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2021. 128 S. ISBN 978-3-406-76523-0 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/31797328 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Diese Leseprobe ist urheberrechtlich geschützt. Sie können gerne darauf verlinken. Thomas Kabisch Chopins Klaviermusik Ein musikalischer Werkführer

Thomas Kabisch Chopins Klaviermusik Ein musikalischer

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Page 1: Thomas Kabisch Chopins Klaviermusik Ein musikalischer

2021. 128 S.

ISBN 978-3-406-76523-0

Weitere Informationen finden Sie hier:

https://www.chbeck.de/31797328

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München Diese Leseprobe ist urheberrechtlich geschützt.

Sie können gerne darauf verlinken.

Thomas Kabisch Chopins Klaviermusik Ein musikalischer Werkführer

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Chopins Klaviermusik ist fester Bestandteil des Repertoires vonPianistinnen und Pianisten. Sie prägt die Hörerfahrung vonKonzertbesuchern. Chopin hat Meisterwerke geschrieben, diekompositionstechnisch perfekt und zugleich hochexpressivsind, Stücke, in denen Charme und Struktur sich verbinden.Viele seiner Kompositionen, von der «Revolutions-Etüde» biszum «Regentropfen-Prélude», vom «Minutenwalzer» bis zuden Balladen und Klavierkonzerten, haben enorme Popularitäterlangt. Zugleich aber ist durch Chopin unser Verständnis vonden Möglichkeiten der Musik überhaupt verändert worden.Chopin hat die Grenze zwischen Improvisation und Komposi-tion und das Verhältnis von Substanz und Ornamentik neu be-stimmt. Er hat – im wörtlichen Sinn – Salonmusik geschrieben,die aber mühelos die engen Grenzen ihrer Entstehungsbedin-gungen übersteigt. Thomas Kabisch versucht, dem Geheimnisder Musikalischen Poetik des Komponisten auf die Spur zukommen, indem er insistierende Versenkung in das einzelneWerk und kompositorische Details mit ideengeschichtlicher undkompositionsgeschichtlicher Reflexion verbindet. Vor dem Hin-tergrund einer Systematik der Gattungen der Chopin’schen Kla-viermusik werden Stücke, die uns – vielleicht allzu – vertrautsind, in Distanz gerückt und sperrigere Werke dem Hören er-schlossen.

Thomas Kabisch ist Professor für Musikwissenschaft (i.R.) ander Musikhochschule Trossingen. Er arbeitete zunächst überFranz Liszt, bevor er die französische Musik des 19. und 20. Jahr-hunderts zu seinem bevorzugten Forschungsgebiet machte. Auchin seinen Veröffentlichungen zu ästhetischen Fragen spielenfranzösische Autoren eine prominente Rolle.

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Thomas Kabisch

CHOPINS KLAVIERMUSIK

Ein musikalischer Werkführer

C.H.Beck

Page 4: Thomas Kabisch Chopins Klaviermusik Ein musikalischer

Originalausgabe© Verlag C.H.Beck oHG, München 2021

www.chbeck.deSatz: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Druck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenReihengestaltung Umschlag: Uwe Göbel (Original 1995, mit Logo),

Marion Blomeyer (Überarbeitung 2018)Umschlagabbildung: Frédéric Chopin (verfremdet), Wikipedia

Printed in Germanyisbn 978 3 406 76523 0

klimaneutral produziertwww.chbeck.de/nachhaltig

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Inhalt

I Grundlagen 7

1 Ein Pole in Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Musik im Salon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Vom Pianisten-Komponisten zum Klassiker . . . . . 134 Einzelstücke und Werkreihen . . . . . . . . . . . . 16

II Konvention und Nuance: Musik im Salon 18

1 Chant national und Universalität: Mazurken . . . . 182 Instrumentale Überbietung vokaler Modelle:

Nocturnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Affekt-Bearbeitung und theatrale Distanz: Polonaisen 394 Arbeit an Vorerfahrungen: Walzer . . . . . . . . . . 49

III Große Form: Transformation des klassischen Erbes 54

1 Große Erzählungen: Balladen . . . . . . . . . . . . 542 Große Bilder: Scherzi . . . . . . . . . . . . . . . . 643 Instrumentale Rollenspiele: Konzerte . . . . . . . . 714 Manieristische Dekonstruktion klassischer Modelle:

Sonaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

IV Figuratives Komponieren und Symptome der Moderne 86

1 Gattungen figurativen Komponierens: VariationenImpromptus, Berceuse, Barcarolle . . . . . . . . . . 86

2 Musik aus dem Geist der Mechanik: Etüden . . . . . 973 Formen ohne Form: Préludes . . . . . . . . . . . . 1074 Variantenprozesse: Fantasien . . . . . . . . . . . . 117

Anhang

Chronologisches Verzeichnis der Klavierwerke . . . . . 124Notenausgaben, Quelleneditionen undSekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

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I Grundlagen

1 Ein Pole in Paris

Die ersten zwanzig Jahre seines Lebens war Fryderyk Chopin(1810–1849) ein polnischer Komponist. Er wuchs in Warschauauf, wurde am wenige Jahre zuvor gegründeten Konservatoriumausgebildet, frequentierte bereits als junger Mann die Salonsder Aristokratie, kannte durch Aufenthalte auf dem Landsitzder Eltern aber auch das polnische Landleben, einschließlichder autochthonen Tanz- und Musikpraxis. Seine Kompositio-nen wurzeln im tonangebenden Brillanten Stil, der in ganz Eu-ropa verbreitet war. Die beiden Klavierkonzerte, vollgültigeWerke, mit denen er sich Zuhörern in Warschau, Wien undspäter in Paris vorstellte, zeigen, wie Chopin aus den satztechni-schen Konventionen des Brillanten Stils die technischen Grund-lagen eines Komponierens gewinnt, das auf figurativer Ver-wandlung beruht. Figuratives Komponieren wird sich in denfolgenden Jahren als überaus entwicklungsfähig erweisen undals anschlussfähig für die Integration anderer Techniken, etwakontrapunktischer Verfahren.

Mit der Ankunft in Paris im Oktober 1831 wurde FrédéricChopin ein Pariser Komponist, der polnische Musik schreibt.Die Musik selbst, nicht nur die empirische Person des Kompo-nisten, gilt als polnisch, wird als wesentlich polnisch wahrge-nommen und verstanden. In den Salons der «Hauptstadt des19. Jahrhunderts» treffen seine Kompositionen auf einen ideen-geschichtlichen Rahmen, in dem nationale Zuordnung Grund-lage ist für universale Geltung. Gerade weil seine Musik dennationalen Geist realisiert, kann sie Anspruch erheben, dieMenschheit und das Menschheitsprojekt der Musik voranzu-bringen. Gerade weil sie als durch und durch polnisch gilt, wirdseine Musik, scheinbar paradox, von Nichtpolen verstandenund begeistert begrüßt.

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I Grundlagen8

Das Gemeinsame, Verbindende, Allgemeine der Menschheitrealisiert sich nach zeitgenössischer Überzeugung, deren Ur-sprünge auf Herder und andere zurückverweisen, durch cha-rakteristische Einzelbeiträge der Nationen. Zwar entspricht diesoziale Wirklichkeit dem Anspruch auf Allgemeinheit, den na-tionale Bewegungen nach dem Vorbild der Französischen Re-volution und ihrer gesamteuropäischen Resonanz erheben, nurselten. Auch und gerade die nationale Bewegung in Polen wareine Angelegenheit gebildeter Mittelschichten und des Land-adels. Doch an der Wirksamkeit des ideengeschichtlichen Me-chanismus, in den Chopins Musik eintritt, ändert das nichts.Insofern nach der herrschenden Vorstellung die «Diversität»der nationalen Bewegungen die Menschheit «eint», wird Musikdurch die Charakteristik des Polnischen – wie immer es sichmaterialisiert – erweitert und befruchtet.

Das musikalische Hören und Komponieren profitiert von derIdee des National-Universalen direkt und an einem neuralgi-schen Punkt seiner nach-klassischen Entwicklung. Die Kompo-nisten der Generation 1810 – Mendelssohn, Schumann, Liszt,Chopin – strapazieren das «Charakteristische» in einer Weise,die nach dem klassischen Maßstab der diversity in unity die Do-minanz des Schönen und damit die Einheit der Form und denKunstcharakter des Werks gefährden. Die aus dem politischenDenken in die musikalische Wahrnehmung hinein wirkendePrämisse, dass nationale Besonderheit und Universalität derMenschheit konvergieren, stützt ein musikalisches Hören, dasdie gesteigerte Charakteristik kompositorischer Elemente nichtals Widerspruch nimmt zu den klassischen Grundlagen des Ver-stehens und der musikalischen Rationalität. «Romantische»Charakteristik und «klassisch» integriertes Komponieren wer-den über den Bezug auf ihre politische Funktion versöhnt. Nichtdie Ästhetik dient der Politik oder wird für politische Zwecke inDienst genommen, sondern eine ästhetische Problematik wirddurch Rekurs auf ein Allgemeines der Politik geheilt.

