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Depression als Zeitkrankheit
Thomas Fuchs
Zeit und Depression
”Was geschehen ist, kann man nicht ungeschehen
machen. Nicht nur die Dinge vergehen, sondern auch die
Möglichkeiten verstreichen ungenutzt. Wenn man etwas
nicht zur rechten Zeit tut, tut man es niemals mehr. ... Das
eigentliche Wesen der Zeit ist untilgbare Schuld.”
(Kuiper 1991)
Albrecht Dürer:Melancholie, 1514
Zeit und Manie
Manie und Depression als „Zeitkrankheiten“:
1. Krankheiten des Zeiterlebens: Desynchronisierungen
2. Zeit- und Kulturdiagnosen
Vorbemerkungen:
Eigenzeit und Weltzeit –
Synchronisierung und Desynchronisierung
Verhältnis von Eigenzeit und Weltzeit / sozialer Zeit
Gegenwart, Verweilen
Zeitdruck – Warten
Krankheit, Erschöpfung – Langeweile, Ungeduld
Trauer, Schuld – Getriebenheit
Depression – Manie
Desynchronisierung Desynchronisierung
Retardierung ← Synchronie → Akzeleration
I. Depression und Manie als Desynchronisierungen
a) Depression als Desynchronisierung
H. Tellenbach: Typus Melancholicus
ständige Synchronisierung mit anderen
Gefahr: Zurückbleiben hinter Selbstansprüchen („Remanenz“ )
Desynchronisierungen als Depressionsauslöser: Verluste,
Trennungen, Berufswechsel, Arbeitslosigkeit, Berentung u.a.
→ Depression statt Trauer
Depression als Desychronisierung
1. Physíologisch: Gestörte Biorhythmik
2. Psychosozial: sozialer Rückzug, Resonanzverlust,
Stockung der Lebensbewegung
Zeiterleben in der Depression
„Meine innere Uhr
scheint stillzustehen,
während die Uhren der
anderen weiterlaufen.
In allem, was ich tue,
komme ich nicht voran,
ich bin wie gelähmt. Ich
bleibe hinter meinen
Pflichten zurück. Ich
stehle Zeit.“
Salvador Dali, Die beständige Erinnerung
Zeiterleben in der Depression
„Ich habe den ganzen Tag ein Gefühl, das mit Angst durchsetzt
ist und sich auf die Zeit bezieht. Ich muss unaufhörlich denken,
dass die Zeit vergeht. Wenn ich jetzt mit Ihnen spreche, denke
ich bei jedem Wort: Vorbei, vorbei, vorbei. Dieser Zustand ist
unerträglich und erzeugt ein Gefühl von Gehetztheit.... Ebenso
wenn ich die Uhr ticken höre – immer wieder: vorbei, vorbei ...“
(von Gebsattel 1954)
Zeit und Depression
- Stocken der Lebensbewegung, Zeitdehnungserleben (Mundt et al. 1998)
- Verlust der offenen Zukunft, Übermacht der Vergangenheit
- Zeit als Anhäufung von Schuld
„Der tiefste Abgrund, in den ich stürze, ist der Gedanke, dass selbst Gott mir nicht helfen kann, denn er kann nichts ungesche-hen machen“ (Kuiper 1991).
- Depressiver Wahn als Ausdruck der vollständigen Desynchronisierung
Nihilistischer Wahn
Einzelheiten der Welt gleicht, in der man gelebt hat, und so lässt Gott einen sehen und fühlen, dass man nichts aus seinem Leben gemacht hat ....“
(Kuiper 1991)
"Jemand, der meiner Frau glich, ging neben mir, und meine Freunde besuchten mich ... Doch was wie das normale Leben aussah, das war es nicht. Ich befand mich auf der anderen Seite. Und nun wurde es mir klar: Ich war gestorben, aber Gott hatte dieses Geschehen mei-nem Bewusstsein entzogen ... Einehärtere Strafe kann man sich kaumvorstellen. Ohne zu wissen, dass man gestorben ist, befindet mansich in einer Hölle, die bis in alle
Edvard Munch: Die Einsamen (1899)
b) Manie als Desynchronisierung
- Beschleunigung, Sich-Vorwegsein
- Ideenflucht, Unstetigkeit, Flüchtigkeit
- Zeitraffungserleben
- Leben gegen natürliche Rhythmen
- Erschöpfung von biologischen und sozialen Ressourcen
II. Depression und Manie als Zeitdiagnosen
George Miller Beard (1837-1883)
Alfred Kubin:Der Mensch, 1902
Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944):Das futuristische Manifest (1909)
Tullio Crali (1910-2000): Volo agitato
Edvard Munch: Melancholie (1892)
Marcel Proust (1871-1922)
Tullio Crali: Sturzflug auf die Stadt (1939)
Depression und Manie in der Gegenwart
- Zunahme von Depressionen
- Alain Ehrenberg: „Das erschöpfte Selbst“ (1998)
- Richard Sennett: „Der flexible Charakter“ (1998)
- Paul Virilio (1977): „Dromokratie“
- Beschleunigung von Produktion, Konsumtion, Mobilität
- Verschwinden des Raumes
- Existenzielle Langeweile
Depression und Manie in der Gegenwart
- Manie als Depressionsabwehr
- „Wir werden mehr und mehr mit Psychopharmaka leben, die die Stimmung aufhellen, die Selbstbeherrschung erhöhen und die Schrecken der Existenz abmildern sollen“ (Ehrenberg 1998).
- „Bipolare Schere“ zwischen manischem und depressivem Pol der Gesellschaft
Resümee
„Anthropologische Proportion“ (L. Binswanger)
- Ausgleich polarer Prinzipien der Existenz (z.B. Bewegung – Ruhe, Beschleunigung – Verlangsamung, Verausgabung – Erholung, Innovation – Tradition, Wunsch –Verzicht, Autonomie – Bindung)
- Manie und Depression als Verlust der Proportion bzw.
Abkoppelung des Gegenpols
- Dialektischer Umschlag durch Verlust des retardierenden /
stimulierenden Gegenpols
Der Kampf gegen die Depression
Ausblick
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!