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Der Band bietet ein spektakuläres Stück aus Niklas ... · Luhmann zu der Zeit, als er Adorno in Frankfurt vertritt, eine Theorie der Politik formuliert, an deren Grundzügen er

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Der Band bietet ein spektakuläres Stück aus Niklas Luhmanns Nachlaß: eineumfassende Darstellung seiner politischen Soziologie. Er zeigt, wieLuhmann zu der Zeit, als er Adorno in Frankfurt vertritt, eine Theorie derPolitik formuliert, an deren Grundzügen er auch später festhalten wird. Zuden Themen zählen die Bedeutung des Publikums für Verwaltung und Politiksowie die politischen Systeme in den sozialistisch regierten Ländern. Erbietet somit thematisch Neues, ohne methodisch hinter dem Stand derspäteren Schriften zu bleiben. Die beste verfügbare Einführung in Luhmannspolitische Soziologie.

Niklas Luhmann (1927-1998) war Professor für Soziologie an derUniversität Bielefeld. Zuletzt erschienen: Liebe. Eine Übung (2008), Machtim System (2012) sowie Kontingenz und Recht. Rechtstheorie iminterdisziplinären Zusammenhang (2013).

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Niklas LuhmannPolitische Soziologie

Herausgegeben vonAndré Kieserling

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2010.© Suhrkamp Verlag Berlin 2010© Veronika Luhmann-Schröder 2010© André Kieserling 2010Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortragssowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oderandere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unterVerwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets derjeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr.Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-73107-9www.suhrkamp.de

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1.2.3.4.5.

6.

7.

8.9.10.11.12.

13.14.15.16.17.

18.19.20.21.

22.

Inhalt

I. Teil: Der soziologische Aspekt der PolitikKapitel: Fachliche Abgrenzung der soziologischen PerspektiveKapitel: Theoretischer Bezugsrahmen: SystemtheorieKapitel: Soziale KomplexitätKapitel: Die Funktion und Stellung des politischen SystemsKapitel: Politik in der Gesellschaft und in anderen Sozialsystemen

II. Teil: Das politische System der GesellschaftKapitel: Vertikale Ausdifferenzierung des politischen Systems:HerrschaftKapitel: Horizontale Ausdifferenzierung des politischen Systems:Funktionale SpezifizierungKapitel: Begleitende InterpretationenKapitel: LegitimitätKapitel: Autonomie und interne DifferenzierungKapitel: Politik und VerwaltungKapitel: Analytisches Modell des politischen Systems

III. Teil: VerwaltungKapitel: Funktion und Ausdifferenzierung des VerwaltungssystemsKapitel: Umweltlage und Autonomie des VerwaltungssystemsKapitel: KommunikationspotentialKapitel: Rationalität der VerwaltungsentscheidungKapitel: Programmatik und Opportunismus

IV. Teil: PolitikKapitel: Funktion der PolitikKapitel: Umweltlage, Sprache und Eigenständigkeit der PolitikKapitel: Rationalität der PolitikKapitel: Grenzen der Ausdifferenzierung

IV. Teil: PublikumKapitel: Ausdifferenzierung von Publikumsrollen

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23.24.25.26.27.

Kapitel: Innendifferenzierung der PublikumsrollenKapitel: VerwaltungspublikumKapitel: Politische PublikumsrollenKapitel: RekrutierungKapitel: Öffentliche Meinung

AnhangEditorische NotizNotizen zur Vorlesung Politische SoziologieRegister

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I. Teil

Der soziologische Aspekt der Politik

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1. Kapitel

Fachliche Abgrenzung der soziologischen Perspektive

Wer sich in der Fachperspektive der Soziologie dem Bereich despolitischen Handelns nähert, stößt nicht auf ein unbeackertes Feld.Einerseits weiß der politisch Handelnde in gewissem Sinne immer schonselbst, was er will und unter welchen Umständen er handelt. Außerdem hatdas politische Geschehen seit langem zu wissenschaftlicher Besinnung undKritik angeregt. Es gibt politische Wissenschaft in vielerlei Gestalt. DieBedeutung des Metiers bringt es zudem mit sich, daß politisches Wissen inhohen Graden bereits überlegtes, diskutiertes, verallgemeinertes Wissen istund nicht nur auf der Kenntnis der konkreten Partner und Umstände beruht.Bevor der Soziologe dieses Feld betritt, wird er daher seineForschungsausrüstung mustern und überlegen müssen, was ihn befähigt,mehr Wissen oder besonderes Wissen oder gar besseres Wissen zu ernten,vor allem aber: was ihn von der Politikwissenschaft unterscheidet. Welchesist der spezifisch soziologische Aspekt der Politik?

Die gegenwärtige Diskussion dieser Frage bietet außer der faktischenFeststellung eines unklaren Ineinanderübergehens von Politikwissenschaftund politischer Soziologie wenig Belehrendes.[1] Die Grenzen beiderDisziplinen scheinen zu verschwimmen. Weder die gegenständlichenInteressen noch die Methoden, noch die Ansätze zur Theoriebildungunterscheiden sich deutlich, wenngleich man der Politikwissenschaft diegrößere Breite der Interessenentfaltung zugestehen kann. Man könnteversucht sein, die »Schuld« dafür bei der politischen Wissenschaft zusuchen, deren unbestimmtes, kontroversenreiches Selbstverständnis keineklare Grenzziehung erlaubt. Daran ist jedenfalls eines richtig: daß es nichtder politischen Soziologie obliegt, die theoretische Position, denGegenstand und die Grenzen der Politikwissenschaft zu definieren unddamit die Abgrenzungsfrage allein zu entscheiden.[2] Andererseits solltenicht verkannt werden, daß auch die Soziologie ihren Teil Verantwortung fürdie gegenwärtige Konfusion übernehmen und abarbeiten muß. Soziologie ist

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eine spätgekommene und daher expansive, in andere Disziplinenübergreifende Wissenschaft. Wo immer sie auf schon konstituierteWissensbereiche stößt, die sich ebenfalls mit menschlichem Handelnbefassen, ergeben sich Abgrenzungsschwierigkeiten. Die Rechtssoziologiehat ihre wichtigsten Beiträge gerade als soziologische Grundlagentheorieder Rechtswissenschaft erbracht.[3] Die Organisationssoziologie steht ineinem recht problematischen Verhältnis zur klassischen Organisations- undBetriebswirtschaftslehre[4] – eine Begegnung, aus der sich eineinterdisziplinäre Organisationswissenschaft zu entwickeln scheint.[5]

Ähnliches gilt für die Verwaltungssoziologie und Verwaltungswissenschaft.[6] Die Sprachsoziologie weist zumindest mit der behavioristischenSprachwissenschaft starke Überschneidungen auf.[7] Und die Grenzzonezwischen Soziologie und Psychologie ist so breit und so stark bevölkert,daß sie den Status eines autonomen Gebietes beansprucht:Sozialpsychologie. Es wird demnach nicht allein an der Undiszipliniertheitdes Partners liegen, wenn die politische Soziologie nicht in der Lage ist,sich mit der Politikwissenschaft über ein Schema der Arbeitsteilung zuverständigen. Vielmehr sollte der Soziologe in erster Linie zu erkennensuchen, welche Intentionen, Engagements und Erkenntnismittel seineseigenen Fachs in den zahlreichen Grenzkonflikten ans Licht kommen; undbesonders im Verhältnis zur Politikwissenschaft käme es dann nicht so sehrdarauf an, die bestehende Konfusion durch den einen oder anderenAbgrenzungsvorschlag zu beheben, als vielmehr: aus ihr die richtigenSchlüsse zu ziehen.

Die Grenzkonflikte sind nur Teil einer sehr viel allgemeinerenProblematik, der sich die Soziologie gegenübersieht. Als eine Wissenschaft,die sich mit menschlichem Erleben und Handeln befaßt, muß sie alltäglichkonstituierten Sinn, also Wissen, immer schon voraussetzen.[8] Auch wennsie aus dem »Verstehen« keine zuverlässige Methodologie zu entwickelnvermag, muß sie ihren Gegenstand zunächst einmal durch Verstehen vonintendiertem Sinn gewinnen. Insofern kann man sagen, daß Soziologie ihremWesen nach stets aufklärende Kritik von konstituiertem Wissen ist – freilichAufklärung und Kritik in einem ganz bestimmten, neuartigen Stil. Dieser Stilsoziologischer Aufklärung ist es, der die Eigenart soziologischer Forschungim Verhältnis zur Wirklichkeit, also auch zur politischen Wirklichkeit, und

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im Verhältnis zu anderen Wissenschaften auszeichnet.Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatten die Handlungswissenschaften,

die unter dem Titel »praktische Philosophie« zusammengefaßt wurden unddurchgehend ethisch bestimmt waren, sich als beratende Wissenschaftenbegriffen, deren Aufgabe es sei, dem Handelnden sein richtiges Handelnvorzustellen. Daher mußte ihr grundbegrifflicher Apparat dempragmatischen Sinnhorizont des Handelns entsprechen, sich in ihn einfügenlassen. Die Handlungswissenschaften mußten sich an Zweckformeln und anverallgemeinerten Handlungsdispositionen (Tugenden) orientieren, vondenen man zugleich Wahrheit und Gutheit behaupten konnte. Wie anders alsdurch Abbildung des Handelns selbst, durch Kongruenz des Erkennens mitdem Wesen des Handelns, durch Übernahme der vom Handelnden erlebtenund gemeinten Zweckstruktur hätte denn die Wissenschaft ihrem Gegenstandgerecht werden, wie anders hätte sie dem Wesen des Handelns nahekommenkönnen? Diese Auffassung war so natürlich, so selbstverständlich, daß esder Gegenposition, die sich im 19. Jahrhundert zu entwickeln beginnt, bisheute schwerfällt, sich ihr eigenes Prinzip bewußtzumachen. Denn sie suchtdas Handeln nicht durch Annäherung, sondern durch Abstandnahme, nicht inkongruenter Einstellung, sondern durch Anlegung inkongruenterPerspektiven zu erkennen. Ein solches Programm ist augenscheinlich absurd– und gerade darum erfolgreich.

Diese neue umweghafte Erkenntnisweise brachte sich vor allem in derSoziologie und in der Psychologie zur Geltung, hatte aber namentlich in derZeit der Umwälzung, der zweiten Hälfte des 19. und dem Anfang des 20.Jahrhunderts, auch zahlreiche andere Geistesströmungen erfaßt undverunsichert.[9] Ihr Erfolg beruht darauf, daß sie die Begrenztheit desHandlungshorizontes, der vom Handelnden gemeinten Welt sprengte unddadurch in der Lage war, mehr Komplexität zu erfassen und zu verarbeiten,als dem Handelnden selbst zugänglich sein kann.

Die traditionellen, ethisch bestimmten Handlungswissenschaften hattennur Möglichkeiten in Betracht gezogen, die vom Handelnden als eigeneMöglichkeiten ergriffen werden konnten. Die neuen, verfremdendenErkenntnistechniken bemühen sich dagegen, das Handeln unter Aspekten zubegreifen, die dem Handelnden unbewußt sein und bleiben können, ja derenAufhellung unter Umständen sogar seine Handlungsfähigkeit zerstören, die

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Motivkraft seiner Ziele beeinträchtigen könnte.[10]

In Reaktion auf den Wahrheitsverlust der Zwecke, auf den Zerfall derteleologischen Handlungsauslegung wurden jene inkongruenten Perspektivenzunächst in latenten, nicht motivfähigen Ursachen gesucht: Das Handeln seiin Wahrheit durch ökonomische Existenzbedingungen, durch biologischeAuslesegesetzlichkeiten im Kampf ums Dasein, durch Urlibido, Angst,Nachahmungstrieb oder was immer bestimmt, und die Zielvorstellungen undSituationsauslegungen des Handelnden seien demgegenüber künstlichaufgebaute Scheinwelten, Ideologien, Rationalisierungen, Sublimierungenohne eigenen Wahrheitswert. Auf diese Weise nahm die wissenschaftlicheAufklärung einen entlarvenden, diskreditierenden Zug an; sie maßte sich an,die Orientierungsbegriffe des Handelnden zu zerstören, ohne sie in ihrerFunktion zu erkennen und ohne sie ersetzen zu können.[11] DieUniversalisierung dieser destruktiven Tendenz durch die sogenannteWissenssoziologie vermochte dem Verfahren etwas Schärfe zu nehmen –geteiltes Leid ist halbes Leid –, hat aber im Grundsätzlichen nichts geändert.Im Grunde sind all diese »Faktortheorien« vorsoziologisches Gedankengut,weil sie durch ihr Bestreben, soziale Systeme aus einfachen, elementarenUrsachen zu erklären, die immer schon komplex konstituierte sozialeGegenständlichkeit aus dem Auge verlieren.

Die Faktortheorien scheitern letztlich daran, daß sie den gleichen Fehlerbegehen wie die Zwecktheorien: Sie verwenden ein gedankliches Schemavon zu geringer Komplexität. Die Abwendung von Zwecktheorien warausgelöst durch die frühneuzeitliche Präzisierung wissenschaftlicherWahrheit auf intersubjektiv zwingend gewisse Feststellungen. Wahrheit indiesem Sinne konnte man allenfalls in bezug auf Ursachen, nicht aber inbezug auf Zwecke, allenfalls in mechanischer, nicht aber in teleologischerKausalität zu erreichen hoffen. Mit dieser Umstellung wurde ein anderesProblem nicht gelöst, das sich nunmehr als das kritische erweist: Wederspezifische Zwecke noch spezifische Ursachen sind geeignet, komplexesoziale Systeme hinreichend zu erklären, weil sie als Grundvorstellungendafür viel zu einfach sind. Deshalb läßt sich in der neueren soziologischenTheorieentwicklung ein deutlicher Übergang von Faktortheorien zuSystemtheorien beobachten, und erst in diesem Übergang konstituiert sichdie Soziologie als eigenständige, auf genuin soziologischen Grundbegriffen

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beruhende Wissenschaft.[12]

In dem Maße, als die Soziologie sich durch eine Theorie desSozialsystems konsolidiert, gewinnt sie ein allgemeines analytischesInstrumentarium, das für sehr komplexe Sachverhalte besonders geeignet ist.Die Steigerung des Potentials für Komplexität läßt sich sowohl an denneueren Entwicklungen der Systemtheorie selbst als auch an der siefördernden funktionalen Methode ablesen.[13] Die allgemeineSystemtheorie[14] scheint sich von einer Theorie der Zusammenfügung vonTeilen zu einem Ganzen, also eines rein internen Ordnungsproblems, zueiner System/Umwelt-Theorie zu entwickeln, welche die Bedingungen derErhaltung von Systemen in einer äußerst komplexen, unvorhersehbarfluktuierenden Umwelt untersucht und dabei sowohl die Systeme selbst alsauch ihre Umwelten als Variablen behandelt. Die funktionale Methodeknüpft an diese durch doppelseitige Variabilität unbestimmt bleibendeBestandsproblematik an. Sie analysiert die systemerhaltenden Leistungen imHinblick auf latente ebenso wie auf manifeste, auf negative ebenso wie aufpositive Funktionen und sieht in jeder Funktion zudem nur einvergleichendes Schema, das faktisch auf sehr verschiedenartige, funktionaläquivalente Weisen verwirklicht werden kann. Alles in allem kommt indiesen verschiedenen Einzelaspekten der Umbildung klassischerkausalwissenschaftlicher Theorie- und Methodenkonzeptionen ein Interessean der Erfassung sehr komplexer Tatbestände zur Geltung, für das einzusammenfassender theoretischer Ausdruck noch gefunden werden muß.

Trifft diese Deutung zu, dann erhellt sie zugleich den inneren Grund, ausdem kongruente durch inkongruente wissenschaftliche Perspektiven ersetztworden sind. Die Möglichkeiten, im Entwurf zweckmäßiger Handlungen einkomplexes Feld von Möglichkeiten zu erfassen und auf entscheidbareSinnfragen zu reduzieren, sind begrenzt. Die dazu benutztenDarstellungsmittel, das Zweck/Mittel-Schema, das »ceteris paribus«geltende Kausalgesetz, invariant und prämissengleich benutzte Sinntypenund vor allem der unreflektierte Gebrauch von Sprache, erweisen sich alswissenschaftlich unzulänglich. Sie werden untergraben, weil sie schonreduzierte Komplexität voraussetzen, deren Verarbeitung vom Handelndennicht geleistet und daher nicht verantwortet wird. Sie werden aber zugleichin ihrer Funktion bestätigt, weil sie den Druck übermäßiger Komplexität

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absorbieren und so überhaupt erst sinnvolles Handeln ermöglichen.Mit diesen Überlegungen bahnt sich eine Möglichkeit an, die scharfe

Diskrepanz von wahrheitsfähiger Theorie und handlungsfähiger Praxis zumildern, ohne im geringsten zur traditionellen, kongruenten, teleologischenHandlungswissenschaft zurückzukehren.[15] Die Kluft zwischen inkongruentverstehender Wissenschaft und zielgebundenem Selbstverständnis desHandelnden läßt sich dadurch überbrücken, daß beide Sinnsphären auf deneinheitlichen Nenner einer gemeinsamen Problemformel gebracht werden.Die Formel lautet: Erfassung und Reduktion von Komplexität.

Das Problem der Komplexität, die Notwendigkeit, eine Vielfalt desMöglichen in begrenzter Zeit auf aktualisierbaren Sinn zu bringen, läßt sichals letztes Bezugsproblem aller funktionalen Analysen verwenden, und zwarauf verschiedenen Ebenen der Komplexität: für Handlungssysteme, fürEntscheidungsmodelle und für Situationen des konkreten Verhaltens.Systemtheorien, und unter ihnen namentlich die Theorie sozialer Systeme,können Handlungssysteme analysieren unter dem funktionalenBezugsgesichtspunkt einer Reduktion der äußersten Komplexität der Weltdurch einen »subjektiven« Weltentwurf und durch Stabilisierung einerdiesen Entwurf tragenden Systemstruktur von geringerer Komplexität (unddas heißt: höherer Ordnung). Entscheidungstheorien behandeln spezifischeProblemlösungssprachen der Mathematik, des Rechts, der wirtschaftlichenKalkulation oder der Maschinenprogrammierung und konstruieren mit Hilfedieser Sprachen vielfältig verwendbare Entscheidungsmodelle. In diesenModellen werden die Bedingungen festgelegt, unter denenEntscheidungsvorschläge bzw. einzelne Entscheidungsschritte alsProblemlösungen akzeptiert werden können. Dabei muß vorausgesetztwerden, daß es Handlungssysteme gibt, die so strukturiert sind, daß sie ihreProbleme auf diese Weise lösen können. SituationsmäßigeHandlungsplanungen setzen schließlich eine unter Zweckgesichtspunktenstrukturierte konkrete Situation, also einen schon sehr stark vereinfachtenWeltzustand, voraus, der sinnvolles Wählen zwischen wenigenübersehbaren Alternativen ohne allzu großen Zeitaufwand ermöglicht.

Alle drei Ansatzpunkte der Funktionalisierung können in eine Ordnungabnehmender Komplexität und in ein Verhältnis wechselseitigerKooperation gebracht werden, indem die Systemtheorien den

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Entscheidungstheorien strukturierte Problemstellungen, diese dem konkretenHandeln Entscheidungsmodelle als Entscheidungsprogramme vorgeben. DieFruchtbarkeit einer solchen Kooperation beruht dann darauf, daß dieeinzelnen Ansatzpunkte nicht verschmolzen, insbesondere nicht auf einegemeinsame Axiomatik zurückgeführt werden, sondern in ihrerUnterschiedlichkeit erhalten bleiben, so daß von den Systemtheorien keineHandlungsvorschläge, von den Entscheidungstheorien undHandlungsplanungen dagegen nicht die Reduktion äußerster Komplexität,sondern nur das Abarbeiten vorkonstruierter Aufgaben erwartet werdenkann.

Wenn man die Soziologie als Theorie sozialer Systeme identifiziert,werden demnach ihre eigentlichen Abgrenzungsprobleme, von dergeschichtlichen Frontstellung gegen die Ethik einmal abgesehen, imVerhältnis zu den Entscheidungstheorien zu erwarten sein. Das gilt dennauch für die politische Soziologie. Ob deren Partnerin, diePolitikwissenschaft, ihr Selbstverständnis im Rahmen einerEntscheidungstheorie konsolidieren und sich damit begnügen kann, diespezifische Rationalität des politischen Kalküls auszuarbeiten, bleibtabzuwarten. Eine wichtige Lücke wäre hier zu füllen, da wir zwar diebürokratieinternen Entscheidungsprozesse in ihren Programmen juristischund wirtschaftlich durchkonstruiert haben, über die eigentümlicheRationalität des politischen Verhaltens aber noch sehr wenig wissen. Solltediese begrenzte Rolle der Politikwissenschaft nicht zusagen, könnte sie sichauch als offenes Meer immer neuer Einfälle und Theorieversuche Verdiensteerwerben, da sie, anders als die politische Soziologie, nicht auf dieKonsistenz ihrer Theorien mit denen einer umfassenden MutterwissenschaftRücksicht zu nehmen braucht und dadurch freier gestellt ist.

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2. Kapitel

Theoretischer Bezugsrahmen: Systemtheorie

Der Umweg, auf dem wir eine fachliche Abgrenzung der soziologischenPerspektive erarbeitet haben, zahlt sich aus, wenn es nunmehr gilt, dietheoretischen Prämissen der nachfolgenden Untersuchungen zu skizzieren.Die Zugehörigkeit der politischen Soziologie zum allgemeinen Fachverbandder Soziologie legt es nahe, als Grundbegriff den Begriff des »politischenSystems« zu verwenden.[1]

Dabei muß vor allem geklärt werden, in welchem Sinne wir von Systemsprechen und in welchem Sinne das politische Handeln als ein Systembesonderer Art angesehen werden kann. Eine allgemein anerkannteSystemtheorie fehlt in der Soziologie, ebenso wie in anderen Disziplinen.Wir können also nicht eine schon vorhandene Theorie des Sozialsystems aufden Sonderfall des politischen Systems übertragen. Außerdem sind geradein der Soziologie drei für die Systemtheorie zentrale Kontroversen offen.Deshalb können wir unsere Ausgangspunkte nur durch Erörterung undEntscheidung dieser Kontroversen treffen.

Einmal geht es um die Frage, aus welchen »Einheiten« Sozialsystemebestehen: aus Menschen oder aus Handlungen. Mit dieser Frage ist eineWeiche gestellt, deren Schaltung gerade im Bereich der politischenSoziologie von weittragender Bedeutung ist. Die Antwort muß dahersorgfältig überlegt werden.

Das traditionelle deutsche Staatsdenken definiert den Staat als einen»Verband«, der aus Menschen besteht.[2] Die Menschen gelten als Gliederdes Staates, der Staat ist letztlich das politisch geformte Volk selbst, ist dieVereinigung einer Menge von Menschen unter »Rechtsgesetzen«.[3] Ernstgenommen, würde das heißen, daß der Mensch mit seinem gesamten Daseinden Staat aktualisiert, was für Zeitunglesen und Schützenfeste noch angehenmag, beim Blumenbegießen oder beim Verdauen aber problematisch wird.Wenn man, um solche Verbiederung des Staates zu vermeiden, seine Sphäreauf den Menschen als sittliche Person einschränkt, stellt sich aber bereits

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die Frage, welche faktischen Erlebnisse und Handlungen damit gemeint sindim Unterschied zu anderen Aspekten menschlichen Daseins.

Demgegenüber ist es heute vorherrschende soziologische Auffassung, daßsoziale Systeme aus Handlungen bzw. letztlich auf Handlungenzurückführbaren Teilsystemen, zum Beispiel Rollen, bestehen.[4] Der Grundfür diese Theorieentscheidungen ist weniger die Tatsache, daß konkreteMenschen vielen Sozialsystemen zugleich angehören können. Das gilt auchfür konkrete Handlungen. Überhaupt können Sozialsysteme normalerweisenicht gegeneinander exklusiv verstanden werden. Auch der Umstand, daßSozialsysteme den Wechsel ihrer Mitglieder überdauern können, ist nichtausschlaggebend; denn auch in bezug auf bestimmte Handlungen ist einegewisse strukturelle Indifferenz sozialer Systeme erreichbar, jabestandswesentlich. Zur Auffassung des Sozialsystems als einesHandlungssystems zwingt vielmehr die Einsicht, daß die Bildung undErhaltung von Sozialsystemen ganz spezifische Probleme stellt, die nicht aufdem Wege über eine Integration von Handlungen zu Persönlichkeitssystemengelöst werden können, im Gegenteil sogar sehr oft eine Entpersönlichungdes Handelns erfordern. Die individuelle Persönlichkeit ist einIntegrationsprinzip neben dem des Sozialsystems und deshalb keinUntersystem, kein Baustein des Sozialsystems. Diese Umorientierung vomMenschenkollektiv auf soziale Handlungssysteme gibt der Soziologie dieMöglichkeit, die besondere Problemstruktur sozialer Systeme alsAnknüpfungspunkt für funktionale Analysen auszuarbeiten und in diesemtheoretischen Bezugsrahmen ihre fachliche Selbständigkeit zu finden. Davonprofitiert auch die politische Soziologie. Sie braucht ihren Gegenstand nichtlänger als konkrete Menschengruppe besonderer Art darzustellen mit all denkompakten Interessenverschmelzungen, die das bedeutet; sondern sievermag nun das politische System als ein funktional-spezifisch orientiertesHandlungssystem zu analysieren, das der Lösung bestimmter sozialerProbleme dient und den Menschen nicht in der vollen Konkretheit seinesfaktischen Daseins, sondern nur in bestimmten Handlungen oder einzelnenRollen in Anspruch nimmt, soweit dies zur Lösung jener Problemeerforderlich ist. Auf diese Weise läßt sich eine scharfe Abgrenzung despolitischen Systems nicht nur gegenüber der individuellen Persönlichkeit,sondern auch gegenüber anderen, auf andersartige Funktionen ausgerichteten

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Sozialsystemen gewinnen – etwa gegenüber solchen der Wirtschaft, desBildungswesens, der Religion, der Krankenfürsorge usw.

Geht man mit der Abstraktion so weit, dann liegt es nahe, noch einenweiteren Schritt zu tun und das soziale System bzw. in unserem Falle daspolitische System als ein nur »analytisches« System zu charakterisieren, dasnicht eigentlich aus konkreten Handlungen, sondern nur aus ausgewähltenSinnaspekten bestimmter Handlungen besteht. Diese Auffassung wird ausallgemeinen methodologischen Gründen namentlich von Talcott Parsons,[5]

im Bereich der Politikwissenschaft sehr betont von David Easton[6]

vertreten. Das ist das zweite Grundproblem der Systemtheorie, das wirvorab erörtern müssen.

In einer gewissen Weise ist das Problem ein Scheinproblem, denn jedemenschliche Wirklichkeitsauffassung, nicht nur die wissenschaftliche, gehtselektiv vor. Konkrete Dinge oder Ereignisse können nie in ihrer vollenKonkretheit aktuell erlebt werden.[7] Die Frage kann daher nur sein, wer dieSelektionsentscheidung trifft und nach welchen Kriterien. Hier neigt dieTheorie analytischer Systeme zu einer gefährlichen Konfusion, nämlich dasselektive Relevanzschema des Handelnden selbst mit dem der analytischvorgehenden Wissenschaft zu identifizieren oder sich doch jenes durchdieses zu verdecken. Gerade das darf aber in einer Handlungswissenschaft,welche die Vorteile einer inkongruenten Erkenntnistechnik ernten will, nichtgeschehen.

In der allgemeinen Systemtheorie findet man den gleichen analytischenSystembegriff vor allem in Form der These, daß es vom Standpunkt desBetrachters und seinem Forschungszweck abhänge, wo er die Grenzen desSystems ziehe.[8] Diese Auffassung widerstreitet jedoch, wenn man sie nichterheblich abschwächt, der Tendenz, gerade die System/Umwelt-Beziehungen, also grenzstabilisierende Leistungen und grenzüberschreitendeProzesse, zu erforschen. Wäre sie richtig, dann wäre nicht einzusehen, wieSystemgrenzen überhaupt zum Forschungsgegenstand gemacht werdenkönnen, da sie bereits durch Prämissen der Analyse definiert sind. Siekönnten dann allenfalls noch der Ausgrenzung dessen dienen, was man ineinem bestimmten Forschungszusammenhang thematisch nichtberücksichtigen will.

Bei Handlungssystemen kommt noch hinzu, daß Handlungen intentionale

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Akte sind, die sich Systemzusammenhänge und Systemgrenzenbewußtmachen können. Diese bewußte Grenzziehung im sozialen Lebenselbst ist der wichtigste Mechanismus der Bildung und Konsolidierungsozialer Systeme. Die Handelnden selbst unterscheiden: wir und dieanderen. Dem Wissenschaftler steht zwar frei, sein Thema zu wählen, diesesoder jenes System zu erforschen, zum Beispiel nicht die gesamteStaatsverwaltung, sondern eine bestimmte Fachbehörde; aber er kann dieseEntscheidung nur treffen im Anschluß an die Strukturen, die sich im Erlebender Handelnden selbst abzeichnen. Er würde sein Thema verfälschen,wollte er zum Beispiel in bezug auf sehr einfache, archaische, auf demFamilienverband beruhende Sozialordnungen »das politische System«, »daswirtschaftliche System«, »das religiöse System« usw. unterscheiden,obwohl jene Ordnungen gerade dadurch gekennzeichnet waren, daß essolche Systembildungen im Bewußtsein der Beteiligten noch gar nicht gab,die Ordnung vielmehr funktional undifferenziert erlebt und verwirklichtwurde.

Der dritte Diskussionspunkt betrifft die Frage, ob und in welchem Sinnedie funktionale Analyse sozialer Systeme konstante Systemstrukturenvoraussetzen muß. Die sogenannte strukturell-funktionale Theorie hatte sichzunächst genötigt gefühlt, gewisse Systemstrukturen als theoretischePrämissen hinzunehmen,[9] und ist deswegen vielfach als statisch-konservativ und allzu harmonisch voreingenommen kritisiert worden.[10]

Inzwischen scheint Parsons selbst im Zuge der inhaltlichen Ausarbeitungseiner Theorie des Aktionssystems von dieser Annahme einer notwendigenstrukturellen Begrenzung jeder funktionalen Analyse langsam abzurücken.[11]

Auch hier scheint die Ausgangsfrage, zumindest von den Kritikern, zueinfach gestellt zu sein.

Richtig ist, daß jedes komplexe Handlungssystem strukturiert sein muß,weil es andernfalls keine anderen Möglichkeiten ausschließen könnte undins Chaos zerfiele. Systemstrukturen ermöglichen überhaupt erst die Bildungrelativ verläßlicher Verhaltenserwartungen und damit Interaktionen inSystemen. Aber sie sind als Objektstrukturen nur Thema und nicht zugleichauch Prämisse der wissenschaftlichen Forschung. Auch hier muß man sichvor einer Verschmelzung beider Perspektiven hüten: Was für denHandelnden invariante Struktur ist, braucht deswegen nicht auch in der

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wissenschaftlichen Analyse als für sie invariante Struktur verwendetwerden.

Richtig ist ferner, daß jeder wissenschaftlichen Analyse eine eigeneStruktur in Form konstant bleibender theoretischer Prämissen zugrundeliegen muß, aber die funktionale Analyse findet ihre Konstanten inFunktionen, nicht in Strukturen. Allerdings können manche Funktionen vonStrukturen abhängig sein. Solche sekundären Funktionen lassen sich nurunter der Voraussetzung bestimmter Systemstrukturen explizieren. Man kanndie Funktionen einer korrupten »Parteimaschine«[12] oder des taktischenVerhaltens von Bürokraten, die sich das Vertrauen der Abgeordneten ihresParlamentsausschusses zu erhalten suchen,[13] nur unter der Voraussetzungeiner bestimmten parlamentarischen Struktur des politischen Systemserkennen. Prinzipiell muß aber die Soziologie sich die Möglichkeitenoffenhalten, auch diese Strukturen als Lösungen grundlegender Probleme zuanalysieren, also Strukturen jeder Art zu reproblematisieren. Und sie mußletztlich in der Lage sein, nach der Funktion der Systembildung überhauptund nach der Funktion von Strukturen schlechthin zu fragen. Die strukturell-funktionale Theorie muß mithin zu einer funktional-strukturellen Theorieausgebaut werden.

Besonders für die politische Soziologie wäre es verhängnisvoll, ihreForschungen grundsätzlich an vorgegebene Systemstrukturen zu binden, sichzum Beispiel auf den Systemtypus der westlich-parlamentarischenDemokratie festzulegen und daneben allenfalls zusammenhanglos andereTheorien für andere Systemtypen zuzulassen.[14] Eine solche Konzeptionwürde die Möglichkeiten eines Vergleichs verschiedenartiger politischerSysteme unterbinden oder auf »ähnliche« Systeme einschränken. Gerade inder vergleichenden Analyse sehr heterogener, verschieden strukturierterpolitischer Systeme von Zivilisationsländern und Entwicklungsländern, vonautoritär oder demokratisch, liberal oder sozialistisch verfaßten Staatenliegen jedoch die zukunftsträchtigen Chancen nicht nur der politischenWissenschaft, sondern auch der politischen Soziologie.[15] Ein Vergleich istnicht als struktureller Vergleich, zum Beispiel von Ministerpräsidenten mitMinisterpräsidenten – der eine hat eine Staatskanzlei, der andere nicht! –,fruchtbar, sondern nur im Hinblick auf eine Funktion als Vergleichverschiedenartiger, aber funktional äquivalenter Problemlösungen.[16] Will

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man die funktional-vergleichende Methode grundsätzlich und universellverwenden, will man keinen Gegenstand im Forschungsbereich derWissenschaft dem Vergleich entziehen, sondern alles im Lichte andererMöglichkeiten erfassen, dann zwingt auch das zum Übergang vonstrukturell-funktionalen zu funktional-strukturellen Theorien. DieMethodologie hat hier ihre Konsequenzen für die Theoriebildung.

Folgt man diesem Gedankengang, dann benötigt die Systemtheorie einGrundproblem als funktionalen Gesichtspunkt, der alle spezifischenSystembildungen transzendiert und die Funktion der Systembildungüberhaupt angibt; einen Bezugsgesichtspunkt, in dessen Perspektive alleSysteme welcher Art auch immer vergleichbar sind. Es liegt nahe, für dieseAufgabe jene Problemformel zu verwenden, um derentwillen die Soziologieden traditionellen kongruenten Handlungslehren entwachsen, zuinkongruenten Kausalperspektiven und schließlich zu Systemtheorienfortgeschritten ist: das Problem übermäßiger Komplexität. Systeme jederArt verbreitern die Grundlagen des Erlebens und Handelns durch Erfassungund Reduktion von Weltkomplexität. Sie erstrecken den Sinnbezug desHandelns über das hinaus, was der Handelnde selbst in seiner aktuellenGegenwart erfassen und durchüberlegen kann. Sie geben ihmAnknüpfungspunkte, auf deren Sinnhaftigkeit (deren wahres »Sein«, deren»Geltung«) er sich abstützen kann, ohne den Sinn selbst geleistet zu haben.Und dies geschieht dadurch, daß Systeme sich in einer äußerst komplexen,unübersehbare Möglichkeiten in Aussicht stellenden Welt mit einer stärkerverdichteten, höheren Ordnung, also mit geringerer Komplexität,stabilisieren. Man kann die Funktion der Systembildung daher auch alsAbsorption von Komplexität bezeichnen.

Wir werden mithin politische Soziologie als Theorie des politischenSystems abhandeln. Unter politischem System ist dabei weder das Kollektivdes Staatsvolkes noch die bloße Regierungs- und Verwaltungsorganisationzu verstehen. Weder der deutsche Staatsbegriff noch die angelsächsischeKonzeption des »government« trifft das, was man heute als »politischesSystem« zu erforschen beginnt. Gemeint ist jenes soziale Handlungssystem,das dem primären Sinn seiner Handlungen nach auf die politische Funktionspezialisiert ist, im übrigen aber, wie jedes Sozialsystem, ein strukturiertesHandlungssystem ist, das gegenüber seiner Umwelt eine höhere,

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stabilisierungsbedürftige Ordnung aufweist und dadurch in der Lage ist, dieKomplexität seiner Umwelt nach eigenen selektiven Gesichtspunkten zuerfassen und zu reduzieren.

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3. Kapitel

Soziale Komplexität

Dem Problem der Weltkomplexität und der Funktion von Systembildungenschlechthin weiter nachzusinnen würde vom Thema der politischenSoziologie weit abführen. Wir müssen das Blickfeld einschränken auf diesoziale Komplexität, in der wir das Bezugsproblem der Politik vermutendürfen. Unter sozialer Komplexität ist eine Eigenschaft der Welt zuverstehen, nämlich die, daß aller Sinn in der Welt durch eine Mehrheit vonSubjekten getragen wird, die gleichermaßen originäre Quellen ihresErlebens und Handelns, also gleichermaßen je ein Ich, sind, so daß alleÜbereinstimmung in Erleben und Handeln als kontingent begriffen werdenmuß. Jeder andere Mensch könnte als ein anderes Ich anders erleben undhandeln als ich selbst. Nichts versteht sich von selbst. Damit ist nichtgesagt, daß jede Gemeinsamkeit Zufall ist, wohl aber, daß sie als Problemgesehen werden muß. Soziale Kontingenz, absolute Unzuverlässigkeit desAlter ego wird nicht als ein Faktum behauptet, wohl aber als einBezugsproblem unterstellt, mit dessen Hilfe sich sämtliche Mechanismenerkennen und vergleichen lassen, welche dazu beitragen, daß diesesProblem der Kontingenz gelöst und die Sozialordnung faktisch konstituiertwird.

In dieser Schärfe und Radikalität wird das Problem der sozialenKomplexität freilich erst im 20. Jahrhundert gestellt. Erst das 20.Jahrhundert radikalisiert die Annahme sozialer Bedingungen des Erlebensbis hin zu der These, daß identische Gegenständlichkeit schlechthin unddamit Welt schlechthin aufgrund sozialer Kommunikation konstituiertwerden.[1] Damit sind die Denkvoraussetzungen der klassischen politischenTheorie in entscheidender Weise verändert worden, ohne daß man in derpolitischen Wissenschaft oder in der politischen Soziologie diesen Wandelbisher registriert und auf seine Konsequenzen für das eigene Fach hinüberlegt hätte.