Die Verbindung musikalischer Wahrnehmung mit natio-nal-universalen Ideen aus dem politischen Raum kann auf dieIdee von Partikularität und Universalität, von Charakteristik

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Musik im Salon 9

und Schönem, kann auf die philosophische Theorie epischerDichtung zurückgreifen, deren Anfänge bei Herder und Hegelentwickelt wurden. In der ideengeschichtlichen Situation imGefolge der Pariser Julirevolution von 1830 wurde sie zuge-spitzt. Sainte-Beuve schreibt:

Die Mission, das Kunstwerk von heute, ist wirklich das mensch-liche Epos; es besteht darin, das Bewusstsein der fortschreiten-den Menschheit im Drama und in der Ode, im Roman, in derElegie, in tausend Formen zum Ausdruck zu bringen (…), esunablässig in tausend Farben zu spiegeln und auszustrahlen.(Varga-Behrer 2010, 30)

Hegel nennt als ein wesentliches Kriterium für Möglichkeit undGelingen eines nationalen Epos, «dass sich in dem speziellenVolke und seiner Heldenschaft und Tat zugleich das Allgemein-menschliche eindringlich ausprägt» (Hegel, Ästhetik III, 347).Herder fordert, «Anschauung und gleichsam handelnde Sub-stanzialität» seien gleichermaßen zu realisieren. Dann könntenpittoreske Folklore und Wahrheitsgehalt in einem Kunstwerkkoexistieren (Varga-Behrer 2010, 35).

Vor allem Chopins Werkreihe der Mazurken wird, wie An-gelika Varga-Behrer gezeigt hat, von den Zeitgenossen in die-sem Koordinatensystem aufgenommen. So fand die Idee einerEpopöe Eingang in die Musikauffassung des 19. Jahrhunderts.Franz Liszt hat sie bei Chopin beschrieben und in eigenen Ar-beiten in den 1850er Jahren, den Magyar Dalok resp. in derReihe der Ungarischen Rhapsodien auf seine Weise entwickelt.

2 Musik im Salon

Chopins Musik hat einen primären sozialen Ort. In den Salonsder Aristokratie und Großbourgeoisie in Warschau und in Parisfindet er Menschen, die seine Musik hören wollen. Die Struktu-ren der Pariser Salons bilden seit 1831 das Rückgrat seiner Pu-blikationspolitik wie für seinen Aufstieg zum höchstbezahltenKlavierlehrer Europas. Verlagszeitschriften sorgen dafür, dassEreignisse im Salon auch unter denen bekannt werden, die kei-

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nen Zugang haben. Exklusivität steht öffentlicher Wirkungnicht im Wege. Sie befördert sogar das Renommée des Kompo-nisten, der selten nur im Großen Konzert zu hören ist.

Ein Salon ist als soziale Institution bestimmt durch den «Zu-sammenhang von konversationeller Geselligkeit, Gastfreund-schaft, Liberalität, Meinungsbildung und sozialer Affektentfal-tung» (Schmölders 1979, 66). Das Gespräch ist das Medium, indem sich die sozialen Beziehungen und die Gegenstände kon-stituieren. Weder Sache noch Person dürfen sich vordrängen,wenn im Gespräch Sozialität emergieren soll. Es gilt, wie es beiAdalbert Stifter im Nachsommer heißt, zu sprechen, «ohne vonden Gegenständen beherrscht zu werden, und ohne die Gegen-stände ausschließlich beherrschen zu wollen».

In der Gesprächskultur des Salons kommt es mehr auf dasWie als auf das Was an. Es gilt, «de détourner les choses: dieDinge zu wenden; das heißt, von schwierigen Sachen ein-fach, (…) und von einfachen gekonnt zu reden» (Schmölders1979, 34). Unter dem «Zwang zur Zwanglosigkeit» setzen sichsämtliche Gesprächsteilnehmer den Unvorhersehbarkeiten desGesprächsverlaufs, der Zeit aus. Alle haben teil am gemeinsa-men Projekt des Sich-Verständigens, des Sich-Austauschens.Darin erweist Salonkonversation sich als «Phänomen einer ge-selligen Affektivität sui generis» (Schmölders 1979, 32 und 65).

