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Irene Bopp-Kistler [Hg.] demenz . Fakten Geschichten Perspektiven

demenz - · PDF filevoraus. Konkret werden im Jahr 2050 pro Person über 80 Jahre noch ... ungs- und Pflegekosten für Demenzbetroffene sind für ein Land,

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Irene Bopp-Kistler [Hg.]

demenz.FaktenGeschichtenPerspektiven

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Die Generation, die in 30 Jahren alt sein wird, ist zahlreicher, hat we-

niger oft und weniger große Familie und ist individualistischer ge-

prägt als die heutigen Alten. Darauf muss sich die Politik vorbereiten

und jetzt schon dafür sorgen, dass präventive Angebote, Auffangnet-

ze und Unterstützung im Alltag für alle da sind, wenn sie gebraucht

werden. Heute werden Demenzkranke noch vielerorts zumindest

in früheren Stadien getragen von Angehörigen oder auch von

Freundinnen, Kollegen und Nachbarinnen. Um diese gewachsenen

Netze für die Zukunft zu erhalten oder zu ergänzen, braucht es mehr

öffentliche Einmischung in die Gesundheitsvorsorge.

Beispiel 1: Das Postauto als soziale Einrichtung

Im Frühjahr, wenn die braunen Wiesen unter dem letzten Schnee-

matsch zum Vorschein kommen, ist die Touristensaison im Berg-

tal vorbei. Dann trifft man im Postauto nur noch die wenigen und

meist betagten Einheimischen, die für ihre Einkäufe, Arztbesuche

und Ausflüge den öffentlichen Verkehr benutzen. Sie sitzen vorne

beim Chauffeur und tauschen die letzten Neuigkeiten aus: Wer ins

Spital oder ins Altersheim musste, wer weggezogen, wer gestor-

ben ist. Mit dem letzten Postauto taleinwärts fährt jeweils auch

Toni, der sich im Sternen im Nachbardorf mit Kollegen zum Jass

trifft. In letzter Zeit ist er allerdings kein verlässlicher Spielpartner

mehr, weil er vergisst, was Trumpf ist und welche Farbe sein Ge-

genüber verworfen hat. So schaut er meist zu und trinkt sein Bier,

zufrieden damit, unter Kollegen zu sein. Einer kümmert sich da-

rum, dass er rechtzeitig auf das letzte Postauto kommt, der Chauf-

feur und die anderen Fahrgäste achten darauf, dass er am richti-

Anna Sax

Karl geht auf Dienstreise

gen Ort aussteigt. Steht Toni einmal zur gewohnten Zeit nicht an

der Haltestelle, wartet man einige Minuten mit der Abfahrt, damit

sich rasch jemand im Sternen erkundigen kann.

Beispiel 2: Karl geht auf Dienstreise

Eines Abends, mitten in Zürich, kurz vor Mitternacht: Die 84-jähri-

ge Marie, eine ehemalige Ärztin, läuft verängstigt und barfuß vor

dem Haus auf und ab. »Karl ist nicht da«, jammerte sie, »er ist weg!

Wo kann er nur sein?« Eine jüngere Nachbarin, zurück vom Aus-

gang, begleitet sie in ihre Wohnung, um nachzuschauen. Karl ist

wirklich nicht zu Hause. Bald beruhigt sich Marie, denn ihr Mann

ist früher als Ingenieur oft unterwegs gewesen. Sie geht schlafen,

ist am nächsten Morgen guter Dinge und erklärt, Karl werde noch

am gleichen Tag von seiner Geschäftsreise zurück sein. Beunru-

higt ist hingegen die Nachbarin und fragt im Quartier herum: Ob

jemand wisse, wo Karl hingegangen sei? Ein Nachbar besitzt eine

Telefonnummer von Verwandten des Paares in Deutschland. Dort

ruft er an und erfährt, Karl sei die Decke auf den Kopf gefallen; er

habe es nicht mehr ausgehalten mit seiner demenzkranken Frau

und sei Hals über Kopf nach Deutschland geflohen. Nach drei

Tagen steht er wieder da. Er hat sich etwas erholt, doch allen ist

nun klar, dass er Hilfe benötigt – allen außer ihm, der sich partout

nicht helfen lassen will. Er wird selber krank, rappelt sich wieder

auf und bringt Marie schließlich doch in ein Pflegeheim, wo sie

sich von Anfang an zu Hause fühlt. Karl stirbt bald darauf.

