anderen Aufgaben beschäftig. Darunter fallen neben der motorischen Steuerung und der Speicherung von Informationen auch das Wiederabrufen von bereits erworbenem Wissen. Diesen Vorgängen kann und sollte man sich beim Erlernen eines Instrumentes bewusst sein um das Üben optimal zu strukturieren.

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3.2 Die Rolle von DP beim Erwerb musikalischer (intrumentaler) Expertise

Viele Aufgaben, die sich einem Handelnden stellen können, sind nicht nur durch ihr Ziel definiert, sondern stellen den Akteur vor eine Tätigkeitsaufgabe. Hierbei ist dem Handelnden der Weg zum Ziel klar, und er ist im Besitz aller nötigen (auch motorischen) Fertigkeiten, um dieses Ziel zu erreichen (Lewin 1922, s. Fuchs 1980 S. 70). Handelt es sich dabei um eine wiederholte Tätigkeit (Arbeitsablauf in der maschinellen Fertigung, Maschinenschreiben, etc.) werden sich mit der Zeit unweigerlich Übungseffekte beim Handelenden einstellen. Er wird routinierter in dem, was er tut, kann effektiver und unter Umständen sogar beiläufiger die nötigen Handlungen ausführen.Ein Beispiel aus der Musik soll dies verdeutlichen:Eine junge Jazz-Posaunistin bekommt von ihrem Lehrer ein neues, schwereres Stück im Unterricht vorgestellt. Sie kann mittlerweile einen großen Tonraum sauber gespielt abdecken und ist rhythmisch sowie stilistisch versiert. Das Ziel, das neue Stück gut spielen zu können, ist ihr als Instrumentalist klar. Trotzdem wird sie nicht auf Anhieb das neue Stück sauber intoniert und fehlerfrei spielen können, da es ihr bisheriges Können übersteigt. Mit der Zeit, in der sie das Stück öfter und öfter spielt und wiederholt, stellen sich Übungseffekte ein: Die Schülerin wird es bald im angemessenen Tempo spielen können, sauberer intonieren und am Ende sogar gezielt mehr Wert auf stilistisch passende Phrasierung und Artikulation legen können. Diese Übungseffekte können erwiesenermaßen verstärkt, beziehungsweise der Weg zum Ziel einer Aufgabe optimiert werden. Jede derart herbeigeführte Steigerung der Fertigkeit lässt sich auf die „Automatisierung“ von Abläufen und Vorgängen während der Tätigkeit zurückführen. Dabei ist es egal, wie stark der Effekt der Übung durch die bloße Beschäftigung mit einer Sache ist (beispielsweise durch reine Wiederholung). Unabhängig vom angestrebten Ergebnis gelten aber beim zielgerichteten Üben zwei allgemeine Forderungen (Fuchs 1980 S. 71):

(1) Beim Üben darf keine Überforderung auftreten. Somit ist es notwendig, genügend erreichbare Zwischenschritte einzuplanen.

(2) Das optimale Tempo zum erlernen der nötigen Zwischenziele ist vom aktuellen Stand des Lernenden, also von seinem Eingangskönnen und seiner Lernpotenz abhängig.

Um auf das Beispiel der Instrumentalmusik zurückzukommen können diese Regeln wie folgt ihre Anwendung finden:Das neue Stück kann in einzelne Teile (Formteile, Phrasen, Takte, Motive, einzelne Töne) zerlegt werden, was den Überblick des zu übenden Materials sehr erleichtert. So kann ein Schüler gezielt nur die Stellen auswählen, die ihm Schwierigkeiten bereiten. Beispielsweise kann die erste problematische Phrase ein Motiv sein, das auf einem sehr hohen Ton beginnt3. Wenn man über eine solche Stelle zu oft „wegspielt“ und dabei den Einsatz nicht richtig

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3 Eine weit verbreitete „Angststelle“ aufgrund eines hohen Einstiegs ist unter Posaunisten zum Beispiel der erste Ton der Posaune im Bolero von Ravel.