Die Mechanismen des Gesprächs im Salon unterliegen demWechselspiel von Konvention und Nuance. Die Affirmation derKonvention bildet die Voraussetzung, damit das «détourner leschoses» funktioniert und das Gespräch nuancierend über seinenGegenstand hinausgelangen und also eine spezifische Form vonGeselligkeit entstehen kann, die sich dem Zugriff der «Indivi-dual- undMassenpsychologie» gleichermaßen entzieht (Schmöl-ders 1979, 65). Auch musikalische Beiträge im Salon sind Teilder geselligen Gesamtsituation und deshalb der Erwartung kon-frontiert, das geselligkeitsfundierende Verhältnis von Konven-tion und Nuance aufzunehmen. Dieses Verhältnis bestimmt denäußeren Rahmen, in demMusik im Salon praktiziert und aufge-nommen wird, und es reicht in Darbietungsweise und die Struk-tur des Dargebotenen selbst hinein.

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Musik im Salon 11

Zuhörer durch abstrakt Neues schockieren und auf dieseWeise Genialität demonstrieren zu wollen, verbietet sich für denMusiker im Salon. Doch der Abneigung gegen grelle Provoka-tion und Originalitätssucht korrespondiert Aufgeschlossenheitgegenüber Ungewohntem. (Die europäische Erstaufführung derSonatas and Interludes von John Cage fand im Pariser Salon derMme Tézenas statt.) Unter den Bedingungen einer «konversatio-nellen Geselligkeit» wird Musik anders gehört, gemacht unddiskutiert als in der anonymen Welt der Konzertsäle.

Weil es einen realen Austausch zwischen den Akteuren desmusikalischen Prozesses gibt, wird der Komponist entlastet vondem Zwang, alle Probleme der musikalischen Kommunikationim Innenraum der Vorstellung zu lösen. Er kann ein gelassene-res und zugleich kritisches Verhältnis zur klassischen Form ent-wickeln. Die habitué(e)s der Salons haben Gelegenheit, mit ei-ner besonderen Art des Instrumentalspiels und mit neuartigenStücken durch wiederholte Begegnung und wiederholtes Hörenvertraut zu werden. Wenn der kommunikative Aspekt der Mu-sik sozial ausagiert wird, verliert Form als «Anwalt des Hörersim Komponisten» (Michael Zimmermann) ihren bedrückendenAnspruch als eine Totalität, in der jede Einzelheit «aufgehoben»ist.

Chopin vermied in seinem Spiel dynamische Exzesse. Er gabden feineren Instrumenten von Pleyel den Vorzug gegenüberErard, dessen Klaviere kräftiger und lauter klingen. Seine Ab-neigung gegen Drastik kommt den äußeren und inneren Bedin-gungen der Salonsituation entgegen oder entspringt gar dieserSituation. Chopin konnte auf Massivität verzichten, weil im Sa-lon feine Effekte eine Chance haben, wahrgenommen zu wer-den. Statt einen großen Saal klanglich füllen zu müssen und eineAnsammlung von Leuten zu einem Auditorium zu machen undzum Zuhören zu bewegen, spielt der Pianist im Salon für Zu-hörer, die in nächster Nähe sitzen oder stehen. Sie sind unter-einander wie mit dem Künstler verbunden, bevor der erste Tonerklingt. Propaganda und Reklame erübrigen sich.

Zur zivilisatorischen Leistung wird Chopins Diskretion frei-lich erst dadurch, dass er innerhalb einer also reduzierten dyna-

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mischen Bandbreite die gesamte Skala dynamischer und arti-kulatorischer Bestimmungen des musikalischen Tons realisiert.Indem die Prämisse halblaut sich in Chopins Spiel und Musikmit einem besonderen Reichtum von Abstufungen verbindetund das Spektrum interner Unterscheidungen innerhalb einesreduzierten Ambitus von Möglichkeiten gar gesteigert wird,wird die Nuance zum Kriterium des Musikalischen. Der Ton,den Chopins Musik einsetzt, um vernehmbar zu werden, ist we-sentlich infinitesimal.