Die aus der Antike stammende klassische Theorie der Politik war

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zugleich Theorie der Gesellschaft gewesen. Die Gesellschaft wurde vonPlaton bis Kant durchgehend als politisch verfaßte Gesellschaft, als polis,civitas, societas civilis gesehen.[2] Für die Beurteilung dieser Tradition, diebis heute in dem umfassenden Ordnungsanspruch des deutschenStaatsbegriffs fortwirkt, ist es entscheidend, den Grund zu erkennen, derdiese Verschmelzung von politischer Theorie und Gesellschaftstheoriesinnvoll, notwendig, ja selbstverständlich machte. Er liegt in einemunzureichenden Begriff der sozialen Komplexität.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde soziale Komplexität nicht alsKontingenz der Welt begriffen, sondern auf menschliche Bedürfnissebezogen. Der Mensch wurde in seinem Wesen als animal rationale definiert,das mit anderen, aber für sich, in einer schon vorhandenen Welt existiert und(nur) durch die Bedürfnisse seiner Lebensführung von anderen abhängig ist.Von anderen bedroht und auf andere angewiesen, muß der Mensch sich ineine soziale Ordnung fügen, die zugleich politische Ordnung ist, indem siefür die Lösung dieses Doppelproblems Bedrohtheit und Angewiesenheit –metus et indigentia – sorgt, dadurch daß sie Frieden und Gerechtigkeit – paxet iustitia – garantiert.[3]

Schon an diesen Doppelformen läßt sich ablesen, daß es diesem Denkenim Grunde um die Abwendung von Nachteilen und die Sicherung vonVorteilen für die einzelnen Menschen geht, die als handelnde Wesen ihrLeben zu erhalten suchen in einer Welt, in der Güter knapp und Bedürfnissedringlich sind. Die Konkurrenz um knappe Güter ist das Bezugsproblem,das die Bildung einer politischen Gesellschaft notwendig macht. Daherdefiniert denn auch die Teleologie des Handelns (und nicht etwa eineSystemtheorie) den Problemhorizont, in dem die traditionellePolitikwissenschaft sich als Theorie der Gesellschaft entfaltet.[4]

Bei aller drastischen Lebensnähe drückt der Gedanke der sozialenBedrohtheit und Angewiesenheit des Menschen bereits hohe Komplexitätaus, setzt er doch den anderen Menschen als jemanden voraus, der imPrinzip über Freundschaft und Feindschaft frei entscheiden kann undinsofern unzuverlässig ist; der sich als hilfsbereit, tauschend und zuteilenderweisen, aber auch wegnehmen und töten kann. Diese Möglichkeitenfaszinieren die Theorie der politischen Gesellschaft bis in die Neuzeit. DieLehre von den Staatszwecken und den Staatsformen bezieht sich auf diese

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Grundproblematik. Der Gedanke des Staatsvertrages ist ein weiteres Mittel,diese Art Komplexität vor und nach ihrer Reduktion zu unterscheiden undzugleich die Reduktion selbst als zweckmäßige (ethische) Handlung rationalzu konstruieren. Aber nirgends zeichnet sich ein Versuch ab, vompolitischen Denken her die Möglichkeit von Wahrheit, Sinn und Sein inFrage zu stellen oder die Gesellschaft als ein politisches System auf dieseFragen hin zu entwerfen.

In dem Maße, als die Einsichten in die sozialen Bedingungensinnbezogenen menschlichen Erlebens sich vertiefen, werden jedoch diePositionen des natürlich-naiven Welterlebens und zugleich die Positionender ontologischen Metaphysik, welche die Lehre von der politischenGesellschaft trugen, unterhöhlt und zum Einsturz gebracht. Die politischeTheorie kann nicht länger voraussetzen, daß Mensch und Welt in naturhaftvorgegebener, wenn auch unvollkommener Ordnung einfach da sind und daßinsoweit die unendliche Komplexität anderer möglicher Weltzustände schonreduziert ist. In einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, vor allem inder Soziologie und in der Theorie rationalen Handelns, wird das Problemder sozialen Kontingenz neu entdeckt und als ein Problem der Abstimmungvon Verhaltenserwartungen gedeutet, das jede Interaktion und jedesrationale Handeln in sozialen Situationen zu lösen hat.[5] Damit ist dasProblem der Abstimmung wechselseitiger Erwartungen in einer Weisegestellt, daß es kaum noch von der politischen Theorie allein bearbeitetwerden kann. Neben den spezifisch politischen Mitteln der Abstimmung desErwartens lassen sich andere entdecken, denen man nicht eigentlichpolitischen Charakter zusprechen kann, die vielmehr ihrerseits impolitischen Handeln vorausgesetzt werden müssen: Sozialisierung undAnpassungsfähigkeit der Persönlichkeiten, Geldmechanismus, gemeinsamdurchlebte und erinnerte Geschichte, Sachzwänge einer technischkomplizierten Dingwelt usw.

Wenn dem so ist, dann müssen Gesellschaft und politisches Systemgetrennt begriffen werden,[6] denn die spezifisch politischen Einrichtungenund Entscheidungsmechanismen erschöpfen nicht das, was in derGesellschaft geschehen muß, um soziale Komplexität zu reduzieren. Daspolitische System kann, vom Bezugsproblem der sozialen Komplexität hergesehen, nur ein Teilsystem der Gesellschaft sein.

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Die gleiche Folgerung drängt verstärkt sich auf, wenn man zurückgeht aufdie Theorie der intersubjektiven Konstitution allen Sinnes in der Welt unddes Sinnes der Welt selbst. Diese Theorie setzt die Welt als absolutkontingent[7] oder, was auf dasselbe hinausläuft, als auch in sozialerHinsicht äußerst komplex voraus. In dieser Konsequenz liegt es, allen Sinnauf sinnbildende Leistungen zurückzuführen und so zu funktionalisieren. Siepostuliert eine transzendentale Theorie der intersubjektiven Konstitutionvon Sinn – auch dies ein Problementwurf, der viel zu weit ist, als daß erdurch eine Theorie der Politik ausgefüllt werden könnte. Schon derÜbergang von einer Theorie der intersubjektiven Konstitution zu einerTheorie der Gesellschaft als System, den Husserl selbst sich ganz einfachvorstellte, ist schwierig genug.[8]

Die ältere Theorie der politischen Gesellschaft beruhte auf einer»natürlichen« Weltsicht, auf einem Anonymbleiben der konstituierendenLeistungen des Bewußtseins. Deshalb konnte sie politische Theorie undGesellschaftstheorie verschmelzen und die Bildung und Erhaltung derGesellschaft als politisches Problem sehen. Die Radikalisierung desProblemranges der Sozialdimension menschlichen Erlebens zwingt dazu,Gesellschaft und Politik als verschiedene Sozialsysteme zu begreifen undeinander zuzuordnen. Damit gewinnt die Frage nach der spezifischenFunktion und den spezifischen Strukturmerkmalen eines politischenSystems – im Unterschied zur Gesellschaft im ganzen – kritische Bedeutung.

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4. Kapitel

Die Funktion und Stellung des politischen Systems

Die Frage, worin das Wesen des Politischen zu finden sei, ist in derpolitischen Theorie ein alter Diskussionspunkt und anscheinend nichtabschließend zu klären. Sehr häufig wird Macht als Kern des Politischengenannt.[1] Andere Autoren bestimmen das Politische auf sehr altenGrundlagen durch Zweckformeln wie Gerechtigkeit, Frieden, Gemeinwohloder gar als Erfüllung der Zwecksysteme[2] schlechthin. Einige Berühmtheithat die Definition der Politik durch das Freund/Feind-Schema erlangt, dieCarl Schmitt vorschlug.[3] Zuweilen wird auch das Risiko des Handelns imUnvorhersehbaren, also die Übernahme von Verantwortung durch mehr oderweniger irrationales Handeln, hervorgehoben.[4] All diese Auffassungenhaben ihr eigenes Recht – und ihre eigene Fragwürdigkeit, wenn sie denAnspruch auf eine Aussage über das Wesen der Sache Politik erheben. Esdürfte daher ratsam sein, auf eine Wesensaussage zu verzichten und sich stattdessen um eine Klärung der spezifischen Funktion der Politik zu bemühen.

Dafür können die Wesensaussagen mindestens als Leitfaden dienen. Esfällt nämlich auf, daß sie alle mehr oder weniger deutlich eine Reduktionvon Komplexität im Auge haben. Macht ist ein grandioses Mittel derVereinfachung von Situationen auf das, was man selbst will. Zweckformelnsetzen solche Vereinfachungen als Natur der Sache voraus. Freund/Feind-Schematisierungen ersetzen ganz offensichtlich komplexe Situationen durcheine grob vereinfachende Dichotomie, und irrationales Handeln reduziertKomplexität, weil es angeblich nicht anders geht, durch die Faktizität desVollzugs von was immer es sei. Zumindest das Grundproblem der Politik istin all diesen Theorien also deutlich greifbar. Es ist das Problem dersozialen Komplexität, das jede von ihnen vor sich hat, keine aber alssolches erfaßt. Als Wesenstheorien der Politik werden sie ad infinitummiteinander konkurrieren, weil sie funktional äquivalente, alsogleichberechtigte Möglichkeiten der Lösung des Problems der Politik alsWesen der Sache selbst proklamieren. Nur unter dem Gesichtspunkt ihres

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Bezugsproblems, also als problemlösende funktionale Leistung begriffen,können sie in eine einheitliche Theorie gefaßt werden. DiesesBezugsproblem ist jedoch, wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, zuweit gefaßt. Erfassung und Reduktion sozialer Komplexität ist die Funktionder Gesellschaft schlechthin, und die Verschmelzung von Gesellschaft undpolitischem System läßt sich nicht halten. Das politische System kann nurein Teilsystem der Gesellschaft sein. Die Theorie des politischen Systemssetzt demnach eine Theorie struktureller Differenzierung der Gesellschaft inTeilsysteme voraus, die an je spezifischen Funktionen orientiert sind – undgenau in dieser Richtung scheint sich die neuere politische Soziologie zuentwickeln.[5]

Die spezifische Funktion dieses Teilsystems Politik bezieht sich nicht aufdie volle soziale Komplexität, sondern nur auf jene Probleme derGesellschaft, die nicht schon »von selbst« durch mehr oder weniger latentwirkende Mechanismen absorbiert noch durch individuellen Kampf gelöstwerden. Komplexität, die weder durch Sprache oder durch Wahrheiten,durch das, was als »Natur« gilt, durch Institutionen, Kongruenz vonInteressen, gemeinsame Geschichte, Konsens schon bewältigt ist noch derdrastischen Reduktion durch Definition einer Freund/Feind-Situationüberlassen werden kann, ohne daß Bestand und Zusammenhalt derGesellschaft in Gefahr gerieten, bedarf einer besonderen Behandlung, diezwischen diesen Alternativen der Institutionalisierung und des offenenKonfliktes liegt – eben der politischen. Das politische System wird mit den»offenen« Problemen der Gesellschaft konfrontiert, und es löst dieseProbleme durch bindende Entscheidung. Dabei bezieht sich die Bindungnicht nur auf das politische System selbst, sondern in erster Linie auf dasumfassende Sozialsystem der Gesamtgesellschaft, in dem das politischeSystem seine Funktion erfüllt. Das politische System reduziert Komplexitätmithin nicht nur wie ein Organismus für sich selbst, als Bedingung seineseigenen Fortbestehens in einer übermäßig komplexen Welt, sondern in ersterLinie für seine Umwelt, die selbst den Charakter eines umfassendenSystems hat.[6]

Die Charakterisierung des politischen Systems kann mithin nicht alleinaus seiner Funktion abgeleitet werden; es muß eine strukturelle Bestimmunghinzutreten (und dies gilt schlechthin als eine allgemeine, wenn auch oft

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verkannte Regel der funktionalen Methode, da eine Funktion normalerweiseauf verschiedene, funktional äquivalente Weise erfüllt werden kann, alsoStrukturen nicht festlegt). Die Funktion ergibt sich aus dem Bezug auf dasProblem der sozialen Komplexität. Die Art, wie diese Funktion erfüllt wird,kann im groben durch den Begriff bindende Entscheidung wiedergegebenwerden. Formal ähnlich verfährt Parsons, wenn er als spezifische Funktiondes politischen Systems »goal attainment« annimmt und darüber hinaus zurweiteren Kennzeichnung des politischen Systems denKommunikationsmechanismus der Macht verwendet und im Machtbegriffdas Moment der bindenden Entscheidung unterbringt.

Daß diese Reduktion durch »bindende Entscheidung« erfolgt, heißt, daßim politischen System Prozesse selektiver Informationsverarbeitungablaufen, deren Ergebnis von der gesellschaftlichen Umwelt des Systemsakzeptiert wird – aus welchen Gründen immer. Die Gründe dieserHinnahme gehören nicht zum Begriff des politischen Systems. Zwar gibt essicher Gehorsamsgründe, die kein dauerhaftes politisches System entbehrenkann, zum Beispiel den Besitz beträchtlicher Zwangsmittel, weitreichendenRollenkonsens, Legitimität (im unten zu erörternden Sinne). Aber schonweil es dabei um eine Mehrheit völlig heterogener Gründe geht, anderehinzukommen mögen und die Gewichtsverteilung zwischen ihnen variabelist, empfiehlt es sich nicht, den Begriff des politischen Systems durchEinbeziehung dieser Gesichtspunkte zu verunklären. Wir werden auf dieseFrage ausführlich zurückkommen müssen. Zunächst sei nur festgehalten, daßein politisches System nur besteht, wenn und soweit es einer Gesellschaftgelingt, den in bestimmten Rollen und Rollenzusammenhängen ablaufendenselektiven Prozessen Verbindlichkeit für andere Rollen zu verschaffen.Diese Funktionsbestimmung läßt vielerlei offen und eignet sich geradedadurch als grundbegriffliche Konzeption einer vergleichenden politischenSoziologie.

Aber nicht nur der Entscheidungsbegriff, sondern auch derProblembegriff, der die noch offene soziale Komplexität bezeichnet, ist einFormalbegriff und läßt es dahingestellt sein, um welche sachlichenProbleme es sich handelt. Die Definition der politischen Funktion alsproblemlösendes Entscheiden enthält kein inhaltliches Kriterium dafür,welche Probleme und wie viele in einer Gesellschaft als

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entscheidungsbedürftig politisiert werden.[7] Zu vermuten ist natürlich, daßArt und Umfang der offenen Probleme für die gesellschaftliche Stellung despolitischen Systems, seine personellen und fachlichen Schwerpunkte, seineGröße und den Grad seiner gesellschaftlichen Autonomie, von Bedeutungsein werden. Die Problemlage und die Eigenkomplexität der Gesellschaftscheint bestimmend dafür zu sein, was das politische System leisten unddaher sein muß. Aber das sind bereits Fragen der empirischen Forschung,die nicht durch den grundbegrifflichen Bezugsrahmen der Theorie vorwegentschieden werden dürfen.[8]

Die Unbestimmtheiten unseres Begriffs des politischen Systems sindmithin als überlegte, strategisch placierte Unbestimmtheiten zu verstehen.Die Unbestimmtheit der »bindenden Entscheidung« ersetzt dieherkömmlichen Macht- und Konsenstheorien; die Unbestimmtheit derProblemformel und damit des Gegenstandes der Entscheidung ersetzt dieherkömmlichen Zwecktheorien. In beiden Fällen treten an die Stelle vonvermeintlichen Wesensausdrücken begrenzte, funktional strukturierteVariationsmöglichkeiten.

Das ist aber nur möglich, wenn nicht nur für die Gesellschaftstheorie,sondern auch für die politische Theorie die Systemtheorie als fester Bodenvorausgesetzt werden kann, denn jene Grenzen möglicher Variation lassensich nur als Bedingungen der Erhaltung eines Systems theoretisch fixieren.Auch an der Sache selbst läßt sich zeigen, daß eine funktionalistischkonzipierte politische Theorie Systemtheorie sein muß. Eine Herstellungbindender Entscheidungen ist als laufende Leistung nur zu gewährleisten,wenn dafür Sozialsysteme gebildet werden, die sich selbst in einerübermäßig komplexen Umwelt erhalten können, indem sie ihre besondereFunktion als ihr Problem definieren und durch Problemlösung erfüllen.

Für politisches Handeln ist die Problemlage, die ein Handeln zumpolitischen macht, in doppeltem Sinne prekär: Die Restkomplexität derGesellschaft, die durch latent wirkende Absorptionsmechanismen nichtreduziert wird, tritt zumeist offen zutage. Das politische Handeln hat esdaher typisch mit einem zugespitzten Problembewußtsein und zumeist mitartikulierten, einander ausschließenden Handlungsmöglichkeiten zu tun[9] –eine Situation, in der das Richtige nicht von selbst erscheint, ja, man kannsagen: in der es keine richtige Lösung gibt. Die Politik muß nicht nur andere

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Möglichkeiten ausfiltern, sie muß Konflikte lösen. Und dies kann nur durchZentralisierung der Entscheidungskompetenz auf bestimmte Rollengeschehen, die ihrer Vereinzelung zum Trotz den Anspruch erheben unddurchsetzen können, für die gesamte Gesellschaft verbindlich zuentscheiden. Ein solches Problem kann natürlich nicht durch den Entwurfeiner Einzelhandlung gelöst werden. Es setzt die Bildung eines sozialenHandlungssystems voraus, welches das Handeln so weit entlastet, daß dasUnwahrscheinliche Wirklichkeit, ja Routine werden kann. Durch generelleStabilisierung einer Systemstruktur lassen sich nämlich mehr und andereProbleme als durch Zwecksetzung und Mittelwahl für einzelne Handlungenlösen, weil durch Generalisierung eine andersartige Interessenverteilungerreicht wird. Für die Reduktion von Komplexität steht dann einumweghaftes, indirektes Verfahren zur Verfügung, ein Prozeß, dermindestens zwei Schritte erfordert: erst die Einrichtung eines Systems, dasgenerell mit Problementscheidungen beauftragt wird und wegen seinerallgemeinen Vorteilhaftigkeit allgemein akzeptiert wird, und dann dieProblementscheidungen selbst, die durch das System als Ganzes gedecktsind und nur durch Angriff auf das System boykottiert werden könnten.[10]

Weitere Einzelheiten bleiben späteren Kapiteln überlassen, aber eineVorbemerkung ist noch nötig. Wenn sowohl die Gesamtgesellschaft als auchdas politische System und andere Teilsysteme der Gesellschaft als je eigeneSozialsysteme angesehen werden, wird es notwendig, für jede Aussage überFunktionen und funktionale Leistungen die Systemreferenz zu klären.[11]

Schreibt man einer Handlung, Erwartung, Rolle, Institution eine Funktion zu,muß man, soll die Aussage vollständig sein, mit angeben, für welchesSystem. Diese lästige Notwendigkeit wird sich wiederholen, wenn wir dieInnendifferenzierung des politischen Systems in weitere Teilsysteme, vorallem in Politik und Verwaltung, betrachten. Sie ist aber nicht zu umgehen.Die Unterscheidung von Systemreferenzen bezieht sich auf ein wesentlichesMerkmal funktionaler Differenzierung. Was einem Teilsystem dient, dientdamit nicht eo ipso auch dem Gesamtsystem, selbst wenn feststeht, daß dasTeilsystem im Gesamtsystem eine primär positive Funktion erfüllt. DieNützlichkeit eines politischen Systems für die Gesellschaft besagt nämlichkeineswegs, daß alles getan werden muß, um das politische System zufördern, und die Notwendigkeit einer bürokratischen Verwaltung im

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politischen System rechtfertigt nicht alles, was der Verwaltung dient. SolcheKurzschlüsse boten sich unter den teleologischen Denkvoraussetzungen derälteren politischen Theorie an. Die Systemtheorie muß und kann sievermeiden. Sie geht davon aus, daß jedes System, das sich in einer sehrkomplexen Welt erhalten will, eine Vielzahl von Problemen lösen muß, dienicht allesamt zugleich optimal bewältigt werden können. JedeProblemlösung hat vielmehr »dysfunktionale« Rückwirkungen auf andereSystembedürfnisse. Einem funktional spezifisch angesetzten Teilsystem kanndeshalb vom Gesamtsystem aus kein unbegrenztes Wuchern, ja zumeist nichteinmal ein optimales Sicheinbalancieren auf seine Umwelt erlaubt werden,weil dadurch andere Funktionen beeinträchtigt werden würden. Man muß,mit anderen Worten, das Konvergieren funktionaler Leistungen in einemSystem, wenn man es untersuchen will, als Problem und nicht als Prämissevoraussetzen. Der Systemrelativismus der funktionalen Methode ist eineunentbehrliche Absicherung gegen ein allzu harmonisches Weltbild im Sinneder Maxime »Einer für alle, alle für einen«.

Wenn wir unsere Überlegungen über die Eigenart der politischenFunktion unter diesem Gesichtspunkt noch einmal durchgehen, zeigt sich diedoppelte Systemreferenz an ihr selbst. Die politische Funktion zeigt demSystem der Gesellschaft und dem politischen System verschiedeneGesichter. Für die Gesamtgesellschaft ist die Reduktion vonRestkomplexität in dem erörterten Sinne eine hochgradig unbestimmteFunktion. Für das politische System besteht sie dagegen in dem sekundären,schon stärker bestimmten Problem, bindende Entscheidungen zu treffen, dieden Fortbestand des politischen Systems in einer bestimmtenGesellschaftsordnung zu sichern helfen. Es liegt auf der Hand, daß beideProblemformeln nicht ohne weiteres konvergieren und keineswegs immerdieselben Entscheidungen nahelegen, daß es vielmehr wesentlich von derStrukturbildung auf der Ebene der Gesellschaft und von der Ordnunggewisser Mechanismen der Kommunikation abhängt, ob und wieweit solcheine Übereinstimmung sich »von selbst« ergibt.

Mit diesem Konvergenzproblem ist die Fragestellung für die folgendenKapitel des II. Teils umrissen.[12] Bevor wir ihr weiter nachgehen, mußjedoch ein Versäumnis aufgedeckt und eine Klarstellung nachgeholt werden.Wir hatten »das« politische System als Teilsystem des Gesellschaftssystems

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bezeichnet, ohne zu überlegen, ob es nicht auch in anderen Sozialsystemenpolitisches Handeln gibt, zum Beispiel in Familien, Vereinen, Betrieben.Dem ist in der Tat so. Wir müssen dieser Frage daher ein weiteres Kapitelwidmen.

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5. Kapitel

Politik in der Gesellschaft und in anderen Sozialsystemen

Die wohl vorherrschende Auffassung verbindet den Begriff des Politischeneng mit dem des Staates.[1] Ein wenigstens mittelbarer Staatsbezug seinotwendig, um ein Handeln als politisch auszuzeichnen. Ein Zusammenhangmit den inhaltlichen Definitionen der Politik durch Macht, Ziele oder wasimmer läßt sich nicht herstellen. Von den Prämissen der politischenWissenschaft her gesehen bleibt diese Einschränkung willkürlich.[2] Da wirjedoch den Staatsbegriff, der in dieser Diskussion gemeint ist, nichtzugrunde legen, können und brauchen wir diese Frage nicht zu entscheiden.Für die politische Soziologie und besonders für eine Theorie despolitischen Systems stellt sich die Frage anders.

Zunächst müssen in der allgemeinen soziologischen Theorie die BegriffeSozialsystem und Gesellschaft unterschieden werden, weil die Gesellschaftnur ein Sozialsystem über anderen ist. Die Soziologie ist, wie vor allemParsons nachdrücklich betont, nicht nur Gesellschaftswissenschaft, sondernTheorie des Sozialsystems, und muß sich in diesem Rahmen mit derGesellschaft als einer besonderen Art von Sozialsystem befassen.[3] AlleSozialsysteme, und nicht nur die Gesellschaft, finden sich derNotwendigkeit ausgesetzt, soziale Komplexität zu reduzieren, und daherkann es in allen Sozialsystemen erforderlich werden, zu nichtselbstverständlichen und trotzdem bindenden Entscheidungen zu kommen.Politisches Handeln ist daher in allen Sozialsystemen von einigerKomplexität und Dauer zu erwarten.

Wenn zum Beispiel in bezug auf organisationsinterne Taktiken desLancierens, Durchsetzens oder Blockierens von Ansichten oder Absichtenvon »Politik« gesprochen wird, so ist das keineswegs nur bildlich oderanalog gemeint.[4] Es handelt sich dabei um echte Politik, wenn auch inkleinerem Rahmen, ungeachtet der Frage, ob es sich um staatliche odernichtstaatliche Organisationen handelt. Es gibt eine originäre Vereinspolitik– und dies nicht deshalb, weil die Satzung des Vereins sich auf positives

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staatliches Recht zurückführen läßt und insofern einen mittelbarenStaatsbezug hat, sondern weil die Funktion politischen Handelns auch inVereinen erfüllt werden muß. Selbst für das System religiöser Handlungenist ein Einschuß politischer Aktivität unentbehrlich: So findet manKirchenräte und Theologieprofessoren damit beschäftigt, Minderheiten alsMehrheiten erscheinen zu lassen, Sitzungsprotokolle zu überarbeiten,Leserbriefe zu schreiben. Und im Bereich des Wirtschaftssystems gibt esneben der staatlichen Wirtschaftspolitik originäre Unternehmenspolitik undnicht zuletzt eine Konsumpolitik des Familienhaushalts – in allen FällenProzesse der Reduktion offener sozialer Komplexität.

Gleichwohl ist es in den meisten Teilsystemen der Gesellschaftschwierig, wenn nicht ausgeschlossen, dem politischen Handeln wiederumSystemcharakter zu geben und es dadurch in offener Anerkennung seinerFunktion zu institutionalisieren. Am deutlichsten trägt noch das Leitungs-und Verwaltungssystem großer Wirtschaftsunternehmen den Charakter eineseigenständigen politischen Systems. Zumeist treten jedoch in Teilsystemender Gesellschaft die politisch zu lösenden Entscheidungsprobleme nichthäufig und nicht kohärent genug auf, um es zu rechtfertigen, sie als solche zuetikettieren und spezifischen Rollen aufzutragen. Ansätze zu einerUntersystembildung lassen sich oft genug erkennen – so wenn ein Ministerfür seine »Hauspolitik« andere Vertrauenspersonen, andereKommunikationswege und andere Einflußmittel benutzt (und daher selbstauch auf andere Weise benutzt wird) als in seiner Staatspolitik. Doch hat dierollenspezifische Konsolidierung eines politischen Subsystems inTeilsystemen der Gesellschaft enge Grenzen, denn es würde sich dabeischon um das Untersystem eines Untersystems handeln.[5]

Wir werden im folgenden Teil ausführlich erörtern, mit welchenSchwierigkeiten die Ausgliederung eines spezifisch politischen Teilsystemsaus anderen Rollenzusammenhängen selbst auf der Ebene der Gesellschaftzu ringen hat. Das erklärt dann zugleich, weshalb es zu einer solchensystemmäßigen Ausdifferenzierung in kleineren Systemen kaum kommt. Den»Politikern« kleinerer Systeme fehlt denn auch durchweg die spezifischpolitische Legitimation. Sie müssen von anderen Rollengrundlagen ausoperieren. Sie benötigen, um systeminterne Politik treiben zu können,zumeist systemexterne Machtgrundlagen als Eigentümer oder Großaktionär

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des Unternehmens, als politisch eingesetzter Verwaltungschef, alsangesehener Kaufmann, der zum Vorsitzenden eines Wohltätigkeitsvereinsgewählt wird, als berühmter Professor, der in einer Geldverteilungsstellemitwirkt. An ihre Hauptrollen gebunden, können sie sich weder zeitlichnoch darstellungsmäßig ganz politischen Funktionen widmen.

Unter diesen Umständen hat es guten Sinn, die politische Soziologieprimär an dem Modellfall zu orientieren, in dem die Ausdifferenzierung undAutonomsetzung eines spezifisch politischen Systems offensichtlichgelungen ist: an dem Fall der Gesellschaft. An ihm lassen sich sowohl dieEntstehung als auch die besonderen Stabilisierungsbedingungen als auch dieinternen Differenzierungen und Prozesse, Folgeprobleme undVerhaltenslasten eines politischen Systems am besten studieren. Damit istindes kein begrifflich-theoretischer Ausschließlichkeitsanspruch verbunden.Es bleibt die Möglichkeit offen, die Erfüllung der politischen Funktion desAbsorbierens von Restkomplexität auch in anderen Systemen zu studieren,die es sich nicht leisten können, ein eigenes politisches Teilsystem zubilden, und die dem politischen Handeln gerade dadurch besondereProbleme aufgeben.

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II. Teil

Das politische System der Gesellschaft

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6. Kapitel

Vertikale Ausdifferenzierung des politischen Systems:Herrschaft

Einer der auffallendsten Züge der soziologischen Theorieentwicklung in denletzten Jahren ist, daß sie sich mit dem Gedanken der Evolution erneut zubefreunden beginnt. Die Furcht, mit versteckten Werturteilen zu operieren,und der antihistorische Affekt des frühen Funktionalismus, die lange zukühler, wenn nicht eisiger Ablehnung jedes Gedankens an Fortschritt geführthatten, scheinen gebrochen zu sein.[1] Gewiß hat die langjährigeBeschäftigung mit Systemtheorie unauslöschliche Spuren hinterlassen.Entwicklung muß als Systementwicklung gesehen werden, und daherbeherrscht das Problem stabilisierbarer Systemzustände dieEntwicklungskonzeption. Auch andere Vorbehalte in bezug auf denEvolutionsbegriff selbst, vor allem die Ablehnung einer historischen odergar kausalgesetzlichen Notwendigkeit und des Gedankens einerkontinuierlichen Entwicklung, zeigen, daß man nicht gerade mit Spenceridentifiziert werden möchte. Doch wer kennt schon Spencer genau? EinGedanke zumindest weist unverkennbar auf ihn zurück und wird durch diesystemtheoretische Orientierung noch bekräftigt: daß funktionale undstrukturelle Differenzierung die kritische Variable des Fortschritts derMenschheit sei.[2]

Funktionale Differenzierung bedeutet Steigerung der Eigenkomplexitätdes differenzierten Systems. Darauf abstellend, können wir dieseEvolutionstheorie in den im vorigen Kapitel angedeuteten Bezugsrahmeneiner funktional-strukturellen einfügen und sagen: Die Gesellschaftentwickelt sich zu größerer Eigenkomplexität und ist dadurch in der Lage,die Welt komplexer zu erfassen und auf Sinn zu reduzieren. DieEigenkomplexität der Gesellschaft wird dadurch erhöht, daß eine Vielzahlgleichartiger Kleinsysteme, in denen jeder Teilnehmer alles weiß, sieht,kann und miterlebt, die Komplexität der Welt also auf die Fassungskraft deseinzelnen beschränkt sein muß, ersetzt wird durch relativ große, für den

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einzelnen nicht mehr voll überblickbare Sozialsysteme, die in sich fürspezifische Funktionen Teilsysteme bilden, also funktional differenziertsind. Die Struktur jener Kleinsysteme ist funktional-diffus gebildet. Siebestehen in der Tat im wesentlichen aus bekannten Menschen, kennen nurwenige Rollen – etwa Familien- und Altersrollen –, die den Menschenjeweils ganz in Anspruch nehmen, und im übrigen gibt es nur eineWiederholung des gleichen. Funktional-spezifisch differenzierte Systemesind demgegenüber verhältnismäßig groß, können ihre Teilsysteme inbestimmten Grenzen ohne Konsequenzen für das Ganze variieren, könnenalso eine Vielzahl von verschiedenen Zuständen annehmen und deshalb auchmehr Änderungen ihrer Umwelt überdauern.[3] Als Ausgangsbegriff dieserEntwicklungstheorie dient mithin der Begriff des einfachen,undifferenzierten, funktional-diffus strukturierten Systems.[4] Er markierteine Art historischen Grenzpunkt, eine Schwelle, vor der es vielleicht eineanthropologische, nicht aber eine soziologische Entwicklung geben kann.Das einfache System ist die Status-naturalis-Konzeption der Soziologie. Anihr läßt sich der Umschwung von Handlungstheorien zu Systemtheorien, dendie Soziologie eingeleitet hat und der auch das Verhältnis der politischenSoziologie zur traditionellen politischen Theorie bestimmt, nochmalsverdeutlichen.

Mit Urzustandskonzeptionen wird, mögen sie nun historisch bzw.ethnologisch sachgemäß oder nur methodologisch gemeint sein, einExtremzustand in die Ferne gerückt, um im Vergleich zu ihm dengegenwärtigen Zustand als ganzen seiner Evidenz zu entkleiden und zuproblematisieren. Die Hinsicht der Problematisierung hängt von einervorausgesetzten Theorie ab. Die Status-naturalis-Beschreibungen dertraditionellen politischen Theorie gingen von der teleologischenHandlungsauslegung aus – nämlich von der Auffassung, daß der Mensch imHandeln seinen Vorteil bezwecke und daß die Umstände dem entwedergünstig oder ungünstig sind. Gunst oder Ungunst, Hilfe oder Bedrohungwerden in der Verabsolutierung unversöhnlich und werfen dann, vonentgegengesetzten Seiten, Licht und Schatten auf den faktischenGesellschaftszustand. Nicht zuletzt war es dieser unversöhnliche Gegensatz,der das Naturrecht als Naturrecht diskreditierte, weil er keine Synthesezuließ.

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Die Systemtheorie hat diese Schwierigkeiten, die aus derHandlungstheorie stammen, überwunden. Ihre Konzeption des einfachenSystems projiziert günstige oder ungünstige Umstände nicht ins Extrem,sondern beruht auf einer Variation des Maßes an Komplexität, in demgünstige und ungünstige Umstände von einem Handlungssystem erfaßt undim Handeln selektiv verwertet werden können. Insofern kann man, auftheoretischer Ebene, von einem bedeutsamen Fortschritt sprechen. Einzweiter Gewinn ist damit eng verbunden: Die Systemtheorie hat bessereChancen für historische oder ethnologische Verifikation als die Theorie desverlorenen Paradieses oder des Kampfes aller gegen alle.

Es scheint, daß die einfachsten archaischen Sozialordnungen vongesellschaftsartigem, alle Bedürfnisse des Menschen umfassendemCharakter, auf die wir zurückblicken können, Familien und Stämme (imSinne von Abstammungsgemeinschaften) sind. Für sie gilt nicht dieIdentifikation von Gesellschaft und Politik, durch die eine spätere Epochesich selbst charakterisierte, sondern dem vorausliegend eine Identifikationvon Gesellschaft und Stammesgemeinschaft. Der Stamm ist aus allgemeinenanthropologischen Gründen das unentbehrliche soziale System schlechthin,das in seiner Urform die Übermacht der Umwelt für sämtliche menschlichenBedürfnisse auf erlebbaren, handlungsbezogenen Sinn bringt. Der Stamm istdamit, der Funktion nach, die Gesellschaft.

Mit diesem Befund ist allerdings der systemtheoretische Typus deseinfachen Systems strenggenommen nicht verifiziert. Bereits Familienweisen schon wegen der ihnen inhärenten Altersunterschiede und ihrerAufzuchts- und Versorgungsprobleme eine differenzierte Rollenstruktur undeine entsprechende normative Ordnung (Inzesttabu, Hilfspflichten etc.) auf.[5] Es ist von der Struktur der Familie her nicht prinzipiell gleichgültig, werwas tut. Als System hat die Familie denn auch mehr Potential fürKomplexität, als einzelne ihrer Mitglieder, insbesondere die Kinder, dieAlten und vielleicht auch die Frauen, für sich allein haben könnten.

Diese Art Rollendifferenzierung läßt es jedoch nicht zu, religiöse,politische, wirtschaftliche und kulturelle Funktionen rollenmäßig zu trennen.[6] Deren Unterschiedlichkeit bleibt in der Rollenstruktur unberücksichtigtund ist daher auch für die Beteiligten nicht zu erkennen. Soweit sich eineStatusordnung ausbildet, versteht es sich von selbst, daß die Prominenzrolle

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des Familienoberhauptes für alle diese Funktionen tonangebend ist. Es hatdaher wenig Sinn, in einer solchen Gesellschaftsordnung religiöse,politische, wirtschaftliche und kulturelle Teilsysteme zu unterscheiden.[7]

Und insofern sind und bleiben die Familie und die stammesmäßigeGesellschaft in der Tat funktional-diffus strukturiert.

Dazu kommt, daß die besondere Logik und Entwicklungsgesetzlichkeitreiner Verwandtschaftssysteme den Erfordernissen sozialenZusammenlebens und gemeinsamen Daseinskampfes nicht in jeder Hinsichtangemessen ist. Entweder zwingen Natur und technisch-kulturellerEntwicklungsstand zum Zusammenleben in sehr kleinen Gruppen. DieUreinwohner Australiens, Buschmänner und Eskimos sind dafür Beispiele.[8] Dann reicht die Verwandtschaft, und erst recht die angeheirateteVerwandtschaft, über die größtmögliche politisch-wirtschaftliche Ordnungdes Zusammenlebens hinaus.[9] Es muß ein Prinzip territorialer Abgrenzunghinzukommen, das gegenüber weiteren Stammesbeziehungen die engere,autarke Einheit durch ihr Gebiet definiert.[10] Oder die Bedingungenerlauben ein Zusammenleben größerer Gruppen, die aus einer Vielzahl vonFamilien bestehen, die sich aus gemeinsamer Abstammung herleiten(segmentierte Differenzierung). Dann tauchen neuartigeEntscheidungsprobleme auf, die nicht mehr in der Familie gelöst werdenkönnen. Sie mögen zunächst in gelegentlichem Zusammentreffen derFamilienoberhäupter erörtert und entschieden werden.[11] Zu Entscheidungenkann es nur kommen, wenn aufgrund von generationsmäßigen, militärischen,wirtschaftlichen oder religiösen Statusdifferenzen in einer an sich egalitärenOrdnung genug Führungspotential vorhanden ist,[12] und das heißt, daß aufdieser Ebene der sozialen Organisation die Politik von anderenRollenbereichen der Gesellschaft nicht getrennt, politische Herrschaft nichtals solche stabilisiert werden kann.[13] Überhaupt läßt sich in machtlosenNebenrollen und unter Einigungszwang der Entscheidungsbedarf beianspruchsvolleren Anforderungen schließlich nicht mehr decken. DasPotential eines solchen Systems für Erfassung und Reduktion vonKomplexität ist durch die interne Struktur begrenzt und reicht nicht mehraus. Es kommt durch interne Rangkämpfe, kriegerische Überlagerungen,Nachahmung fremder Muster oder auf welche Weise immer zu einervertikalen Ausdifferenzierung spezifischer Herrschaftsrollen und damit zur

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Ausbildung eines politischen Systems über den Familien.[14]

Politische Herrschaft in diesem Sinne entsteht wohl zuerst, oderjedenfalls in breitem Umfange, in größeren Stämmen, die sich ihrergemeinsamen Abstammung bewußt sind und die besonderenstammesinternen Verhaltensbindungen auf dieser Basis institutionalisierenkönnen. Typisch wird sie erst möglich und zugleich notwendig, wenn dieWirtschaft durch Übergang zu Ackerbau und Viehzucht einenEntwicklungsstand erreicht hat, der Eigentum erforderlich macht und einengewissen Wohlstand und zugleich einen gewissen Entscheidungsbedarf mitsich bringt.[15] Grundlage des Anspruchs auf besondere Rücksichtnahme, aufEinfügung in die gemeinsame Lebensordnung und auf Beachtung ihrerGebote ist und bleibt zunächst die Verwandtschaft – und nicht etwa diebloße Tatsache räumlichen Zusammenlebens.[16] Typisch bildet sich danneine institutionell gefestigte Gewohnheit, einer Familie des Stammesbesondere Prominenz zuzuerkennen und ihr mit geregelter Nachfolge einepolitische Führungsrolle zu übertragen.[17] Solche Systeme setzen jedoch,jedenfalls der Idee nach, Überschaubarkeit der Abstammungsverhältnissevoraus und sind dadurch größenmäßig begrenzt. Sie lassen sich durchVerschachtelung zu größeren Systemen mit entfernterer Verwandtschaft undsehr lockerem Zusammengehörigkeitsbewußtsein ohne zentrale Herrschaftausbauen. Aber letztlich bildet die Verschmelzung vonVerwandtschaftssystem und politischer Ordnung, das heißt die funktional-diffuse Struktur dieser Gesellschaften, eine Schranke der weiterenEntwicklung.[18] Wenn es infolge von Wanderungen oder Kriegen zustammesmäßigen und kulturellen Überlagerungen kommt oder wennVerteidigungsnotwendigkeiten, Bau und Unterhaltung vonBewässerungssystemen oder welche Gründe immer größereZusammenschlüsse erforderlich machen, reicht der Sinn fürverwandtschaftsmäßige Zusammengehörigkeit nicht mehr aus, umprominenten Status von Herrschaftsrollen und die Anerkennung bindenderEntscheidungen zu gewährleisten. Es wird dann notwendig, politischeHerrschaft unabhängig von Verwandtschaftsbeziehungen zu stabilisieren– ein wesentlicher Fortschritt im Sinne einer Entwicklung zu abstraktenGrundlagen sozialer Beziehungen, die zugleich eine komplexere Ordnungder Gesellschaft notwendig macht.