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bekommt, beginnt man den Fehler alleine schon durch seine Wiederholung einzuüben. In diesem Falle wäre es sinnvoll, einen Anfangston zu wählen, der tiefer liegt und daher auf dem Instrument leichter anspricht. An diesem tiefen Ton kann man vor dem Anstoßen schon darauf achten, dass die Tonvorstellung richtig ist, und dass die Atemorgane (hier besonders Zwerchfell und Mundraum) nicht übertrieben stark angespannt sind, da dies die häufigsten Ursachen für das Verspielen bei hohen Tönen sind. Nachfolgend kann man sich zum Beispiel chromatisch im Tonraum mit der Anstoßübung nach oben bewegen, bis die benötigte Höhe sicher erreicht werden kann. Auch das Einbauen von kurzfristigen Ergebniskontrollen ist wesentlich für ein Übungsprogramm (Fuchs 1992 S. 72) und an dieser Stelle der Übung (nach einer Pause) besonders wichtig. Denn im Kontext des Musikstückes kann eine solche Stelle nicht vorbereitet werden. Daher müsste man diese Übung so lange wiederholen bis bei der „Kontrolle“ sicher erkenntlich wird, dass der hohe Ton auch ohne vorbereitende Übungen mühelos angespielt werden kann. Dies kann allerdings einen langen Zeitraum (Wochen, Monate) in Anspruch nehmen, da in diesem speziellen Falle auch physiologische Dispositionen nötig sind4. Aber nicht nur die Kontrolle nach einer bestimmten Übungseinheit, sondern auch die Auswertung während des Spielens und unmittelbar im Anschluss daran sind von großer Bedeutung. Gerade in der Musik ist dabei die dynamisch-sensorische Rückkopplung (nach Smith und Smith, s. Fuchs 1992 S. 75) enorm wichtig, also die Fähigkeit sich beispielsweise beim Spielen selbst zuzuhören um richtig zu intonieren. Dies geschieht auf der Posaune durch minimale Korrektur der Zugposition mit der Hand und winzige Spannungsveränderungen der Lippenmuskulatur. Ohne die Automation dieser Fähigkeit wäre der Schüler nicht im Stande sich auf seine Handlungseffekte (also das Spielen selbst) richtig zu konzentrieren. Er würde zwar die Töne treffen, diese aber nicht sauber genug intonieren können, da ihm die Rückmeldung über eventuell unsaubere Tonhöhen fehlt. Unabdingbar ist in diesem Zusammenhang die Kenntnis von Sollwerten. Bei einer Abweichung von diesen muss das erforderliche, regulierende Bewegungsprogramm eingeübt werden, damit durch die auditive Wahrnehmung die Motorik (Bewegung des Zugs und der Lippen) „automatisch“ gesteuert werden kann. Ein Entsprechendes Übungsprogramm zur Gewinnung und Verbesserung der Rückmeldung (akustisch, sensorisch) muss der jeweiligen Aufgabe entsprechend aufgebaut sein und findet sich daher beispielsweise in vielen Instrumentalschulen auf die verschiedenen Instrumente abgestimmt5.

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4 Die Lippenmuskulatur muss kräftiger werden und präziser bewegt werden können.

5 So muss ein Cellist auch lernen, ein Vibrato zu spielen ohne sich darüber „Gedanken machen zu müssen“, was meist mehr motorisch (Bogenführung, Griff) als akustisch rückgemeldet wird.

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3.3 Die Rolle weitere lernpsychologischer Aspekte neben DP

Die bislang beschriebenen Lernbereiche des Instrumentalspiels beziehen sich alleine auf den Erwerb von (überwiegend motorischen) Fertigkeiten. Andere, für die instrumentale Expertise relevanten und in der Lernpsychologie betrachteten Lernbereiche (nach Fuchs 1980, Fortmüller 1991 und Mazur 2006) sollen in Bezug auf das Beispiel der Posaunistin nun aufgeführt werden. Sie nehmen zwar nicht unbedingt eine Hauptrolle im täglichen Übealltag und somit einer eventuellen DP Routine ein, sind aber trotzdem von großer Bedeutung für die Expertise am Instrument:

(1) Gesetze des Einprägens von Gedächtnismaterial (Memorieren)(2) Gewohnheitsbildung (im Zuge klassischer Konditionierung)(3) Bedürfnistheorie(4) Beobachtungslernen