Reduktion und Nuancierung sind nicht Mittel der Dämp-fung, sondern der Schärfung. Chopins Salonmusik ist nichtverschwommen und undeutlich, sondern besonders präzis. Sieverlangt von Spielern und Zuhörern eine Feineinstellung derWahrnehmung. Der geformte Einzelton zeigt sich, wenn buntemassenwirksame Dramaturgie ausgeschlossen ist, als Kern derMusik. Musik ist Bestimmung des Einzeltons, und der be-stimmte Einzelton ist Musik.

Wer für die «gesellige Affektivität» des Salons komponiert,bewegt sich als Musiker nie in einem aseptischen Raum reinerInstrumentalmusik, sondern agiert stets und ständig in einerlebendigen Versammlung der Künste, die sämtlich auf unter-schiedliche Weise auch Bezug zur Lebenswelt haben. Literatur,Theater, Oper, Tanz prägen den Erfahrungshorizont der Zuhö-rer und greifen in die Art und Weise musikalischer Wahr-nehmung ein. Durch die Oper finden Performanz und Rollen-prinzip Eingang in die Vorstellungswelt. Durch Dichtung undRoman sind Sprache und narrative Strategien präsent. DassKlängen, bevor sie komponiert werden, Bedeutungen anhaften,dass sie in funktionalen Bindungen stehen und semantisch be-setzt sind, und dass all diese Vorprägungen durch den instru-mentalen Prozess transformiert werden, versteht sich für alleBeteiligten im Salon von selbst. Wo die Einheit musikalischerund literarischer Kultur gelebt wird, braucht ein Komponist dasKonzept der Programmmusik nicht zu erfinden.

Liszt hat Chopin stets als Mitstreiter für dieselbe Sache be-trachtet und unterstützt. Sein Buch über die Kunst des Freundsund Kollegen war bahnbrechend in der Chopin-Rezeption und

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ist lesenswert bis heute. Dennoch gibt es, was die soziale Praxisund das Projekt der Musik betrifft, kaum einen schärferenGegensatz zu Chopin, dem Pianisten-Komponisten der Salons,als Franz Liszt, der zwar auch in Salons reüssierte, jedoch alsMatador öffentlicher Auftritte vor großem Publikum sein Profilgewann und seine Idee der Musik ausschärfte.

Liszt träumt von einer sich sozial verstehenden, eingreifen-den Kunst im Sinne des Saint-Simonismus der 1830er Jahre undverfolgt dieses Projekt sein Leben lang. Er schreibt, ziemlichrücksichtslos, was das Gelingen oder Misslingen des Einzel-werks betrifft, «Zukunftsmusik». Chopin dagegen kultiviertmit seiner Musik im Salon eine bestehende Form gesellschaftli-chen Verkehrs, in der Musik eine ganze Palette von Funktionenerfüllt. Dass seine Option keine rückwärtsgewandte, keine bloßnostalgische war, nicht bloß Ausdruck der Sehnsucht eines pol-nischen Emigranten nach der guten alten Zeit; dass ChopinsModell Potential besaß über die Stücke hinaus, die er selbst un-ter den Bedingungen der ersten Jahrhunderthälfte schuf, ist anseinen Nachwirkungen zu erkennen, an den vielfältigen Reso-nanzen, die er vor allem bei französischen Komponisten derJahrhundertwende – an erster Stelle ist Gabriel Fauré zu nen-nen – hervorgerufen hat.

3 Vom Pianisten-Komponisten zum Klassiker

Schumann oder Liszt beziehen sich, wenn sie Chopins Werkekommentieren, regelmäßig auf Art und Weise der Wiedergabedurch den Komponisten selbst. Nicht nur sein legendäres temporubato findet Erwähnung, auch seine fein nuancierte Behand-lung des Klavierklangs, etwa in den Etüden op. 25, Nr. 1 und 2,kommt zur Sprache. Stets geht es dabei um den Zusammenhangvon Spielweise und kompositorischer Faktur. Chopins Spiel-weise interessiert, weil durch sie erst die Kompositionen sichdem Verständnis öffnen.

Wenn aber die performative Bindung an situative und materi-ale Bedingungen für Chopins Musik so groß und so wesentlichist, dann hat die Kategorie des autonomen Werks, das Realisa-

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tionen unter verschiedenen Umständen erlaubt und verlangt,offenbar nur eingeschränkt Gültigkeit. Chopin erscheint als dergeniale singer-songwriter, dessen musikalische Kunst mit sei-nem Verstummen als Ausführender und mit dem Untergang derWelt, in der er seinen Platz hatte, vergangen ist. Auch die Rolleder Partitur ist reduziert, wenn Komposition und Performanzauf besonders enge Weise verschlungen sind und das Verständ-nis der Werke ohne Kenntnis der auktorialen Aufführungspra-xis verstellt ist.