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Die Stabilisierung solcher Herrschaft erfolgt nach dem hierarchischenModell: mit Hilfe der Vorstellung einer naturgegebenen Differenz von obenund unten. Dieses Modell muß, darauf ist man durch Southall[19] aufmerksamgeworden, von der älteren Ranggliederung der segmentiertenVerwandtschaftsgesellschaften unterschieden werden. Diese kannten nureinen »pyramidenhaften« Aufbau der einzelnen Verwandtschaftssegmente,indem sie zum Beispiel Häuptlingsfamilien der Dörfer, Clans oder Stämmehervorhoben. Dabei wurde jedoch auf jeder Ebene eine prinzipiellgleichartige Rolle wiederholt mit abnehmender Macht bei höherem Rang. Insolch einer Ordnung konnte Rang nicht wirksam zur Erfüllung regulativerBedürfnisse oder gar für adaptive oder innovative Bedürfnisse eingesetztwerden.

Demgegenüber betont die hierarchische Ordnung die einheitliche unddurchgehende Bedeutung einer funktionalen Differenzierung von oben undunten. Durch den Bildzwang dieses Schemas wird eine Vielzahl von sehrverschiedenen, zunächst gar nicht zusammengehörigen Strukturen zu einereinzigen, vertikalen Differenzierung verschmolzen: dieRollenunterscheidung, das Prestigegefälle, eine Aufgabenteilung,Weisungsbefugnis und Gehorsamspflicht von oben nach unten, aber nichtvon unten nach oben (also Asymmetrie der Rollenbeziehung),situationsunabhängige Dauer und zahlreiche sekundäre Mechanismen wieStatussymbolik, unterschiedliche Kommunikationsweisen oder garunterschiedliche Sprachen für den Verkehr mit Gleichgestellten bzw.Höhergestellten und unterschiedliche Freiheiten im Verhältnis zu Religionund Recht. Diese Synthese sehr verschiedener Verhaltensaspekte zu einemkonsistenten Ordnungsschema, in dem ein Moment das andere stützt, wärefür einfacher organisierte Völkerschaften nicht vorstellbar gewesen; derZusammenhang hätte nicht eingeleuchtet.[20] Jetzt vermag sie als natürlich-selbstverständlicher Unterschied von oben nach unten zu überzeugen. DieHinnahme politischer Herrschaft aufgrund von Gewohnheit oder Vertrauen,Fatalismus oder Legitimitätsglaube wird von verwandtschaftlichenBindungen unabhängig, also genereller stabilisiert. Damit ist durchGeneralisierung eines Sinnbezuges von Verhaltenserwartungen eindefinitiver Entwicklungsfortschritt erreicht.[21] Gesellschaften, die über einepermanente, nicht nur in Notfällen zu improvisierende und nicht an

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Verwandtschaft gebundene Herrschaftsstruktur verfügen, erweisen sich alsanderen normalerweise überlegen. Ihre Struktur bleibt, von vollständigenKatastrophen abgesehen, erhalten, auch wenn sie besiegt und unterjochtwerden, weil sich andere soziale Mechanismen, vor allem Religion,militärische Organisation und Wirtschaft auf Herrschaft eingestellt habenund sie stabilisieren dadurch, daß sie sie voraussetzen.

Angesichts der Bedeutung des Hierarchiegedankens und angesichts seinerNachwirkungen bis in heutige Auffassungen von Staat und Gesellschafthinein lohnt es sich, diesen Erfolg systemtheoretisch etwas genauer zuanalysieren. Dabei stößt man auf zwei zusammenhängende Momente, diewir als Mehrstufigkeit und als strukturelle Unbestimmtheit systeminternerProzesse bezeichnen können. Auf die Vorteile einer Mehrstufigkeit bzw.Indirektheit der Informationsverarbeitung waren wir bereits gestoßen, alswir die Problematik der Betreuung[22] spezieller Entscheidungsrollen mitbindenden Entscheidungskompetenzen besprachen. Eine solcheSpezialisierung ist nur erreichbar, wenn die Spezialrollen im Systemgenerelle Unterstützung erfahren, das heißt ohne Rücksicht auf das Ergebniseinzelner Entscheidungsprozesse mit Mitteln und Legitimität ausgestattetwerden. Die Zustimmung zur Entscheidung wird gleichsam pauschal vorwegerteilt und dann erst durch rollenspezifische Prozesse derInformationsverarbeitung fallweise sinnverdichtet. Die Komplexität derUmwelt wird so in zwei Schritten reduziert, die unter je anderenMotivationsstrukturen vollzogen werden, so daß insgesamt Entscheidungenerreichbar sind, die in einem Akt niemals hätten motiviert werden können.Gewonnen wird dadurch einmal eine beträchtliche Steigerung desEntscheidungstempos und damit Zeitgewinn für kritische Lagen, da inHerrschaftsrollen im Einzelfall ohne Einholung von Konsens gehandeltwerden kann. Das ermöglicht es dem Sozialsystem, sich auch unter raschwechselnden Bedingungen in einer fluktuierenden Umwelt zu erhalten, alsoeine zeitlich komplexe Umwelt zu haben. Zum anderen wird durch solcheHerrschaftsrollen die Struktur des Systems an entscheidender Stelleunbestimmt stabilisiert. Es wird sichergestellt, daß entschieden werdenkann, nicht aber was entschieden wird. Strukturelle Unbestimmtheit ist einwesentliches Merkmal aller Systeme, die ein Mindestmaß anEigenkomplexität überschreiten wollen. Sie müssen Koordinations- und

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Kontrollzentren als Zentralen für Unvorhergesehenes einrichten.[23] Aufdiese Weise wird es dem System durch seine Struktur ermöglicht, elastischzu sein, verschiedene Zustände anzunehmen, also mit mehr Umweltenvereinbar zu sein, und das heißt: eine sachlich komplexere Umwelt habenzu können.

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7. Kapitel

Horizontale Ausdifferenzierung des politischen Systems:Funktionale Spezifizierung

Was durch institutionelle Stabilisierung einer hierarchisch herausgehobenenHerrschaft über Familien und Stämme gewonnen wird, ist eine Steigerungder Fähigkeit, mit einer zeitlich und sachlich komplexen Umwelt ins reine zukommen und ihr sinnvoll handelnd zu begegnen. Herrschaften dieser Arthaben zum Beispiel in den asiatischen und afrikanischen Königtümern bis indie Neuzeit hinein bestanden. Daß es sich dabei um rein politischeHerrschaften und damit um ein spezifisch politisches Teilsystem derGesellschaft gehandelt hat, muß jedoch bezweifelt werden. Diehierarchische Heraushebung der Herrschaftsrollen bedeutet nicht zugleichauch eine funktionale Spezifizierung ihres Sinnes auf einen lediglichpolitischen Entscheidungsauftrag.[1] Im Gegenteil: Für das Gelingen jenerLoslösung aus der Bindung an Verwandtschaftszusammenhänge istvermutlich gerade entscheidend, daß eine solche Spezifizierung zunächstunterbleibt und das Herrschaftssystem den Charakter einer multifunktionalenStruktur bewahrt. Vertikale und horizontale Differenzierung der Gesellschafthätten niemals zugleich in einem Schritt erreicht werden können. MagischeFähigkeiten und rituelle Funktionen in ihrer Unheimlichkeit undUnentbehrlichkeit ergeben wohl die ersten Verhaltenserwartungen, dieMenschen oder spezifische Rollen aus den normalenVerwandtschaftsbindungen heraussetzen und gegen sie isolieren. Dasbefähigt zugleich zur Wahrnehmung unparteilicher politischer Funktionen.[2]

Der Anknüpfungspunkt für eine vertikale Heraushebung politischer Ämteraus Verwandtschaftsbeziehungen ist jedenfalls durchweg mit magisch-religiösen Sanktionen verbunden. Dem entspricht ein gewisser Denkzwangder Hierarchievorstellung. Daß übergeordnete Rollen untergeordnetenverantwortlich seien, wäre für alle einheitlich-hierarchisch strukturiertenSozialordnungen ein unvorstellbarer Gedanke, würde das doch denUnterschied von oben und unten aufheben und die Hierarchie durch ein

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gegenläufiges Prinzip kompromittieren. Die Spitze der Hierarchie kann nurnach oben, den Ahnen, Totengeistern oder Göttern gegenüber,verantwortlich gemacht werden (was nicht ausschließt, daß das Volk aufZeichen der Ungnade des Himmels sehr drastisch reagiert).[3] Schließlichscheint auch für die innere Stabilität einer solchen Herrschaftsstruktur ihrmultifunktionaler Charakter unentbehrlich zu sein. Die Prominenzrollen desSystems erstrecken sich dann nicht nur auf den politischen, sondern auch aufden militärischen, den religiösen, den wirtschaftlichen Sektor. Die Strukturist durch Statuskongruenz gesichert; es gibt keinen Status, der außerhalbihrer begründbar wäre, keine Gegenhierarchie, von der aus Zweifel amVorrang erwachsen könnte.

Ein weiteres Merkmal dieser einfachen, hierarchischen gesellschaftlich-politischen Ordnungen ist, daß der Familie erhebliche politische Funktionenverbleiben müssen. Die unter dem Gesichtspunkt der Herrschaftherausgehobenen politischen Rollen sind mit religiösen und militärischenAufgaben oder mit reinen Selbsterhaltungs- und Bereicherungsbemühungenokkupiert. Sie sehen es nicht als ihre Aufgabe an, das tägliche Verhalten derBevölkerung zu regulieren oder zu »entwickeln« – einer Bevölkerung, die intraditional fest geprägten Weisen ohne viele Alternativen und mit geringemBedarf für Entscheidungen dahinlebt.

Das Kommunikationspotential der politischen Ämter, vor allem ihrerSpitze, reicht im übrigen nicht aus und wird auch nicht eingesetzt, um denBedarf für bindende Entscheidungen der in kleinen Gruppen zerstreutlebenden Bevölkerung zu decken. Die Dörfer liegen oft weitab vom Zentrumpolitischer Willensbildung und führen ihr Eigenleben, auch in politischerHinsicht, relativ autark.[4] Die notwendigen Kleinentscheidungen zu treffenbleibt dem Hausherrn überlassen. Die interne Zwangs- undEntscheidungsgewalt des Familienvaters geht daher sehr weit und wird vomRecht des politischen Systems nur in groben, äußeren Umrissen erfaßt.[5]

Die geringe Wirkungsintensität des politischen Systems nach unten macht esunnötig, in der gesamten Bevölkerung politische Rollen für jedermannauszusondern. Es gibt im Bewußtsein der Bevölkerung keine »Wähler«,keine politisch diskutierfähigen Meinungsinhaber, keine Parteianhänger,keine Benutzer öffentlicher Einrichtungen usw. Allenfalls in denHauptstädten größerer Reiche verbreitert sich die gesellschaftliche

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Aussonderung eines politischen Systems in dieser Weise nach unten.Da das Verwandtschaftssystem an strukturell prominenter Stelle und auch

politisch noch benötigt wird, daneben aber doch schon anders organisierteHerrschaftsbürokratien entstehen, sind Konflikte zwischen beidenOrdnungen unvermeidlich und prägen die Probleme diesesGesellschaftszustandes. Nicht alle Gesellschaften bringen eineverhältnismäßig stabile Lösung zustande, wie sie etwa im chinesischenReich und im Japan der Tokugawa-Zeit erreicht wurde.[6] Der Brennpunktder Konflikte liegt einmal in den Nachfolgeproblemen der Herrscherfamilie,die sehr oft nur durch Tötung überzähliger Kandidaten gelöst werdenkönnen; zum anderen in der Lokalverwaltung, die der Hausbürokratie desHerrschers loyal ergeben sein sollte, zugleich aber am Ort ihrer Verwaltungverwandtschaftlichen Bindungen unterliegt.[7] Probleme dieser Art tretenerst zurück, wenn das Verwandtschaftssystem seine die Sozialordnungtragende Funktion verliert und wenn das Herrschaftssystem auf reinpolitisch-administrative Funktionen spezialisiert und dadurch in seinerLeistungsfähigkeit gesteigert wird.

Im Vergleich zu dieser einfachen, vertikalen Differenzierung kann dasPotential des politischen Systems für Informationsverarbeitung undEntscheidung beträchtlich gesteigert werden, wenn es gelingt, denInstitutionen und Prozessen des politischen Systems mehr entlasteteArbeitszeit, also größere Kapazität, zur Verfügung zu stellen. Dazu ist eserforderlich, daß eine größere Zahl von Rollen für spezifisch politisch-administrative Funktionen gesellschaftlich freigestellt und unterstützt wirdund daß in diesen Rollen Informationen und Erfahrungen angesammelt undGeschicklichkeiten, Fähigkeiten und Vertrauen für ein Zusammenspielausgebildet werden können, die in der Gesellschaft nicht allgemeinverbreitet sind und nicht von jedermann erwartet werden können. WennPolitik und Verwaltung schließlich hauptberuflicher Arbeit überantwortetwerden, können die entsprechenden Entscheidungsorgane kontinuierlichfunktionieren, ohne daß zum Beispiel die Mitglieder der gesetzgebendenVersammlungen zwischendurch nach Hause müssen, um ihre Felder zubestellen. Mit einer solchen Ausdifferenzierung spezifisch politischer oderbürokratischer Rollen ist ein Verlust jener Art impliziter sozialer Kontrolleverbunden, die über Rollenidentitäten oder personale

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Rollenzusammenhänge lief. Ein Politiker oder Bürokrat, der nicht mehr aufeigene andere Rollen in familiären, wirtschaftlichen, religiösen oderkulturellen Interaktionszusammenhängen Rücksicht zu nehmen hat, muß nunvon außen, und das heißt an expliziten Kriterien oder Erfolgsbedingungen,kontrolliert werden. Ein Übergang von traditionalen zu rationalenGrundlagen der Legitimation bahnt sich an.

Die Schwierigkeiten und das häufige Scheitern einer solchenAusgliederung und Verselbständigung eines politischen Teilsystems derGesellschaft sind in einer großangelegten Untersuchung von Eisenstadtbehandelt worden.[8] Eisenstadt zeigt überzeugend, daß die Errichtung undStabilisierung eines relativ autonomen, primär mit Politik und Verwaltungbefaßten Teilsystems der Gesellschaft von angebbarengesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen abhängt. Vor allem müssenandere Teilbereiche der Gesellschaft entsprechend verselbständigt,spezifiziert und in ihrer Leistung gesteigert werden, kurz: in eine Formgebracht werden, die mit funktionaler Differenzierung der Gesellschaftvereinbar ist. Diese allgemeine Bedingung hat eine Vielzahl von Aspekten,von denen die wichtigsten wenigstens andeutungsweise skizziert werdenmüssen, damit die geschichtliche ebenso wie die strukturelle Problematikder Ausbildung neuzeitlicher Staatswesen verständlich wird:

1. Die einzelnen Teilbereiche der Gesellschaft müssen in ihrenLeistungen so gesteigert werden, daß sie ihre Funktionen reichlich erfüllen,daß sie – mit anderen Worten – strukturell und bedürfnismäßig nicht festgebundene »Überschüsse« abwerfen, auf die andere Systeme zurückgreifenkönnen, ohne strukturelle Komplikationen auszulösen.[9] Ganz allgemeinmuß in der Gesellschaft daher ein hoher Grad von Freiheit institutionalisiertsein im Sinne einer Möglichkeit zu nicht auf zwingende Bedürfnissegerichtetem und nicht strukturell gebundenem Handeln, damit Teilsystemesich aneinander anpassen können, ohne unter den Anforderungen diesesVorgangs in ihrer Struktur zu zerbrechen.

Bekannt und viel erörtert ist zum Beispiel die Tatsache, daß dieWirtschaft, soll ein bürokratisches Verwaltungssystem geschaffen werden,über genügend liquide, in der Verwendung jeweils nicht gebundene Mittel,also über Geldkapital, verfügen muß, die ihr entzogen werden können, ohnedaß Not ausbricht.[10] Weniger geläufig ist die Einsicht, daß auch von der

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Familie eine Mehrleistung in spezifischen Hinsichten und mehr innereElastizität erwartet wird, wenn die Verhaltensanforderungen indifferenzierten Gesellschaften steigen. Sozialisierung, seelischerBelastungsausgleich, intensiverer Konsens für eine engere und dadurchhandlungsnähere Welt[11] – das sind Beiträge der Familie, die auch daspolitische System der Gesellschaft voraussetzen muß, und diese Beiträgemüssen relativ unabhängig davon erbracht werden, welche Entscheidungenim politischen System jeweils getroffen werden, zum Beispiel auchunabhängig davon, welche Partei die einzelnen Familienmitglieder wählen.[12] Eine solche Steigerung der Leistung und Autonomie der Familie wirderreicht durch Spezifizierung ihrer Funktionen und durch Generalisierungihrer Struktur, vor allem durch Entlastung von zahlreichen anderen, zumBeispiel auch politischen Funktionen und durch Institutionalisierung derLiebe im Sinne einer individuellen, sozial nicht regulierbaren Passion alsEhegrundlage. Nach wie vor ist dann die Familie das Zentrum sozialerKontrolle, weil nur in ihr alle sozialen Rollen des einzelnen zusammensichtbar sind, aber die Kontrolle wird durch ein sehr diffuses Prinzipindividueller Zuneigung vermittelt, so daß sie mit sehr unterschiedlichenund konfliktreichen Anforderungen einer stark differenzierten Gesellschaftvereinbar ist.

Ein drittes Beispiel für diese Entwicklung sei dem Gebiet der Religionentnommen. Hier hängt das Autonomwerden der Politik zunächst von einemProzeß der Generalisierung religiöser Symbole und der Individualisierungvon Angst[13] ab, der dem politischen System einen größeren Spielraumlegitimierbaren Handelns auf der einen und neue »moralische«Motivquellen auf der anderen Seite erschließt. Entwicklungen in dieserRichtung lassen sich seit der Mitte des Jahrtausends vor Christi Geburt inverschiedenen Regionen – so in Indien, in Vorderasien und imMittelmeerraum – beobachten. Sie führen indes noch keineswegs zu einerautonomen (rein politischen) Legitimation des politischen Systems. Dazu isteine sehr viel stärkere strukturelle Trennung von Politik und Religion inallen Rollenbereichen erforderlich, die sich erst im späten Mittelalteranzubahnen beginnt und dann in das neuzeitliche Prinzip der »Trennung vonStaat und Kirche« ausmündet.[14] Nachdem die großen Weltreligionen schonfrüh eine Unabhängigkeit von askriptiven Bindungen, eine Orientierung an

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allgemeinen Kriterien richtigen Glaubens erreicht und teilweise sogarExklusivität von Mitgliedschaften gefordert und durchgesetzt hatten,konzentriert sich das religiöse Bemühen der Neuzeit auf das Überbrückender Spannung von Dogma und Glauben im Sinne einer individuellen undaktiven Leistung. Damit ist ein Rückzug aus der Mitverantwortung für dieEinzelheiten des politischen und wirtschaftlichen Geschehens oder für dieErgebnisse der wissenschaftlichen Forschung verbunden, ohne daß dergenerelle Anspruch auf letzte Sinndeutung des menschlichen Lebensaufgegeben würde.

2. Mit der funktionalen Spezialisierung und Differenzierung werden inder Gesellschaft Teilautonomien und Abhängigkeiten, Independenzen undInterdependenzen zugleich gesteigert. Auch die Rollenstruktur ändert sich.An die Stelle personaler Rollenkombinationen treten mehr und mehrsachlich-komplementäre Zusammenhänge von Rollen verschiedenerPersonen, und das bedeutet, daß die Integration der Gesellschaft nicht mehrdurch (kommunikationslose) Rücksicht auf eigene andere Rollen erfolgenkann, sondern durch Kommunikationsprozesse geleistet werden muß. DieKommunikationsleistungen innerhalb und zwischen den einzelnenTeilsystemen der Gesellschaft müssen vermehrt und intensiviert werden.[15]

Die Leistungen der allgemeinen Sprache als Träger der Kommunikationbleiben jedoch in dem geschichtlich überblickbaren Zeitraum imwesentlichen konstant (das heißt: Man kann die Kommunikationsleistungdurch schnelleres Sprechen oder durch Verbesserungen am Wortschatz oderan der Grammatik nicht wesentlich steigern).[16] Die Mehrung undIntensivierung der Kommunikation läßt sich nur auf Umwegen erreichen, vorallem (1) durch Ausbildung von Fachsprachen als spezifischenProblemlösungssprachen, zum Beispiel der Mathematik; (2) durch überlegteOrganisation des Kommunikationsprozesses, die auf Verstärkung seinesselektiven Effektes abzielt; (3) durch technische Vervielfältigung dereinzelnen Kommunikation in den sogenannten Massenmedien; und (4) durchInstitutionalisierung genereller Medien der Kommunikation, die ihreEffektsicherheit steigern.[17]

Diese Steigerungsmittel müssen mit denjenigen Institutionen abgestimmtsein, ja verschmolzen werden, die in den einzelnen Teilsystemen derGesellschaft die erforderlichen Freiheiten gewährleisten. So wird

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Effektsicherheit der Kommunikation gerade durch diejenigen Medienerreicht, die in den einzelnen Systemen jene Freiheiten institutionalisieren,zum Beispiel durch Geld, durch legitime Macht, durch überziehbarewissenschaftliche Autorität, durch Liebe. Diesen Medien wird alsoEffektsicherung und Freiheit gleichzeitig abverlangt. Das bedingt einenhohen Grad der Generalisierung der entsprechenden Verhaltenserwartungen.

3. Weitere Umstellungen werden dadurch ausgelöst, daß in funktionaldifferenzierten Sozialordnungen die typische Form der Rollenverbindunggeändert werden muß. Die Rollendifferenzierung schreitet so weit fort, daßdie Rollenkombination in einzelnen Personen nicht mehr durch dieSozialstruktur festgelegt werden und daher auch nicht mehr vorausgesagtwerden kann, sondern mehr oder weniger dem Zufall überlassen werdenmuß.

Auch einfache Sozialordnungen kennen immer verschiedene Rollen, alsoRollendifferenzierung, aber sie beruhen darauf, daß konfliktträchtige Rollen,die koordiniert werden müssen, in jeweils einer Person kombiniert sind.Deren Verbindung liegt dann durch die Struktur des sozialen Systems auf derGrundlage unausweichlicher Geschlechts- und Altersrollen fest. DasFamilienoberhaupt ist als solches wehrpflichtig, für die Beachtung derRitualien verantwortlich, Eigentümer und Produktionsleiter, Mitglied desStammesrates usw. Gerade weil diese Kombination auf dieVerhaltensmöglichkeiten einer typischen Person zugeschnitten ist, könnensolche Sozialordnungen Personen austauschen, ohne die Rollenstruktur zuändern. Der Nachfolger rückt einfach in die vorgeformte Rollenkombinationein, ohne daß sonstige Rollenpflichten ihm anhängen, die ihn in Konfliktebringen.[18] Eine solche Sozialordnung braucht und kennt daher keineabstrakten Normen oder gar Werte, für das sachliche Aufeinanderspielender Handlungen genügt die konkrete Ebene der Rollen. DerenZusammenhang kann dann bis ins einzelne ausgearbeitet und so tradiertwerden, wobei jedes Moment das andere stützt. Dadurch kommt es zu jenererstaunlichen Homogenität und Ähnlichkeit der Lebensgeschichten inarchaischen Sozialordnungen. Gerade weil die Sozialordnung die Einheitder Person als Strukturprinzip in Anspruch nimmt, kann sie sich keinen»Individualismus« leisten.

Aber die Aufnahmefähigkeit einer Person für verschiedene Rollen ist

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begrenzt. Unistrukturelle Ordnungen der beschriebenen Art können daher einsehr geringes Maß an Komplexität nicht überschreiten. Wenn dieEntwicklung durch Spezialisierung und Differenzierung die Zahl derbenötigten Rollen vervielfältigt, müssen neue, von der Person unabhängigeFormen der Rollenkombination und der Rollentrennung gefunden werden.Die einzelnen Rollen müssen, um zeitlich und sachlich kombinierbar zusein, an universellen, von der Person und ihren partikularen Beziehungenunabhängigen Kriterien ausgerichtet werden. Dadurch wird ein Prozeß derRollenrationalisierung ausgelöst, der das jeweilige Bewirken spezifischerWirkungen in den Vordergrund der Überlegungen rückt und zugleichabstrakte Normen und Werte, schließlich Ideologien erforderlich macht,nach denen sich entscheiden läßt, wer wann um welcher Wirkungen willenwelche Rolle zu übernehmen hat.[19]

Damit allein kann jedoch die Vielfalt der Rollen, die innere Komplexitätstark differenzierter Sozialordnungen, nicht gemeistert werden. Hinzukommen muß ein hohes Maß an Rollentrennung, an institutionalisierterIndifferenz gegen die jeweils nicht aktualisierten »anderen Rollen« derPartner. Gleichgültigkeit gegen andere Rollen muß erlaubt, unschädlich,gegebenenfalls sogar geboten sein.[20] Es sollte, um ein Beispiel aus dempolitisch-administrativen Bereich zu wählen, prinzipiell irrelevant sein,welcher Abstammung ein Politiker oder Beamter ist, wieviel Vermögen erhat, welcher Religion er angehört, mit wem er seine Freizeit verbringt undso fort. In dem Maße, als solch eine Indifferenz des politischen Systemsgegenüber allen unpolitischen Rollen der Gesellschaft strukturell nichtgesichert ist – strukturelle Indifferenz kann natürlich auch im Prinzip gerechtproportionierter Vertretung Ausdruck finden –, wird in das politischeSystem in der Form bevorzugter Rollenkombination ein selektives Prinzipeingebaut, das die Fähigkeit zur Aufnahme und Verarbeitung vonInformationen, insbesondere zur Absorption sozialer Konflikte, einschränkt.[21]

Rollentrennung macht personelle Rollenkombinationen unvorhersehbar.Soweit sie nicht wirklich dem Zufall überlassen werden können, wirddadurch die Selektion von Personen für Rollen zu einem Problem, das nurnoch durch bewußte Prozesse nach Maßgabe bestimmter Kriterien gelöstwerden kann. Das erfordert ein hohes Maß an sozialer Mobilität in

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horizontaler und vertikaler Richtung, ein System der Dokumentation vonFähigkeiten für bestimmte Rollen, insbesondere ein auf Zertifikatezulaufendes Ausbildungswesen, und einen funktionierenden Arbeitsmarkt,der ein genügend umfangreiches und gleichmäßiges Angebot und damitkontinuierliche Rollenbesetzung sicherstellen kann.[22] Und nicht zuletztgehört zu dieser Ordnung, daß Status fast nur noch durch Entscheidung inOrganisationen erworben werden kann.[23]

4. Nicht nur unter Gesichtspunkten der Selektion, sondern sehr vielgrundsätzlicher verändert sich die Statusordnung, sobald eine horizontaleGliederung der Gesellschaft in funktional-spezifische Teilsysteme Platzgreift. Die einheitliche Sozialhierarchie zerbricht an ihrem geringenPotential für Komplexität. Es bilden sich in den einzelnen Teilsystemen derGesellschaft mehrere autonome Statuspyramiden nebeneinander, die nichtmehr auf konsistente Rangprinzipien zurückgeführt werden können. Politik,Wirtschaft, Kirchendienst, Wissenschaft, Kunst und neuerdings auchMassenunterhaltungen bieten getrennte Aufstiegswege. Rang in einerHinsicht wird in anderen nicht ohne weiteres anerkannt. Ungediente könnenan die Staatsspitze gelangen, Professoren müssen beim Friseur warten.Überhaupt werden die Rangverhältnisse bei Kontakten mit Unbekanntenunvorhersehbar. Die Kontakte brauchen daher eine auffälligeStatussymbolik, oder sie werden auf einen unpersönlich-sachlichen oderinformal-freundlichen Ton der Gleichheit gestimmt. Vor allem wird in denKontakten zwischen den Statuspyramiden Ranggleichheit eingehalten, unddafür spielen sich Regeln ein, wenngleich von Fall zu Fall Zweifelsfragenauftauchen können, wenn es etwa darum geht, auf welcher Ebene in großenOrganisationen die Spitzen kleiner oder durch wen Beatles empfangenwerden können. In jedem Falle verliert der statusmäßige Rang seineFunktion, sichere Überlegenheit für unvorhersehbare Situationen zuverleihen, also eine Funktion der Reduktion von Komplexität für denStatusträger, und fällt damit auch für das politische System als strukturellgesichertes Machtmittel mehr oder weniger aus.[24]

5. Funktionale Differenzierung führt mehr und mehr zu einer ausgeprägtenSpezifizierung sozialer Kontakte. Außerhalb eines notwendigerweise engenKreises von Intimbeziehungen muß jedermann zahlreiche, zum Teil äußerstflüchtige Kontakte unterhalten, in denen nur Rollen, nicht auch die

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individuellen Personen interessieren. Weite Bereiche des sozialen Handelnswerden auf diese Weise unpersönlich. Das bringt eine Entlastung vonKomplexität, verlangt andererseits aber auch einen Verzicht auf Darstellungund Befriedigung persönlicher Bedürfnisse, sofern sie nicht für den geradeanstehenden Rollenkontext relevant sind. Man muß lernen, die Äußerungvon Wünschen und Gefühlen, Stimmungen und Verärgerungen zukontrollieren und aufzuschieben, bis der rechte Augenblick dafür gekommenist. Unter dem Druck solcher Verhaltenserfordernisse wird die menschlichePsyche umgeformt, man kann sagen »zivilisiert«.[25] Frieden undVersorgung, pax et iustitia, die großen Angstthemen des traditionellenpolitisch-gesellschaftlichen Philosophierens, sind nun im normalen Lebengesichert durch die gesteigerte Leistung des politischen Systems, derMensch kann daher langfristiger disponieren, nach der Uhr leben, höflichwerden, mehr Spannungen sekundärer Art aushalten, soziale Sensibilitätentwickeln, mehr Belastungen absorbieren, bevor er »aus der Rolle fällt«.Er kann sich, mit anderen Worten, eine individuelle Persönlichkeit anlernen,die in der Lage ist, zahlreiche ungelöste Konflikte und Probleme einer sehrkomplexen Sozialordnung aufzufangen und durch innerpsychischeMechanismen wenn nicht zu lösen, so doch ins sozial Unschädlicheabzuleiten. Ein gesellschaftlich ausdifferenziertes politisches System setzteinen zivilisierten Staatsbürger dieser Art voraus, dem zugemutet werdenkann, bei Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen nicht Schaufenstereinzuschlagen, sondern Verwaltungsgerichtsprozesse zu führen, nicht alsMob, sondern als Wähler aufzutreten – und das heißt immer: zu warten. Wieman aus Entwicklungsländern erfährt, ist diese Voraussetzung nicht ohneweiteres berechtigt. Ihre Erfüllung hängt von sehr langwierigen und sehrtiefgreifenden Prozessen psychischer Umrüstung ab.

Hält man sich nun diese zahlreichen und sehr verschiedenartigenBedingungen und Folgeprobleme der funktionalen Spezifizierung einespolitischen Rollensystems vor Augen, dann wird verständlich, daß nur sehrseltene geschichtliche Konstellationen diesem Entwicklungsschritt zumErfolg verhelfen konnten. Obwohl, wie Eisenstadt[26] gezeigt hat, Ansätzedazu in frühen bürokratischen Großreichen immer wieder aufgetreten sind,ist die dauerhafte Stabilisierung einer horizontal differenziertenGesellschaftsordnung, in der das politische System auf Teilfunktionen

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spezifiziert worden ist, erst in der durch Europa bestimmten Neuzeitgelungen. Im Vergleich dazu scheint eine nur vertikale, nur hierarchischeAusgliederung von politischen (aber eben nicht nur politischen)Herrschaftsrollen einfacher gewesen zu sein. Sie hat in einer wenigerkomplexen Gesellschaft weniger komplexe Voraussetzungen und erfordertim wesentlichen nur, daß die Legitimität der politischen Entscheidung unddas Vertrauen in politische Herrschaft von der Bindung anBlutsverwandtschaft gelöst und mit Hilfe magisch-religiöser Vorstellungenverselbständigt wird. Das ist, unabhängig voneinander, in zahlreichengeschichtlichen Fällen gelungen. Beispiele dafür sind: das chinesischeReich, das alte Ägypten, die verschiedenen vorderasiatischen Reiche, dieStadtstaaten der antiken Mittelmeerkultur, die indischen Fürstentümer, Siam,das arabische Kalifat und seine Nachfolgerstaaten, die Reiche der Inka undder Azteken, die nach der Völkerwanderung entstandenen germanischenFeudalstaaten, Japan, die verschiedenen Königtümer des schwarzen Afrikaund anderes mehr.

Der Ausbau solcher Herrschaften zu Systemen der Anfertigung bindenderEntscheidungen, die nach eigenen Programmen handeln und nicht mehr durchRollenkombinationen in die Gesellschaft eingebunden sind, begegnet dengrößten Schwierigkeiten. Er scheitert zumeist am Vorherrschen traditionalorientierter Denkweisen und Verhaltenserwartungen in der Gesellschaft, dieauch das politische System zwingen, sich selbst im Widerspruch zu seinenstrukturellen Ambitionen traditional zu rechtfertigen,[27] und außerdem ander geringen Kapazität des politischen Systems für Datenverarbeitung undKommunikation. Erst in der Neuzeit gelingt der Durchbruch.

Die Differenzierung von Religion, Politik, Wirtschaft, Kultur undindividueller Persönlichkeitsbildung war im späten Mittelalter schon relativweit gediehen. Die philosophische Reflexion hatte in der Scholastik einenAbstraktionsgrad erreicht, der eine kritische Erörterung und Umkehrungihrer Prämissen erleichterte. Durch die sich anbahnende funktional-strukturelle Differenzierung werden Spannungen ausgelöst – daß zumBeispiel wirtschaftliche Krisen weder politisch gemeistert noch religiös imRahmen des überlieferten Dogmas gedeutet werden können – und Fragenaufgeworfen, die zunächst wie gewohnt an die Religion gerichtet werden.Eine Welle religiös-reformerischer Fanatisierung war die Folge, die sich

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jedoch nicht mehr in stabile Institutionen überleiten ließ,[28] sondern in denkonfessionellen Bürgerkriegen der beginnenden Neuzeit verebbte. Ausdiesen Bürgerkriegen entstand der moderne »Staat« als eine neutraleInstanz, dessen rationale Effektivität als notwendig, wenngleich auchproblematisch begriffen wurde.[29] Einiger Aufschluß über diesesGeschehen läßt sich bereits aus den begleitenden Interpretationen gewinnen.Das Rechts- und Staatsdenken der Neuzeit vibriert unter der Anforderung,ein neuartiges gesellschaftlich-politisches Phänomen zu deuten, ohne daßihm die distanzierte Perspektive der soziologischen Theorie dafür bereitszur Verfügung stünde. Obwohl eine einigermaßen angemessene Wiedergabedieser Gedankenströmungen außerhalb des Rahmens unsererUntersuchungen liegt, wird es doch nützlich sein, sich an einigen Beispielendie unmittelbare Reaktion des Denkens auf diese neue Lage vor Augen zuführen, bevor wir ihre soziologische Analyse fortsetzen.

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8. Kapitel

Begleitende Interpretationen

Einen radikalen Bruch mit den traditionellen Kategorien desgesellschaftlich-politischen Denkens, die auf ältere und einfachereSozialordnungen zugeschnitten waren, finden wir erst im 19. Jahrhundert –nicht zufällig in jenem Jahrhundert, das die Soziologie hervorbringt. Ersthier gewinnen jene gesellschaftlichen Mechanismen, die, wie wir gesehenhatten, eine Differenzierung der Gesellschaft nach funktionsspezifischenTeilsystemen ermöglichen, ihr volles Ansehen als legitime und erstrangigeGegenstände philosophischer und wissenschaftlicher, literarischer undpolitischer Diskussion: Freiheit und Geld, Liebe und Erfolg, Arbeit undZivilisation werden – eine bessere philosophische Verarbeitung fehlt – zu»Werten« aufgesteigert. Erst das 19. Jahrhundert schafft die Möglichkeit,diese Mechanismen selbst und ihre Werte, das politische System und seineIdeologien soziologisch zu analysieren.

Bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts blieb das gesellschaftlich-politische Denken dagegen in die alten Methoden, Grundbegriffe undgedanklichen Konstruktionen der »praktischen Philosophie« verstrickt.[1]

Dadurch besteht bei oberflächlichem Hinblick der Anschein einerKontinuität, und die Reaktion auf die neuen Verhältnisse, die den Sinnweiterverwendeter Begriffe völlig umgestaltet, läßt sich nicht immer leichtaufspüren.

Staatsvertragslehren und Naturrecht findet man schon in der Antike.Souveränität und Repräsentation sind Begriffe, die bis ins Mittelalterzurückreichen. Die Unterscheidung von oikonomia und politeia wird,obwohl im Mittelalter angesichts der Feudalstaaten aufgegeben, neu belebt,noch von Kant gelehrt und erst durch das Aufkommen der neuen»Nationalökonomie« unmöglich. Auch die teleologische Sinnbestimmungdes Handelns und der sozialen Institutionen von Zwecken her bleibterhalten, obwohl die philosophische und die naturwissenschaftliche Kritikder causae finales deren Wahrheitsanspruch zerstört hatte. Im

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Gesellschaftsbegriff wird die Kontinuität durch die Formel civitas sivesocietas civilis festgehalten.