3.3.1 Gesetze des Einprägens von Gedächtnismaterial (Fuchs 1980 S.50 ff) (1)

Erkenntnisse aus diesem Forschungsfeld sind vor allem hilfreich, wenn man neues musikalisches Material memorieren muss (vergl. Mazur 2006 S. 374). Dies ist neben dem auswendigen Spiel vor allem für die Improvisation von Nöten, da im Vorfeld dazu theoretisches Wissen über Skalen, Harmonien, Tonarten, Formschemata und der gleichen mehr gelernt werden muss. Diese Wissen sollte sich der Solist so gut eingeprägt haben, dass er möglichst unmittelbar (während des Spielens) darüber verfügen kann um dadurch seine Improvisation zu lenken oder zu stützen. Selbst bei der vorbereitenden Arbeit um völlig frei improvisieren zu können, ist dieses Wissen wichtig damit man als Spieler nicht unwillkürlich in typische Muster verfällt. Allerdings ist dies eine sehr spezielle Aufgabe, die tatsächlich weit in den Bereich der Expertise auf dem Instrument (insbesondere im Jazz und der Neuen Musik) hineinreicht. Daher hält sie nur in wenigen Fällen regelmäßig Einzug in den persönlichen Übekanon eines Spielers.

3.3.2 Gewohnheitsbildung (Fuchs 1980 S. 83 ff) (2)Das Fundament der Forschung zur Gewohnheitsbildung ist die klassische Konditionierung nach Pawlow (vergl. Mazur 2006 S. 101 ff, Fortmüller 1991 S. 42 ff), welches seinerseits primär durch experimentelle Verfahren gekennzeichnet ist (Fuchs 1980 S. 85). In Bezug auf das Lernen eines Instruments sind hier vor allem die Erkenntnisse der Gewohnheitsbildung im Zuge von Selbststeuerung von Interesse. Denn die intelligent gesteuerte „Selbstdressur“, durch die man sich nützliche Verhaltensmuster zur Gewohnheit machen kann, ist ein unerlässliches Instrument der Selbststeuerung (Fuchs 1980 S. 91). Nicht selten eigenen sich Musiker besondere Verhaltensmuster an, um beispielsweise in Konzertsituationen bestimmte Charakterzüge zu suggerieren. Auch der Umgang mit Lampenfieber und im allgemeinen die Anpassung des eigenen Lebens an die notwendigen, langen und kontinuierlichen Übeperioden sind von Gewohnheitsbildung durch „Selbstdressur“ geprägt. Den Einwirkungen von Personen (Lehrer, Publikum, enges soziales

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Umfeld etc.) und Erlebnissen (Erfolge, Lob, Tadel, Kritiken, Preise) soll in diesem Zusammenhang nicht weiter nachgegangen werden. 3.3.3 Bedürfnistheorie (Fortmüller 1991 S. 79 ff) (3)Die Bedürfnistheorie geht davon aus, dass alle Bedürfnisse auf Defiziten basieren, die befriedigt werden können (das Streben nach Selbstverwirklichung ausgeschlossen), indem die Defizite beseitigt werden (Fortmüller 1991 S. 80). Dabei sind die Bedürfnisse nur eine „verhaltensbestimmende Kraft, solange sie nicht (vollständig) befriedigt sind“ (Berthel 1989 nach Fortmüller 1991 S. 80). Bedürfnisse sind hierarchisch strukturiert, was zur Folge hat, dass höhere Bedürfnisse erst auftreten, wenn niedrigere befriedigt worden sind (z.B. steht satt werden vor dem Bedürfnis nach Sicherheit und Liebe). Das höchste Bedürfnis des Menschen ist das Streben nach Selbstverwirklichung, was unter anderem auf die Entwicklung folgender Eigenschaften bezogen werden kann: starke Expressivität, eine feste Identität, Einzigartigkeit und Wiedererlangung der Kreativität (nach Maslow 1973, s. Formüller 1991 S. 81). Diese Eigenschaften sind oftmals typische Merkmale von Künstlerpersönlichkeiten. Sie sind nicht selten die Motivation hinter Übehandlungen und überhaupt erst dem Willen, besondere Fähigkeiten auf einem Instrument zu erlangen. Insbesondere das Streben nach Einzigartigkeit ist maßgeblich die treibende Kraft hinter bestimmten Überoutienen. Ein Bläser strebt so meist einen „eigenen, guten Ton“6 an um sich musikalisch abzugrenzen. Auch ist nicht zu verachten, dass Musik einen durchaus hohen Stellenwert in unserer Kultur hat und somit für gewisse Werte stehen kann (Haselauer 1980 S. 171).Zwar veränderte sich das Bild des Musikers im Laufe der Jahrhunderte enorm und zweitweise sogar sehr rasch, doch kann man heute oft feststellen, dass Musiker einen gewissen Stand in der Gesellschaft einnehmen. Es wird unter anderem versucht, dies damit zu begründen, dass die Musik (die ja auch heute noch oft von Musiker dargeboten und geschaffen wird) persönliche, ästehtische und soziale Werte für jeden einzelnen „Musikkonsumenten“ hat. Diese Bedeutung der Musik für den interessierten Hörer wird nicht selten in Form von Bewunderung, Starkult und dergleichen mehr auf Musiker übertragen oder projiziert. Das Erlangen eines solchen Status wird oft einem erfolgreichen Streben nach Selbstverwirklichung gleichgesetzt, und daher von vielen Künstlern versucht zu erreichen. Auch kann die kommerziell erfolgreiche Platzierung der eigenen Musik oder Musikerpersönlichkeit auf dem Markt für eine finanzielle Absicherung sorgen und somit Bedürfnisse nach finanzieller Unabhängigkeit und Sicherheit befriedigen.