Das Bild eines «Pianisten-Komponisten», dessen Kompositi-onen in Zusammenhang mit seiner improvisatorischen Tätigkeitin Salons entstehen, aber nur in eingeschränktem Maß Text-Status erlangen, ändert sich nach Chopins Tod grundlegend. Ander Wende zum 20. Jahrhundert wird aus dem genialen Instru-mentalmusiker Chopin ein classicus auctor. Diese Transfigura-tion ist Resultat einer verlegerischen Unternehmung und einerwissenschaftsgeschichtlichen Wende. Chopins Promotion zumKlassiker verdankt sich erstens dem Aufstieg der Idee des «Ur-texts» und zweitens der Entstehung der «Institution Analyse».

In der Urtext-Bewegung wird die Textgestalt der Partitur zumwesentlichen Teil der Identität des Musikwerks erhoben. Durchdie Akzentuierung des Texts erfährt zugleich die Autorität desKomponisten eine Aufwertung gegenüber der Ausführung.Chopin gerät in das Gravitationsfeld der Urtext-Bewegung, alskurz vor der Jahrhundertwende seine Etüden im Rahmen einesProjekts des Verlags Breitkopf & Härtel zusammen mit Klavier-sonaten von Mozart und Beethoven sowie Werken von CarlPhilipp Emanuel Bach erscheinen. Die exklusiv besetzte Reiheträgt den Titel «Urtext classischer Musikwerke». Ihre beson-dere Autorität und Strahlkraft beruht auch auf der Tatsache,dass sie herausgegeben wird «auf Veranlassung und unter Ver-antwortung der Akademie der Künste Berlin». Ein «Allgemei-ner Vorbericht» informiert über das Ziel der Edition, der «Ge-fahr einer Quellenversumpfung vorzubeugen», die durch dieVorherrschaft der «sogenannte(n) ‹bezeichnete(n)› Ausgaben»gegeben sei. So wird der Pianist-Komponist Chopin zum Klassi-ker, und eine Gattung, in der pianistische Haptik, die Materia-

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lität des Instruments und die Logik virtuoser Überbietung vor-herrschen, erlangt Textstatus im emphatischen Sinn. Ab sofortkommt es bei Chopin – wie bei Beethoven und Mozart – aufjede Note, auf jeden Legatobogen, auf jede dynamische Be-zeichnung an. (Freilich werden unter der «identitären» Prä-misse der Urtext-Bewegung auch die zahlreichen Varianten inEditionen zum Problem, die zu Lebzeiten und oftmals unterMitwirkung Chopins entstanden sind.)

Die «Institution Analyse», die zu Beginn des 20. JahrhundertsChopins Werke für sich als Gegenstand entdeckt, unterscheidetsich von älteren Formen der Beschreibung und Zergliederungmusikalischer Kompositionen durch die isolierende Betrach-tung einzelner Satzdimensionen, vor allem aber durch die Ziel-setzung: das einzelne Werk in Beziehung zu setzen zur Logik to-naler Musik überhaupt.

Hugo Leichtentritt zeigt, gestützt auf Riemanns Theorie derfunktionalen Harmonik, dass Chopins «verfeinerte und durch-geistigte Technik der Komposition» (1921, IX) wesentlicheNeuerungen angestoßen hat, zugleich aber in organischer Ver-bindung mit den musiksprachlichen Grundlagen steht. ChopinsSchaffen gewinnt Bedeutung für das Verstehen von funktionalerHarmonik, von Musik überhaupt.

Bei Heinrich Schenker tritt die Verbindung des einzelnenWerks mit Wesen und Urgrund der Musik noch stärker hervor.Chopin ist für Schenker ein Genie (im Sinne des 18. Jahrhun-derts), seine Kompositionen sind «Meisterwerke», weil in ihnendie natura naturans der Musik wirke und die Musik gleichsam«sich» komponiere. Mittels Dekolorierung sucht Schenker zumQuellgrund des Musikalischen vorzudringen und die individu-elle Komposition auf eine Art Weltformel tonaler Musik zu-rückzuführen, die er «Ursatz» nennt. In Chopins figurativemKomponieren findet diese Idee einer generierenden Struktur, diedurch analytische Reduktion des Figurierten auf Gerüste freige-legt werden kann, ihr ideales Objekt.

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