Demenz als Bedrohung

Die Beispiele sind real, wenn auch etwas verändert. Ich könnte

weitere erzählen, etwa von den Frauenvereinsmitgliedern, die

ihre alte Kollegin auch dann noch im Pflegeheim besuchten, als

sie nur noch stumm dalag und auf nichts mehr reagierte. Von all

den Partnerinnen, Söhnen, Schwiegertöchtern, Geschwistern und

Enkelkindern, die ihre an Demenz [↗] erkrankten Angehörigen

teils über lange Jahre hinweg begleiteten und betreuten. Toni und

Marie lebten an unterschiedlichen Orten und in unterschiedli-

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chen Milieus. Doch beiden ist gemeinsam, dass sie in ein soziales

Netz eingebunden waren. Marie lebte lange genug, um schließlich

in ein Pflegeheim zu ziehen, denn bei den meisten Demenzbetrof-

fenen kommt früher oder später der Moment, wo Angehörige,

Freundinnen und Nachbarn überfordert sind. Dann sind sie im

Heim besser aufgehoben. Toni starb zu Hause bei seiner Frau. Sie

lebt nun allein in ihrem Bergdorf und lässt sich Lebensmittel per

Internet nach Hause liefern, weil ihr die Fahrten mit dem Postauto

zu beschwerlich geworden sind.

Selbst wenn es berührende, auch lustige Momente gibt: Die

Begegnungen mit Alzheimer und Demenz haben etwas Beklem-

mendes. Die meisten Menschen in der Schweiz und in anderen

wohlhabenden Ländern sind schon mit der beunruhigenden

Krankheit in Kontakt gekommen, kaum jemanden lässt sie kalt.

Und doch beschäftigen wir uns ungern mit dem Gedanken, dass

wir uns eines Tages auf so befremdliche, unheimliche, manchmal

bizarre Weise Stück für Stück aus dem Leben verabschieden könn-

ten. Manch eine fragt sich: Bin ich als Nächste dran? Oder mein

Partner? Eine gute Freundin? Und wer schaut dann zu uns?

Weniger Nachkommen

In Anbetracht der absehbaren demografischen Entwicklung gibt

es gute Gründe, sich über die künftige Betreuung und Pflege de-

menter Mitmenschen Gedanken zu machen. In 30 Jahren wird die

Generation der Babyboomer ins hohe Alter kommen; die Zahl der

Alzheimer- und Demenzkranken wird in die Hunderttausende ge-

hen, wenn nicht vorher ein pharmakologisches Wunder geschieht.

Gleichzeitig sind die heute 50- bis 60-Jährigen die Generation, die

am wenigsten Kinder geboren hat. Unabhängig davon, was die

Kinder, Nichten und Neffen dereinst davon halten werden, für

ihre Verwandten zu sorgen: Rein zahlenmäßig wird sich das Ver-

hältnis zwischen pflegebedürftigen Alten und ihrem Nachwuchs

drastisch zulasten der Jüngeren verschieben. Das Schweizerische

Gesundheitsobservatorium Obsan, davon ausgehend, dass Care-

Arbeit noch immer vorwiegend Frauensache ist, sagte eine deut-

liche Verschlechterung der Töchter- und Schwiegertöchterquote

voraus. Konkret werden im Jahr 2050 pro Person über 80 Jahre noch

1,4 Frauen im Alter zwischen 35 und 60 Jahren in der Schweiz le-

ben. Heute beträgt das Verhältnis etwa 1 zu 3,5. Selbst wenn sich der

mancherorts festgestellte Trend, dass auch die männlichen Nach-

kommen vermehrt bereit sind, Care-Arbeit zu leisten, bestätigen

sollte, muss man sich auf eine angespannte Situation einstellen.

Kosten und Finanzierung

Die Alzheimervereinigung ließ vor einigen Jahren berechnen,7 dass

die direkten und indirekten Kosten von Demenz 2009 bei 7 Mrd.