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6 z.B. spielte der Jazz Posaunist J.J. Johnson mit einem sehr gedämpften und wenig obertonreichen Sound, Albert Mangelsdorf entwickelte die Multiphonics (mehrstimmiges Spielen auf einer Posaune) für sich, Nils Landgren hat einen leicht rauhen und kernig-funkigen Ton und Nils Wogram spielt extrem sauber, weich und vor allem auch sehr leise. Der Trompter Nils Petter Molvaer benutzt seinerseits elektronische Effekte (insb. Loop-Station, Feedbacks, Delay und Bit-Reduction) um seinem Sound Einzigartigkeit zu verleihen und Miles Davis gewann das Spiel mit einem Dämpfer in der Trompete für sich.

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3.3.4 Beobachtungslernen (Mazur 2006 S. 405 ff) (4)Die Fähigkeit, aus Beobachtung zu lernen ein Handlung auszuführen, definierte Thorndike (1898) als Imitation. Dabei muss die Leistung vollbracht werden, von einem visuellen Input zur Aktivierung der zur Imitation notwendigen Muskeln zu gelangen (Mazur 2006 S. 407). Dies wird auch als Korrespondenzproblem bezeichnet und ist auch die maßgebliche Schwierigkeit für Instrumentalisten, wenn sie durch beobachten lernen wollen. Die Bewegungsabläufe eines Instrumentalisten, um ein bestimmtes Klangergebnis zu erzielen (z.B. Überblasen, Multiphonics, bestimmte Griffe für Vibrato, etc.) sind meist sehr filigran und nur schwer ersichtlich. Oft kann man fast keine Rückschlüsse von dem optischen Eindruck auf die Motorik ziehen, und es bedarf einer Erklärung von Seiten des Beobachteten. In einer Unterrichtssituation, bei der ein Schüler seinen Lehrer imitiert, ist dies oft keine allzu große Hürde. Und erfolgreiches Imitieren und somit das Aneignen bestimmter Grundlagen, ist äußert hilfreich für die individuelle Weiterentwicklung auf dem Instrument. Problematisch wird es, wenn der Lernende beispielsweise anhand eines Live-Videos oder während eines Konzertes versucht, durch bloßes Beobachten Lerngewinne für sich zu erzielen, da hier meist keine Erklärung von dem Beobachteten eingeholt werden kann. Trotzdem ist das Lernen durch Beobachtung gerade in der Musik von großer Bedeutung. Besonders im Jazz findet dieser Prozess auch während des Spielens statt. In so genannten „Four-Four Solo-Chorussen“7 ist es wichtig, genau zu erkennen wie der jeweilige andere Musiker soliert, um selbst entweder stilistisch angepasst oder möglichst konträr zu spielen. Gerade bei Posaunisten gibt es die Möglichkeit den selben Ton auf verschiedenen Zugpositionen zu spielen. Dabei gibt es (bedingt durch die Obertonreihe, der das Instrument zugrunde liegt) leichte Differenzen in der Tonhöhe, die man kompensieren muss8. Spielen zwei Posaunisten den gleichen Ton, müssen sie daher sehr schnell erkennen, wer entsprechende Töne wie spielt und ausgleicht, damit man identisch intonieren kann.Im Bereich des Beobachtungslernen, wird von rein visuellem Input gesprochen. Für das Lernen durch Beobachten in musikalischem Kontext muss daher erwähnt werden, dass eigentlich immer auch auditiver Input den visuellen simultan unterstützt. Dies kann für den eigentlichen Lernvorgang eine große Hilfe sein, und ist für die Musik als primär auditives Ereignis auch nur schwer anders vorstellbar. Allerdings gibt es in der Musik auch den Fall, dass einem Lernenden nur die auditive Wahrnehmung zur Verfügung steht, mittels dieser er quasi „musikalisch Beobachtet“. Gerade im Jazz ist es üblich, Soli, Melodien oder ganze Stücke im Zuge von Stilkopie und Stilkunde zu transkribieren. Meistens stehen für eine Transkription nur Aufnahmen auf Tonträger zur Verfügung, wobei gerade bei älteren Aufnahmen auch noch die Differenz vom Originalsound des Spielers und dem von der Aufzeichnung wiedergegebene Ton erheblich ist. Dies entspräche einer getrübten Wahrnehmung des Auges, etwa von Unschärfe durch große oder zu geringe Distanz zum beobachteten Objekt.