Indes, die gleichen Worte verändern ihren Sinn, wenn sie inverschiedenen Situationen gesprochen werden. Die gleichen Begriffebezeichnen nicht das gleiche, wenn sie auf verschiedene Fragen antworten.Dieser unterschwellige Sinnwandel läßt sich, bevor wir in eine Erörterungeinzelner Elemente der Rechts- und Staatstheorie eintreten, bereits amallgemeinen Begriff der politisch verfaßten Gesellschaft aufweisen.

Der Sinn des antiken Begriffs der koinonía politiké (oder später civitas)bleibt auf die vertikale Ausgliederung politischer Herrschaft bezogen. Erläßt sich nur zureichend erfassen, wenn man darauf achtet, daß die polis ihrWesen darin hat, nicht oikos zu sein. Sie wird nicht, wie der oikos,despotisch geleitet, sondern ist eine Gemeinschaft der Freien, die sich überden Familien und Stämmen bildet; eine Gemeinschaft, in der zwar dieGemeinsamkeit der Abstammung, der Wohnsitze und der Überlieferungenals ethos und nomos noch festgehalten wird, die aber nicht von partikularenBindungen und Sonderinteressen bestimmt wird, sondern nach Vernunftentscheidet. Die koinonía politiké ist deshalb der Ort, wo der Mensch seinehöchsten Möglichkeiten verwirklicht, die Stätte der Gerechtigkeit im Sinnegleicher Distanz zu allen Werten und besonderen Bedürfnissen. IhreVerfassung, die politeia, ist die allgemeine Ordnung, die Dauer hat. Mitsolchen Vorstellungen wird das Hinauswachsen der Gesellschaft überFamilie und Stamm gefeiert, diese neue Errungenschaft der übergeordnetenPolitik, die sehr bald noch in der Antike Weltstaatsdimension annimmt, beiAugustin in der Übertragung auf die civitas dei sogar zum Reich der Gnadewird.

Wenn neuzeitliche Denker gleichbedeutend mit civitas von societascivilis, civil society, commonwealth oder später von Staat sprechen,[2]

haben sie ein anderes Problem vor Augen, nämlich den »Leviathan«, dieautonom gewordene, konfessionell möglichst neutrale oder doch tolerante,auf spezifisch politisches Entscheiden konzentrierte Herrschaft. Zwar wirdder Unterschied von Familie und politischer Gesellschaft ausführlicherörtert,[3] zwar bereitet die Trennung von Haus und Herrschaft des Fürstenden Juristen erhebliche Schwierigkeiten,[4] aber die große Theorie siehtdarin nicht mehr ihr Hauptproblem. Was diese Herrschaft so problematisch,

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so begründungsbedürftig erscheinen läßt, ist ebendas Abreißen jenerlatenten sozialen Sicherungen durch das Rollengeflecht der Gesellschaft.Die Bedrohung liegt nicht mehr in dem alten Problem der Tyrannis, derpersönlich bedingten Willkür, sondern in der Struktur der Gesellschaft, dieein so gefährlich ungesichertes Instrument ihrer Selbstkontrolle notwendigmacht.

Daher wird die Gesellschaft – auch dafür gibt es freilich antike Vorbilder– als eine societas, als zweckrationaler Zusammenschluß von Individuen,definiert. Der überlieferte Aufbau ideologisch bestimmterGesellschaftsarten wird durch die Lehre von einem natürlichenindividuellen Sozialtrieb, sodann durch eine auf Privatinteressen bezogeneHandlungslehre unterlaufen, welche den Eigentümer als Modell nimmt.[5] ImZusammenschluß dieser nach erkanntem Selbstinteresse handelndenIndividuen geht es nicht mehr um die Begründung der politeia, sondern,vermittelt durch einen zusätzlichen Herrschaftsvertrag, um die Begründungder Polizei. Nicht von Tugend, Gerechtigkeit und gleichem Abstand zu allenbesonderen Werten wird Dauer erwartet, sondern von einem spezifischpolitischen Entscheidungspotential, mit dem der Frieden gesichert und dasGemeinwohl aktiv gefördert wird. Die höchsten Möglichkeiten desMenschen werden von der Religion betreut und nicht in der Politikverwirklicht.

Die volle Schärfe dieser Wendung des Probleminteresses gegenüber derAntike wird allerdings kaum bewußt, denn dazu wäre ein soziologischesVerständnis der sich neu anbahnenden funktional-strukturellenDifferenzierung unentbehrliche Voraussetzung. Es fehlt in der »praktischenPhilosophie« ein Parallelvorgang zur Kritik der Scholastik durch die neuenominalistische, subjektive, funktionalistische Metaphysik undWissenschaftskonzeption, die sich nur indirekt auswirkt. Trotzdem läßt sichan manchen traditionellen oder neuartigen Denkfiguren ablesen, daß dieneue Lage hellwach beobachtet wird und daß Bemühungen um Diagnose undTherapie sehr rasch einsetzen.

Bemerkenswert ist vor allem die Art, wie die alten Staatsvertragslehrenfortentwickelt werden.[6] Während das Mittelalter mit geringen Ausnahmennur Herrschaftsverträge kennt, in denen das Volk als handlungsfähigeGesamtheit vorausgesetzt wird und dem Herrscher auch nach dem

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Staatsvertrag als selbständige universitas mit eigenen Rechten konfrontiertbleibt, greifen neuere Denker wie Richard Hooker[7] oder JohannesAlthusius[8] auf die antike Idee eines Gesellschaftsvertrages zurück, durchden jene vertragsfähige Gesamtheit überhaupt erst konstituiert wird. BeideVorstellungen werden nun in der herrschenden Theorie kombiniert.[9]

Aufgrund des pactum unionis wird das pactum subjectionis mit demHerrscher abgeschlossen.[10] So umstritten juristische Konstruktion und ihreKonsequenzen im einzelnen sind, so interessant ist die Unterscheidungselbst. Sie ist das erste Symptom für eine bewußte Trennung vonGesellschaft und politischem System nach Maßgabe differierenderRechtsgrundlagen.

Ferner gehört die mechanistische Auffassung des Staates als Maschinein diesen Zusammenhang. Sie hatte keineswegs, wie man von heutigenAversionen gegen die Technik aus vermuten könnte, den Sinn, den Menschenan die totale Herrschaft seelenloser, sprachloser Willkür auszuliefern.[11] ImGegenteil war die Maschine ein Modell für die Begrenzung der Machtdurch die zweckrationale Vernunft. Der Staat sollte (nur) die Wirkungenhaben, für die er geschaffen war, und zugleich machte dasMaschinengleichnis anschaulich, daß er keine Wirkungen haben könnte,wenn er nicht genau nach seinen eigenen inneren Gesetzen behandelt würde.Ähnlich wohnten allen Bemühungen, die eigentümliche »Staatsräson« alseine Erhaltungs- und Verstärkungstechnik des politischen Systems ans Lichtzu ziehen, zu propagieren und abzuklären, auch Intentionen der Begrenzunginne.[12] Das Abstreifen der landläufigen, für jedermann geltenden,gesellschaftlich vorgeprägten Moral von persönlich gutem und bösemHandeln wird kompensiert durch das komplizierte rationale Kalkül und dasgesteigerte Risiko, die dem auferlegt sind, der in Staatsgeschäften handelt.[13] Man erkennt eine Tendenz zur Verschiebung der Probleme undReduktionsleistungen von außen nach innen – aus der allgemeinengesellschaftlichen Moral in das Innere der Staatspolitik, die um ihrerspezifischen Funktion willen nicht selten unter verschobenenWertgesichtspunkten oder gar unter umgekehrten moralischen Vorzeichen zuoperieren hat.

Die gleiche Verschiebung von außen nach innen findet auf sehr vielgrundsätzlicherer Ebene statt, indem der Sinn des Naturrechtsgedankens

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sich wandelt. Aus dem Naturrecht, das den Menschen kraft Wahrheit aus derNatur des Seienden heraus bindet, wird ein Naturrecht, das den Menschennur noch durch die Natur seiner Vernunft bindet, die er an derparallelgeschalteten Vernunft von seinesgleichen zu kontrollieren hat.Vordem war Naturrecht ein Symbol für schon reduzierte gesellschaftlicheKomplexität gewesen. Es interpretierte eine soziale Ordnung traditionalerPrägung als aus sich selbst entstanden und vorgefunden oder als göttlicheSchöpfung, in jedem Falle als eine Ordnung, die ihrem Wesen gemäß andereMöglichkeiten schon ausgeschlossen hatte. Jetzt wird die Reduktion derKomplexität zur Sache der menschlichen Vernunft. Die Regeln, nach denensie operiert, und die angenommene gleiche Verteilung auf alle Menschenscheinen noch Grenzen gegen die Willkür zu verbürgen. Immerhin wird eineÜberprüfung aller Positionen denkbar. Im Munde Voltaires fordert das neueVernunftrecht, die alten Gesetzbücher zu verbrennen und die Rechtsordnungaus der Vernunft neu zu konstruieren. Es setzt, ohne zu wissen, was allesdaran hängt, voraus, daß der Mensch imstande ist, die Komplexität allerMöglichkeiten des Handelns durch vernünftige Entscheidung zu reduzieren.Das läuft unaufhaltsam auf eine Positivierung des gesamten Rechts hinaus.

Dieser beängstigenden Unbestimmtheit und Zukunftsoffenheit gegenüberfehlt es nicht an Versuchen, Bremsen zu ziehen. Die immanenten Schrankender Eigenrationalität der Staatskonstruktion, der Staatspolitik und desallgemeinen Staatsrechts sind schon genannt worden. Sie werden durch dasPrinzip der Gewaltentrennung ins Institutionelle, Machtmäßig-Wirksameausgebaut. Das Vertrauen in die religiöse, teleologische oder naturrechtlicheAußenbindung der Spitze des politischen Systems, ihre Präzisierbarkeit undDurchsetzbarkeit, nimmt ab. Deshalb sucht man die externe Bindung durcheine interne Machtbalance zu ersetzen. Darin liegt ein Verzicht auf eineeindeutig hierarchische Struktur des politischen Systems ohne Verzicht aufEntscheidungsfähigkeit – ein genialer Entwurf. Weniger deutlich ist denErfindern dieser Lösung, daß sie damit den Strukturtypus der neuenGesellschaft auf ihr politisches Teilsystem übertragen. Man sieht noch nicht,daß die Gesellschaft selbst sich auf der Basis spezifischer Funktionen inTeilsysteme umstrukturiert, aber man versucht, dem politischen System des»government« diese Strukturform funktionaler Differenzierung mit hoherAutonomie der Teilsysteme zu geben. Das ist, weil dadurch eine strukturelle

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Harmonie zwischen Gesellschaft und ihrem politischen Teilsystemhergestellt wird, die vielleicht konsequenteste und erfolgreichste Antwortauf das neue Problem. Es bleibt nur offen, und darauf werden wirzurückkommen müssen, ob die funktionale Differenzierung des»government« ausreicht oder ob nicht das gesellschaftlich ausdifferenziertepolitische System weit über die Herrschaftsorgane hinausreicht, so daß derDifferenzierung von Politik und Verwaltung der Vorrang zukommt.

Neben diesen Bemühungen um eine den neuen Verhältnissen angepaßteInnenbindung der politischen Gewalt stehen Bestrebungen, die verlorenengesellschaftlichen Bindungen als externe Schranken zu rekonstruieren undals gerichtsfähige Rechte zu explizieren. Auf diesem Wege gelangt man im19. Jahrhundert zum Rechtsstaat. Vorerst war jedoch das Recht auf dieteleologische Handlungsauslegung zugeschnitten, war ein Recht derrichtigen Handlungszwecke und darin Berechtigung und Verpflichtungzugleich. Der terminus jus zum Beispiel lag von alters her auf diesemDoppelsinn fest und wurde erst in der Neuzeit in die Vorstellung einessubjektiven Anspruchs umgearbeitet – ein Vorgang, der eine immanentharmonische Selbstbindung des Rechts im Grunde unmöglich macht.[14]

Freiheit – Bindungslosigkeit! – wird jetzt als Recht denkbar. Der Schutzwohlerworbener Rechte gegen den Staat wird unabhängig von demNachweis einer naturrechtlichen Grundlage gewährt, also von derRechtsquellenproblematik entlastet und in das positive Recht hineingezogen.[15] Es entstehen die Doktrin der Menschenrechte und der schutzwürdigenPrivatrechte, schließlich im 19. Jahrhundert die gegen den Staat auf seinFunktionieren gerichteten »subjektiven öffentlichen Rechte«.

Eine andere Umstellung des Rechtsdenkens ist damit verbunden, aberweniger auffällig, später und vor allem langsamer vollzogen worden: dieUmstellung von Zweckprogrammen auf Konditionalprogramme. Derzunächst naheliegende Versuch, das neuartige Herrschaftsgebilde juristischdurch seine Zwecke zu domestizieren, scheiterte an der notwendigenUnbestimmtheit der Zweckformel,[16] schlägt romantisch in die Lehre vomStaat als Selbstzweck um und wird im 19. Jahrhundert praktisch aufgegeben.[17] Nach und nach wird dann dem zunächst noch unentbehrlichen Schlußvom Zweck auf die Zulässigkeit des Mittels, dieser »Folgerungsweise desPolizeistaates«,[18] die juristische Relevanz entzogen.[19] An die Stelle der

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Zweckrationalität tritt die konditionale Form der Rechtsnorm, die bestimmteFolgen von bestimmten Tatbeständen abhängig macht: wenn A, dann B.Damit wird ein Relationsmodell institutionalisiert, das es erlaubt,spezifische Außenursachen und spezifische Innenwirkungen künstlichaneinanderzumontieren, der Umwelt des politischen Systems also eineAuslöserfunktion für interne Entscheidungsvorgänge zu geben. Diese Formgarantiert, darauf werden wir zurückkommen müssen, eine hoheInterdependenz von System und Umwelt selbst dann, wenn sie dempolitischen System nur als Blankett zur Selbstprogrammierung aufgegebenwürde. Sie kompensiert die Positivierung des Rechts. Das ist die Funktiondes Rechtsstaates.[20]

Damit sind Programmform und Programmausführung den neuenErfordernissen angepaßt, der Vorgang der Programmierung jedoch istoffengelassen. Die neue Variabilität der Rechtssetzung und Zweckplanungstellt entsprechend höhere Anforderungen an die Prozesse politischer undsachkundiger Vorbereitung, die zunächst kaum erkannt werden. DieEntscheidungsgrundlagen können in dieser neuen Situation nicht mehr alsdurch Natur oder Geschichte vorgegeben behandelt werden, und invarianteInstitutionen wie Kirche und Krone reichen nicht mehr aus, sie zusymbolisieren. Sie müssen im politischen System selbst erarbeitet werden,und Arbeit setzt Organisation voraus. Diese Notwendigkeit, Politik zuorganisieren und politisch zu arbeiten, wird zunächst jedoch im Vokabularder Tradition begriffen, wird Demokratie, also Herrschaft des Volkes,genannt und damit auf eigentümliche Weise verzeichnet. Es scheint danachso, als ob es nur um einen schon oft erlebten Wechsel der Staatsform ginge,um eine Verlagerung der höchsten Macht vom Herrscher auf das Volk, umein Problem also, das notfalls durch Revolution gelöst werden könnte,während in Wirklichkeit eine ganz neuartige, komplexere und abstraktereFunktionsweise des gesamten politischen Systems eingerichtet werden mußund auch eingerichtet wird. Entsprechend unrealistisch gerät die neueTheorie der liberalen und demokratischen Staatsverfassung, die an dieFranzösische und die amerikanische Revolution anknüpft und sichvornehmlich mit der Herstellung, der Sicherstellung und den Gefahren einerMehrheitsherrschaft befaßt.[21] Offensichtlich hat dieses Konzept eineÜberleitungsfunktion und insofern eine historische Mission; daraus erklärt

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sich sowohl die Verwendung herkömmlicher Kategorien als auch dasAbstellen auf die (zu ändernde) Herrschaftsform. Weder ihreDenkvoraussetzungen noch ihre Besorgnisse geben aber einen angemessenenBegriff der neu sich entwickelnden Realitäten. Am gravierendsten vielleichtwirkt sich eine Unterschätzung der sachlichen und sozialen Komplexitätpolitischer Interessen, Themen und Entscheidungsprobleme aus, einerVielfältigkeit, die es ausschließt, von einer Herrschaft der Mehrheit inirgendeinem empirisch faßbaren Sinne zu sprechen.

Eines geschieht jedoch: Der Begriff der Repräsentation wirdumgearbeitet.[22] Repräsentation im Mittelalter und darüber hinausDarstellung und Vertretung von sozialen (also nicht dinghaft sichtbaren)Einheiten wie Ständen, Körperschaften, Stiftungen, Städten, Kirchen,Innungen usw. in ihrem Sein, ihren Interessen und ihren wohlbegründetenRechten als Teile eines Ganzen oder, was auf dasselbe hinauslief,Darstellung dieses Ganzen »in corpore et membris«. Zur repräsentativenDarstellung gehörte, daran hat Habermas[23] wieder erinnert, ein glanzvolleröffentlicher Rahmen, der das Sein des Besonderen erst recht zur Geltungkommen ließ, es aber zugleich einfügte und in seinen Absonderlichkeitenund Ungereimtheiten abschwächte. Die Koordination lief nicht in ersterLinie über Entscheidungsprozeduren und Abstimmungsregeln oder überKompromisse. Sie lag vor allem in den Darstellungsbedingungen.Praktisches Ziel des Repräsentationsvorganges war Einigung undRechtsfindung, nicht Rechtsherstellung.[24]

Unter dem Druck der neuen Anforderungen an Komplexität undVariabilität wandelt sich der Repräsentationsgedanke. Er verliert seinenfestlichen Charakter und wird zur Arbeit besonders qualifizierter Kräfte ander Vorbereitung von Entscheidungen. Das Moment der Vertretung desBesonderen im Ganzen tritt zurück und wird, jedenfalls der Idee nach,abgelöst durch eine ungebundene, nur noch durch Erwartungenbeeindruckbare argumentierende Darstellung des allgemeinen Bestenaufgrund einer Wahl durch Individuen. In diesem neuenRepräsentationsgedanken wird die Grundlage geschaffen für einen Prozeßder Generalisierung von Interessen; einmal dadurch, daß das Individuumsozial isoliert, im Grunde also nur als »Rolle« des Wählers gedacht ist undnicht als eine sozial konstituierte konkrete Person; zum anderen dadurch,

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daß das imperative Mandat entfällt und die Volksvertreter nur an ihrGewissen gebunden werden bzw. an die Prozesse organisierterInformationsverarbeitung, die sie an dessen Stelle setzen.

Diese verschiedenen vorsoziologischen Rechts- und Staatslehren,Gesellschaftsbegriff, mechanistische Staatskonzeption, Staatsräson,Vernunftrecht, Gewaltentrennung, subjektive Rechte, Rechtsstaat,Demokratie, Repräsentation – und man hätte außerdem auchSouveränitätsbegriff, Staatsdienermoral, Gleichheitsprinzip und anderesmehr behandeln können – finden ihren inneren Zusammenhang nicht in einereinheitlich-konsistenten Theorie. Sie werden vielmehr als Abfolge einanderbekämpfender und ablösender Theorien erlebt. Ihre Einheit ist die eineslatenten sozialen Problems, das ihnen selbst verborgen bleibt, das zumindestnicht als formuliertes Problem in die Theorie eingeht.

Erst die Soziologie – und zwar erst die Soziologie des 20. Jahrhunderts –schafft sich ein Instrumentarium von hinreichender Komplexität, um diesesGrundproblem der funktional-strukturellen Differenzierung der Gesellschaftformulieren und deuten zu können. Erst sie kann die Ablösung der Theorievom gemeinten Sinn des Handelns, vom ethischen Werthorizont desHandelnden mit all dem, was darin erstrebenswert, gut oder auch schlechtund böse ist, riskieren. Erst sie hat den Mut, das Handeln an der ihminkongruenten Perspektive einer Systemtheorie zu messen.

Noch hat die soziologische Theorie und speziell die politischeSoziologie nicht den Rang der traditionellen Lehre von Politik undGesellschaft erreicht. Dennoch wäre es verfehlt, an der Tradition Maß zunehmen und der Soziologie jene alte Art, direkt zur Sache zu sprechen,abzuverlangen. Die moderne Gesellschaft ist so komplex geworden, daß siemit den alten Denkmitteln, die dem Handeln und seinen Zwecken undMitteln abgenommen worden sind, nicht mehr begriffen werden kann. DieKomplexität der Theorie muß entsprechend gesteigert werden. Ein Beispieldafür gibt die folgende Analyse des Problems der Legitimität.

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9. Kapitel

Legitimität

Es gehört zu dem überlieferten Bestand an zweifellos richtigen, immerwieder vorgetragenen und wenig besagenden Einsichten der politischenTheorie, daß ein politisches System weder allein auf physischen Zwangnoch allein auf aktuellen Konsens gegründet werden kann. In irgendeinemMischungsverhältnis müßten Zwangsmöglichkeiten und Konsenszusammentreffen, um politische Herrschaft zu ermöglichen.[1] Über dieseFeststellung hinaus ist die interessantere Frage, weshalb das so ist.

Ein politisches System, das auf Durchsetzung seiner Entscheidungen mitHilfe von konkret in Aussicht gestelltem Zwang angewiesen ist, hätte eineviel zu schmale Motivationsgrundlage und damit ein viel zu geringesPotential für Komplexität. Seine Entscheidungsfähigkeit würde nicht weiterreichen als seine Zwangsgewalt, und, was vielleicht noch einschneidenderist, in jeder Entscheidung müßten Informationen über Zwangsmöglichkeitenmitverarbeitet und mitkommuniziert werden, so daß dieEntscheidungsanfertigung als solche kaum organisatorisch ausgegliedert undfür sich rationalisiert werden könnte. Nicht viel anders wäre es, wenn fürjede Entscheidung konkreter Konsens beschafft werden müßte. Auch diesesErfordernis würde, wofür der polnische Reichstag das Lehrbeispielgeliefert hat, die Entscheidungskapazität, nämlich die Zahl möglicherEntscheidungen, beträchtlich schwächen und überdies das knappeKommunikationspotential des Systems so belasten, daß das politischeSystem keine nennenswerte Eigenkomplexität gewinnen könnte.

Haben sowohl aktueller Zwang als auch aktueller Konsens alsMotivationserfordernisse diese einschneidenden Rückwirkungen, dann wirdman auch von ihrer Kombination nicht allzuviel erhoffen dürfen. EinVerwaltungsbeamter, dem freigestellt würde, ob er sich bei jeder einzelnenEntscheidung um Konsens bemühen oder Zwangsmittel einsetzen wolle,würde durch eine solche Alternative noch nicht sehr viel Freiheit undEntlastung gewinnen. Es kommt vielmehr darauf an, ihn auch noch von

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dieser Alternative zu entlasten und seine Rolle so auszustatten, daß er sichzwar über die Richtigkeit, nicht aber über die Durchsetzbarkeit dereinzelnen Entscheidungen Gedanken zu machen braucht. DieseAbstandnahme ist Voraussetzung aller komplexen Organisation desEntscheidungsprozesses. Der Entscheidende muß sozusagen über dasSymbol »verbindliche Entscheidung« verfügen können wie über einenGeldschein. Nur wo die Abnahme der Entscheidung in dieser Weise fraglosgesichert ist, können umfangreiche, indirekte, arbeitsteilige,ineinandergefügte und einander voraussetzende Prozesse derEntscheidungsfindung organisiert werden. Man kann diese allgemeineVorbedingung komplexer Entscheidungsorganisation die Legitimität derEntscheidungen nennen. Dieser Begriff der Legitimität besagt dann, daß diefraglose Hinnahme bindender Entscheidungen des politischen Systemsunabhängig von den konkreten persönlichen Motivationsstrukturen durchInstitutionalisierung sichergestellt ist.

Es liegt auf der Hand, daß Legitimität nicht allein in einer geeignetenMischung von Zwang und Konsens bestehen kann – etwa in dem Sinne, daßnur diejenigen gezwungen werden, die nicht freiwillig gehorchen. Vielmehrmeint der Begriff das Ergebnis eines Prozesses der Abstraktion undGeneralisierung von Verhaltenserwartungen, der die scharfe Alternative vonkonkretem Zwang oder konkretem Konsens zurücktreten, ja relativunbedeutend werden läßt.[2] Zwang und Konsens werden als Möglichkeitenvorweggenommen und die Beziehungen dann nicht mehr durch aktuell-motivierende Kommunikationen getragen, sondern durch Rücksicht aufpotentielles Handeln bestimmt.[3] Auf dieser Ebene des Rechnens mitMöglichkeiten kann, ja muß das Künftig-Wirkliche unentschieden bleiben,und dieses Unentschieden bedeutet Entlastung. Fällt die Wahl zwischenAkzeptieren und Nichtakzeptieren der Entscheidung schon auf dieser Ebene,dann kann man es sich ersparen, die mögliche Wirklichkeit überhaupt zuprovozieren, man kann sie umgehen; dann kann der Austausch vonKommunikationen über die Frage, ob Konsens oder Zwang, erspart oderdoch sehr vereinfacht werden; dann kann man schließlich es sich auchersparen, überhaupt persönliche Motive für eine solche Wahlherbeizuschaffen, weil die Wahl gar nicht mehr aktuell wird und einepersönliche Begründung, weshalb man zum Beispiel seine Steuern zahlt,

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von niemandem erwartet wird.Ein solcher Prozeß der Generalisierung und Verselbstverständlichung des

Hinnehmens von Entscheidungen kann nur mit sozialer Unterstützungzustande kommen. Ohne Übereinstimmung mit anderen könnte der einzelnesich von seinen persönlichen Motiven nicht so weit entfernen. Legitimitätsetzt Institutionalisierung voraus. Das dürfte unbestritten sein. Es lohnt sichjedoch, diesen Prozeß der Institutionalisierung etwas genauer zuanalysieren.

Wenn Verhaltenserwartungen oder Rollen – hier die des Entscheidungenakzeptierenden Staatsbürgers – institutionalisiert werden, bedeutet daszweierlei: Der Handelnde kann, wenn er erwartungsgemäß in seiner Rollehandelt, mit hoher Sicherheit auf Konsens rechnen. Er braucht dieKonsenslage nicht zu prüfen. Er kann vermuten, daß ihm normalerweise vonjedermann, der sein Verhalten miterlebt, stillschweigend zugestimmt wird.Wer widersprechen will, muß das ausdrücklich tun und seine Auffassungbegründen. Ist diese Zustimmungserwartung einigermaßen gesichert, wirddas Handeln so selbstverständlich, daß es nicht mehr als persönlichesHandeln erscheint. Es wird nicht dem Handelnden, sondern der Norm, derInstitution, der veranlassenden Kommunikation zugerechnet. Es wird nichtals Ausdruck freier Entscheidung, nicht als persönlich verursacht, nicht alsWesenszug eines individuellen Charakters miterlebt und braucht daher auchnicht als persönliches Handeln dargestellt, verantwortet, erläutert odergegebenenfalls entschuldigt werden. Institutionalisierung gewährt also nichtnur Handlungsstützung durch Konsenssicherheit, sondern ineins damitEntlastung von persönlicher Verantwortung, und damit entfällt auch dieNotwendigkeit, persönliche Motive zu beschaffen. Das Handeln kann, jestärker die Institutionalisierung ist, desto selbstverständlicher und flüssigerals unpersönliche Routine stabilisiert werden.[4]

Wenn die Geltung verbindlicher Entscheidungen so institutionalisiert ist,daß, wer sie akzeptiert, Zustimmung und Verantwortungsentlastung erwartenkann, wird die Entscheidung (das Gesetz, der Erlaß, der Verwaltungsakt,das rechtskräftige Urteil oder was immer es sei) zu einem Symbol, das imsozialen Verkehr weitergegeben werden kann. Die Einengung derAlternativen, die Reduktion der Komplexität, die damit verbunden ist, wirdvon jedermann als Entscheidungsprämisse akzeptiert, wie immer auch die

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konkrete Situation aussehen mag, in der sie relevant wird. Niemand kommtauf den Gedanken, über Fahrplan, Fahrgeld, Haltepunkte usw. mit demBahn- oder Busschaffner zu verhandeln;[5] vielmehr werden getroffeneEntscheidungen, sofern nicht spezifische Wege der Anfechtung oderAbänderung zur Verfügung gestellt sind, wie Tatsachen behandelt. Wer dieEntscheidung befolgt, kann dadurch Rollenkonflikte vermeiden, weil ihmsein Handeln auch in anderen Rollenbeziehungen als richtig oder dochunvermeidlich abgenommen wird, während umgekehrt Legitimität desEntscheidens schwer oder gar nicht erreichbar ist, wo ebenfallsinstitutionalisierte Verhaltenserwartungen entgegenstehen – zum Beispielsolche der Familie oder des Stammes, der Blutsbrüderschaft oder einesstandesmäßigen Ehrenkodex. Ist dagegen die Hinnahme typisch undkonfliktlos gesichert und kann sie unter bestimmten geregeltenVoraussetzungen (z. B. »Zuständigkeit« der entscheidenden Stelle) ausgelöstwerden, dann wird der Prozeß der Entscheidungsanfertigung von dervorbeugenden Fürsorge für die Motivation des Entscheidungsempfängersentlastet. Es kann dann im Einzelfall offenbleiben, ob der Empfänger ausEinsicht oder aus Furcht vor bestehenden Zwangsmaßnahmen, aus emotionaleinverseelter Staatstreue oder aus Indifferenz oder Zeitmangel akzeptiert.

Alle diese Motivgruppen werden nämlich jeweils nur begrenzt verfügbar,also »knapp« sein: Sie sind als reale Grundlage der Legitimitätunentbehrlich, denn jede Institutionalisierung muß an faktisch vorhandeneMotive anknüpfen.[6] Es kommt dann aber darauf an, die flüssige Abnahmeder staatlichen Entscheidungen unabhängig davon sicherzustellen, ob,wieweit und in welchem Mischungsverhältnis diese Motivgruppen imEinzelfall vorliegen. Und deshalb muß, um die Bürokratie von denSchwankungen der Motivlage unabhängig zu machen, die Legitimität ihrerEntscheidungen durch eine abstrakte Geltungssymbolik sichergestellt undauf dieser Ebene institutionalisiert werden. Gelingt es, mit Hilfe dieserGeneralisierung eine große, leistungsfähige Bürokratie mit einem eingehendspezialisierten Entscheidungspotential aufzubauen, dann stellen sich andereTeilsysteme der Gesellschaft, etwa Wirtschaft, Erziehungswesen, Familienund Systeme religiösen Handelns, auf die Existenz eines solchenMechanismus für bindende Problementscheidungen ein und bauen ihreigenes Potential für Wahrnehmung politischer Funktionen ab. Dann kann

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der Prozeß des legitimen Entscheidens in hohem Maße selbsttragendwerden, das heißt sich durch seinen Erfolg und durch strukturelleInterdependenzen in der Gesellschaft rechtfertigen, und das macht esmöglich, die Vorsorge für partikulare und drastisch-handlungsnaheGehorsamsmotive wie Zwang oder Loyalität auf ein Minimum zureduzieren. Als Problem verlagert sich dann die Legitimität aus derVorsorge für die Durchsetzung von Entscheidung in den Prozeß derEntscheidungsvorbereitung, besonders in den Prozeß der politischenAufbereitung von Entscheidungsgrundlagen, durch den in sehr generellerWeise sichergestellt wird, daß das Entscheiden im Rahmen desAkzeptierbaren bleibt.

In dem Maße, als jene partikularen Hinnahmemotive wie Zwang, Treue,Tausch, Dankbarkeit oder Einsicht, sei es verfallen, sei es nicht mehrausreichend sind, wird es demnach notwendig, die Vorsorge für Legitimitätvon der Output-Grenze an die Input-Grenze des politischen Systems zuverlagern, diese Grenzen deutlich zu differenzieren und der Bevölkerungnicht nur passive, sondern auch aktive Rollen im politischen System zugewähren. Das wiederum ist nur möglich, wenn es gelingt, politische Rollendes Publikums von seinen anderen Rollen ausreichend zu trennen, wenn alsonicht nur die Herrschaftsrollen, sondern auch die Publikumsrollen despolitischen Systems gesellschaftlich ausdifferenziert werden können.[7] DieEntwicklung des politischen Systems erfordert eine »Demokratisierung«seiner Entscheidungsvorbereitung.

Das kann natürlich nicht heißen, daß der einzelne deswegen geneigt seinwird, Gesetze zu beachten oder Verwaltungsentscheidungen zu akzeptieren,weil ihm in der Form des Wahlrechts ein minimaler, praktisch nieausschlaggebender Einfluß eingeräumt worden ist. Eine solche Spekulationhatte die Einführung demokratischer Regierungsformen nach dem Wegfallreligiöser und traditionaler Legitimitätsgrundlagen erleichtert. Sie ist wederpsychologisch noch soziologisch plausibel zu machen. Der Sinn desdemokratischen Legitimationsprozesses beruht gerade nicht auf dem Prinzipeines direkten Tausches, sondern auf einer Rollendifferenzierung, die denKommunikationsprozeß zwischen Herrscher und Volk über Umwege leitet,so daß die konfliktträchtige direkte Konfrontierung entspannt wird.[8] DasWahlrecht bewirkt dabei zweierlei in einem: Es gibt dem einzelnen die

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Möglichkeit, individuelle Verärgerungen als Entscheidungsempfänger in deranderen Rolle des Wählers folgenlos abzureagieren, und esinstitutionalisiert zugleich die Basis für ein System politischer Prozesse derInformationsverarbeitung, die als solche unabhängig von der individuellenStimmabgabe Vertrauen verdienen, weil sie mehr oder wenigersicherstellen, daß das politische System keine »unpopulären«Entscheidungen trifft.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß es sich bei der Legitimität vonEntscheidungen um das Ergebnis eines sozialen Prozesses derGeneralisierung von Einstellungen zum politischen System handelt, der vorallem auf eine Neutralisierung von persönlichen Motivlagen hinausläuft. Ersetzt einerseits allgemeine gesellschaftliche Strukturen und Prozesse voraus,die den einzelnen von der persönlichen Verantwortung für seinen Gehorsamentlasten, und andererseits eine komplexe, umweghafteInformationsverarbeitung im politischen System selbst, die dem einzelnenein persönlich motiviertes Reagieren erlaubt, aber doch dafür sorgt, daßdiese Reaktion im weiteren Prozeß ihrer Verarbeitung so generalisiert wird,daß das politische System von persönlichen Motiven, wenn sie sich nichtallzu stark summieren, unabhängig entscheiden kann. Diese Indifferenz undBeständigkeit einer relativ rationalen Problembearbeitung trägt dieEntscheidungsleistung des politischen Systems und wird damit zumeigentlichen Grund seiner Legitimität.

Um diese soziologische Analyse aufnehmen zu können, muß dervorsoziologische Begriff der Legitimität erweitert werden. AlsRechtsbegriff schon im Mittelalter bekannt und zur Abwehr von Usurpationund Tyrannis gebraucht,[9] diente der Legitimitätsbegriff vor allem dernachnapoleonischen Restauration dazu, die Wiederherstellung alterHerrschaftsrechte zu begründen.[10] In der juristischen Theorie wird derBegriff dann aufgenommen und verallgemeinert, zunächst mit dem Besitz derfaktischen Herrschaft gleichgesetzt und dann wieder benutzt, um dieProblematik eines rein positivistischen Legalitätsprinzips abzufangen.Schon dabei taucht neben naturrechtlichen Begründungsversuchen dieVorstellung auf, daß es sich bei der Legitimität weniger um dasrechtfertigende Prinzip oder Recht der Herrschaft handele als vielmehr umdie faktisch verbreitete subjektive Überzeugung von der Geltung des Rechts.

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[11] Diese Auffassung, wonach der Legitimitätsbegriff ein – wenn auch nichtnotwendig das einzige – Motiv der Anerkennung von Entscheidungen,nämlich den Glauben an ihre Verbindlichkeit, angibt, hat auch in Politologieund Soziologie weite Anerkennung gefunden.[12] Dabei unterläuft leicht einFehler, den der Begriff des »Glaubens« suggeriert – daß nämlich dieAnerkennung der verbindlichen Geltung einer Entscheidung mit demGlauben an das Prinzip ihrer Rechtfertigung verwechselt wird.

Solch ein Prinzipienglaube ist aber selbst nur ein knappes Sondermotiv.Er kann – so ausdrücklich bei Max Weber – als verstärkendes Moment inBetracht gezogen werden, das die Chance einer Herrschaft, Gehorsam zufinden, steigert. Damit greift die Analyse aber an dem eigentümlichenProzeß der Generalisierung der Anerkennung vorbei, der sie gegenUnterschiede der persönlichen Motivationsstrukturen indifferent macht unddadurch das System der Entscheidungsanfertigung stabilisiert. DieAuffassung der Legitimität als Prinzipienglaube besagt dagegen, daß dieStabilität eines politischen Systems idealtypisch und am besten durch einensolchen Glauben, genauer durch Kongruenz des Legitimitätsglaubens mitdem Legitimitätsanspruch, sichergestellt werde. Das ist keineswegs unterallen Umständen der Fall. Eine solche Kongruenz kann Prinzipien (z. B.Tradition) als Handlungsgrundlage fixieren, die in einer raschfluktuierenden Welt unzweckmäßig werden; sie kann die Lern- undInnovationsfähigkeit des politischen Systems beeinträchtigen; sie kann zueiner beträchtlichen Diskrepanz zwischen Rollenstrukturen undWertprämissen führen. Vor allem aber bekommt man diejenigen sozialenProzesse, welche die Abnahme von Entscheidungen als geltend stützen,nicht vollständig zu Gesicht, wenn man nur nach Prozessen derInstitutionalisierung oder Einverseelung von Herrschaftsprinzipien sucht.Nicht nur gemeinsamer Glaube, sondern auch gemeinsame Indifferenz odergemeinsame Ausweglosigkeit können dazu führen, daß die Macht einespolitischen Systems sich in der Form von legitimen, fraglos akzeptiertenEntscheidungen ausmünzen läßt.