Franken lagen. Die direkten Kosten (4 Mrd.) sind größtenteils Pfle-

geheimkosten und zu einem kleineren Teil Ausgaben für Spitex [↗],

Spitalaufenthalte und weitere medizinische Leistungen; die in-

direkten Kosten (3 Mrd.) entsprechen dem Marktwert der Betreu-

ungs- und Pflegeleistungen, die die Angehörigen erbringen. Die

Leistungen der Angehörigen sind damit, in Geldeinheiten gemes-

sen, annähernd so groß wie die professionell erbrachten. Bleiben

wir aber vorerst bei den direkten Kosten: 4 Mrd. Franken Betreu-

ungs- und Pflegekosten für Demenzbetroffene sind für ein Land,

das insgesamt 70 Mrd. für Gesundheitsleistungen ausgibt, auf den

ersten Blick gut zu verkraften. Allerdings sollten wir nicht nur die

Kostenseite betrachten; wichtiger ist die Kehrseite der Medaille, die

Finanzierung: Es spielt durchaus eine Rolle, ob wir die Demenzkos-

ten aus Krankenkassenprämien, aus Steuergeldern oder aus der ei-

genen Tasche berappen. Je nachdem ist die Solidarität größer oder

kleiner, tragen die Wohlhabenden mehr oder weniger zur Finan-

zierung bei. Die Finanzierung von Pflegeheimen und Spitex, bei de-

nen der größte Brocken der direkten Demenzkosten anfällt, erfolgt

noch immer größtenteils durch die Pflegebedürftigen selbst, wobei

die Pflegeheim-Bewohnerinnen wenn nötig Ergänzungsleistungen

zur AHV in Anspruch nehmen können (vgl. Kasten). Letzteres kann

dazu führen, dass jemand ins Pflegeheim eintritt, obwohl ein Leben

zu Hause mit Spitex-Unterstützung noch möglich wäre.

Die unbezahlten Betreuungs- und Pflegeleistungen werden

zum überwiegenden Teil durch Partnerinnen und Partner, teil-

weise auch durch Töchter und Söhne erbracht, die selber bereits

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im Rentenalter sind. Die sogenannten Opportunitätskosten, ge-

meint ist damit der Verdienstausfall der pflegenden Angehörigen,

fallen in der oben erwähnten Studie deshalb kaum ins Gewicht.

Zeit wird natürlich trotzdem investiert, und die frisch pensio-

nierte Tochter würde vielleicht lieber etwas anderes machen, als

ihren demenzkranken Vater zu pflegen. Auf jeden Fall sollte man

die unbezahlten Leistungen kostenmäßig im Auge behalten, denn

die demografische Entwicklung zeigt zwei Tendenzen, die auf eine

künftige Verschiebung hin zu bezahlten Leistungen schließen las-

sen: Erstens verändert sich wie bereits erwähnt das Zahlenverhält-

nis zwischen den Generationen zulasten der Jüngeren, und zwei-

tens nimmt die Zahl der Alleinlebenden zu. So wird sich für einen

wachsenden Teil der zukünftigen Demenzkranken die Frage der

pflegenden Angehörigen nicht stellen, weil solche gar nicht vor-

handen sind. Bleiben als Möglichkeit bezahlte Pflegekräfte. Oder

wir müssen andere Alternativen finden, um die Betreuung und

Pflege der Demenzkranken sicherzustellen.