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7 Die Solisten spielen abwechselnd jeweils 4 oder 8 Takte, und nicht ein einziges ausgedehntes Solo.

8 Das c‘ in der Naturtonreihe auf Zugposition 1 ist beispielsweise einige Cent tiefer als der Ton c‘ in der temperierten Stimmung. Daher kann der Ton nach oben ausgeglichen werden, wenn dies (im Orchester oder Satz) nötig ist. Da dies technisch auf Zugposition 1 nicht geht, muss der Ton c‘ auf einer hohen 3. Position gespielt werden.

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4 Schlussbemerkung

Das Spielen eines Instruments ist eine Tätigkeit, bei der sich mit der Zeit in jedem Fall Übungseffekte einstellen. Jeder Mensch, der ein Instrument zu spielen beginnt wird daher Fortschritte machen. Die Frage ist nur, wie groß diese sind. Entscheidend ist dabei immer zunächst das Einstiegsalter und die damit verbundenen Chance auf eine größtmögliche Zahl von Übungsstunden zu kommen, falls man Expertise am Instrument (im klassischen Sinne) anstrebt. Diese Art des Lernens ist jedoch stark domänenabhängig. Kaum ein Rockmusiker kann einen „guten Rocksound“ durch extremes, gezieltes Üben erreichen. Er würde dann zu „clean“ spielen und als emotionsarm und unauthentisch empfunden werden. Ferner hat sich herausgestellt, dass neben der Dauer, auch die Art des Lernens entscheidend für den Erfolg ist. In der Musik ist das Konzept des deliberate practice ein verlässlicher Faktor, denn es ist in der Tat eine empirisch gut nachweisbarer Parameter, will man die erreichte Expertise eines Instrumentalisten begründen.Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass neben dem konzentrierten und gezielten Üben noch eine Vielzahl anderer Lernfaktoren eine wichtige Rolle spielen. So finden auch Erfahrungswerte wie Konzertroutine, Jamsessions, privates Musizieren in Ensembles, Beschäftigung mit Musik im Freundeskreise, Konzertbesuche, Musikhören, Tanzen und Lesen über Musik nur selten Beachtung in Ansätzen, die Instrumentales Lernen beschreiben. Oft wird biografischen Informationen kein großer Stellenwert beigemessen. Aus ihnen könnte aber hervorgehen, wie intensiv sich ein Musiker neben seinem Instrumentalen Üben auch anderweitig mit Musik beschäftigt hat. Gerade im Feld der so genannten populären Musik wird diese Betrachtungsweise bei dem Blick auf Lernprozesse besonders wichtig: Viele Pop-Musiker haben im klassischen Sinne zwar keine überragende instrumentale Technik oder klangliche Brillanz, arbeiten aber professionell am Sounddesign ihrer Produktionen. Ferner weisen sie oft eine konsequente Klanästhetik im Songwriting, Kreativität beim Texten und große Sicherheit im Timing auf. Gerade letzteres kann bei Bands die gut eingespielt sind alleine durch die viele gemeinsame Zeit im Proberaum zu erklärt werden. Hier reicht anscheinend also die bloße Menge an Zeit des gemeinsamen Spielens ohne gezielt an einzelnen Schwächen zu arbeiten aus, um ein gewisses Maß an Expertise auf einem stark eingegrenzten Gebiet zu erreichen. Es wäre interessant zu hinterfragen, inwieweit Prozesse beim Spielen in der Band tatsächlich dann auch DP-Charakter aufweisen.

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5 Literaturverzeichnis

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