Man braucht diesen erweiterten Legitimitätsbegriff zum Beispiel, umjenen seltenen Fall eines unbeabsichtigten Experimentes analysieren zukönnen, das die Deutsche Demokratische Republik in dieser Frageunternommen hat. Solange ihre Grenzen nach Westen hin offen waren und

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jeder, der blieb, freiwillig blieb, konnte sie die Legitimität ihrerEntscheidungen in der Tat nur auf eine persönlich zurechenbare Gesinnungstützen. Es gab die Möglichkeit auszuweichen in einem Umfange, der dasnormale ius emigrandi weit überschritt. Der einzelne war dadurchgleichsam vorläufiger Staatsbürger auf Widerruf und nahm das politischeRegime, sofern er es nicht in seinen Prinzipien bejahte, doch jedenfallsdurch eine persönlich zurechenbare Entscheidung in Kauf. Gerade dieseAbhängigkeit von persönlicher Motivation, Gesinnung eingeschlossen,ergab keine ausreichende Basis der Legitimation. Die für großeVerwaltungssysteme erforderliche Entscheidungssicherheit kann nicht alleinauf Gesinnung oder auf andere persönliche Motive welcher Art immergestützt werden, weil die sozialen Mechanismen der Habitualisierung undVerselbstverständlichung nicht Platz greifen, wo ein Verhalten als freiwillig,als persönlich bedingt und damit als variabel erlebt wird. Der 13. August1961 hat eine andere Situation geschaffen und in seinen faktischen Folgendas Legitimitätsbewußtsein in Richtung auf ein unpersönlich-fraglosesAkzeptieren gewandelt. Seitdem braucht niemand ein »normales« Verhaltenzum Staat vor sich oder vor anderen als persönlichen Entschluß zurechtfertigen. Auch von denen, die den Prinzipien des politischen Regimesinnerlich Konsens verweigern, wird die Geltung der Entscheidungen nichtbestritten und als Geltung, also nicht nur freiwillig, anerkannt. Es entstehteine Staatsgesinnung, die kein ideologisches Bekenntnis voraussetzt. Daßsolche Bekenntnisse verlangt und veranstaltet werden und daß auch das zumAkzeptieren von Entscheidungen gehören kann, ist eine andere Sache. Dieeinmalige Chance, einen Staat auf persönliche Gesinnung zu gründen, ist am13. August 1961 aufgegeben worden.

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10. Kapitel

Autonomie und interne Differenzierung

Zu den allgemeinen Hypothesen der Systemtheorie, die für die politischeSoziologie fruchtbar gemacht werden können, gehört die Annahme einesZusammenhanges zwischen Systemautonomie und systeminternerDifferenzierung. Unter Autonomie wollen wir die Möglichkeit einesSystems verstehen, selbst Ursachen zu setzen, die zur Erhaltung einesUnterschiedes zwischen System und Umwelt, also zur Erhaltung einerhöheren, weniger komplexen Ordnung im System, beitragen können. EinSystem, das seiner Umwelt gegenüber ein gewisses Maß anSelbstbestimmung erreichen will, muß eine gewisse Eigenkomplexitätentwickeln, um selektive Mechanismen der Informationsverarbeitungorganisieren zu können, und das bedeutet in allen Fällen höherer Ordnungfunktionale Differenzierung. Andererseits ist eine funktionaleDifferenzierung interner Mechanismen nur erreichbar, wenn das Systemnicht ganz und gar von zufälligen Umweltveränderungen abhängig ist,sondern Störungen in seinem Verhältnis zur Umwelt selbst kompensierenkann und dabei eine gewisse Freiheit der Auswahl hat, auf was und wie esim Interesse der Erhaltung des organisierten Bestandes reagieren will.Funktionale Differenzierung und Autonomie im Sinne selbstgeregelterrelativer Invarianz des Systems im Verhältnis zu seiner Umwelt setzen sichwechselseitig voraus.[1]

Um diese allgemeine Hypothese auf politische Systeme anwenden zukönnen, sind zwei vorbereitende Schritte erforderlich: Als erstes mußgenauer lokalisiert werden, was Autonomie für das politische Systembedeutet und wie sie sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung entfaltethat. Sodann müssen die Konsequenzen zunehmender Autonomie für dieinterne Ordnung des politischen Systems erarbeitet werden. Erst danachkann im nächsten Abschnitt der Versuch unternommen werden, ein Modelldes politischen Systems und seiner gesellschaftlichen Beziehungen zuskizzieren, das diesen Anforderungen gerecht zu werden sucht und das den

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weiteren Überlegungen zugrunde liegen wird.Die alteuropäische politisch-gesellschaftliche Theorie hatte das Wesen

der Gesellschaft in ihrer Selbstgenügsamkeit (Autarkie) gesehen und esdeshalb für notwendig gehalten, die Gesellschaft über den partikularenInteressen der Familien und der schon differenzierten Berufe durch einepolitische Ordnung zu begründen. Dadurch war die Vorstellung despolitischen Systems mit dem Gedanken der Autarkie verschmolzen worden.Durch eine politische Ordnung sollte die Gesellschaft jene Vollständigkeitund Unabhängigkeit erreichen, die ihr Dauer aus sich selbst heraus und indiesem Sinne harmonische Vollendung bescherte. Der Autarkiebegriff ist aufein umweltloses System zugeschnitten. Es besagt, daß ein System all seineBestandsvoraussetzungen in sich selbst findet.

Das Gegenteil gilt für den Begriff der Autonomie im modernen,systemtheoretischen Sinne.[2] Er bezieht sich auf ein System, das inAbhängigkeit von der Umwelt existiert, Leistungen aufnimmt und Leistungenabgibt und das gerade deshalb eine selektive Kontrolle über die Prozesseausüben muß, die das System mit der Umwelt verbinden. DasAutarkiepostulat hält einen hermetischen Abschluß der Systemgrenzen fürmöglich – so wie China und Japan sich bis ins 19. Jahrhundert deneindringenden europäischen Händlern gegenüber für autark unduninteressiert erklärten. Autonomie hat gerade umgekehrt die Interdependenzvon System und Umwelt zur Voraussetzung, denn sie reguliert einengrenzüberschreitenden Kommunikations- und Leistungsaustausch zwischenSystem und Umwelt, der nur unter dieser Voraussetzung sinnvoll ist. Daherist der Begriff der Autarkie mit der Vorstellung einer Beeinflussung desSystems durch seine Umwelt unvereinbar, er meint auch absolute Machtüber sich selbst; wohl aber ist es denkbar, daß ein autonomes System sichbeeinflussen läßt, ja sogar, daß bei zunehmendem Verkehr mit der Umweltfremder Einfluß und eigene Autonomie gleichzeitig wachsen können.

Diese grundlegende Unterscheidung gilt es im Auge zu behalten, wenn dieAutonomie des politischen Systems der Gesellschaft zur Sprache kommt.Sie kann mit zunehmender funktionaler Differenzierung nämlich nur alsAutonomie in diesem Sinne, nicht dagegen als Autarkie entfaltet werden.Autonomie des politischen Systems bedeutet demnach nicht selbstherrlicheAbkapselung von gesellschaftlichen Einflüssen, nicht spontane, grundlose

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Machtausübung, sondern Selbstprogrammierung. Diese Programmierungdient nicht der Trennung, sondern der Verknüpfung von politischem Systemund Gesellschaft. Sie wird notwendig in dem Maße, als die strukturell-einheitliche, funktional-diffuse Sozialordnung sich auflöst und ihreIntegrationsmechanismen ersetzt werden müssen. Die implizitengesellschaftlichen Bindungen politischen Handelns durch personaleRollenverflechtungen, die im Zuge der strukturellen Ausdifferenzierung undVerselbständigung des politischen Systems gebrochen werden müssen,werden abgelöst durch explizite Bindungen, die als explizite nur durch dieEntscheidungsprozesse des politischen Systems selbst erarbeitet werdenkönnen und in die Form von Entscheidungsprogrammen gegossen werdenmüssen. Speziell für das politische System besteht Systemautonomie mithinin der Möglichkeit, über bestimmte Prämissen des eigenen Entscheidensselbst zu entscheiden, also im Entscheiden über Entscheidungen, mitanderen Worten, im Reflexivwerden des Entscheidungsprozesses.[3] Auchder Begriff der Positivität, der Gesetztheit der Entscheidungsgrundlagen,beschreibt namentlich in der juristischen Literatur diesen Sachverhalt.

Daß Selbstprogrammierung nicht der Trennung, sondern der Verbindungvon politischem System und gesellschaftlicher Umwelt dient, läßt sichnamentlich an den Typen möglicher Entscheidungsprogramme ablesen. Siesetzen voraus, daß zwischen System und Umwelt Kommunikationen hin- undherfließen und ordnen diesen Kommunikationsprozeß nach demKausalprinzip unter dem Gesichtspunkt von Ursachen und Wirkungen. DieseSchematisierung läßt zwei verschiedene Möglichkeiten zu, die sichgedanklich trennen lassen: Entweder wird ein Umweltereignis als Ursacheangesetzt, die eine Entscheidung des Systems bewirkt. Oder das Systementscheidet selbst ursächlich über eine bestimmte Wirkung, die in derUmwelt bewirkt werden soll. Obwohl faktisch der Kausalprozeß eineendlose Verflechtung von System und Umwelt herstellt, da alle Ursachenauch Wirkungen und alle Wirkungen auch Ursachen sind, müssen bei einerprogrammatischen Spezifikation bestimmter Ursachen oder bestimmterWirkungen diese beiden Möglichkeiten unterschieden werden. Demgemäßstehen zwei, und nur zwei, Grundformen der Entscheidungsprogrammierungzur Verfügung:[4] Das Programm kann entweder bestimmte Informationenfixieren, die ein angegebenes Handeln des Systems auslösen können. Es hat

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dann die Form eines Konditionalprogramms und lautet: Wenn derangegebene Tatbestand erfüllt ist, soll (oder soll nicht oder darf) inbestimmter Weise gehandelt werden. Durch solch ein Programm wird dergesellschaftlichen Umwelt eine Auslöserrolle, eine Art abgeleitete,nichthierarchische Autorität über die Verwaltung zugebilligt. Im anderenFalle wird eine bestimmte Wirkung anvisiert, die das System in seinerUmwelt bewirken will. Diese Wirkung gibt sich das System als Zweck auf.Es entscheidet dann unter einem Zweckprogramm über geeignete Mittel, mitdenen es den Zweck erreichen kann.

Beide Programmtypen führen zu verschiedenartigenEntscheidungsmodellen und Entscheidungstechniken. Konditionalprogrammesind das dem Juristen vertraute Arbeitsgebiet. Das Schwergewicht derEntscheidungstätigkeit liegt hier auf einer Auslegung der Programme und aufder Analyse von Informationen auf ihre programmauslösenden Merkmalehin. Zweckprogramme sind dagegen die Domäne derwirtschaftswissenschaftlichen Entscheidungsarbeit. Hier geht es darum, wieein Zweck unter mehr oder weniger einschneidenden Nebenbedingungen ambesten erreicht werden kann. Auf die Bedeutung dieser unterschiedlichenEntscheidungssprachen werden wir im Kapitel über Verwaltungzurückkommen. An dieser Stelle ist zunächst das Gemeinsame beiderProgrammtypen festzuhalten.

Bei einem Rückblick in die Geschichte der neuzeitlichen Staatswesen undin die sie begleitende Denkgeschichte fällt auf, daß die gesellschaftlicheAusdifferenzierung des politischen Systems zu einer ziemlich bewußtvollzogenen Positivierung der Entscheidungsgrundlagen führt. In dertheoretischen Reflexion auf diesen Vorgang ist der Zusammenbruch desNaturrechts und der teleologischen Zweckbindung des Staatshandelns dieentscheidende Wendemarke, die die neuartige Autonomie des politischenSystems offensichtlich werden läßt. Im 19. Jahrhundert wird Gesetzgebung,die vorher nur als Ausübung spezifischer und begrenzter Herrschaftsrechte,als Notmaßnahme oder als Wiederherstellung oder Klarstellung alten Rechtsdenkbar war, zum laufenden Staatsgeschäft und alsbald zur bürokratischenRoutine.[5] Erstmals in der Weltgeschichte beansprucht und erreicht daspolitische System der Gesellschaft die volle Herrschaft über das Recht. DasRecht wird, nichts anderes bedeutet der Erlaß von »Verfassungen«, der

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Substanz und nicht nur der Anwendung nach dem organisiertenEntscheidungsprozeß überantwortet. Etwa gleichzeitig gibt man dieVersuche auf, das Staatshandeln durch naturgegebene Zwecke zu bestimmen.Rechtsnorm und Staatsaufgaben werden, unter manchen besorgtenVorbehalten der Theorie, im Grunde nur noch als selbsterzeugteEntscheidungsprämissen gesehen.

Durch autonome Selbstprogrammierung wird, um einen Begriff derKybernetik zu benutzen, die Varietät, das heißt die Wahl möglicherSystemzustände, beträchtlich gesteigert. Je höher die Varietät des Systemsist, desto komplexer kann die Umwelt sein, deren Informationen das Systemaufnehmen und verarbeiten kann. Wird die Gesellschaft selbst durchfunktionale Differenzierung komplexer, wächst damit im großen und ganzenauch der Bedarf für Reduktion dieser Komplexität durch Entscheidungen,und damit wachsen die Anforderungen an das politische System. DiesesSystem muß in einer immer komplexer werdenden gesellschaftlichenUmwelt seine eigene Varietät steigern. Es muß nicht nur seine reineArbeitsleistung vergrößern, indem es immer und immer wieder Ämter,Personal oder Geldmittel vermehrt. Es muß darüber hinaus auch seineElastizität und sein Anpassungstempo steigern, und das ist von einergewissen Schwelle der Entwicklung an nur dadurch möglich, daß dieEntscheidungsprozesse reflexiv organisiert werden, indem nämlich dasSystem die Möglichkeit gewinnt, auch über seine Entscheidungsprogrammeselbst zu entscheiden.

Die Institutionalisierung von Rechtsänderung und Zielwechsel, also dasInstitutionalisieren von Ungewißheit, im politischen System stellt nun neue,bisher unbekannte Anforderungen an dessen interne Organisation. DieSteuerungsproblematik wird gleichsam von außen nach innen verlagert. DieGefahren der Freiheit, die Risiken der Selbstprogrammierung, müssen durchOrganisation zugleich ermöglicht und kleingearbeitet werden. DieseErfordernisse zeigen sich vor allem in zwei Hinsichten: als Anforderung andie interne Rationalisierung der Verwaltung und als Anforderung an dieOrganisation politischer Unterstützung der Verwaltung. In beiden Hinsichtenmüssen frühere Selbstverständlichkeiten in problemlösende Prozesseumgewandelt werden.

Für die Probleme interner Rationalisierung gibt den Anstoß, daß in sich

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selbst programmierenden politischen Systemen die Prozesse der Erzeugungund die Prozesse der Anwendung von Entscheidungsprogrammen sorgfältiggeschieden werden müssen. Ein Entscheidungsprogramm, sei es einKonditionalprogramm, sei es ein Zweckprogramm, kann nämlich seineFunktion der Strukturierung, Entlastung und Vereinfachung desEntscheidungsprozesses nur erfüllen, wenn es in dem programmiertenEntscheidungsprozeß kritiklos als Prämisse übernommen und nicht in Fragegestellt wird. Dieses Gebot schließt nicht aus, daß anderswo im Systemdiese Frage aufgerollt und das Programm selbst zum Problem gemachtworden ist oder werden wird. Programmierter und programmierenderEntscheidungsprozeß müssen aber getrennt bleiben, weil sonst an der Stelle,die beides verschmilzt, eine Überlastung mit unbestimmter Komplexitäteintreten würde und das Potential des Systems für die Bearbeitung sehrkomplexer und veränderlicher Problemkonstellationen erheblichgeschwächt werden würde.

Die Tragweite dieser Forderung läßt sich am besten daran erkennen, daßund aus welchen Gründen sie immer wieder durchbrochen wird. Beikonditionalen – zum Beispiel juristischen – Programmen bilden sichtypische Auslegungsgewohnheiten, die das Programm selbst nach denErfahrungen der täglichen Entscheidungspraxis modifizieren, verengen undpräzisieren. Die »ständige Rechtsprechung« höherer Gerichte ist daseindrucksvollste Beispiel für die Art apokrypher Programmierung, die beiprogrammierter Entscheidung en passant erfolgt und aus dem Einzelfall fürandere Fälle »Leitsätze« entwickelt. So unentbehrlich richterlicheRechtsfindung zu sein scheint, so bedenklich wird es, wenn der Gesetzgebervon ihr Kenntnis nimmt und die Möglichkeit nutzt, die Entscheidungproblematischer Programmpunkte »der Rechtsprechung zu überlassen«, siealso aus der Sphäre des politisch verantwortlichen Handelns abzuschieben.

Bei Zweckprogrammen findet sich das Gegenstück dieserKompetenzvermischung in der immer wieder auftauchenden und soeinleuchtenden Forderung, den Sinn der Zwecke und Zweckeszwecke, jaselbst den Sinn der letzten Staatszwecke bei der Wahl von Mitteln im Augezu behalten. Soweit damit nur die Eliminierung ungeeigneter Mittel gemeintist, besteht diese Forderung zu Recht.

Zur Abwehr unwirtschaftlicher oder sonstwie folgenbelasteter Mittel

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kann sie jedoch nicht dienen. Ein Naturschutzdezernent wäre überfordert,sollte er auch darüber entscheiden, ob der Zweck des Naturschutzes dieVerausgabung seiner Haushaltsmittel überhaupt lohnt oder ob es nicht besserwäre, damit Schulen zu bauen. Mit solchen Überlegungen würde er seinProgramm entlasten und alle Zuständigkeiten durcheinanderbringen können.

In autonomen politischen Systemen zeigen diese beiden Druckstellenschwerwiegende strukturelle Probleme an, nämlich Grenzen rationalerZentralisierbarkeit von Programmentscheidungen. Es handelt sich dabeinicht in erster Linie, wie oft vermutet wird, um ein Machtproblem, etwa umdie Durchsetzung der Gesetze oder um die Verwirklichung der Zwecke,sondern um ein Sinnproblem. Aus dem täglichen Fluß von Informationen,etwa aus dem Fluß der entscheidungsbedürftigen Rechtsfälle, dievorkommen, müssen diejenigen Gesichtspunkte herausgezogen undprogrammatisch fixiert werden, die sich als Entscheidungsprämissen eignen.Der Aufbau einer komplexen Hierarchie von Programmentscheidungen,Unterprogrammentscheidungen und Ausführungsentscheidungen steigert imWege der Arbeitsteilung die Entscheidungskapazität des Systems, löstandererseits interne Widersprüche in den Teilorientierungen, Reibungen undKonflikte aus, für die dann sekundäre Arbeitsrollen für Koordination undKontrolle geschaffen werden müssen.[6]

Neben diese Verschärfung der Rationalisierungsproblematik tritt alsweitere Folge der wachsenden Autonomie und Varietät des politischenSystems eine Verschärfung der Unterstützungsproblematik. Jederollenmäßige, ausdifferenzierte, also nichtautarke politische Herrschaft istauf Unterstützung durch die Gesellschaft – oder, genauer, durch andereTeilsysteme der Gesellschaft – angewiesen.[7] Den passiven Aspekt dieserUnterstützung, die Annahme von Entscheidungen, haben wir im vorigenKapitel behandelt. Aktiv gehört die Bereitschaft dazu, Sachmittel undpersönliches Handeln zur Verfügung zu stellen, also namentlich Geld für daspolitische System aufzubringen und Rollen im politischen System zuübernehmen. In dem Maße, als sich das politische System variabelstrukturiert, also unbestimmt bleiben muß, wofür diese Unterstützunggefordert und gewährt wird, müssen an die Organisation der politischenUnterstützung größere Anforderungen gestellt werden. Sie kann nicht einfacheinem vorausgesetzten institutionellen Konsensus überlassen bleiben, der

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Krone und Altar als sakrosankt erscheinen ließ. Sie besitzt deshalb auchkeinen festen Rahmen, in dem die einfache Ausübung bestimmter Rechteoder Privilegien oder eine Vertretung von individuellen odergruppenmäßigen Interessen als Voraussetzung politischer Unterstützunggenügen würde. Die Unterstützung muß vielmehr prozeßmäßig erarbeitetund generalisiert werden.

Dazu ist zweierlei erforderlich: Man kann sich nicht mehr damitbegnügen, die lautstarken Stimmen zu hören, die sich von selbst melden unddurch ihre gesellschaftliche Position in der Lage sind, ihrem WortNachdruck zu verleihen. Die Artikulation der Forderungen undUnterstützungsbedingungen darf nicht allein den strukturell sowiesobegünstigten Interessen, zum Beispiel den Vornehmen oder den Reichen,überlassen bleiben. Sie wird vielmehr eigens dafür geschaffenenInteressenorganisationen überantwortet, die als Organisationen sich imPrinzip jeglichen Interesses annehmen können (wenngleich zuzugeben ist,daß Bergarbeiter sich leichter organisieren lassen als Hausgehilfinnen unddaß sich daraus unterschiedliche politische Chancen ergeben). Zum anderenkönnen diese Interessen nicht im Rohzustand in das politische Systemgepumpt werden, allein schon deshalb nicht, weil Interessen noch keinepraktizierbaren Entscheidungsprogramme sind. Sie müssen nicht nurartikuliert, sondern auch vielfältig durchgearbeitet, zu konsensfähigenThemen oder politisch zugkräftigen »Anliegen« verdichtet, mit anderenMöglichkeiten verglichen und in diesem Prozeß so generalisiert werden,daß sie in das Repertoire vorhandener Entscheidungsprogrammeaufgenommen werden können. All das muß im Inneren des politischenSystems erfolgen, jedoch in einer Art und Weise, die mit demprogrammierten Entscheiden der Verwaltung wenig gemein hat. Es muß sichum funktionsspezifisch angesetzte Prozesse der Informationsverarbeitunghandeln, die von den Entscheidungsprozessen der Bürokratie strukturellgetrennt werden müssen.

In autonomen, sich selbst programmierenden politischen Systemen wirdmithin die funktionale und strukturelle Differenzierung von Politik undVerwaltung dasjenige Mittel, mit dem die neuartige Problematik wenn nichtgelöst, so doch in eine lösungsfähige Fassung gegossen wird. DieAnforderungen an Politik und Verwaltung steigen so, daß sie nur getrennt

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und unter jeweils verschiedenen, miteinander inkonsistentenVerhaltensbedingungen bewältigt werden können. Politik und Verwaltungbilden verschiedene Teilsysteme des politischen Systems mit je eigenenRollen und Verhaltenserwartungen, je eigenen Kriterien begrenzter unddeshalb praktikabler Rationalität, je eigenen Problemlösungssprachen undEinflußmitteln, je eigenen Umweltgrenzen. Unter systemtheoretischenGesichtspunkten kann dieser Vorgang durch verschiedene Formulierungencharakterisiert werden, die jeweils andere Aspekte ein und derselben Sachebeleuchten.

Das politische System sieht sich heute typisch einer zunehmendenKomplexität der Gesellschaft gegenüber und muß daher durch interneArbeitsteilungen und durch autonome Programmierung seine Kapazität fürdie Bearbeitung komplexer Probleme und rasch wechselnder Informationensteigern, um Umweltkomplexität und Eigenkomplexität in einembestandsfähigen Gleichgewicht zu halten. Mit dem Vorgang internerDifferenzierung entspricht das politische System seiner neuartigenAutonomie, seiner gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, letztlich also derfunktionalen Differenzierung der Gesellschaft selbst. Wenn sich funktionaleDifferenzierung als dominierende Gesellschaftsstruktur durchsetzt, müssenauch die primären Teilsysteme der Gesellschaft funktional differenziertwerden, und das bedeutet für das politische System vor allem Trennung vonPolitik und Verwaltung. Durch diese Differenzierung in zweiwiderspruchsvoll organisierte Teilsysteme erhält das politische Systemselbst eine widerspruchsvolle Struktur und übernimmt die Folgeproblemedieser Widersprüchlichkeit als tägliche Verhaltenslast. Durch diese interneWidersprüchlichkeit, die das politische System an sich selbst und an seineinnere Komplexität fesselt, wird die Freistellung von externen,gesellschaftlichen Bindungen durch übergreifende Rollenzusammenhänge,Institutionen, Traditionen und Überzeugungen kompensiert. Das Problem dersozialen Komplexität wird für das politische System gleichsam von außennach innen verlagert, damit rationalere Mechanismen der Problemlösungzum Einsatz gelangen können.

Eine so voraussetzungsvoll ausbalancierte Beziehung von politischemSystem und Gesellschaft läßt sich nur erreichen und erhalten, wenn estatsächlich gelingt, Politik und Verwaltung unter verschiedenen Funktionen

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mit widerspruchsvollen Verhaltenskriterien operieren und kooperieren zulassen. Das ist das Grundproblem, das für die folgenden Untersuchungenunser Ausgangsproblem der sozialen Komplexität ersetzt und präzisiert.Verschmelzen die beiden Teilsysteme, etwa unter einer gemeinsamenZweckideologie, dann regrediert das politische System zu einer sehr vieleinfacheren Innenordnung – zum Beispiel der einer einfachen oder einerdoppelten Hierarchie von Partei und Staat. In solchen Fällen findet sich daspolitische System sehr viel stärker auf sachliche oder werthafteEntscheidungsprämissen festgelegt, allein schon deshalb, weil seine eigeneVarietät nicht ausreicht, um letzte Werte zu variieren. Auch eine solcheOrdnung kann durchaus sinnvoll sein, besonders in noch nicht volldifferenzierten Gesellschaften, die ein widerspruchsreiches politischesSystem weder benötigen noch ertragen können. Die Ordnung des politischenSystems kann stets nur relativ auf einen vorausgesetztenGesellschaftszustand beurteilt werden.

Gleichwohl werden wir in den folgenden Untersuchungen eine Theoriedes funktional differenzierten politischen Systems und mithin das Problemder Trennung von Politik und Verwaltung zugrunde legen. Die Wahl diesesAnsatzpunktes erfolgt nicht deshalb, weil ein solches System in irgendeinemwerthaften Sinne besser ist als andere, und schon gar nicht in der Annahme,daß es für Gesellschaften jeder Art das richtige sei, sondern allein deshalb,weil die Theorie des komplexeren Gegenstandes auch die komplexereTheorie sein muß, so daß von ihr aus einfachere, weniger starkdifferenzierte Ordnungen verständlich sind, nicht aber umgekehrt derenTheorie ausreicht, um differenziertere Ordnungen zu begreifen.[8]

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11. Kapitel

Politik und Verwaltung

Die geläufigen Vorstellungen über das Verhältnis von Politik und Verwaltunggehen von einer Einheitsprämisse aus. Sie unterstellen, ohne diese Annahmeimmer als solche zu kennzeichnen, daß Politik und Verwaltung einergemeinsamen Vorstellung des Richtigen nachleben oder doch nachlebensollten. Dabei ist es ein zweitrangiger Unterschied, ob man diese Einheitideal und normativ vorgegeben, in Staatszwecken, Werten oder in einemMenschenbild verankert sieht oder ob man sie positivistisch der Politik zurEntscheidung überläßt. In jedem Falle wird eine Harmonie derGrundorientierung im politisch-administrativen Handlungszusammenhangerwartet. Daß Problemlösungen politisch sinnvoll und richtig,verwaltungsmäßig dagegen falsch sein können oder umgekehrt, wirdmöglichst ignoriert oder als eine unerfreuliche Nebenerscheinung auf diemenschliche Unzulänglichkeit, besonders gern auf ein Versagen derPolitiker, zurückgeführt.

Auf dieser Grundlage einer homogenen Sinnausrichtung wird dasVerhältnis von Politik und Verwaltung auf zwei verschiedene Weisendargestellt: durch die Unterscheidung von oben und unten und durch dieUnterscheidung von Zweck und Mittel. Beide Denkmodelle sind Schematader Koordinierung und insofern auf die Einheitsprämisse bezogen. Daspolitische Handeln und Entscheiden wird im Verhältnis zur Verwaltung alsübergeordnet gesehen. Die Verwaltung sei nur mit untergeordneterAusführung dessen befaßt, was höheren Orts unter politischenGesichtspunkten grundsätzlich schon entschieden sei. Die Politik agiereoben, die Verwaltung werde unten vollzogen. Zum anderen findet sichimmer wieder die Auffassung, die Politik setze die Zwecke fest, dieVerwaltung wähle nur die geeigneten Mittel zur Verwirklichung dieserZwecke und wende sie an. Beide Auffassungen werden dann aufeinanderprojiziert und aneinander begründet.[1] Die Politik erhält den Platz oben,weil sie Zwecke setzt, die naturgemäß den Mitteln vorgeordnet sein müssen,

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und umgekehrt kann sie Zwecke nur setzen, weil ihr Standort oben in derHierarchie es ihr ermöglicht, bindende Anweisungen zu erteilen.

Dieser Kongruenz von hierarchischer und Zweck/Mittel-Differenzierungliegen auffallende strukturelle Analogien beider Vorstellungsmodellezugrunde: In beiden Fällen handelt es sich um eine sehr einfache, prinzipiellzweigliedrige Beziehung, die sich jedoch kettenförmig wiederholen läßt.Schon diese Struktur gewährleistet Übersichtlichkeit um den Preis einessehr geringen Potentials für Komplexität. Dazu kommt, daß die Modelle ausdem gleichen Grunde asymmetrisch gebaut sind. Sie bezeichnen einVerhältnis einseitiger Variabilität: Nur die eine Seite ist variierbar unterdem konstant bleibenden Leitgesichtspunkt der anderen Seite. Die Zweckebleiben konstant, nur die Mittel werden ausgewählt und geändert nachMaßgabe der Zwecke. Die Alternativen der Untergebenen sind für dieVorgesetzten verfügbar, nicht aber umgekehrt. In dieser Strukturform derAsymmetrie liegt eine wesentliche Situationsvereinfachung, eine wirksameTechnik der Reduktion von Komplexität. Hätte man A mit Rücksicht auf B zuvariieren, zugleich aber B mit Rücksicht auf A, wäre das System prinzipiellfür alle Möglichkeiten offen und bliebe unendlich komplex. SeineAnpassung an die Umwelt bliebe dem Zufall überlassen,Entscheidungsprozesse im System wären rational nicht abschließbar.Asymmetrische Strukturen ermöglichen es demgegenüber, in begrenzter Zeitzu Ergebnissen zu kommen, die das System unter gegebenen Bedingungenselbst auswählt. Sie erbringen einen oft überlebenskritischen Gewinn anZeit und Autonomie.

Diesen strategisch wichtigen Vereinfachungen der (wiederholbaren)Zweigliedrigkeit und der Asymmetrie im Sinne einseitiger Variierbarkeitschließt sich als dritte die Annahme an, daß die Struktur dieser Modelledurch sinngleiche Prozesse realisiert wird. Der Vorrang des Oberen setztsich in der Kommunikationsform des Befehls dem Unteren gegenüber durch,der Zweck wird durch das Mittel kausal bewirkt. Mit dieser Unterstellungwird die soziologisch so interessante Möglichkeit einer Diskrepanz vonStruktur und Prozeß ausgeklammert – auch das eine Technik derVereinfachung.

Daß diese Vereinfachungen heute namentlich von der Soziologie nichtmehr unbesehen hingenommen werden, liegt auf der Hand. Beide Modelle,

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die befehlsförmige Kommunikationsordnung der Hierarchie ebenso wie dieZweck/Mittel-Ordnung des Kausalprozesses, sind in den letzten JahrenZielscheibe scharfer Kritik gewesen.[2] Ihre Unzulänglichkeit hat dasamerikanische Lehrfach »Public Administration«, das auf eine klareAbgrenzung von Politik und Verwaltung für seine Eigenständigkeitgegenüber der Politikwissenschaft besonders angewiesen ist, theoretischruiniert.[3] Die Einwendungen laufen, und das gibt ihnen ihr Gewicht, genauauf jene Merkmale zu, die Struktur und Funktion der klassischen Modelleausmachen. Die lineare, kettenförmige Verlaufsvorstellung sei zu einfach,Seitenbeziehungen müßten berücksichtigt werden. Die angeblicheAsymmetrie sei stets gefährdet, da Zwecke faktisch nie ohne Rücksicht aufMittel gewählt werden könnten und die Untergebenen ihre Vorgesetztenbeeinflußten wie diese sie. Die Sinngleichheit von formaler Struktur undfaktischem Prozeß sei eine Fiktion, da es neben den formalen informaleBeziehungen und Prozesse gebe, die sich weder dem Formschema derHierarchie noch dem der Zweck/Mittel-Beziehung fügten. Alles in allem:Die Welt der Organisation sei nicht so einfach, wie diese Modelle esvorsähen.

Man könnte dieser Kritik auszuweichen suchen dadurch, daß man dieModelle Hierarchie und Zweck/Mittel-Schema nicht mehr alsWirklichkeitsbeschreibungen oder als Normen auffaßt, sondern alsStrategien der Reduktion von Komplexität. Das wird ihrer Funktion sicherbesser gerecht, läßt aber ihre begrenzte Leistungsfähigkeit nur um soschärfer zutage treten. Die Modelle müssen nämlich, um anwendbar zu sein,die Geltung von Zwecken bzw. die Geltung einer hierarchischen Ordnungvon Befehlskompetenzen, also insoweit stets schon reduzierte Komplexität,voraussetzen, und was man voraussetzen muß, kann man nicht leisten.

Mit diesen Überlegungen gelangen wir zu einem bisher noch wenigbeachteten Aspekt der Denkmodelle, die für die Bestimmung desVerhältnisses von Politik und Verwaltung zur Verfügung stehen: ihreFassungskraft für Komplexität. Die hohe Leistung dieser Modelle für dieReduktion von Komplexität auf einfachen, handlungsnahen Sinn hat nämlicheine Kehrseite in dem Umstand, daß ihre Fassungskraft für Komplexität engbegrenzt ist. Das Wertberücksichtigungspotential einzelner Zwecke hat sehrspürbare Schranken, und das gleiche gilt für die Entscheidungskapazität

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einer Hierarchiespitze. Dies muß besonders bedenklich stimmen, nachdemwir festgestellt haben, daß eine beträchtliche Ausweitung der innerenKomplexität und Varietät des politischen Systems für dessen neuzeitlicheEntwicklung charakteristisch ist. Daher liegt es nahe, nach Wegen zu suchen,die Fassungskraft der hierarchischen Ordnung und der Zweckrationalität fürkomplexe und variierende Sachverhalte zu erweitern, ohne die Strukturdieser Modelle zu zerbrechen oder ihre Reduktionsleistung zu schwächen.Solche Möglichkeiten gibt es in der Tat. Sie lassen sich entdecken, wennman die juristischen und die wirtschaftswissenschaftlichenEntscheidungstheorien und -techniken daraufhin ansieht. Es ist denn auchkein Zufall, daß die neueren Entwicklungen auf beiden Gebieten derEntscheidungstheorie in diesem Problem der Komplexität ihre verborgeneTriebfeder haben. Die Entscheidungstheorie muß der neuen Autonomie despolitischen Systems folgen. Aber auch ihre Möglichkeiten sind begrenzt.

Der Engpaß des Hierarchiemodells liegt vor allem imInformationsverarbeitungs- und Kommunikationspotential der Spitze. Hierhat man in der neueren Organisationswissenschaft zunächst anChefentlastungen durch Delegation, also durch Verlängerung der Hierarchienach unten, oder durch Assistenten, Stäbe usw. gedacht.[4] Dabei wirdjedoch das Prinzip der Einheit der Leitung nicht aufgegeben; der Chef bleibteinzige Quelle der Autorität und bleibt infolgedessen durch die gleichzeitigwachsenden Autorisierungsbedürfnisse überlastet. Sehr vielwirkungsvollere Entlastungstechniken stehen in der konditionalenEntscheidungsprogrammierung zur Verfügung, also in derjenigenProgrammform, die dem juristischen Entscheiden zugrunde liegt und die inder öffentlichen Verwaltung schon immer große Bedeutung besaß. Wird eineEntscheidungsregel in der Form »jedesmal wenn A – dann B«untergeordneten Stellen vorgeschrieben, dann gilt diese Prämisseunabhängig davon, ob und wie oft die entscheidungsauslösenden Ereignissetatsächlich vorkommen.

Die auslösenden Informationen brauchen im Programm wedervorausgesehen noch mitgeteilt zu werden. Damit wird der vertikaleKommunikationsfluß wesentlich entlastet, und zugleich werden abgeleitetenichthierarchische Autoritäten geschaffen.[5] Wer immerentscheidungsauslösende Informationen mitteilen kann, vermag damit

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bestimmte Entscheidungen herbeizuführen. Auf dieser Grundlage entwickeltsich ein selbständiger, aber programmierter, horizontaler Innen- undAußenverkehr untergeordneter Stellen, in den die Vorgesetzten nur nochgelegentlich in der Form von Planung oder Störungsbeseitigung eingreifenmüssen.[6]

Der Engpaß der Zweckrationalität liegt demgegenüber im zu geringenWertberücksichtigungspotential des einzelnen Zwecks. Eine Ausweitung zugrößerer Komplexität muß hier also die Form eines Einbaus zusätzlicherWertprämissen in den Entscheidungskalkül annehmen. Das geschieht durchFestlegung von Nebenbedingungen für die Wahl von Mitteln, durchBudgetierung von Kostengrenzen, im Idealfalle durch eineWirtschaftlichkeitsrechnung, die optimale Resultate anstrebt. Damit wirddie einfache Zweck/Mittel-Relation zwar nicht aufgegeben, aber einemVergleich mit anderen Möglichkeiten ausgesetzt.

Die innere Logik dieser beiden Programmformen der konditionalen undder zweckrationalen Programmierung definiert den Horizont derBestrebungen, den Entscheidungsvorgang in der Verwaltung zu objektivierenund zu rationalisieren. Das Bemühen um Meisterung immer komplexererSachverhalte in diesen Entscheidungssprachen hat für die Verwaltung gutenSinn. Die spezifische Funktion der Verwaltung, die programmäßigeAnfertigung bindender Entscheidungen, wird auf diese Weise erfüllt.Gleichwohl – und eben deshalb – ist das Verhältnis von Politik undVerwaltung in den Entscheidungssprachen der Verwaltung nichtformulierbar. Die juristische und die wirtschaftliche Entscheidungssprachesind spezialisierte Problemlösungssprachen. Sie setzen voraus, daßProbleme und ihre Lösungsbedingungen definiert sind und daß eineEntscheidung richtig ist, wenn sie das Problem unter den angegebenenBedingungen löst. Mit der richtigen Entscheidung ist ihr Problem beseitigt.Unter solchen Prämissen kann die Politik nicht operieren. Ihre Funktionbesteht gerade in der Herstellung der Bedingungen, unter denen man davonausgehen kann, daß die Lösung bestimmter Probleme richtiges Entscheidenist. Ihre eigene Rationalität hängt von ihrer Funktion ab und kann daher nichtdie der Verwaltung sein.