Exkurs: Chancengleichheit

Im Allgemeinen ist die Chancengleichheit beim Zugang zu den

Gesundheitsleistungen in der Schweiz kein Thema, denn es gibt

eine obligatorische Grundversicherung, die eine breite Palette an

Diagnosen, Behandlungen, Therapien und Pflegeleistungen ab-

deckt. Das Gesundheitswesen ist sehr gut darin, kranke Menschen

gesund zu pflegen. Nun ist es aber so, dass es immer mehr Kranke

gibt, die für den Rest ihres Lebens krank bleiben, so auch diejeni-

gen mit Demenz. Für die chronisch Kranken und für all diejenigen,

die mehrere Krankheiten gleichzeitig mit sich herumschleppen,

braucht es andere Strukturen als die gewohnte Aufteilung in am-

bulante, stationäre und Langzeitpflege. Es braucht vernetzte Ge-

sundheitsdienste, Zentren und Profis bzw. »Case-Manager«, die

darauf spezialisiert sind, die Patientinnen und Patienten durch

den Behandlungsprozess zu begleiten. Eine Studie im Auftrag des

Bundesamtes für Gesundheit8 zeigt verschiedene Risikofaktoren

auf bei der Herausforderung, sich im Versorgungssystem zurecht-

zufinden. Solche Risikofaktoren sind Alter, Migrationshintergrund,

Behinderungen oder »schwere psychische Erkrankungen am Le-

bensende«. Für die besonderen Bedürfnisse dieser Menschen sei

unser Gesundheitssystem schlecht eingerichtet, weil die vielen

verschiedenen Leistungserbringer wenig vernetzt arbeiteten, stel-

len die Studienautorinnen fest. Sozial benachteiligte Menschen

würden eher in ein Heim eingewiesen, weil sie die Spitexkosten

bei hohem Pflegebedarf nicht aus der eigenen Tasche bezahlen und

sich auch nicht juristisch zur Wehr setzen könnten. Wer demenz-

krank ist und keine Angehörigen hat, die sich im komplexen Ver-

sorgungssystem auskennen und sich für eine bedürfnisgerechte

Lösung einsetzen, landet also möglicherweise früher als notwen-

dig in einem Pflegeheim. Bei all den guten Ideen und Projekten, die

da und dort lanciert und durchgeführt werden, gilt es immer auch

darauf zu achten, wie der Zugang auch für weniger gut betuchte

und sozial schwächere Menschen sichergestellt werden kann.

Prävention zeigt Wirkung

Als erste Station auf dem Weg zu einem besseren Leben in den ei-

genen vier Wänden auch im Alter sei hier auf die Prävention hin-

gewiesen. Schon lange vermutete man es, und nun ist es dank einer

Langzeitstudie aus Finnland9 auch empirisch nachgewiesen: Se-

niorinnen und Senioren, die an einem vielseitigen geistigen und

körperlichen Trainingsprogramm teilnahmen und zudem rege

soziale Kontakte pflegten, konnten ihre kognitiven [↗] Fähigkeiten

gegenüber untrainierten und unmotivierten Altersgenossen schon

nach zwei Jahren deutlich verbessern. Die Studie wird nochmals

fünf Jahre weitergeführt, und es wurden bewusst Teilnehmende

ausgewählt, die unterdurchschnittlich gebildet sind. Überhaupt ist

Finnland, wo mangels Einwanderung und wegen seiner riesigen,

dünn besiedelten und von Entvölkerung bedrohten Landstriche ein

einschneidender demografischer Wandel bereits eingesetzt hat,

in Sachen präventiver Alterspolitik besonders kreativ.10 Einerseits

sind die Gemeinden seit 2013 per Gesetz verpflichtet, die Situation

der älteren Menschen auf ihrem Gebiet laufend zu überprüfen und

Angebote zur Verfügung zu stellen, die notwendig sind, um ihre Ge-

sundheit und ihr Wohlbefinden zu stärken. Andererseits arbeiten

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Altersorganisationen mit der Industrie zusammen, um technolo-

gische Lösungen etwa im Bereich der Kommunikationsmittel zu

finden, die selbständiges Leben im Alter erleichtern. Schön wäre

es, wenn die erwähnte Demenzstrategie von Bund und Kantonen

auch in der Schweiz einen kleinen Innovationsschub in Sachen Ge-

sundheitsförderung im Alter auslösen könnte. Die Chancen sind

jedoch gering, weil hierzulande eine nationale Gesundheitspolitik,

die sich Ziele setzt und die Kantone und Gemeinden auf diese Ziele

verpflichten kann, nicht existiert. Also braucht es eine Politik von

unten, ausgehend von verantwortungsbewussten Bürgerinnen und

Bürgern, die sich vernetzen und einander unterstützen. Aber wo

soll man beginnen? Und wie können wir erreichen, dass die »große

Politik« der Vernetzung wenigstens keine Steine in den Weg legt?

Anreize und Fehlanreize

Aus gesundheitsökonomischer Sicht gilt es die richtigen Anreize

zu setzen, damit die Bildung von Versorgungsnetzen gefördert und

unterstützt wird. Dabei geht es nicht um mehr Geld, aber um eine

Umleitung der Geldflüsse. Es braucht neue Finanzierungsschlüssel

und Anreize für Kooperationen zwischen Gesundheitsfachleuten

und Institutionen. Was Patienten, Pflegebedürftige und ihre Ange-

hörigen zur Verzweiflung treiben kann, ist die Tatsache, dass je nach

Betreuungsform sowohl andere Finanzierungsquellen wie auch an-

dere Tarife gelten. Es würde hier zu weit gehen, die Finanzierungsre-

gimes im Detail zu beschreiben, doch nehmen wir als Beispiel eine

alte, alleinstehende Frau, die sich nach einem Sturz einen Schenkel-

halsbruch zugezogen hat und ins Spital eingeliefert wird. Das Spi-

tal erhält als Abgeltung eine Fallpauschale und hat ein Interes-

se daran, die Patientin möglichst effizient und komplikationsfrei

durchs System zu schleusen. Das ist begrüßenswert und geht gut,

sofern das Spital mit Spitex, Pflegeheimen, Hausärzten und Sozi-

aldiensten der Gemeinden kooperiert und so eine passende An-

schlusslösung finden kann. Erst recht, wenn die Frau auch sonst

gebrechlich ist und vielleicht Anzeichen von Demenz zeigt. Doch

nicht alle Spitäler sind gleich gut vernetzt, denn die Vernetzung

wird durch das System eher behindert als gefördert. So kann es

geschehen, dass die Patientin kurzerhand vom Akutfall zum Lang-

zeitpflegefall befördert wird, obwohl sie noch im gleichen Spital-

bett liegt wie zuvor, weil keine Anschlusslösung vorhanden ist. Das

bedeutet, dass der Anteil, den die Krankenkasse übernimmt, klei-

ner wird und dafür die Patientin einen Teil der Pflegekosten, eine

Betreuungspauschale und die »Hotellerie«-Rechnung aus der eige-

nen Tasche bezahlen muss. Gleichzeitig werden Therapien auf ein

Minimum begrenzt. Kann die Frau aus dem Spital entlassen und zu

Hause durch die Spitex betreut werden, setzt wieder ein anderes Fi-

nanzierungsregime ein. Die Patientenbeteiligung in der ambulan-

ten Pflege ist je nach Wohnkanton unterschiedlich geregelt.

Fehlende Anlaufstellen

Es gibt Hausärztinnen, Pflegefachpersonen, Stadtärzte und Sozial-

arbeitende, die kompetent und dafür ausgebildet sind, Menschen

zu begleiten, die vom komplexen Gesundheitssystem überfordert

sind. Doch es gibt viel zu wenige von ihnen, und insbesondere gibt

es keine flächendeckende Versorgung mit Gesundheitsdiensten

oder Gesundheitszentren, die diese Aufgaben übernehmen kön-

nen. In allen Gemeinde und Stadtquartieren braucht es Anlauf-

stellen, an die sich Menschen wenden können, die medizinische

Hilfe oder Pflege benötigen. Das kann eine bestehende Hausarzt-

praxis, ein Spitex-Zentrum oder auch ein Spital sein; entscheidend

ist, dass kompetente Case-Manager Koordinationsaufgaben nicht

nur aus Goodwill leisten, sondern dafür auch bezahlt werden. Die

Zusatzkosten wären gering, der Nutzen deutlich größer. Die »Ma-

naged-Care«-Vorlage, die im Juni 2012 vom Volk abgelehnt wurde,

hätte die Finanzierung von Koordinationsleistungen erleichtert.

Weitere Vorschläge sind im Raum, so z. B. die durch gewerkschaftli-

che Kreise lancierte Idee einer persönlichen Gesundheitsstelle. Der

Bundesrat legt in seiner Strategie »Gesundheit 2020« seinerseits

großen Wert auf »transparente Strukturen sowie eine bessere und

klarer geregelte Steuerung des Systems«, was auch in der Demenz-

strategie von Bund und Kantonen wieder zum Ausdruck kommt.

Fazit: Alle wollen mehr Transparenz, Kooperation und Koordinati-

on. Doch wenn es konkret wird, belässt man doch lieber alles beim

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Alten … Funktioniert doch gar nicht so schlecht, oder? Und irgend-

wie findet sich immer wieder ein Geldtopf für ein hübsches, inno-

vatives Projekt, das dann ein paar Jahre lang funktioniert, bis die

Projektphase vorbei und der Topf wieder geschlossen ist.