Um über das Verhältnis von Politik und Verwaltung sprechen zu können,genügt es daher nicht, die Ordnungsvorstellungen der Verwaltung einfach in

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den politischen Raum zu verlängern. Das würde notwendige Enttäuschungenverursachen.[7] Die Kettenförmigkeit des Hierarchieprinzips und desZweck/Mittel-Schemas scheinen solche Verlängerungen zwar nahezulegen.Die Konditionalprogramme werden von Juristen aus höheren Normenabgeleitet, die im Prinzip ebenfalls als Konditionalprogramme gedacht sind,und Zwecke werden auf allgemeinere Zwecke bezogen, denen sie als Mitteldienen. Aber damit gelangt man allenfalls an die politische Grenze derVerwaltung, wo jene letzten Prämissen aus den Händen der Politikübernommen werden, nicht aber zu einem adäquaten Verständnis derpolitischen Prozesse selbst. Auf diese Weise wird die Politik nur als Grenzeder Verwaltung, nicht als sie selbst begriffen.

Die Steigerung der Komplexität, die in hierarchischen Ordnungen oderdurch Zweckrationalität faßbar wird, und die Verbesserung derentsprechenden Entscheidungssprachen der Verwaltung dürften demnachkein Weg sein, Politik und Verwaltung einander anzunähern oder ihrenZusammenhang zu begreifen. Im Gegenteil, die Diskrepanz von Politik undVerwaltung wird nur um so schärfer hervortreten, je bewußter dieEntscheidungssprachen der Verwaltung auf ihre spezifische Funktion hinausgearbeitet werden.

Damit wird fragwürdig, ob die Einheit von Politik und Verwaltungweiterhin in gemeinsamen Entscheidungsprämissen und übereinstimmendenRationalitätskriterien gesucht werden sollte. Im Rahmen derwissenschaftlichen Disziplinen, die Grundsätze richtigen Entscheidens zuerkennen suchen, lassen sich keine anderen Möglichkeiten ausdenken, dennfür sie kann eine Entscheidung nur entweder richtig oder falsch sein. Einesoziologische Theorie des politischen Systems bietet dagegen Raum für denGedanken, daß Politik und Verwaltung verschiedene, funktional spezifizierteund somit getrennt operierende Systeme kommunikativerInformationsverarbeitung sind, die aber als Teilsysteme aufeinanderangewiesen sind, sich wechselseitig ihre Autonomie lassen und miteinanderkooperieren müssen.[8] Eine Systemtheorie kann nämlichHandlungszusammenhänge funktional und strukturell als Einheit begreifenauch dann, wenn sie den Handelnden als kontrovers und konfliktreicherscheinen, ja, sie vermag die Funktion dieser Kontroversen selbst zudeuten.

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Politisches Handeln dient im wesentlichen dazu, die Komplexität dergesellschaftlichen Möglichkeiten so weit zu reduzieren, daß verbindlich undohne das Risiko erheblichen Widerstandes entschieden werden kann. DieVerwaltung befaßt sich dagegen mit der Ausführung des politisch Möglichenund Notwendigen durch Ausarbeitung verbindlicher Entscheidungen nachMaßgabe schon festliegender (heute im allgemeinen positiv entschiedener)Entscheidungsprämissen. Diese beiden Funktionen lassen sich – zumindestim Sinne einer Trennung von Vorbereitung der Entscheidungen mitKonkurrenz um die Inhaltsbestimmung auf der einen und Durchführung bzw.Durchsetzung der Entscheidungen auf der anderen Seite – bis in einfachsteGesellschaften zurückverfolgen.[9] Zunächst wurden jedoch beideFunktionen von einer einheitlichen Struktur, dem Verwandtschaftssystem,gleichermaßen erfüllt, getrennt nur nach Situationen und Beziehungen: Daspolitische Aushandeln der Entscheidungsinhalte fand typisch in externenBeziehungen zwischen den segmentierten Stammeslinien (Sippen, Clansusw.) statt, während die Ausführung und Durchsetzung durch die interneStruktur dieser Untereinheiten des Stammes gewährleistet wurde – eine imganzen wohlbalancierte Ordnung, die aber darauf beruhte, daß der politisch-administrative Handlungskreis nicht aus der allgemeinen Lebensordnungausdifferenziert war. Geschieht dies im Rahmen derjenigen Entwicklung,die wir im 6. und 7. Kapitel geschildert haben, wird diese anfänglicheAusbalancierung gestört: Es können nicht mehr die gleichen Teilsystemesein, die nach außen politisch, nach innen verwaltend handeln. DasGleichgewicht beider Funktionskreise muß in einer komplexeren Ordnungdurch stärkere strukturelle Differenzierung wiederhergestellt werden. DieUnterscheidung von Situationen und Beziehungen genügt nicht mehr; esbilden sich im Rahmen eines ausdifferenzierten politischen Systems derGesellschaft funktionalspezifische Teilsysteme für Politik und Verwaltung.

Die interne Differenzierung des politischen Systems in Politik undVerwaltung braucht nicht allein in einem Schatz gemeinsamerÜberzeugungen oder Einstellungen ihr koordinierendes Gegengewicht zusuchen, ohne welches sie auseinanderfiele. Es genügt ein Arrangement, indem sichergestellt ist, daß für beide Teilsysteme, für Politik wie fürVerwaltung, die Kontinuität des Gesamtsystems, das sie beide umgreift,Entscheidungsbedingung bleibt. Innerhalb einer solchen Ordnung können

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dann widerspruchsvolle Handlungsorientierungen institutionalisiert werden,ohne daß dies den Bestand des politischen Systems gefährdet. Und esscheint, daß ein politisches System, das auf diese Weise seinen innerenKonsensbedarf auf das strukturelle Arrangement und auf letzte und deshalbwenig besagende »Werte« reduzieren kann, in der Lage ist, jeneEigenkomplexität zu gewinnen, die seiner Funktion in einer differenziertenGesellschaft entspricht.

Politisch-administratives Handeln wird in dem Maße ein besonderessoziales System, als es rollenmäßig aus anderen gesellschaftlichenRollenverflechtungen ausdifferenziert und im Hinblick auf die spezifischeFunktion, bindende Problementscheidungen zu treffen, autonom gesetzt wird.In dem Maße, als dies geschieht, wird die innere Widersprüchlichkeitdieser Funktion deutlich und muß vom politischen System als zentralesStrukturproblem übernommen werden. Der Auftrag besteht aus zweiElementen: Entscheidung und Bindung. Entscheiden ist immer einenichtselbstverständliche Problemlösung. Daher ist und bleibt das Sich-an-eine-Entscheidung-gebunden-Fühlen ein Problem. Eine möglichst gute, mitanderen Entscheidungen konsistente Problemlösung ist nicht immer die,welche am ehesten akzeptiert wird. Je komplexer derEntscheidungszusammenhang wird, desto größer wird dieWahrscheinlichkeit, daß die beiden Komponenten des Auftrags sich nichtdecken, sondern auseinanderlaufen. Wenn ein politisches System auf dieseFunktion spezialisiert wird, muß es aber ihren beiden Seiten gerecht werdenkönnen. Es liegt dann nahe, eine entsprechende Arbeitsteilung zuentwickeln, nämlich diejenigen Prozesse, mit denen die Grundlage derBindung, legitime Macht, aufgebaut wird, abzusondern von denen, die dersachlichen Ausarbeitung richtiger Entscheidungen dienen – das heißt, Politikund Verwaltung zu trennen.

Auf die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, die zurSpezifizierung der Funktion des politischen Systems führt, wird diesesdaher mit einer eigenen, internen funktionalen Differenzierung antworten.[10]

Es muß, will es seine Funktion im Zusammenhang einer solchenGesellschaft erfüllen, seine eigene Komplexität und seine Fähigkeit,Widersprüche zu absorbieren, steigern, weil die gesellschaftliche Umweltkomplexer geworden ist. Die Trennung von Politik und Verwaltung wird

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sich daher verschärfen in dem Maße, als das politische System sich auf eineTeilfunktion in der Gesellschaft spezialisiert.

Dies ist natürlich nicht als eine notwendige Entwicklung zu verstehen. Esgibt sicher andere Möglichkeiten, das Verhältnis von Gesellschaft undpolitischem System auf einer weniger stark funktional differenziertenGrundlage zu stabilisieren. Politische Ordnungen, die im Hinblick aufwirtschaftliche Zielsetzungen den Weg einer umfassend politisiertenGesellschaft zu gehen suchen, weisen eine Trennung von Politik undVerwaltung nicht in gleicher Schärfe auf, sondern kennen sie allenfalls alseine Art bürokratische Arbeitsteilung. Das Beispiel mancherEntwicklungsländer, allen voran der Sowjetunion, zeigt, daß man die innereSpannung der politischen Funktion, bindende Problementscheidungen zutreffen, auch anders überspielen kann, nämlich durch eine durchgreifendeIdeologisierung allen öffentlichen Handelns. Unter solchen Bedingungenkann natürlich auch die Bürokratie sich dem ideologisch-politischen Appellnicht entziehen. Sie kann allenfalls als Teil der politischen Elite einegewisse technische Autonomie erlangen, getragen vom Vertrauen in ihreLoyalität.[11] Trennung von Politik und Verwaltung ist mithin nicht die einzigdenkbare Problemlösung. Es gibt funktionale Äquivalente. Aber es scheint,daß sie unter der allgemeinen gesellschaftsstrukturellen Bedingungfunktionaler Differenzierung besondere Vorteile bietet und daßunzureichende Trennung von Politik und Verwaltung zum Bremsklotz einergesellschaftlichen Entwicklung in dieser Richtung werden kann.

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12. Kapitel

Analytisches Modell des politischen Systems

Wir haben nunmehr die Grundlagen beisammen, um die Erörterungen diesesKapitels mit der Skizzierung eines allgemeinen Modells des autonomgewordenen politischen Systems einer funktional differenziertenGesellschaft beschließen zu können. Dieses Modell ist relativ auf einenbestimmten Entwicklungszustand der Gesellschaft zu verstehen; es ist alsonicht allgemeingültig gemeint. Es enthält ferner weder im Ganzen noch inseinen einzelnen Teilen zwingende Gründe, die bestimmte konkreteStrukturen (z. B. Formen bürokratischer Organisation, Arten politischerParteien) festlegen und andere, funktional äquivalenteOrdnungsmöglichkeiten ausschließen; es ist also nicht exklusiv gemeint. Eshandelt sich um ein soziologisches Systemmodell, was sich daran ablesenläßt, daß es nicht notwendig mit den subjektiven Zwecken der Handelndenund dem gemeinten Sinn ihres Handelns übereinstimmt, sondern latenteFunktionen und Strukturen berücksichtigt und Widersprüche und Konflikteweder in den Strukturen noch in den Handlungszielen ausschließt. Es fixiertauch keine idealtypische Problemlösung in dem Sinne, daß alle Problematiksich in Harmonie auflöst in dem Maße, als das Modell in der sozialenWirklichkeit realisiert wird; vielmehr beansprucht das Modell nur, eineSystemordnung für schwieriges, aber mögliches Verhalten unter sehrkomplexen Bedingungen vorzuzeichnen. Es skizziert also nur eine Ordnungder Definition, Verteilung und Verkleinerung von Verhaltenslasten impolitischen System unter den Strukturbedingungen einer sehr komplexenGesellschaft, und es sucht die Möglichkeit einer stabilen Ordnung unterdiesen Bedingungen zu erweisen, aber es enthält keine Garantie derStabilität. Mit Hilfe dieses Modells vermag sowohl die Wissenschaft alsauch die Praxis etwas genauer zu erkennen, welche Probleme bei derAusdifferenzierung eines politischen Systems auftreten und gelöst werdenmüssen. Das Modell ist jedoch kein Rezept für sicher erfolgreichesHandeln.

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Bevor wir in eine nähere Diskussion dieses Modells eintreten, muß eineVorfrage geklärt werden, nämlich die Frage nach dem Substrat, auf das sichdas Modell bezieht. Um welche Art empirischer Wirklichkeit geht eseigentlich? Ohne Zweifel bezieht sich das Modell, da wir Soziologietreiben, auf Systeme, die aus faktischen Handlungen gebildet sind. DieFrage ist aber, auf welcher Ebene der Generalisierung die System- undUntersystembildung den Sinn des Handelns erfaßt und in ihren Bann zieht.Konkreter gesprochen wird zu klären sein, ob ein System gemeint ist, dasaus Personen oder nur aus Rollen oder nur aus Programmen oder gar nur ausWerten besteht.[1]

Die unterste Stufe der Generalisierung haben wir bereits in denvorangegangenen Erörterungen ausgeschieden. Eine funktional differenzierteGesellschaftsordnung ist nicht in der Lage, konkreten Menschen ihre Plätzein der Ordnung des Ganzen ein für allemal zuzuweisen. Bereits daspolitische System und erst recht seine Untersysteme Politik, Verwaltung undPublikum kennen im Unterschied zu Stammesgesellschaften keine eindeutigeund exklusive Einordnung von Menschen in Systemgrenzen. Niemand kann»nur« Beamter sein, Politiker gehören auch zur Bevölkerung, Beamtekönnen Politiker wenn nicht sein, so doch werden usw. Eine funktional-differenzierte Gesellschaft erreicht ihren untersten Konkretisierungsgrad aufder Ebene der Rollen. Ihre Systeme können nur aus Rollen, nicht ausMenschen bestehen.[2] So bilden denn in der Tat Rollen das Substrat unseresSystemmodells.

Noch auf dieser Ebene ist die gesellschaftliche Ausdifferenzierung underst recht die Innendifferenzierung des politischen Systems schwierig genugzu institutionalisieren. Kaum jemand trennt seine Rolle als Antragsteller füreine Baugenehmigung deutlich von seiner Rolle als Bauherr, Bankkundeoder Familienvater. Daß Parteien und Interessenverbände rollenmäßig durchmancherlei Personalunion verbunden sind, ist ebenso bekannt wie dieSchwierigkeit mancher Minister, ihre Rolle als Parteipolitiker von der alsVerwaltungschef zu trennen. Solche Differenzierungen auf Rollenebene sinddenn auch nicht immer sinnvoll. Gerade daß sie im Unklaren bleiben, kannpositive Funktionen für die Erleichterung des Grenzverkehrs zwischenTeilsystemen haben. In solchen Fällen wird dann die Differenzierung nur aufder Ebene von Entscheidungsprogrammen vollzogen, und den weniger stark

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auseinandergezogenen Rollen obliegt es dann, in verschiedenen Systemenzugleich zu handeln, ohne zu demoralisieren. Die Wertordnung selbst istzumeist hierarchisch gedacht und auf ihren unteren Ebenen differenzierbar.Es gibt typische Parteiwerte, Ressortwerte, Werte der Politik, zum BeispielMacht, und Werte der Verwaltung, zum Beispiel Fehlerlosigkeit. In denletzten Werten wird jedoch typisch ein Versuch der Synthese des politischenSystems, ja der Gesellschaft als ganzer, gemacht und von einerDifferenzierung entsprechend den Untersystembildungen in der Gesellschaftabgesehen.

Dieser vielschichtige Aufbau der Ausdifferenzierung vonHandlungssystemen muß im Auge behalten werden, auch wenn wir ihn imfolgenden nicht immer miterwähnen, sondern voraussetzen werden. Im Falledes politischen Systems und seiner Teilsysteme, deren Struktur unserModell nachzeichnet, liegt die Hauptlast der Differenzierung auf der Ebeneder Rollen und der Programme bzw. Rationalitätskriterien. Daß dieStrukturen der Rollen und der Programme sich wenigstens annähernddecken, ist eine wesentliche Bestandsvoraussetzung dieser Ordnung, weildiese beiden Ebenen die Differenzierung und daher die Komplexität derGesamtordnung tragen. Von diesen tragenden Ebenen aus werden dann diekonkreten Menschen mobilisiert und zu abstrakten Werte ideologisiert,[3]

damit sie sich den Erfordernissen einer hochgradig komplexen Gesellschaftfügen können.

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Im einzelnen unterscheidet nun unser Modell, wie die Skizze verdeutlichensoll, das politische System (im Rechteck) von seiner Umwelt (in Kreisen).

Zum politischen System gehören die durch eine nicht ganz eindeutigeGrenzlinie getrennten Teilsysteme Politik und Verwaltung und ferner diedamit korrespondierenden Publikumsrollen, die danach geteilt sind, ob sieden Verkehr mit der Politik oder den Verkehr mit der Verwaltung regeln. Dievertikale Achse des politischen Systems bezeichnet also eine bis insPublikum einschneidende Trennung von Politik und Verwaltung, diehorizontale Achse dagegen eine Trennung der an fremden Interessenorientierten, zumeist hauptberuflichen Arbeits- oder Leistungsrollen inPolitik und Verwaltung von den an eigenen Interessen orientierten, nurgelegentlich wahrgenommenen politisch-administrativen Rollen desPublikums.

Stellt man diese beiden Einteilungsgesichtspunkte einander gegenüber, soergeben sich vier Kombinationsmöglichkeiten, die sich als Teilsysteme despolitischen Systems deuten lassen: hauptberufliche Politik, hauptberuflicheVerwaltung, politikbezogene Publikumsrollen und verwaltungsbezogenePublikumsrollen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Teilsystemen müssen

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als variabel gedacht werden je nachdem, welches Gewicht den einzelnenTeilen im Prozeß der Reduktion von Komplexität zukommt. Das Modell hatdaher Platz für sehr verschiedene Ausführungen. Es kann zum Beispiel Fällegeben, in denen die hauptberuflichen Rollen die Publikumsrollen sozurückdrängen, daß ihnen kaum noch Bedeutung bleibt. Es wird dann typischnotwendig sein, daß die Funktion der Publikumsrollen, zum BeispielArtikulation von Interessen, in Politik und Verwaltung miterfüllt werdenmuß. Sehr oft findet man namentlich in Entwicklungsländern Beispieledafür, daß die Verwaltungsbürokratie ein erhebliches Übergewicht besitztund die Politik auf ein Minimum reduziert. Auch das führt dazu, daß dasexpansive Teilsystem sich mit den Funktionen des zurückgedrängtenbelasten und vielleicht überlasten muß, daß also die Verwaltung in diesemFalle legitime Macht nicht ohne weiteres voraussetzen kann, sondern durchÜbernahme der politischen Funktion mit aufbauen muß. Ein drittes Beispielfür solche Verschiebungen mit der Folge, daß Struktur und Funktion nichtmehr in Einklang stehen, wäre der Fall, daß die Interessenvertretung sehrviel größere Bedeutung besitzt als die Wahl. Auch dann ist typisch damit zurechnen, daß die Interessen auf dem Weg zu den zentralenEntscheidungsorganen des Systems im Prozeß der Vertretung selbstgeneralisiert werden müssen, daß also die Interessenvertretung jeneFunktion miterfüllen muß, die sie der politischen Wahl nicht läßt.

Die Differenzierung der Umwelt, die das Modell berücksichtigt,entspricht seiner Innendifferenzierung. Das Modell geht mithin von einerKorrespondenz zwischen Innendifferenzierung und Umweltdifferenzierungaus. Das politische System sieht seine Umwelt nicht »objektiv« (das würdeheißen übermäßig komplex), sondern »subjektiv«, nämlich so, wie es seineinterne Struktur der Informationsverarbeitung vorzeichnet.[4] Subjektiv heißtnatürlich nicht willkürlich. Der Umweltentwurf muß Sinn geben, muß dasSystem in die Lage versetzen, reale Komplexität zu reduzieren, weil sonstdas System nicht sinnvoll und selbsterhaltend handeln kann.

Die Hauptunterscheidung in der Umwelt unseres Modells stellt darauf ab,ob die Umweltrollen durch Persönlichkeiten mit dem politischen Systemverknüpft sind (und es auf diese Weise beeinflussen können) oder nicht.Fremde politische Systeme sind normalerweise vollexterne Systeme, es seidenn, daß das politische System, von dem wir ausgehen, kein souveräner

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Staat ist. Die Umwelt der eigenen Gesellschaft des politischen Systemsreicht dagegen mehr oder weniger in das politische System hinein dadurch,daß die Rollen des politischen Systems von Trägern wahrgenommenwerden, die auch andere gesellschaftliche Rollen ausführen müssen. Diesist das schon oft erwähnte Problem der »gesellschaftlichenAusdifferenzierung« des politischen Systems. Je stärker diese Umweltrollenmit Rollen im politischen System verknüpft sind, desto geringer ist dieAusdifferenzierung, desto diffuser ist die Struktur der Gesellschaft. Jewirksamer die Schranken sind, die in den einzelnen Personen politisch-administrative Rollen von anderen trennen, desto weiter geht dieAusdifferenzierung, desto autonomer kann das politische System operieren.[5]

Zu beachten ist ferner, daß die gesellschaftliche Ausdifferenzierung inden einzelnen Teilsystemen des politischen Systems verschieden weit gehenkann. Normalerweise wird man erwarten, daß die Verwaltung durch ihrebürokratische Ordnung am stärksten ausdifferenziert ist, stärker etwa als diePolitik, in der die Persönlichkeit der Politiker eine funktional durchaussinnvolle Bedeutung hat. Vom Politiker wird gleichwohl eine stärkereAbstandnahme von rein persönlichen Interessen erwartet als etwa vomWähler, und dieser hat seinerseits weniger Gelegenheit, persönlichenInteressen Ausdruck zu geben und seine anderen Rollen ins Spiel zu bringenals der Interessent.

Im einzelnen gibt die Unterscheidung von Politikern, Verwaltungspersonalund Publikum natürlich ein unzureichendes, sehr vordergründiges Bild derUmweltdifferenzierung aus der Perspektive des politischen Systems. DiePolitiker kann man sich zum Beispiel weiter unterteilt denken nach Parteienoder nach Regionen, das Personal nach gesellschaftlicher Herkunft odernach Ausbildung, das Publikum nach Klassen oder funktional nachwirtschaftlichen Rollen, kulturellen Rollen, religiösen Rollen,Familienrollen usw. Das Modell unterstellt, daß diese weiterenDifferenzierungen für das politische System sekundärer Natur sind und daßes, wenn es nach außen blickt, zunächst in grober Weise unterscheiden muß,ob die Sachprobleme mit »anderen Rollen« der Politiker, desVerwaltungspersonals oder des Publikums zusammenhängen.

Vergleicht man die Umweltgrenzen des politischen Systems mit seinenInnengrenzen, dann fällt auf, daß in beiden Fällen verschiedene Formen der

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Rollentrennung benutzt werden. Die Außengrenzen des politischen Systemszur Gesellschaft hin (also mit Ausnahme der gegenüber anderen Staaten)durchschneiden gleichsam die einzelnen Persönlichkeiten. Wer Rollen inpolitischen Systemen übernimmt, ist immer und unvermeidlich auch Trägeranderer gesellschaftlicher Rollen. Er muß in sich selbst dafür sorgen, daß erseine verschiedenen Rollen nicht durcheinanderwirft. Sie sind in einerPerson kombiniert, aber so lose, daß die Person zwar als identischer Trägerder verschiedenen Rollen dient, ihre Persönlichkeit aber als Prinzip derRollenkonsistenz und der Übertragbarkeit von Erwartungen ausgeschaltetist. Nur so kann das politische System überhaupt als ein in sich selbstkonsistentes System konstituiert werden. Das gilt besonders dann, wenn deneinzelnen Personen unübersehbar viele andere Rollen anhaften, die alssolche im politischen System weder koordiniert werden können nochmüssen.

Die Innengrenzen beruhen dagegen typisch auf einer Trennung vonPersonen, die in verschiedenen, aber komplementär aufeinander bezogenenRollen handeln. Eine wichtige Ausnahme findet man an der Grenzezwischen Politik und Verwaltung, wo zwischen Führungsrollen beiderSysteme in leitenden Ämtern eine Personalunion hergestellt wird, und zwarals verbindender, nicht als trennender Mechanismus. Im übrigen werden dieTeilsystemgrenzen dadurch markiert, daß über die Grenze hinweg auf einGegenüber hin gehandelt wird. Diese Grenzziehung durch Trennungkomplementärer Rollen zeichnet sich, schon weil die Rollen gleichzeitigund oft gegeneinander gespielt werden müssen, dem Bewußtsein schärferein. So erlebt man normalerweise die »Grenze des Staates« am deutlichstenan der Grenze zwischen Politik und Publikumsrollen oder zwischenVerwaltung und Publikumsrollen. Das Gegenteil ist jedoch richtig.

Die Außengrenzen sind, wenn sie überhaupt institutionalisiert werdenkönnen, sehr viel einschneidender, weil die verschiedenen Rollen dereinzelnen Person dann sachlich gar nichts miteinander zu tun haben und auchkaum aufeinander abfärben können. Die Rolle als Familienvater, alsprämienbegünstigter Sparer oder als Vorsitzender einesBriefmarkensammlervereins ist für die Erwartungen, die an einen Politikeroder einen Beamten gerichtet werden (oder die diese an sich selbst richten)schlechthin belanglos. Sie sind im Kontext des politischen Systems nicht zu

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aktivieren. Dagegen verbindet das komplementäre Rollenhandeln sehr stark,weil jeder Teilnehmer die Rolle seines Partners kennen und in seinemVerhalten voraussetzen muß.[6] Obwohl an den Innengrenzen Personen, diesich verschiedenen Teilsystemen zurechnen, einander gegenüberstehen, istder Rollenzusammenhang hier in Wirklichkeit der engere, weil zwischendiesen Rollen ein Handlungszusammenhang hergestellt werden muß. Daßpersonale Rollenkombinationen möglichst an die Außengrenzen des Systemsgelegt, alle notwendigen komplementären Rollenkombinationen dagegen indas System hineingezogen werden, ist ein für die Systembildungentscheidender Vorgang.

Außer diesen grenzbildenden Strukturen des politischen Systems undseiner Umwelt zeichnet das Modell (durch Pfeile) kommunikative Prozessevor, und zwar im Sinne eines Einflußkreislaufes. Das politische System istein System der Verarbeitung von Informationen – darin besteht dieReduktion von Komplexität – , in dem jedes Teilsystem in der Lage ist, fürandere nach Maßgabe einer bestimmten Ordnung Entscheidungsprämissen zusetzen. Wähler und Interessenten beeinflussen auf je verschiedenen Ebenender Generalisierung die Politik. Diese programmiert und informiert,ebenfalls auf verschiedenen Ebenen der Generalisierung, die Verwaltung.Die Verwaltung bindet durch ihre Entscheidungen das Publikum in einementweder belastenden oder begünstigenden Sinne. Im Publikum werdendiese Erfahrungen mit bindenden Entscheidungen zu Motiven für dasVerhalten in den anderen Rollen als Wähler oder als Interessent.

Dieser Einflußkreislauf bezeichnet nur die dominierendeKommunikationsrichtung.[7] Um sie in Fluß zu halten, ist ein gegenläufigerFluß von Kommunikationen erforderlich. Dauerhafter Einfluß kann nämlichnur in der Form von Interaktionen gesichert und ausgeübt werden. DieWahl setzt zum Beispiel voraus, daß die Wähler über ihre Möglichkeitenund über vernünftige Gründe der Wahlentscheidung durch die Politikinformiert werden. Die Programmierung der Verwaltung durch die Politikerfordert, daß diese von seiten der Verwaltung über sinnvolle undausführbare Entscheidungsmöglichkeiten unterrichtet wird. Und dieVerwaltung ihrerseits kann nicht allein nach Programmen entscheiden,sondern muß sich durch das Publikum informieren lassen, bevor sieentscheidet.

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Bei dieser Systemordnung, die einen dominierenden, aber durchgegenläufige Kommunikationen ausbalancierten Einflußkreislauf vorsieht,ist eine Reihe von typischen Problemen zu erwarten. Der Gegenstrom vonInformationen wird oft, zum Beispiel im Verhältnis von Verwaltung undPolitik oder im Verhältnis von Politik und Wähler oder Interessent, alsanrüchig, wenn nicht als illegal betrachtet. Er ist jedoch funktionalnotwendig. Aber er bleibt nach Sinn und Zweck von der Hauptrichtung desEinflußkreislaufes abhängig und wird nur um ihretwillen in Gang gehalten.

Ein weiteres Problem liegt darin, daß das strukturell jeweilsdominierende Teilsystem gegenüber seinen Rollenpartnern eine ArtStilzwang ausübt. Der Rollenverkehr zwischen den Teilsystemen wird inder Sprache, nach den Erwartungen und unter den Verhaltenskriterien desdominierenden Teilsystems durchgeführt, und zwar auch und gerade dann,wenn dieses dominierende System beeinflußt werden soll. So unterliegt dasVerwaltungspublikum dem Stilzwang der Bürokratie: Es muß Formulareausfüllen, Fragen beantworten, Geduld haben, zornige Reaktionen in eineigens dafür vorgesehenes Schema pressen und die Verärgerungen, diedamit verbunden sind, herunterschlucken.[8] Die Verwaltung ihrerseits nimmtan ihrer politischen Grenze notgedrungen politische Züge an: Sie muß sichden taktischen Bedingungen des Mitspielens im politischen Spiel fügen.[9]

Die Politik wiederum redet, sofern sie den Wähler oder den Interessentenanzusprechen sucht, dem Volk nach dem Munde. In diesem Systemgrenzenübergreifenden Stilzwang liegt sicherlich ein integrierendes Moment.Andererseits stellt diese Art Integration an die Teilsysteme besondereVerhaltensanforderungen. Sie unterwirft sie an ihren Grenzen einem Gesetz,das nicht ihr eigenes ist, so daß ihre Grenzrollen in der Lage sein müssen,mehrsprachig und gegebenenfalls nach doppelter Moral zu handeln, ohnedaß das Teilsystem selbst seinen autonomen Charakter und seine spezifischeLeistungsfähigkeit dadurch einbüßt.

Das Kreislaufmodell des politischen Systems vermag mithin zu zeigen,daß die besonderen Probleme an den Teilsystemgrenzen des politischenSystems, die bisher je für sich gesehen wurden, Folge einer allgemeinenStruktur sind und deshalb auch nicht isoliert behandelt oder gar beseitigtwerden können. Sie sind eine »dysfunktionale Folge« der funktionalenDifferenzierung und als solche zu akzeptieren, wenn man diese Art

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Systemordnung will.Nach diesen Erläuterungen können wir etwas eingehender auf eine

weitere Variable zu sprechen kommen, die sich nicht unmittelbar aus derModellskizze ablesen läßt, die aber für die gesellschaftlicheAusdifferenzierung eines solchen Systems grundlegende Bedeutung besitzt,nämlich auf die Frage der Autonomie der Teilsysteme. Dabei soll hier nurder theoretische Zusammenhang überblicksweise dargestellt werden,während wir Einzelanalysen den folgenden Kapiteln über die Teilsystemedes politischen Systems überlassen.

Unter Autonomie verstehen wir – auf der Ebene des politischen Systemsebenso wie auf der Ebene seiner Teilsysteme –, wie oben[10] dargelegt, dieFähigkeit zur Selbstbestimmung eigener Entscheidungsprämissen. DurchAutonomsetzen von Teilsystemen wird unbewältigte Komplexität von derEbene des Gesamtsystems auf die seiner Teile abgewälzt. Die Kapazitäteiner Systemzentrale, etwa einer Hierarchiespitze, für die Bearbeitungkomplexer Probleme in hochgradig unklaren Situationen ist ja begrenzt.Durch Toleranz für Autonomie in den Teilsystemen, die natürlich ihreGrenzen haben muß, kann ein System seine Fähigkeit für Komplexität (undzugleich seine eigene, interne Komplexität) steigern. In einer starkdifferenzierten gesellschaftlichen Umwelt muß ein politisches System,jedenfalls solange nicht sehr viel wirkungsvollere Planungs- undRechentechniken entwickelt sind, als wir sie zur Zeit kennen, sich dieserStrategie interner Autonomie bedienen, wenn es den Anforderungen seinerUmwelt gerecht werden will.

Die Bedingungen dieser internen Autonomie sind für die einzelnenTeilsysteme des politischen Systems recht verschieden. Sie richten sichnach der je spezifischen Funktion und Struktur des Teilsystems, sind also fürdie Verwaltung andere als für die Politik. Einige allgemeine Grundzügelassen sich aber für alle Teilsysteme gemeinsam ausmachen und sollendeshalb an dieser Stelle vorgezogen behandelt werden. Sie sind in dreiverschiedenen Richtungen zu finden: in der Sozialdimension, das heißt inder Frage, mit wem das System Interaktionsbeziehungen unterhält; in derZeitdimension, das heißt in der Frage, wann und in welcher zeitlichenVerteilung diese Interaktionen stattfinden; und in der Sachdimension, dasheißt in der Frage, welchen sachlichen Sinn diese Interaktionen zwischen

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System und Umwelt tragen.In der Sozialdimension liegt die wichtigste Vorbedingung der Autonomie

in der Umweltdifferenzierung nach verschiedenen Interaktionspartnern.Wenn das System zur Erfüllung seiner spezifischen Funktion auf Interaktionmit mehreren Umwelten angewiesen ist, wird es durch die Komplexitätdieser Interdependenz von einzelnen Umwelten relativ unabhängig.[11] Eskann sich in jeder einzelnen Grenzbeziehung auf die Erfordernisse seineranderen Grenzen berufen und daher nicht von einem bestimmtenUmweltsektor aus präzise und bedingungslos gesteuert werden.

Dabei ist zu beachten, daß die Umweltdifferenzierung in der Perspektiveeines jeden Teilsystems des politischen Systems anders ausfällt. DieVerwaltung hat es zum Beispiel, wenn man vom Bereich der Außenpolitikabsieht, mit der Politik, mit den Publikumsrollen und mit den persönlichenInteressen des eigenen Personals zu tun, wobei die ersten beiden Grenzeninnerhalb des politischen Systems liegen, die dritte dagegen nach außenführt und insofern besonders problematisch ist.[12] Die Verwaltung kann sichdem Publikum gegenüber auf die Deckung durch politische Entscheidungenverlassen und der Politik gegenüber die Belange und die wirklichenVerhältnisse des Publikums ins Feld führen. Sie kann beiden Grenzengegenüber – mit Vorsicht! – die Grenzen ihrer personellenLeistungsfähigkeit und Strapazierbarkeit in die Waagschale werfen. Für diePolitik ergibt sich eine andersartige Umweltkonstellation, bestehend ausWählern und Interessenten, aus den persönlichen Eigenarten und Belangender Politiker und aus der bürokratischen Verwaltung. Zwischen denAnforderungen dieser Umweltsektoren muß die Politik ebenfalls eineBalance, aber eine anderer Art als in der Verwaltung, herstellen, so daßauch sie normalerweise nicht von einem einzelnen Umweltausschnitt ausbeherrscht werden kann.

In der Zeitdimension hängt der Gewinn an Autonomie entscheidenddavon ab, daß Anstoß und Ausstoß, »Input.« und »Output«, zeitlichauseinandergezogen werden können, daß also Umweltursache undUmweltwirkung nicht zusammenfallen, sondern dazwischen eine Zeitspannezur Verfügung steht, in welcher das System nach Maßgabe eigenerEntscheidungsprämissen die eingegangenen Informationen bearbeiten kann.[13] Das System muß, mit anderen Worten, Zeit haben, so daß seine Struktur

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während der Zeit, die es braucht, um auf Umweltanstöße autonom zureagieren, nicht zerfällt; es muß Reaktionen hinauszögern, Entscheidungenvertagen können. Das ist ein Erfordernis sowohl der nur selbsterhaltendenals auch der funktional und leistungsmäßig spezifizierten Systeme.[14]

Für alle Teilsysteme des politischen Systems ist diese Trennung von Inputund Output wesentliche Grundlage ihrer Autonomie undFunktionstüchtigkeit. Weder wird die Politik durch die politische Wahl aufbestimmte Verwaltungsprogramme festgelegt, noch ist in der Verwaltung mitpolitisch ausgehandelten Planungen schon über das bindende Entscheidenentschieden. Auch für die Funktionsfähigkeit des Publikums im politischenSystem ist es eine unabdingbare Voraussetzung, daß sich die Erfahrungen miteiner Verwaltung nicht eo ipso, sondern nur nach Reflexion und nachVerarbeitung unter bestimmten Gesichtspunkten in Wahlentscheidungenumsetzen lassen. Demokratie ist durchaus kein plébiscite de tous les jours,sondern sinnvollerweise an den zeitlichen Rhythmus der Wahlen undTermine gebunden. Der Einflußkreislauf hat, unter diesem Blickwinkelgesehen, den Sinn, allen beteiligten Systemen mehr oder weniger viel Zeitfür Informationsverarbeitung zu verschaffen, die sie bei einem direktenAufeinanderprallen entgegengesetzter Auffassungen nicht in gleichem Maßezur Verfügung hätten.

In der Sachdimension scheint die ausschlaggebende Autonomiebedingungzu sein, daß der kommunikative Verkehr zwischen den Teilsystemen despolitischen Systems auf mindestens zwei verschiedenen Ebenen derSinngeneralisierung stattfinden kann.[15] Diese Differenzierung bedeutet, daßes jeweils mindestens zwei legitime Kommunikationsbahnen undArgumentationsweisen gibt: Die eine gestattet den Teilsystemen, ihrbesonderes Selbstinteresse zu verfechten, in der anderen sind sie an dieallgemeinen Gesichtspunkte der Erhaltung der Gesamtordnung gebunden.Das Auseinanderhalten und Ausbalancieren dieser beiden Sinnebenenbereitet ähnliche und vielleicht größere Schwierigkeiten als die Trennungvon Input und Output. Die Teilsysteme können aber nur Autonomie erlangenund erhalten, wenn beide Kommunikationsmöglichkeiten legitim sind undnebeneinander bestehen und, mit welchen faktischen Schwierigkeiten undDarstellungsproblemen auch immer, gleichzeitig oder nacheinander benutztwerden können.

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So hat das Publikum einerseits die Möglichkeit, gegenüber Verwaltungoder Politik als Antragsteller, Beschwerdeführer oder Interessent in eigenerSache aufzutreten; es ist dann aber der bindenden Entscheidung derVerwaltung oder dem Verdunkelungszwang politischer Hinterzimmerunterworfen. Es hat andererseits in der Form der politischen Wahlbindenden Einfluß auf die Gestaltung der Politik, freilich nur in Bahnen, dieeine beträchtliche Generalisierung der Kommunikation auf die Entscheidungweniger zentraler Person- oder Programmalternativen, also ein Abstreifenaller partikularen Motivation, erzwingen.[16] Zwischen Politik undVerwaltung ist die Kommunikation in ähnlicher Weise, allerdings wenigerdurch verschiedene Bahnen als durch verschiedene Argumentationsweisen,doppelgleisig geordnet. Es gibt den berechtigten unmittelbaren Einfluß derRegierungsparteien auf die Verwaltung durch Besetzung ihrer leitendenPosten und ferner in erheblichem Maße auch politischen Einfluß durchunmittelbaren Kontakt zwischen Politikern aller Parteien und leitendenBeamten. Auf der anderen Seite kommen jedoch, namentlich in denGrundzügen der Rechtsstaatlichkeit und der Wirtschaftlichkeit sowie in dergebotenen Rücksicht auf die Masse der schon in Kraft gesetztenEntscheidungsprogramme, allgemeinere Erwägungen zur Geltung, dieandere Situationen, andere mögliche Partner und letztlich die Fortsetzungdes Systems im Auge behalten. So ist, jedenfalls der Idee nach, dafürgesorgt, daß Nachfolger im politischen Amt den Apparat zu ihrerDisposition finden, daß das System also »liquide« bleibt. Nur unter dieserVoraussetzung sind nämlich politische Wahl, parlamentarisches Spiel undrationale Entscheidungsarbeit nach je eigenen Kriterien der Rationalitätmöglich.

Für die Erhaltung der Autonomie und Funktionstüchtigkeit derTeilsysteme und des Einflußkreislaufs zwischen ihnen ist mithin nicht nureine funktional-strukturelle Untersystembildung erforderlich. DieDifferenzierung muß weiter gehen und auch den Prozeß derInformationsverarbeitung selbst unter sozialen, zeitlichen und sachlichenKriterien erfassen. Es müssen Rollen, Eingangs- und Ausgangsgrenzensowie Sinnebenen auseinandergezogen und in dieser Getrenntheit künstlichstabilisiert werden. Es liegt auf der Hand, daß dies, soziologisch gesehen,eine außerordentlich voraussetzungsvolle Leistung ist und daß sie den

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Einstellungen der Beteiligten sowie dem täglichen Verhalten einebeträchtliche Disziplin abverlangt. Eine solche Ordnung versteht sich inkeinem Sinne von selbst. Sie ist so anforderungsreich, daß sie auch für dieBeteiligten kaum jene Selbstverständlichkeit wird gewinnen können, dieältere, einfachere politische Institutionen hierarchischer Art besaßen. Siebedarf daher in hohem Maße laufender Reflexion, und diese ist auf einewissenschaftliche Abstützung angewiesen.

Der Platz, den die politische Soziologie hier einnehmen könnte, ergibtsich aus den Bedürfnissen ihres Gegenstandes. Als Soziologie tritt sie nicht,wie die ältere politische Wissenschaft, in ratgebender Funktion das richtigeHandeln vorstellend an die Seite der Praxis. Sie kann, unter denBedingungen einer zunehmend komplexeren Sozialordnung selbst sehr vielkomplexer werdend, nur Reflexionshilfe sein[17] und muß die ratgebendeFunktion den Entscheidungswissenschaften überlassen, die unter sehr vielengeren Prämissen arbeiten.

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III. Teil

Verwaltung

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13. Kapitel

Funktion und Ausdifferenzierung desVerwaltungssystems

Die Erörterung der einzelnen Teilsysteme des politischen Systems beginntam besten mit der Verwaltung und schreitet dann »gegen den Uhrzeigersinn«,also der Hauptrichtung des Kommunikationsflusses im politischen Systementgegen, zu den politischen Prozessen und dann zu den Publikumsrollenfort. Verwaltung – und darunter verstehen wir hier alle bürokratischorganisierten und programmierten Entscheidungsprozesse in Legislative,Exekutive und Justiz – ist nämlich jener Bereich des politischen Systems,der geschichtlich am frühesten und im Ergebnis am stärksten als Systemrollenmäßig aus der Gesellschaft ausdifferenziert und verselbständigtworden ist. Erst aus dieser Ausdifferenzierung der Bürokratie ergibt sichdas, was jetzt Politik sein kann.[1] Am Beispiel der Verwaltung läßt sichdaher am besten studieren, wie diese Ausdifferenzierung vollzogen wird,was sie bedeutet und in welcher Weise gleichwohl trotz des Einsatzesscharfer Trennmechanismen der Zusammenhang mit der Gesellschaftgewahrt wird. Dies ist kein Zufall, sondern ergibt sich aus der Stellung derVerwaltung am Ende jenes Prozesses der Reduktion von Komplexität, dermit der Artikulation von Interessen und Forderungen durch das Publikumbeginnt und in bindende Entscheidungen ausmündet. Die Verwaltung mußVorleistungen innerhalb des politischen Systems voraussetzen, sie mußweiterbearbeiten, was schon vorliegt, und sich daher in erster Linie von denim politischen System schon festliegenden Entscheidungsprämissenbeeindrucken lassen. Das erfordert eine mehr oder weniger undurchlässigeIsolierung gegen diskrepante Einflüsse aus anderen Rollenbereichen derGesellschaft – eben Entlastung von Rücksichten auf »andere Rollen« der amEntscheidungsprozeß Beteiligten zugunsten einer sachlich-spezifizierten, aufrichtiges Entscheiden hinzielenden Informationsverarbeitung.

Die Funktion der Verwaltung ist demnach zu begreifen als Herstellungbindender Problementscheidungen unter der Voraussetzung schon

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reduzierter Komplexität. Die Verwaltung kann diese Voraussetzung machenund sich deshalb auf Entscheidungsarbeit unter bestimmtenRichtungskriterien konzentrieren, weil zuvor schon Prozesse politischerInformationsbearbeitung stattgefunden haben, deren Ergebnisse als »Input«des Verwaltungssystems übernommen und als Prämissen dem Entscheidenzugrunde gelegt werden können. Diese Ordnungsvorgabe bezieht sich aufEntscheidungsprämissen verschiedener Art, nämlich auf Organisation,Personen und Pläne bzw. Programme. Ihre strukturierende und entlastendeBedeutung läßt sich am besten durch eine Analyse der hierarchischenSystemstruktur der Verwaltung und ihrer eigentümlichenProgrammabhängigkeit ans Licht bringen. Damit kehren wir nicht zu derklassischen Konzeption des Verhältnisses von Politik und Verwaltung imSinne der Unterscheidung von oben und unten oder von Zweck und Mittelzurück,[2] sondern fragen vielmehr nach den Voraussetzungen und Folgendieser Ordnungsrolle in einer systemtheoretisch begriffenen Gesamtordnungdes politischen Systems.

Hierarchien sind asymmetrische Strukturen. Sie ordnen ein Rang- undMachtgefälle und müssen im Unterschied zu Ordnungen mit diffuser odersymmetrisch-gleicher Machtverteilung das Problem der Herkunft undLegitimität der Macht lösen. Die Frage kann auf das Problem der Spitze derHierarchie zugeschnitten werden: Wer ermächtigt die Spitze, wer gibt ihrdas Recht zur letzten Entscheidung?

Hierfür gibt es zwei prinzipiell verschiedene Lösungen, die wir alsinterne und externe Lösung unterscheiden können. Für die interne Lösung hatdie neuere Kleingruppenforschung in der sogenannten»Doppelführungstheorie« ein repräsentatives Modell ausgearbeitet.[3] DieseTheorie besagt, daß eine aufgabenorientierte, Leistungen fordernde Führungin Gruppen ausbalanciert werden müsse durch eine sozio-emotionaleFührung, die dem Beliebtesten zufalle, der die Gruppenmitglieder innerlichansprechen und aktivieren, der für Zusammenhalt und Motivation sorgenkönne, also jenes Kapital an Leistungsbereitschaft aufbauen helfe, das vomTüchtigsten dann für bestimmte Ziele eingesetzt werden könne.Normalerweise fielen diese beiden Rollen des beliebten und des tüchtigenFührers auseinander, weil sie ganz verschiedene Anforderungen stellten unddaher am besten getrennt erfüllt wurden. Nur »große Männer« könnten sie in

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sich vereinen.Diese Theorie geht auf die Annahme heterogener, aber gleichermaßen

bestandswichtiger Variablen allen Gruppenlebens, nämlich einerexpressiven und einer instrumentalen Dimension, zurück, nimmt also an, daßstets die diskrepanten Probleme der Willensvereinheitlichung und derLeistungssteigerung nebeneinander zu lösen sind.[4] Über den empirischenWert dieser Theorie ist hier nicht zu urteilen. Sie macht eine Voraussetzung,die man bei näherem Zusehen auflösen kann und muß, daß nämlich beideFührungsleistungen in Systemrollen, also systemintern und nebeneinander,erbracht werden müssen. Gerade von diesem Zwang zur Kombinationunvereinbarer Dinge kann aber ein System erlöst werden, wenn es gelingt,die eine dieser Funktionen durch externe Prozesse zu erfüllen, sie also nachaußen zu verlagern. Das System braucht dann keine »großen Männer«,braucht nicht auf diesen Zufall zu warten. Es braucht auch nichtverschiedenartige Führungsrollen und widerspruchsvolle Führungsstilenebeneinander auszubilden und deren Harmonisierung dem Zufall desGelingens einer solchen Ehe zu überlassen. Wenn die externe Einsetzungund Legitimation der Spitze sichergestellt werden kann, ist das System inder Lage, eine reine Leistungsführung zu institutionalisieren, die vonKonsens und Unterstützung im System in hohem Maße unabhängig gemachtwerden kann.[5] Sie setzt Konsens dann nur in einem sehr starkgeneralisierten Sinne voraus als Anerkennung der externen Quellen vonMacht und Legitimität.

Für die Einrichtung einer rationalen Verwaltung politischer Systeme istaus diesen Gründen ein externes Fundament der Spitze notwendig. Anderskönnte sich die Verwaltung von den genannten Zufallsbedingungen nichtunabhängig machen und auch eine wechselseitige Blockierung derverschiedenen Führungsrollen und Führungsstile nicht verhindern. Für dieexterne Legitimation der Spitze gibt es verschiedene Möglichkeiten, derenUnterschiede für die Ausdifferenzierung und Rationalisierbarkeit derVerwaltung bedeutsam sind.[6] Die Spitze kann religiös-traditional oder reinpolitisch legitimiert werden.[7] In jedem Falle bezieht sie sich auf eineverwaltungsexterne Welt, zu der sie den Zugang vermittelt.[8] Auf dieserGrenzfunktion beruht ihre Macht und ihre Unabhängigkeit von ihrenUntergebenen, also die asymmetrische Struktur der hierarchischen

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Herrschaft selbst.Hiermit haben wir schon einige Anhaltspunkte gewonnen für die

Beantwortung der Frage, in welcher Form die Verwaltung von der Politikschon reduzierte Komplexität empfängt, nämlich in der Form der Festlegungletzter, inappellabler Entscheidungskompetenzen und in der Bestimmung vonPersonen, die sie ausüben können, mit anderen Worten: in der Schaffung undBesetzung von Spitzenstellen.[9] Dabei kann es indes nicht bleiben. EineBeschränkung auf organisatorisch und persönlich festliegendeEntscheidungsprämissen würde die politische Steuerung der Verwaltungzwischen zwei Extremen oszillieren lassen: entweder nämlich dieKompetenzen zu eng zu definieren oder die Verwaltung angesichts einerfluktuierenden gesellschaftlichen Umwelt lahmzulegen oder im Rahmenweiter Kompetenzen der persönlichen Willkür Tür und Tor zu öffnen. Einedritte Art, Entscheidungsprämissen politisch festzulegen, die planende undprogrammierende Steuerung der Verwaltung durch die Politik, ist alszusätzlicher Prozeß in sehr komplexen Systemen unentbehrlich.

Das Verhältnis von Politik und Verwaltung darf mithin nicht als eineinmaliger oder seltener Einsetzungsakt mißverstanden werden. Es ist einlaufender, grenzüberschreitender Kommunikationsprozeß, auch dann, wenn– und gerade deshalb, weil – Politik und Verwaltung getrennte Teilsystemesind. In auf längere Sicht festliegende Stellen der Parlamente, Regierungenund oberen Behörden setzt die Politik laufend andere Personen und Plänebzw. Programme als Entscheidungsprämissen hinein, wobei die Lenkungüber Personalauswahl und über Programmierung sich ergänzen, sichteilweise auch wechselseitig ersetzen können je nachdem, ob es leichterfällt, über Personen oder über Programme Konsens zu erzielen. Ohne dieStändigkeit dieses von der Politik zur Verwaltung hinfließenden Prozessesder Reduktion von Komplexität könnte das politische System selbst nichtjene hohe Komplexität und Varietät der Entscheidungsgrundlagen, zumBeispiel keine Positivierung des Rechts, erreichen, die die moderneGesellschaft erfordert. Und das heißt, daß nicht nur dieVerwaltungsfunktion, sondern auch die politische Funktion durch laufendeLeistung erfüllt werden müssen. Politik selbst wird zum »laufendenStaatsleben«.[10]

Wird der Entscheidungsbereich der Verwaltung mit Hilfe der Politik in

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dieser Weise vorkonstruiert, kann die Verwaltung eine hoheEigenkomplexität erreichen und trotzdem entscheidungsfähig bleiben. DiePolitik sorgt dann dafür, daß die unbestimmte Komplexität der Gesellschaftnicht unvermittelt, sondern als bestimmte Komplexität einer Vielzahlschwieriger Entscheidungsprogramme auf die Verwaltung zukommt. Derenfunktional-spezifische Ausrichtung auf programmierte Entscheidungsarbeiterfordert und führt zugleich dazu, daß die Verwaltungsrollen von anderengesellschaftlichen Rollen ihrer Träger abgetrennt und verselbständigtwerden. Vorbedingung dieser Ausdifferenzierung ist mithin, daß dieVerwaltung sich an eine funktionierende Politik anlehnen kann, dieunbestimmte Komplexität in bestimmte Komplexität verwandelt. Wo dieseVoraussetzung nicht oder schlecht erfüllt ist, bleibt die Verwaltung auf einemehr oder minder starke Rollenverflechtung mit der Gesellschaftangewiesen.

Webers idealtypisches Bürokratiemodell[11] läßt diesen Sachverhaltbereits deutlich erkennen, obgleich Weber ihn nicht in diesensystemtheoretischen Begriffen formuliert.[12] Die wesentlichen Merkmaledieses Modells sind: Grundlegung durch rational-legal legitimierteHerrschaft, hierarchische Organisation mit Vorgesetztenernennung von außenbzw. von oben, funktionale Arbeitsteilung, Unpersönlichkeit derOrientierung, die sich im Rahmen von allgemein feststehenden Kompetenzennach generellen, erlernbaren Regeln richtet, Trennung von Arbeitsplatz undFamilie und von Arbeitsmitteln und Eigentum, Geldgehalt mit garantierterVersorgung, lebenslange und berufsmäßige Spezialisierung für diese Arbeitund ein besonderes, durch laufbahnmäßigen Aufstieg steigerungsfähigesgesellschaftliches Prestige. Das Modell beruht sehr deutlich auf den beidenKomponenten Strukturvorgabe und Rollentrennung.[13] Die hierarchischeOrdnung der Entscheidungskompetenzen und die Regelorientierung dienender Strukturvorgabe, die anderen Merkmale dienen der Rollentrennung, alsoder Ausdifferenzierung des Verwaltungssystems. Die Trennung vonArbeitsplatz und Familie schaltet die familienmäßigen Rollenbindungen imDienst aus. Die Trennung von Arbeitsmitteln und Eigentum des Bedienstetensowie die Sicherstellung von Unterhalt und Versorgung machen seineAmtsführung von seiner Rolle im Wirtschaftssystem unabhängig, sie soll undkann im allgemeinen keine Rückwirkungen auf sein Einkommen haben. Die

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besondere Statusordnung des öffentlichen Dienstes ermöglicht auch indieser Hinsicht Unabhängigkeit der Verwaltung von der Gesellschaft –einmal dadurch, daß die Verwaltung jedem externen Status in derentsprechenden eigenen Ranglage begegnen kann, sich also in ihrenAußenkontakten nicht auf rangunterlegene Beziehungen einlassen muß; zumanderen dadurch, daß sie ihren Angehörigen eigene Aufstiegswege zurVerfügung stellt und sie in ihrem Statusstreben damit von den sonstigengesellschaftlichen Aufstiegsbedingungen unabhängig macht (zum Beispielvon persönlichen Beziehungen zu den höchsten Kreisen, Reichtum,publizistischem Erfolg als Wissenschaftler oder Literat).[14] WeitereMechanismen der Rollentrennung sind nicht auf den ersten Blick evident.Sie können in Gesinnungserfordernissen oder im expressiven Stil desVerhaltens stecken. Ferner kann zum Beispiel das Prinzip proportionalerStellenbesetzung bei religiös oder regional differenzierten Bevölkerungendazu dienen, durch die Art, wie es diese Gegensätze gerecht berücksichtigt,Indifferenz gegenüber den Gruppierungsgesichtspunkten selbst ausdrücken.[15]

Diese Ausdifferenzierung des Verwaltungssystems erscheint imHandlungsbild der Verwaltung als Unpersönlichkeit ihrer internen undexternen Orientierungsweisen.[16] Sowohl in ihren internen als auch in ihrenexternen Kontakten soll die Verwaltung, ihrer idealen Selbstdarstellungzufolge, unabhängig sein von Rollenbeziehungen, die nur durch eineindividuelle Person vermittelt werden, weil bei der Vielfalt von Rollen undPersonen in einer komplexen Gesellschaft personale Rollenkombinationenkeine Stetigkeit, Wiederholbarkeit und Zuverlässigkeit mehr aufweisenkönnen. Jeder Versuch, in einer modernen Verwaltung persönlicheBeziehungen, in denen alle individuellen Besonderheiten undRollenbeziehungen der Partner Berücksichtigung verlangen, an die Stelleder unpersönlichen zu setzen, würde die Verwaltung mit Komplexitätüberlasten und sie sehr rasch auf eine sehr viel einfachere Stufe derSachbearbeitung zurückwerfen. Jeder Fall wäre dann anders je nachdem,wer beteiligt ist. Rollenkonflikte, widerspruchsvolle Zumutungen undpersönliche Enttäuschungen wären die unvermeidliche Folge.[17] DurchUnpersönlichkeit wird außerdem ein höherer Grad von Individualismusmöglich, weil die Individualität des einzelnen im sozialen System keine

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durchweg strukturellen Folgen mehr hat. Der geläufigen Vorstellung vom»unpersönlichen Massenmenschen« entgegen ist festzuhalten, daßUnpersönlichkeit und Individualität sich nicht ausschließen, sondern sichgerade wechselseitig voraussetzen, denn ein soziales System kann sich nurdann Individualismus leisten, wenn es zugleich seine Struktur gegen diezersplitternden Konsequenzen dieses Prinzips schützt.[18] Unpersönlichkeitder Orientierung an sachlichen Entscheidungskriterien führt ferner zugefühlsmäßiger Neutralisierung des Verhaltens. Gefühle werden wederdargestellt noch ermittelt, noch zur Begründung von Entscheidungenherangezogen (es sei denn, daß sie die abstrakte Form unpersönlicher»Werte« annehmen können). Auf diese Weise werden dieSpezialisierbarkeit, Änderbarkeit und Lernfähigkeit des Systems, kurz: seineKomplexität, gesteigert, allerdings auf Kosten der Möglichkeitgefühlsmäßiger Integration des einzelnen in seine Arbeitswelt.[19]

Verwaltungen, die hohe Eigenkomplexität erreichen wollen, müssen einenunpersönlichen Arbeitsstil institutionalisieren, also selbstverständlichmachen können. Das schließt nicht aus, daß gerade in einer an sichunpersönlichen Arbeitsatmosphäre besondere persönliche Beziehungentaktisch nützlich sind und sich zu einem wertvollen Arbeitskapitalkumulieren lassen.[20] Immer haben diese Beziehungen dann aber einengegenstrukturellen und informalen Charakter, der seine Wirkungen geradeals Ausnahme entfaltet. Davon zu unterscheiden ist die Frage, wieweit diegesellschaftliche Ausdifferenzierung von Verwaltungsrollen und dieentsprechende Institutionalisierung eines nicht an der Person orientiertenArbeitsethos überhaupt gelingt. Das kann aus dem Modell nichtvorhergesagt, sondern muß als empirische Variable angesehen werden.[21]

Soviel steht jedoch fest, daß die Kapazität der Verwaltung zur Bearbeitungsehr komplexer, vielfältiger und wechselnder Informationen sich nursteigern läßt, wenn zugleich eine gewisse rollenmäßige Isolierunggegenüber der Gesellschaft erreicht wird.[22]

Das Webersche Modell der Bürokratie erfaßt demnach die rollenmäßigeAusdifferenzierung der Verwaltung aus der Gesellschaft in den wichtigstenGrundzügen, in denen sie erscheint, und stellt so die Bedingungen desLeistungserfolges der Bürokratie dar. Das theoretische Verständnis dieserErscheinung kann jedoch vertieft und auf allgemeinere Einsichten bezogen

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werden, wenn man eine systemtheoretische Konzeption zugrunde legt.[23]

Rollendifferenzierung führt stets zur Auflösung unmittelbarer, enger,personaler Handlungszusammenhänge, bei denen die Rollen sich in derPerson und durch die Person verknüpfen. In differenzierten Gesellschaftenwerden die Handlungen des einzelnen durch Systemgrenzen getrennt, die ihnals Person durchschneiden. Seine Handlungen werden teils diesem, teilsjenem Sozialsystem zugerechnet. Es ist ihm als Person nicht mehr ohneweiteres möglich, den einen Teilnahmebereich für den anderen zumobilisieren. Die Möglichkeit, dem gesamten Handlungszusammenhangeiner Person einen personalen Sinn zu geben, nimmt ab, und damit nimmtzugleich die Sicherheit ab, als Person richtig zu handeln. Das rollenrichtigeHandeln in den einzelnen Systemen garantiert nicht mehr, daß derHandelnde als Person akzeptiert wird. Die elementare Sicherheit, die er injenen einfachen Handlungszusammenhängen fand, die sozial und personalzugleich verdichtet waren, muß ersetzt werden durch abstraktere Formender Sicherheit. Diese findet er in der Individualität einer rollenmobilenPersönlichkeit (die sich zum Beispiel eine Karriere als Verdienstzurechnet), ferner in der Funktionsfähigkeit der Systeme, an denen erteilnimmt, und schließlich in gewissen Mechanismen der Effektübertragungvon einem System ins andere, zum Beispiel in Geld oder sozialem Prestige.

Eines der wesentlichsten Mittel, diese Sicherheit auf abstrakterenGrundlagen wiederzugewinnen, ist die formale Organisation sozialerSysteme, die mit Rollendifferenzierung und Rollenmobilität nicht nurvereinbar ist, sondern beides voraussetzt und zugleich die Grenzen der soorganisierten Sozialsysteme definiert.[24] Auch Verwaltungen müssen daherim Zuge ihrer gesellschaftlichen Ausdifferenzierung formal organisiertwerden. Formale Organisation ist die Gesamtheit derjenigenVerhaltenserwartungen, die ein Mitglied als Bedingung seinerMitgliedschaft im System anerkennen muß, die also Eintritt und Austrittregulieren. Wer als Mitglied in ein Verwaltungssystem eintritt, muß sichsolchen Erwartungen, die letztlich auf den »Input« von seiten der Politikzurückgehen, pauschal unterwerfen, vor allem durch Anerkennung der in derStellenstruktur, in der Stellenbesetzung und in denEntscheidungsprogrammen festgelegten oder noch festzulegendenEntscheidungsprämissen. Damit zugleich werden diejenigen Vorteile

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festgelegt, die mit der Mitgliedschaft verbunden sind und zum Eintritt in dasSystem und zum Verbleiben motivieren können. Beide Aspekte derTeilnahme können innerhalb bestimmter Grenzen hochgradig unbestimmtfixiert sein. Sie bleiben offen vor allem dadurch, daß zukünftige Änderungenim voraus mitanerkannt werden. Das bedeutet zugleich, daß Pflichten undRechte nicht im einzelnen, sondern nur in bezug auf das System als Ganzeszum Ausgleich gebracht werden können. Nicht die einzelne Handlung oderihr Erfolg, sondern die Unterwerfung unter die formalenVerhaltenserwartungen des Systems wird honoriert. Rechte und Pflichtenergeben sich aus der Rolle als Mitglied des Verwaltungssystems. Auf dieseWeise wird die Grundlage für den Aufbau sehr komplexer und variablergroßbetrieblicher Verwaltungssysteme geschaffen.

Für sich allein genommen ist freilich formale Organisation noch keineGarantie für gesellschaftliche Ausdifferenzierung oder für hohe Komplexitätund Varietät der Verwaltung. Ein solcher Zustand kann nur erreicht werden,wenn drei weitere Problemlösungen darauf abgestimmt werden: wenn auchdas nun verwaltungsintern auftretende Sicherheitsproblemumweltunabhängig gelöst werden kann, wenn die sachlichen Prinzipien derRollenidentifikation nicht mehr unmittelbar der Umwelt entnommen zuwerden brauchen und wenn das Rollenhandeln der Verwaltung aus seinerAbhängigkeit von korrespondierenden Umweltrollen gelöst und statt dessenin Abhängigkeit von intern verfügbaren und kontrollierbaren Mitteln wieMacht oder Geld gebracht werden kann. In all diesen Hinsichten kann dieAusdifferenzierung nie zu vollständigem Abschneiden aller nicht politischgefilterten Abhängigkeiten führen. Für die erreichbare Komplexität undVarietät der Verwaltung ist aber ausschlaggebend, wieweit man sich diesemZiel nähern kann. Die Probleme der Sicherung, der Rollenidentifikation undder Beeinflussung durch Abhängigkeiten müssen daher wenigstens kurzerörtert werden, soll ein abgerundetes Bild des Problems derAusdifferenzierung entstehen.

Das Sicherheitsproblem, das durch Abreißen gesellschaftlicherRollenverflechtungen und Solidaritäten entsteht, wird durch formaleOrganisation nicht definitiv gelöst, weil die Mitgliedschaft im Prinzipauflösbar und die Mitgliedschaftsbedingungen im Prinzip variabel seinmüssen. Als Mechanismen, die zusätzlich soziale und wirtschaftliche

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Sicherheit verschaffen, haben im Laufe der Geschichte Vermögen, besondersLandbesitz des Beamten, ein für ihn offenstehender Arbeitsmarkt sowieRechtsgarantien besonderer Art Bedeutung erlangt.

Landbesitz der Beamten oder ihrer Familien war für zahlreichevorneuzeitliche Bürokratien der Ausweg. Man findet ihn in weitem Umfangenoch in den Verwaltungen des fürstlichen Absolutismus Europas. Er gab denBeamten eine gewisse Sicherheit gegenüber den Fährnissen desStaatsdienstes und den Schwankungen der Gnade ihres Herrn und machteAnstellungs- und Versorgungsgarantien überflüssig. Andererseits begrenztedieses Erfordernis die Rekrutierung für die höheren Ämter desStaatsdienstes auf bestimmte Gesellschaftsschichten. Das lief auf einenotwendige Kombination gesellschaftlicher, vor allem wirtschaftlicher, undbürokratischer Rollen hinaus, welche die Beweglichkeit der Verwaltungeinschränkte und die Verwaltung zum Garanten eines gesellschaftlichenStatus quo werden ließ.

Demgegenüber bietet die Sicherstellung über den Arbeitsmarkt, also überjederzeit offenstehende Möglichkeiten anderer Beschäftigung, mehr sozialeMobilität, aber gerade aus der dann gebotenen Rücksicht auf dieseMobilität ergeben sich andere Gefahren. Diese Konzeption, die in gewissemUmfange in den Vereinigten Staaten verwirklicht worden ist und die auf denersten Blick einer stark differenzierten Sozialordnung besonders adäquat zusein scheint, führt zu einer stark fachlich gebundenen, nichtverwaltungseigenen Spezialisierung der Beamten und zum Vorherrschen des»program staffing« – im Gegensatz zum »career staffing«. Sie prägt also dieArt erwartbarer Entscheidungsbeiträge der Verwaltung, ebenso wie dieRekrutierungsformen. Im übrigen motiviert sie den Beamten, sich in seinerAusbildung und in seinen Kontakten vor oder während seiner Tätigkeit imöffentlichen Dienst auf andere Möglichkeiten der Berufsausübungeinzustellen, also »vermittlungsfähig« zu bleiben und persönlicheBeziehungen anzubahnen oder zu pflegen, die ihm gegebenenfalls eineFortsetzung seiner Karriere außerhalb des Staatsdienstes ermöglichenkönnten. So wird eine Rollendifferenzierung zwar im zeitlichen Querschnitterreicht, also für Situationen oder bestimmte Zeitperioden, aber sie giltnicht für den ebenfalls sehr motivkräftigen zeitlichen Längsschnitt desindividuellen Lebenslaufs.

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Die dritte Form, die rein rechtliche Sicherstellung des Beamten durchEntscheidungsprämissen des politischen Systems selbst, hat sich vor allemin der deutschen Beamtenrechtstradition seit dem 19. Jahrhundertentwickelt.[25] Diese Lösung ist ein fast akrobatisches Kunststück, sichertsie doch den Beamten gegen die Gefährdungen durch das politische Systemin diesem System selbst. Sie macht den Beamten am stärksten vompolitischen System und seiner jeweiligen politischen Ausrichtung abhängigund erfordert deshalb, daß der Rechtsstand des Beamten in diesem Systementpolitisiert, das heißt durch Verfassungs- und Justizgarantien derTagespolitik entzogen wird. Gelingt dies zuverlässig, dann vermag dieseLösung die Ausdifferenzierung des Verwaltungssystems am weitesten zutreiben.

Ähnlich wie in der Frage der Sicherheit sind auch beim Problem derRollenidentifikation verschiedene Lösungen denkbar, von denen dasAusmaß erreichbarer Rollentrennung mit abhängt. Dabei geht es umfolgendes: Der Handlungszusammenhang einer Rolle versteht sich zumeistnicht von selbst und ist auch nicht aus der Situation oder der »Ähnlichkeit«der Einzelaktionen zu folgern, sondern bedarf eines generalisierendenPrinzips, das verständlich und erwartbar macht, weshalb der Rollenträger,zum Beispiel »als Vater«, einmal so und dann wieder anders handelt. Durchdie Art, wie die Verwaltung den Kern ihrer Rolle identifiziert, bezieht siesich auf ihre Umwelt, in der rollenmäßig gehandelt werden soll.Generalisierende Prinzipien der Kombination von Handlungen zur Einheiteiner Rolle sind zum Beispiel ein herausgehobener Rang, eine erwarteteGesinnung, ein Zweck oder Mitgliedschaft in Gruppen.

In Verwaltungssystemen können alle diese Prinzipien und vielleicht nochandere benutzt werden. Je nachdem, welches Prinzip vorherrscht, ergebensich andere Rekrutierungsmöglichkeiten und andere Arten vonEntscheidungsbeiträgen der Verwaltung, andere Ansatzpunkte für politischeKontrolle, andere »Verwaltungsstile« und andere Szenenanweisungen fürdas tägliche Verhalten. Außerdem korrespondieren diese Rollentypen mitbestimmten Formen der Sicherstellung der Beamten: Rang und Gesinnungsetzen Landbesitz oder funktionsgleiche ökonomische Sicherstellung voraus.Zweckrollen werden am besten durch »program-staffing« auf demArbeitsmarkt rekrutiert und finden dann dort auch ihre Sicherheit. Für

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Mitgliedsrollen ist die juristische Sicherstellung adäquat. Hierdurch undauch aus anderen Gründen, zum Beispiel im Hinblick auf kulturelleLegitimation, sind solche Rollenprinzipien jedoch in verschiedenem Maßevon Umweltfaktoren abhängig. Nur eines von ihnen, das rein formalePrinzip der Mitgliedschaft, ist in der Lage, alle anderen zu definieren undumweltunabhängig zu machen.

Gesinnungsrollen haben zunächst dadurch, daß sie ihr Kriterium nachinnen verlegen und so von Umweltänderungen unabhängig machen, einehohe Elastizität. Sie lassen sich zudem in gewissen Grenzen spezifizierenals Beamtenethos, als innere Haltung des Offiziers, des ehrbarenKaufmanns, des seinem Glauben lebenden Pfarrers. Ihre Bedeutung für denBeginn stärkerer funktionaler Differenzierung der Gesellschaft in Religion,Politik, Wirtschaft, Kultur, Familienleben usw. im spätmittelalterlich-neuzeitlichen Europa liegt auf der Hand. Andererseits ist, obwohlGesinnungsaskesen in sehr spezifischer Richtung möglich sind, derGesinnungswechsel verpönt. Gesinnung ist ein Prinzip persönlicherIdentifikation, der einzelne muß daher bei seiner Gesinnung bleiben. In einermobilen Gesellschaft kann diese Starrheit zum Hindernis werden. Dazukommt, daß die Spezialisierbarkeit der Arbeit die Spezialisierbarkeit vonGesinnungen weit übersteigt. Die Gesellschaft kann bei weitem nicht füralle Rollen besondere Gesinnungsmuster institutionalisieren. Diewachsende Komplexität und Varietät ihrer Teilsysteme und besonders ihrerVerwaltung lassen die Gesinnung aus einer identifizierenden undintegrierenden Funktion zu einem Appellwert zusammenschrumpfen, der,wenn überhaupt, nur noch Extremsituationen, etwa Bestechungssituationen,steuert.

Aus anderen Gründen hat das Rangprinzip seine die Verwaltungsrolleidentifizierende Funktion verloren. Es setzte ein eindeutiges, typischerwartbares Ranggefälle im Außenverkehr der Verwaltung voraus. Nur dannkonnte der Beamte die Vielzahl seiner Aktionen im Prinzip eines auf jedenFall überlegenen (und nur nach oben gebrochenen) Ranges zusammenfassen.Diese Voraussetzung ist in differenzierten Sozialordnungen mit einerVielzahl von Statuspyramiden nicht erfüllbar. Ranglagen erweisen sich alssituationsbedingt, sie müssen, wenn sie überhaupt das Verhalten tragensollen, erst ermittelt werden und können deshalb nicht die Rolle als solche

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in ihrem Kern definieren.Zweckgesichtspunkte sind schon deshalb als definierende Kriterien der

Verwaltungsrolle ungeeignet, weil viele, wenn nicht die meisten Rollen derVerwaltung sich gar nicht an Zwecken, also an bestimmten geschätztenWirkungen, sondern an Konditionalprogrammen orientieren. Darauf kommenwir im 16. Kapitel zurück. Hier bleibt festzuhalten, daß die Verwaltung ihreRollen ebensowenig durch bestimmte geschätzte Wirkungen wie durchRangbeziehungen oder durch bestimmte Gesinnungen identifizieren und dergesellschaftlichen Umwelt zuordnen kann. Sie bleibt auf das formalste derRollenprinzipien, das Prinzip der Mitgliedschaft, angewiesen.

Wird die reine Mitgliedschaft im formal organisiertenVerwaltungssystem zum Rollenkriterium – die Staatsrechtslehre erreicht undsanktioniert diese Konzeption im 19. Jahrhundert mit der Auffassung, daßder Staat eine »juristische Person« sei, für die ihre »Organe«»Willenserklärungen« abgeben –, dann wird es möglich, den Inhalt derRollenerwartungen systeminternen Entscheidungsprozessen zu überlassen,welche die Mitgliedschaftsbedingungen spezifizieren und ihnen zugleichexterne Relevanz geben. Die Rolle wird dann durchlässig fürEntscheidungen jeder Art, die systemrichtig entschieden werden, und dieRichtigkeit des Entscheidens wird ihr einziges Kriterium.[26] Aufgrunddieses Kriteriums können dann je nach Bedarf Zwecke, interneRangdifferenzen, ja sogar, wie man aus dem Dienststrafrecht weiß,Gesinnungen als Entscheidungsprämissen spezifiziert und formalisiertwerden. Das Mitgliedschaftsprinzip umfaßt und mediatisiert alle anderenRollenkriterien. Es ist dasjenige Prinzip, das die stärksteAusdifferenzierung der Verwaltung erlaubt, und zugleich dasjenige, das amwenigsten im Erziehungsprozeß der Familien gelernt werden kann.

Verwaltungsbürokratien, die in dieser Weise durch formale Organisationund durch ein entsprechend hohes internes Entscheidungspotential bestimmtsind, müssen sich das Recht zur Selektion ihrer Mitglieder vorbehalten.Personalhoheit ist neben Programmautonomie eines ihrer entscheidendenFührungsmittel.[27] Anders ist die Formalisierung nicht durchsetzbar, weilsie an Eintritts- und Austrittsentscheidungen hängt. Alle askriptivfeststehenden Kriterien der Mitgliedschaft, die Individuen für Ämterdesignieren – sei es aufgrund von Geburt oder aufgrund von »persönlicher

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Unentbehrlichkeit –, sind Gift für die Verwaltung. Auch die politischeStellenbesetzung darf, so unentbehrlich sie für die Konstituierung der Spitzeist, nicht zu weit gehen, weil der persönliche Rückhalt an der Politik es demBeamten ermöglicht, sich wenn nicht der formalen Autorität des Gesetzes,so doch der formalen Autorität des Vorgesetzten zu entziehen.

Die interne Verfügung über den Rekrutierungsprozeß ist ein Aspekt einessehr viel allgemeineren Merkmales ausdifferenzierter Verwaltungen. Für sieist allgemein typisch, daß sie externe Rollenabhängigkeiten durch interneMittelabhängigkeiten ersetzen, also die Kontrolle über das Handeln ihrerMitglieder auch von den Mitteln her in sich hineinziehen. Denn nicht nurZwecke und auslösende Handlungsbedingungen, sondern gerade auch Mittelsind Prämissen, die dem Verwaltungshandeln Grenzen setzen. Ein Amt, dasnur wenige Mark bekommt, braucht nicht programmiert zu werden. Nebendem Personal selbst kommen als Mittel in diesem Sinne vor allem die inKompetenzen aufgefächerte legitime Macht und die durch den Haushaltverteilten Geldmittel in Betracht – eine Unterscheidung, die wir in ihrerBedeutung für Koordination und Außenhandeln der Verwaltung im17. Kapitel weiterverfolgen werden. Hier interessiert nur als einbezeichnendes Merkmal ausdifferenzierter Verwaltungssysteme, daß inihnen sogar die Grenzen des Handelns zu systeminternen Beschränkungenwerden und damit zum Gegenstand von Entscheidungsprozessen gemachtwerden können.

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14. Kapitel

Umweltlage und Autonomie des Verwaltungssystems

Die zunehmende gesellschaftliche Ausdifferenzierung vonVerwaltungsrollen führt nicht etwa zur Bildung eines autarken, allein durchsich selbst bestehenden Verwaltungssystems. Vielmehr zeichnet sich mit ihr,wie wir es bereits oben für das politische System im ganzen festgestellthaben, eine Entwicklung ab, die Abhängigkeit und Unabhängigkeit desSystems von seiner Umwelt zugleich wachsen läßt – nämlich dadurch, daßdie Komplexität des Systems zunimmt. Komplexe Systeme können imVergleich zu einfachen Systemen sich in sehr viel mehr Hinsichtenbeeinflussen lassen, ohne daß ihre Existenz dadurch in Frage gestellt würde,und sie haben zugleich mehr Möglichkeiten, eigene Kriterien der Selektionauszubilden und festzuhalten, welche die intensiviertenKommunikationsprozesse zwischen System und Umwelt steuern. Siegewinnen mehr Einfluß auf die Umwelt, indem sie zugleich der Umweltmehr Einfluß auf sich selbst einräumen. Ausdifferenzierung erfolgt durchFestlegung und Erhaltung von Grenzen zwischen System und Umwelt, unddas steigert die Anforderungen an die Kommunikation zwischen System undUmwelt, ebenso wie die Anforderungen an die Autonomie des Systems. Inden Prozessen, die System und Umwelt verbinden, ebenso wie in denstrukturellen Kriterien, die diese Prozesse regeln, muß ein höherer Grad vonBewußtsein und Explikation angestrebt werden. Das ist, kausal undentwicklungsgeschichtlich gesehen, zugleich eine Bedingung und eine Folgezunehmender Ausdifferenzierung.