Öffentliches Gesundheitswesen stärken

Womöglich gilt es ganz woanders anzusetzen: Die Politik muss

sich verabschieden vom shareholdergesteuerten »Gesundheits-

markt« und Raum schaffen für ein gestärktes öffentliches Gesund-

heitswesen. Bevor alle Spitäler in Aktiengesellschaften umgewan-

delt, verkauft und in Hightech-Kliniken und Luxusresidenzen

überführt sind, muss die öffentliche Hand wieder mehr Verant-

wortung übernehmen. Öffentliche Förderung braucht insbesonde-

re die Grundversorgung für eine älter werdende, von chronischen

Erkrankungen geplagte Bevölkerung. Die Politik muss klare Ziele

formulieren und die notwendigen Mittel zur Verfügung stellen,

um sie zu erreichen. Zum Beispiel, dass der Zugang zu Serviceleis-

tungen, die sich an den Bedürfnissen von alten Menschen orien-

tieren, für alle gleichermaßen sichergestellt ist. Genügend und gut

geschultes Gesundheitspersonal fällt nicht vom Himmel, sondern

die Leute müssen ausgebildet und adäquat entlohnt werden. Ser-

vice Public in der Gesundheitsversorgung beinhaltet auch Investi-

tionen in den Gemeinsinn. Er kann auch den Boden bereiten für

private Initiativen und soll insbesondere für bereits bestehende

Initiativen eine solide Basis schaffen, wie zum Beispiel Büros für

Nachbarschaftshilfe, Mahlzeitendienste, bedienungsfreundliche

Mobiltelefone, altersgerechte Kultur- und Freizeitangebote,11 Trans-

portdienste und regionale Versorgungsmodelle.12 Die Gesellschaft

wird noch lange Zeit und in zunehmendem Ausmaß mit Demenz

leben müssen. Demenz ist ein Preis, den wir für unsere hohe Le-

benserwartung bezahlen. Aber die Last sollen nicht allein die De-

menzkranken und ihre Angehörigen tragen müssen, indem sie

ausgegrenzt, allein gelassen und in finanzielle Nöte gezwungen

werden. Es braucht öffentlich unterstützte Nachbarschaftshilfe,

Frauenvereine und Postautoverbindungen in den Randgebieten.

Finanzierung der Langzeitpflege in der Schweiz

2011 wurde die Finanzierung von Pflegeleistungen bei Spitex und Pflegeheimen neu geregelt. Dabei wurden schweizweit folgende Regeln festgelegt:

– Die Krankenversicherung bezahlt einen nach Pflegebedarf abgestuften Fixbeitrag an die Pflegekosten.

– Die Pflegebedürftigen bezahlen höchstens 20% des höchsten Tarifs oder 21 Franken pro Tag aus der eigenen Tasche.

– Der Kanton regelt die Restfinanzierung.

Diese Regelungen lassen insbesondere für die Kantone sehr viel Spielraum offen. So überlässt etwa der Kanton Zürich die Restfinanzierung vollständig den Gemeinden. Zudem können sich die Kantone bis heute nicht einigen, wer zu- ständig ist, wenn jemand in ein Pflegeheim außerhalb des bisherigen Wohnkan-tons ziehen möchte.

Die Kosten für Betreuung und Hotellerie im Pflegeheim bzw. für hauswirt-schaftliche Leistungen der Spitex haben die Pflegebedürftigen selbst zu tragen. Wenn das Einkommen nicht reicht und das Vermögen eine bestimmte Grenze unterschreitet, können HeimbewohnerInnen Ergänzungsleistungen (EL) zur Al-ters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) beantragen. Die EL sind deshalb seit 2011 stark angestiegen. Sie übernehmen faktisch die Rolle einer Pflegeheim-Versicherung, was vielen bürgerlichen Politikerinnen und Politikern ein Dorn im Auge ist. Aus sozialpolitischer Sicht ist das jedoch die bessere Lösung als eine separate Pflegeversicherung, denn die EL werden aus Steuermitteln finanziert.

Der Demenzpatient braucht neue Strukturen im Akutspital. Ein Beispiel

Die universitäre Klinik für Akutgeriatrie (Stadtspital Waid, Zürich) besteht aus dem stationären Teil mit 72 Patientenbetten und dem ambulanten Bereich, der die Memory-Klinik, die Sturzsprechstunde und die geriatrische Sprechstunde beinhaltet. Im ambulanten Bereich werden pro Jahr ca. 400 neue Patienten abge-klärt, viele Patienten werden über Jahre in Zusammenarbeit mit den Hausärzten weiter betreut und behandelt. Die Nähe zwischen dem ambulanten und stationä- ren Bereich ermöglicht eine optimale Behandlungskette. Durch rechtzeitige am- bulante Abklärungen können oft Hospitalisationen verhindert werden, nach Spi-talaustritt ist bei Demenzkranken eine ambulante Nachbetreuung möglich. [IB]