Autonomie und beträchtliches Kommunikationspotential sindVoraussetzungen dafür, daß die Verwaltung sich auf ihre spezifischeFunktion der Ausarbeitung richtiger Entscheidungen konzentrieren und damiteinen eigenen Beitrag zur gesellschaftlichen Funktion des politischenSystems leisten kann. Zum Verständnis moderner Verwaltung gehört daherein Einblick in die Strategien, mit denen die Autonomie und dasKommunikationspotential der Verwaltung gesteigert werden können. Mit den

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Strategien der Autonomie werden wir uns in diesem Kapitel, mit derSteigerung der Kommunikationsleistung im nächsten befassen.

Um einen Überblick über die Bedingungen hoher Autonomie desVerwaltungssystems zu gewinnen, müssen wir die Sozialdimension, dieSachdimension und die Zeitdimension der Informationsverarbeitungunterscheiden.[1] Die Sozialdimension behandelt die Orientierung an denPartnersystemen der Verwaltung als selbständig handelnden Subjekten. Beider Sachdimension geht es um den Sinn bestimmter Entscheidungen oderHandlungen im Unterschied zu anderen. Die Zeitdimension berücksichtigtschließlich die Zeit, die ein System hat, um komplexe, autonom gesteuerteEntscheidungsprozesse intern ablaufen zu lassen.

In der Sozialdimension ist Grundbedingung aller Autonomie eineDifferenzierung der Umwelt in verschiedene Sektoren, von denen keinerallein das System beherrschen kann. Eine annähernd gleiche Distanz zu allenUmweltsektoren und eine ausgewogene Balance von Abhängigkeiten undUnabhängigkeiten im Verhältnis zu jedem von ihnen sichert die Verwaltungdavor, durch eine ihrer Grenzen allein beherrscht und damit zu einem bloßenAnnex, zu einem verlängerten Arm bestimmter Umweltsystemezurückgeschnitten zu werden. Diese Umweltdifferenzierung muß imHinblick auf Bestand und Funktion der Verwaltung, also systemrelativ,gesehen werden; andererseits darf sie nicht nur in der Vorstellung derVerwaltung bestehen, darf nicht nur ihr eigenes Gedankengut sein, sondernmuß in der Umwelt institutionalisiert sein, so daß nicht nur dieVerwaltungsrollen, sondern auch die ihnen korrespondierendenUmweltrollen diesem Schema entsprechend handeln.

An dem im 12. Kapitel skizzierten analytischen Modell des politischenSystems läßt sich ablesen, daß vom Standpunkt der Verwaltung und imHinblick auf ihre Funktion zunächst wie bei jedem formal organisiertenSystem die Umwelt der persönlichen Interessen und andere Rollen ihrerMitglieder von der Nichtmitgliederumwelt unterschieden werden müssen;sodann innerhalb der Nichtmitgliederumwelt politische Rollen undPublikumsrollen und innerhalb dieser Rollen nach Maßgabe vorliegenderDifferenzierungen, zum Beispiel Interessenverbände und politische Parteien,Regierungsparteien und Oppositionsparteien im Bereich der Politik,religiöse, wirtschaftliche, kulturelle, familiäre Rollen und dann wieder

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Konfessionen, Wirtschaftszweige, Wissenschaft und Kunst usw. im Bereichdes Publikums. Die weitere Verästelung dieser Unterscheidungen kann, sobedeutsam sie für den Verwaltungsalltag praktisch ist, hier nicht erörtertwerden. Wir müssen uns mit der Grobunterscheidung von Personal, Politikund Publikum als Umwelten der Verwaltung begnügen, um im Hinblick aufdiese grundsätzliche Umweltdifferenzierung einige Autonomiebedingungensowie die Grenzen ihrer Verwirklichung im Falle der Verwaltung näherherauszuarbeiten.

Die historisch bekannten Fälle bürokratischer Verwaltungssysteme kannman danach einteilen, an welche Sektoren ihrer Umwelt sie sichvorwiegend angelehnt und welchem sie damit in erster Linie gedient haben.Man findet keinen Fall einer Primärorientierung zum Publikum hin, wohlaber einerseits zahlreiche Varianten einer zwischen Herrscher undführenden Gesellschaftsschichten geteilten Aufmerksamkeit bis hin zu fastvollständiger politischer Abhängigkeit vom Herrscher und andererseitsBeispiele für Bürokratien, die primär an Selbstbedienung ihrer Mitgliederinteressiert waren. Bezeichnend ist auch, daß diese Primärorientierungenstrukturell nicht ausreichend gesichert werden konnten, so daß sich im Laufeder Geschichte einzelner bürokratisierter politischer Systeme, zum Beispielin China oder im byzantinischen Reich, in Persien oder im spanischenKolonialreich, starke Schwankungen ergeben haben.[2] Mit solchenPrimärorientierungen ist typisch ein relativ geringer Grad funktionalerSpezifizierung und gesellschaftlicher Ausdifferenzierung verbunden, vorallem weil es zumeist schwierig ist, Verwaltungspositionen und Landbesitzzu trennen, und weil eine ausreichende Vorbildung für Verwaltungsarbeit nurin kleinen Gesellschaftsschichten zur Verfügung steht.

Demgegenüber ist es für die Verwaltungen der neuzeitlichenIndustriestaaten typisch und notwendig, durch ihren Entscheidungsprozeßselbst eine Balance zwischen den Einflüssen dieser drei Umwelten, alsozwischen politischen Bindungen, Publikumsinteressen sowiePersönlichkeitsstrukturen und Motiven des Personals, zu erreichen. KeinerUmwelt fällt ein deutlicher Primat zu. Die Politik hat zwar legitimen Zugangzu den Spitzenstellen in Parlament und Regierung, in denen dieEntscheidungsprogramme formuliert werden, aber die Bürokratie unterhalbdieser Spitze versteht sich gleichwohl gegenüber den Fluktuationen des

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politischen Lebens im einzelnen zumeist als neutral.[3] Nicht jeder in derPolitik durchkommende Impuls soll gleich bindende Entscheidung werden.Zuweilen wird der Verwaltung im Hinblick auf die Unzulänglichkeiten derpolitischen Repräsentation sogar ausdrücklich eine Funktion derRepräsentation von Publikumsinteressen gegenüber der Politikzugesprochen.[4]

Auf der anderen Seite sind die Interessen des Publikums in allenpolitischen Systemen, die sich als Demokratie legitimieren, zwar letzterBezugswert des Verwaltungshandelns, aber sie werden nach Maßgabe vonpolitisch vorentschiedenen Programmen und nicht etwa unmittelbar nach denWünschen des Publikums behandelt. Die persönlichen Präferenzen undMotive des Sachbearbeiters in der Verwaltung sollen zwar unsichtbarbleiben, weil sie nicht in die Verwaltung, ja nicht einmal in das politischeSystem hineingehören, aber sie werden doch benötigt, um Entscheidungen zukonkretisieren, um den Reduktionsprozeß vom Programm zur Entscheidungdurchzuführen. Alle Umwelten der Verwaltung sind also an ihremEntscheidungsprozeß beteiligt, und es ist die Struktur dieses Prozesses derReduktion von Komplexität durch Ausarbeiten richtiger Entscheidungennach Maßgabe von Programmen, die diesen Einfluß gibt und begrenzt.

Neben diesen Fragen der Balancierung tritt das Problem der Trennschärfeauf, mit welcher die Umweltdifferenzierung durchgeführt werden kann. Jeschärfer die Trennung, desto sicherer die Autonomie. Dieses Problembezieht sich nicht auf die Grenzen zwischen Verwaltung und Umwelt,sondern auf Rolleninkompatibilitäten in der Umwelt zwischen ihreneinzelnen Sektoren.[5] Überschneidungen der Umweltsektoren lassen sichnie ganz vermeiden. Auch Beamte und Politiker können als Publikumauftreten und dann nicht selten infolge ihrer Stellung an anderen Grenzen desSystems besondere Vergünstigungen erreichen, und sei es nur beschleunigteAbfertigung. Besonders kritisch ist der Fall, daß sich unter den an sichunbeachtlichen »anderen Rollen« des Beamten politische Rollen befinden.Dieser Fall ist von dem der beachtlichen, offiziellen politisch-administrativen Rollenkombination in den Ämtern des Abgeordneten,Ministers oder politischen Beamten sorgfältig zu unterscheiden. Bei diesenSpitzenstellungen handelt es sich um sinnvolle, hochgradig mobileRollenkombinationen, die der strukturell geplanten Vermittlung zwischen

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Politik und Verwaltung dienen und im Hinblick auf dieseDoppelorientierung beweglich besetzt sind. Bei andersartigen politischenBesetzungen, zum Beispiel im Wege der Parteipatronage, werden dagegenRollenkombinationen geschaffen, die nicht kraft Amtes, sondern kraftPersonen bestehen, die weder mit den Funktionserfordernissen despolitischen Systems noch mit denen der Verwaltung abgestimmt sind und dieschließlich auch nicht die bei aller Doppelmitgliedschaft notwendigeMobilität aufweisen.[6] Solche politischen Nebenrollen nichtpolitischerBeamter können in Parteimitgliedschaft, aktiven Parteifunktionen oder auchaußerhalb aller Organisation in besonders guten Beziehungen zu einer Parteibestehen, die von beiden Seiten gepflegt und ausgenutzt werden. DieVerwaltung wird es sich selten leisten können, solche an sich nurpersönlichen Nebenrollen ihres Personals zu ignorieren. Als Nebenrollenvon Untergebenen können sie die Hierarchie gefährden und durch einenpolitischen Kurzschluß zusammenbrechen lassen. Sie können aber auchumgekehrt in der Verwaltung als Mittel des Einflusses auf politische Kreisebenutzt werden, um etwa auf diesem Wege Mitteilungen in die Politikgelangen zu lassen, die sich im Munde des Ministers als zu gewichtig, alsprinzipienwidrig, als koalitionswidrig oder als sonstwie unakzeptierbarerweisen würden. Überhaupt lassen solche direkten DrähteKommunikationen durch, die nicht programmfähig sind, keinePräzedenzfälle werden sollen oder aus anderen Gründen öffentlich nichtdarstellbar sind. Welches Ende eines solchen Drahtes dominiert, kannverschieden sein und wechseln. Von der Machtlage her gesehen, braucht dieVerbindung durchaus nicht der Verwaltung zum Nachteil zu gereichen. Undtrotzdem politisiert sie das Entscheidungshandeln der Verwaltung undverschiebt die relativen Gewichte ihrer Umwelten etwa zur Politik hin, daauch Einfluß auf die Politik auf diesem Wege natürlich bezahlt werden muß.

Die Bedeutung unzureichender Rollentrennung zwischen Personal undPolitik mag in etwas milderem Licht erscheinen, wenn wir eine weitereBedingung voller Systemautonomie in die Betrachtung einbeziehen und auchhier Grenzen ihrer Verwirklichung erkennen. In »idealer« Weise wäre dieAutonomie des Verwaltungssystems sichergestellt, wenn dieUmweltsektoren sich nur durch Vermittlung der Verwaltung begegnen, nurüber die Verwaltung miteinander kommunizieren könnten. Eine solche

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Konstellation käme der eines Monopolunternehmens in der Wirtschaftgleich, das als einziges in der Lage ist, bestimmte Märkte zu verknüpfen.Bei einer solchen Umweltlage hätte die Verwaltung das Monopol, ihrePartner einander zu interpretieren. Sie allein könnte die Interessen desPublikums oder des Personals der Politik vorstellen, und ebenso könnteallein sie dem Publikum und dem Personal die Politik erläutern. DieAusschließlichkeit eines Repräsentationsrechts gibt große Freiheiten derDarstellung, und man weiß, daß historische Bürokratien zwischen Volk undabsoluten Fürsten diese Freiheiten zu nutzen verstanden. Ein solchesMonopol besteht indes nicht mehr. Das Publikum hat legitime unmittelbareZugänge zur Politik, wenngleich man die Leistungskapazität dieserKommunikationswege nicht allzu hoch veranschlagen darf, und auch dasPersonal sucht sich für seine persönlichen Interessen mit Hilfe vonBeamtenverbänden heute einen direkten Zugang zur Politik, um nicht auf dieVertretung durch die Vorgesetzten allein angewiesen zu sein. DieUmweltsektoren der Verwaltung sind demnach auch dort, wo keineRollenkombinationen bestehen, nicht hermetisch gegeneinander abgedichtet.Die Verwaltung muß mit anderen Quellen der Information ihrerUmweltpartner konkurrieren. Daran zeigt sich, daß sie ein Teilsystem einerumfassenden politischen Ordnung ist und als solches gewisseBeschränkungen ihrer Selbstentfaltung hinzunehmen hat. Das schließt nichtaus, daß sie ein Schlechtfunktionieren anderer Kommunikationskanäleausnutzen kann, um dem im Prinzip nicht gegebenen Darstellungsmonopolauf Teilgebieten nahezukommen und damit Mängel in anderen Bereichen despolitischen Systems durch Steigerung der eigenen Autonomie zukompensieren.

Im Inneren der Verwaltung entspricht dieser Umweltdifferenzierung eineInnendifferenzierung, durch welche die Außenbeziehungen gesteuert undkoordiniert werden. Die Kontakte zur Umwelt sind grenzspezifischorganisiert, und darüber hinaus zeichnen sich ganze Bereiche derVerwaltung durch größere Nähe bzw. Ferne zu bestimmten Grenzen aus.[7]

Der Verkehr mit dem Publikum wird typisch durch andere Stellen gepflegtals der Verkehr mit der Politik – Abgeordnete drängeln sich nicht vor denSchaltern –, und auch für den Verkehr mit dem Personal qua Umwelt gibt esbesondere Personalabteilungen oder -referate.[8] Dadurch können

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Erfahrungen und Informationen umweltspezifisch gesammelt und gespeichertwerden; sie lassen sich so wirksamer einsetzen, und in der Organisation istübersehbar, wer für welche Kontakte in Frage kommt, wer über welcheAußenbeziehungen verfügt und wer bestimmte Informationen besitzt oderbenötigt. Außerdem wird durch eine Statusdifferenzierung dieserGrenzstellen eine interne Regelung des Primates bestimmter Umwelten zumAusdruck gebracht. Es ist kein Zufall, daß die Spitze einerVerwaltungshierarchie beim politischen Minister liegt und nicht beibestimmten Publikumsschaltern. Der Kontakt mit der Politik rangiert typischhöher als der Kontakt mit dem Publikum – dieses muß deshalb politischrelevante Abgesandte schicken, wenn es hoch in die Verwaltungshierarchiehineingreifen will –, und auch für Personalentscheidungen sind zumeist nichtStellen des Normalranges für Publikumsverkehr zuständig, sondern höhereStellen.

Diese für die Sozialdimension zusammengestellten Bedingungen,Schranken und Techniken der Verwaltungsautonomie geben nur einenanalytischen Schnitt durch die Gesamtbedingungen. Autonomie kann nichtallein in dieser Dimension, also nicht allein durch Umweltdifferenzierung,gewonnen und erhalten werden. Es müssen korrelative Bedingungen insachlicher und zeitlicher Hinsicht erfüllt sein.

In der Sachdimension findet man die Bedingungen derVerwaltungsautonomie vor allem in der Form einer Differenzierung zweierSinnebenen des Kontaktes zwischen Verwaltung und Umwelt. BeideEbenen übernehmen verschiedene Funktionen und können in gewissemUmfange widerspruchsvolles Verhalten ermöglichen dadurch, daß sie esauseinanderziehen. Sie unterscheiden sich durch den Grad ihrerGeneralisierung. Auf der generellen Kontaktebene wird das Verhältnis derbeteiligten Systeme zueinander ausbalanciert, auf der konkreteren dasVerhältnis ihrer Situationen und Handlungen. Die generelle Ebene reguliertden Kontakt, kann aber auch von ihm aus in Frage gestellt werden. DieEbenen liegen also nicht völlig getrennt übereinander, sondern Problemekönnen von der einen auf die andere geschoben werden, so daß der konkretablaufende tägliche Kontakt zugleich die regulierenden Normen bestätigt,wenn sie nicht in Zweifel gezogen werden.

Diese sehr abstrakt formulierte Konzeption wird deutlicher greifbar,

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sobald man sie am Beispiel des Verwaltungssystems illustriert. Eineausdifferenzierte, System gewordene Verwaltung unterhält zu ihrenUmwelten Politik, Publikum und Personal in je anderer Weise Beziehungenauf diesen zwei Sinnebenen, wobei auf der einen Systemanerkennung, aufder anderen vorteilhaftes Handeln »getauscht« wird.

Im Verhältnis zur Politik ist die Verwaltung vor allem darauf angewiesen,daß ihre Rechtsstruktur, ihr Wirtschaftlichkeitskalkül und ihre bereitsgetroffenen Entscheidungen auch von der Politik als bindend anerkannt undnicht durch politischen Einzeleingriff sabotiert werden.[9] Die Verwaltungerhält damit einen gewissen Bestandsschutz für ihre Programme undEntscheidungen, der mit dem Prinzip, daß alles änderbar sei, sehr wohlvereinbar ist. Ihre Gesetze verlieren zum Beispiel nicht automatisch dieGeltung, wenn eine andere Partei die Macht antritt.[10] Zwar müssen jedesProgramm und jede Entscheidung auf Wunsch der Politik variiert werden,aber diese Änderung muß bestimmte Formen annehmen, muß mit denübrigen in Geltung bleibenden Programmen abgestimmt werden und auf diein Rechtsformen geronnenen Interessen des Publikums Rücksicht nehmen;vor allem aber besteht eine Schranke darin, daß gar nicht alles auf einmalgeändert werden kann. Beschränkungen dieser Art können durch eine dempolitischen Zugriff entzogene Justiz gesichert werden. Sie liegen aber auchim Systeminteresse der Politik, denn sie sind Bedingungen derFunktionsfähigkeit und Komplexität des Verwaltungsapparates, und nur inbezug auf die Beherrschung eines solchen Apparates kann die Politik alsKonkurrenzkampf der Parteien oder als Einparteienbürokratie ihre eigeneOrdnung finden und dem Publikum abgewogene Entscheidungsleistungen inAussicht stellen.

Im Rahmen dieser generell fixierten Übereinstimmung derTeilsysteminteressen muß die Verwaltung für konkrete politischeInformation offenbleiben, politisch lenkbar sein. Auf diese Weise akzeptiertsie laufend politisch ausgehandelte Entscheidungsprämissen. Sie gibt derPolitik dadurch Gelegenheit, Versprechungen gegenüber dem Publikumeinzulösen, und erhält dafür politische Deckung für ihreEinzelentscheidungen sowie jene Reduktion von Komplexität, ohne welchesie überhaupt nicht nach irgendwelchen Kriterien »richtig« entscheidenkönnte. Dieser Informationsfluß der täglichen Abarbeitung von Komplexität

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wird durch jene generellere Ebene des Systemkontaktes gesteuert. DieseSteuerung funktioniert keineswegs fehlerfrei. Sie vermag weder zuverhindern, daß die Verwaltung sich politischen Wünschen gegenüber alswiderstrebend und boykottierend erweist, noch, daß Politiker inEinzelfällen rechtswidrige oder unwirtschaftliche Entscheidungenverlangen. Dann kommt es darauf an, rechtzeitig zu erkennen, daß hiergrundsätzlichere Fragen auf dem Spiel stehen und daß das Problem auf diegenerelle und konsequenzenreichere Ebene des Kontaktes hinübergespieltwerden muß, wo sehr viel weiter reichende Argumente, Motive undinstitutionelle Hilfen aktiviert werden können. Das taktische Spiel derBeteiligten wird dann typisch in dem Versuch bestehen, diese generelleSinnebene zu erreichen bzw. das zu verhindern.

Strukturell analog sind die Beziehungen zwischen Verwaltung undPublikum geordnet. Hier ist die generelle Sinnebene des Kontaktes durchdie vorweg gesicherte Legitimität der Entscheidungen bezeichnet, die dasPublikum anerkennt, wenn im großen und ganzen die politischen ProzesseBefriedigendes leisten. Legitimität heißt Anerkennung der Verwaltung alsentscheidendes System. Unterhalb dieser Ebene und durch sie gesteuert gehtes dann um den Inhalt der einzelnen Entscheidungen, an denen das Publikumdurch Interessendarstellung und Information mitwirkt. Auch hier ist es nichtausgeschlossen, daß einzelne Mitglieder nicht akzeptieren und es aufZwang, also eine Machtprobe zwischen Systemen, ankommen lassen.Ebensowenig kann mit Sicherheit verhindert werden, daß die VerwaltungRecht bricht und damit die Grenzen ihrer politisch-programmäßig gedecktenLegitimität überschreitet. Soweit solche Rechtsbrüche nicht innerhalbbürokratischer Institutionen, zum Beispiel durch Gerichtsbarkeit, geheiltwerden, muß dann die Möglichkeit bestehen, den Vorgang als Einzelfall zupolitisieren und ihn so auf jene generelle und konsequenzenreichere Ebenehinüberzuspielen. Beide Auswege, Zwang und Politisierung im Einzelfall,sind für das Verwaltungssystem von Industriestaaten extrem selteneRanderscheinungen.

Im Verhältnis der Verwaltung zu ihrem Personal ist die Generalisierungdurch jenen Mitgliedschaftsmechanismus sichergestellt, den wir oben[11]

bereits als Grundlage der formalen Organisation der Verwaltungkennengelernt haben. Die Eintritts- und Austrittsbedingungen regeln

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generell, welche Rechte und Pflichten mit der Rolle als Mitglied verbundensind. In den dadurch gezogenen Grenzen muß, wer in die Verwaltung eintritt,sich zur Arbeit nach Maßgabe der ihm laufend mitgeteiltenEntscheidungsprämissen bereit halten.[12] Er selbst hat die Möglichkeit, imlaufenden Kommunikationsprozeß an die Grenzen seiner Unterworfenheit zuerinnern und damit auf das Mitgliedschaftsverhältnis im allgemeinen zurekurrieren, so wie auch die Verwaltung ungeeigneten oder unbotmäßigenMitgliedern gegenüber die Frage der Fortsetzung der Mitgliedschaftaufwerfen kann. Auch das ist eine Art, Probleme aus der konkretenKommunikationsbeziehung auf die generelle, die steuernde Sinnebene zuverschieben. Die Zügigkeit und Reibungslosigkeit des täglichen Verhaltenserfordert natürlich, daß dies nicht zu oft geschieht.

Läßt man die Besonderheit dieser drei Systemgrenzen zurücktreten undhebt man das Gemeinsame heraus, dann zeigt sich, daß im Falle deshochkomplexen Verwaltungssystems von Industriestaaten dieseDoppelstruktur des Kontaks an allen Systemgrenzen institutionalisiert ist.Die Differenzierung dieser Sinnebenen ermöglicht es, den täglichen Kontaktvon den grundsätzlichen Problemen wechselseitiger Anerkennung zuentlasten und auf sehr komplexe, voraussetzungsreicheInformationsverarbeitung einzustellen – kurz: das Potential für Komplexitätzu steigern. Nur unter der Voraussetzung, daß sie über ihre Grenzen hinwegeinerseits als System anerkannt und andererseits für ihre täglichen Kontakteunter variablen Bedingungen Korrespondenzrollen findet, kann eineVerwaltung hohe Autonomie und Eigenkomplexität erreichen. DieVerwaltung kann nämlich nur dann eine eigene Struktur vonEntscheidungsprogrammen aufbauen, wenn deren Kontinuität und derenBearbeitung durch Mitglieder allgemein sichergestellt sind. Auch dies ist,ebenso wie im Falle der Umweltdifferenzierung, eine Strukturbedingung,die durch das politische System als Ganzes garantiert sein muß und an derdie Verwaltung als Teilsystem des politischen Systems partizipiert.

In der Zeitdimension, der wir uns abschließend zuwenden, geltenwiederum andere Bedingungen der Autonomie. Als Selbstprogrammierungdes Verwaltungssystems hat Autonomie nur Sinn, wenn die Verwaltunggenügend Zeit hat, um ihre Programme anzuwenden. Sie darf während derÜberlegungszeit, die sie braucht, um richtig zu entscheiden, nicht als

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soziales System zerfallen.[13] Keine Autonomie, ja nicht einmalSystembildung, käme zustande, wenn eine Umweltursache unmittelbar eineUmweltwirkung erzeugte, wenn der Einfall des Fürsten Gesetz, der Antragdes Bürgers Verwaltungsakt wäre. Die Verwaltung muß in der Lage sein,ihre Grenzen auch zeitlich auseinanderzuziehen, Input und Output nicht nursozial nach Partnern und sachlich nach Sinngehalten, sondern auch zeitlichzu trennen, um Bearbeitungszeit zu gewinnen.

Das alles klingt selbstverständlich, wird aber sofort problematisch, wennman die Frage stellt, wieviel Entscheidungszeit der Verwaltung zugebilligtwerden kann oder, mit anderen Worten, wie lange die Umwelt warten kannoder will. Die Wartebereitschaft der Umwelt bestimmt in hohem Maße denGrad an Komplexität und Interdependenz der Programme undEntscheidungen, den eine Verwaltung erreichen kann. Je mehrSinnzusammenhänge in eine Entscheidung eingearbeitet werden müssen, jemehr Komplexität sie erfassen und reduzieren soll, je mehr Sachbearbeitermitzeichnen müssen, desto länger dauert normalerweise derEntscheidungsvorgang. In gewissem Umfange, aber nicht unbegrenzt, kanndie Verwaltung dem Druck ihrer inneren Komplexität durch Beschleunigungihres Arbeitstempos ausweichen.[14] Das entgegengesetzte Verfahren derVerlängerung von Bearbeitungszeiten, das als Verlangsamung erscheint, isteine funktional äquivalente Strategie, diesen Problemdruck aufzufangen.[15]

Es lassen sich zwar durchaus zeitsparende Organisations- undVerfahrenstechniken ausdenken und in Kraft setzen. Zum Beispiel brauchenvertikale, ranggestützte Kommunikationen typisch weniger Zeit alshorizontale. Eine einseitig auf Zeitgewinn hin rationalisierte Arbeitsordnungdürfte aber typische Nachteile haben im Hinblick auf Arbeitsmotivation,Lernfähigkeit, Rationalität der Arbeitsverteilung, Fehlerempfindlichkeit undanderes mehr. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß Zeitgewinn fürdas System nicht selten Zeitverlust für den Einzelvorgang bedeutet, wennzum Beispiel gleichartige Fälle gestapelt und dann zügig abgearbeitetwerden.[16]

Trifft es zu, daß die Zeitvariable in dieser Weise mit wohl allen anderenorganisatorischen Variablen eng verknüpft ist – stünde unendlich viel Zeitzur Verfügung, gäbe es keine Probleme –, und trifft es weiter zu, daß dieerreichbare Autonomie und Komplexität des Verwaltungssystems von der

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verfügbaren Zeit abhängt, dann kommt der Frage, wie die Verwaltung Zeitgewinnt, erhebliche Bedeutung zu. Im Unterschied zu Privatunternehmen, dieZeit durch Kapitalbildung, also durch den Geldmechanismus, gewinnen unddarin vom Funktionieren der Wirtschaft abhängig bleiben, beruht die Zeitder Verwaltung in erster Linie auf dem Machtmechanismus, also auf demFunktionieren des politischen Systems.[17] Die Zeit der Verwaltung bestehtin der machtgedeckten Freiheit, zu entscheiden oder nicht zu entscheiden.Macht läßt sich weder in genauer Dosierung zuteilen noch verzinsen und soin ihren Kosten berechnen. Damit muß auch die Zeit, die der Verwaltung zurEntscheidung gelassen wird, relativ unbestimmt bleiben. Zwar lassen sichfür manche Verfahren durch allgemeine Regelung feste oder elastische(»angemessene«) Fristen setzen, aber das erfolgt ohne Rücksicht auf dieRationalität des Entscheidungsprozesses, also fast unvermeidlich in zureichlicher Bemessung. Auch politischer oder persönlicher Druck vermagan dieser Situation kaum etwas zu ändern, sondern allenfalls fürEinzelvorgänge zu Lasten anderer eine gewisse Beschleunigung zuerreichen.[18] Auf die Spannungen im Verhältnis von Verwaltung undPublikum, die hieraus erwachsen, kommen wir im 24. Kapitel zurück. Hierbleibt nur festzuhalten, daß die Autonomie der modernen Verwaltungen auchin der Wahl des Zeitpunktes für ihre Entscheidungen relativ groß ist und sojedenfalls einer zunehmenden Komplexität des Verwaltungssystems nicht imWege zu stehen scheint.

Überblickt man nunmehr die Bedingungen und Schranken derVerwaltungsautonomie in sozialer, sachlicher und zeitlicher Hinsicht, dannfällt deren Verflechtung mit dem Problem der Komplexität der Verwaltungins Auge. Autonomie ist erforderlich, um Systeme von großer Komplexitätleistungsfähig zu erhalten. Sie brauchen ihre effektvollen internenEntscheidungsprozesse, um sich selbst zu regulieren. Andererseits wirdeben damit Komplexität auch zum Garanten der Autonomie. Auch die Politikwird sich keinen unberatenen Eingriff in die Verwaltung mehr leisten, wennsie damit nichts weiter als den Stillstand der Geschäfte erreichen kann. Einhochkomplexes System kann nicht präzise von einer Grenze aus nach demGesetz von Ursache und Wirkung gesteuert werden; es muß stets mitwirken,wenn es nicht nur gestört, sondern zu bestimmtem Verhalten angeregt werdensoll. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen für den Stil der

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Planung und Lenkung solcher Systeme, auf die wir im letzten Kapitel diesesTeils nochmals zurückkommen werden.

Die These, daß sehr komplexe Verwaltungssysteme relativ autonom seinmüssen, bedarf schließlich einer Absicherung gegen ein Mißverständnis.Mit ihr wird keine Stellung genommen zu dem alten und vieldiskutiertenThema der Macht der Bürokratie.[19] Von dieser Diskussion trennt unszunächst schon unser Verwaltungsbegriff, der Entscheidungsproduktionbindender Art schlechthin, auch in Parlamenten und Gerichten, meint, alsoeher dem Begriff des government als dem der Exekutive entspricht. Zumanderen liegen der Diskussion oft recht simple Machttheorien zugrunde, diezum Beispiel unterstellen, daß Unentbehrlichkeit der Position oder desWissens schon Macht bedeute.[20] Wenn Autonomie auch Macht über sichselbst impliziert, so ist damit noch keine Macht über andere gegeben, undUnentbehrlichkeit der Funktion besagt noch lange nicht, daß dieFunktionsträger die Möglichkeit besitzen, Macht zu organisieren undauszunutzen. Schließlich steckt in der Befürchtung, die Bürokratie habeMacht usurpiert oder werde es tun, unerkannt die klassische Prämisse einerkonstanten Machtsumme, sofern man annimmt, daß ein Machtgewinn derBürokratie zu einem entsprechenden Machtverlust der Politiker oder gar desVolkes führen müsse. All das ist überprüfungsbedürftig. Wir haben an dieserStelle nur die Möglichkeit, uns von Folgerungen dieser Art frei zu halten.Erst im letzten Teil unserer Untersuchungen werden wir hinreichend gerüstetsein, einige dieser Fragen im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Machtaufzugreifen.[*]

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15. Kapitel

Kommunikationspotential

Alle Sozialsysteme reduzieren die Komplexität ihrer Welt und bildendadurch Sinn; sie bearbeiten laufend Informationen (auch wenn dieserProzeß nicht als »Arbeit« organisiert ist) und sind daher auf Kommunikationzwischen ihren Teilnehmern angewiesen. Ihre Kommunikationsleistungbegrenzt ihr Fassungsvermögen für Komplexität. Ihr Weltentwurf kann nichtmehr Möglichkeiten aufweisen als mitgeteilt und den Sinnbeziehungensozialen Handelns zugrunde gelegt werden können.

Für einfache Sozialsysteme bildet ihre Sprache die innere Grenze ihrerWelt. Sprache ist »Weltansicht«[1] und ermöglicht es doch, rasch zusprechen und sich in kurzer Zeit zu verständigen, also in einem komplexenSinnsystem zügig zu handeln. Sprache ist unentbehrliche Grundlage allerErfassung und Reduktion von Komplexität in sozialen Systemen. IhreLeistung scheint jedoch im historisch überschaubaren Teil derMenschheitsgeschichte im wesentlichen konstant zu bleiben. EinfacheSozialsysteme kommen daher in ihrer Kommunikationsleistung nichtwesentlich über das hinaus, was die Sprache gleichsam von selbst spricht.Ihnen spricht die Sprache ihr Sein zu; sie erscheint daher als»Natursprache«, so wie das Recht zunächst als »Naturrecht« erlebt wird,nämlich als ein Teil des Seins selbst.[2] Die Worte werden als Eigenschaftender Dinge angesehen, und so »logisch«, konstant und geordnet wie dieSprache selbst erscheint dann die Welt – eine Welt von geringerKomplexität, an der alle Mitglieder der Gesellschaft voll und ganzteilnehmen.

Ein weiterer Gewinn an Komplexität über die durch Sprache gegebenehinaus ist durch funktionale Differenzierung der Gesellschaft zu erreichen.Sie ermöglicht es, in Teilsystemen der Gesellschaft, zum Beispiel in derWirtschaft, in der Wissenschaft oder in der Politik, besondereWeltausschnitte intensiver zu bearbeiten ohne Rücksicht darauf, ob andereBereiche im Verständnis der Sache mithalten können. Zwischen den

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Teilsystemen der Gesellschaft muß dann der Kommunikationsprozeßintensiviert und speziell auf die Übertragung schon reduzierter Komplexitätzugeschnitten werden. Während die Sprache im ganzen vielfältigenFunktionen dient – nicht nur der Übertragung von Sinn, sondern auch derSelbstdarstellung und dem Gefühlsausdruck, dem Erproben und Bekräftigenvon Solidarität, dem Lehren und Lernen sozialer Geschicklichkeiten und derMotivierung zur Fortsetzung des Kontaktes –,[3] kommt es nun in vielenBeziehungen allein auf präzise und zuverlässige Information an.

Organisierte Verwaltungssysteme sind in ihren Umweltbeziehungen unddeshalb auch in ihren Innenabläufen eine Folge dieses Bedarfs fürMitteilung schon reduzierter Komplexität. Ihre Funktion besteht ja darin, auseinem strukturierten Bereich von Möglichkeiten eine Auswahl zu treffen undals richtige Problemlösung verbindlich festzulegen. Sie bleibt ohne Zugriffauf Sachen – es sei denn Tinte und Papier – im Bereich des Verbalen, gehtaber über den bloßen Gebrauch von Sprache hinaus, um mehr Komplexitätzu erfassen und zuverlässiger auf eine richtige Lösung reduzieren zu können.Im Vergleich zur Rede allein liegt eine Mehrleistung vor, die zumeist alsAnwendung von Macht erklärt wird. Das ist indes eine vordergründige, fasttautologische Erklärung. Erst eine genauere Analyse desKommunikationsprozesses, in dem Macht aufgebaut wird und zurAnwendung kommt, vermag deutlich zu machen, wie diese Mehrleistunggegenüber dem bloßen Reden zustande kommt und welche Probleme dabeigelöst werden müssen. Macht ist nämlich die Generalisierung des Effektseiner individuellen Reduktionsleistung und hängt von der Art und demUmfang der Möglichkeiten, die reduziert werden, ebenso ab wie von dengeneralisierenden Mechanismen, welche die Effektübertragungsicherstellen. In beiden Hinsichten ist Macht eine Folge der Organisationdes Prozesses der Informationsverarbeitung (und nicht etwa, wie dieklassische Organisationslehre es darstellt, Organisation eine Folge derMacht des Herrschers bzw. Eigentümers).[4]

Da weder die Leistung der Sprache noch die Aufmerksamkeitsspanne undKontaktfähigkeit des Menschen wesentlich ausgeweitet werden können, mußalle Steigerung des Kommunikationspotentials und der Reduktionsleistungdurch Organisation erreicht werden. Die Begrenztheit der natürlichenAufmerksamkeitsspanne und Kontaktfähigkeit des Menschen ist das kritische

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Problem, auf das sich alle Organisationsleistungen beziehen.[5] Eine Theorieder Organisation und besonders der Arbeitsteilung und Verfahrenstechnik,die sich speziell auf Entscheidungsprozesse bezieht, ist erst in den letztenJahren postuliert und in einigen Ansätzen sichtbar geworden.[6] Sie kannhier nicht vorausgesetzt und natürlich auch nicht ausgearbeitet werden. Wirmüssen uns damit begnügen, einige der Veränderungen festzuhalten, denender elementare kommunikative Kontakt von Menschen unterworfen wird,wenn ihr Verhalten durch Organisation auf gemeinsameInformationsverarbeitung spezialisiert wird. Eine solche Entstellung desnatürlichen Verhaltens vermag eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie inVerwaltungen das Kommunikationspotential durch Systemorganisationgesteigert wird und welche ausgleichenden sozialen Mechanismenerforderlich sind, um diese Leistung möglich zu machen und stabil zu halten.

In Sozialsystemen, die wie Verwaltungen auf Datenverarbeitungspezialisiert sind, kann man solche Veränderungen in denVerhaltensprämissen, im Verhalten selbst und in bezug auf die Folgen desVerhaltens beobachten.

In natürlichen, nicht durch Organisation verzerrten Situationen istVoraussetzung jeder Verständigung ein diffuses Vorverständigtsein aufgrundgemeinsam durchlebter Geschichte. Dieses Vorverständigtsein geht weitüber die gemeinsame Kenntnis einer Sprache hinaus und schließt zumBeispiel Annahmen über gemeinsame Erwartungen und Verhaltensnormen,über Gleichzeitigkeit des Erlebens und für alle gleich schnell fließendeZeit, über allseitige Zugänglichkeit der Dinge für alle und Austauschbarkeitder Beobachtungsstandpunkte, über erwartbares Wissen und Nichtwissenanderer usw. ein.[7] Solche Prämissen nehmen, da man auf sie angewiesenist, normativen Charakter an, so daß ein Boykottieren dieser gemeinsamenGrundlage, zum Beispiel durch Mißtrauen, bohrendes Fragen nach Gründen,Verhalten aufgrund unerwarteter Prämissen und ähnlichem, auf Ablehnung,wenn nicht gar auf Sanktionen stößt.[8] Dabei fungieren Geschichte undVorverständigtsein zumeist latent[9] und werden als Prämisse nur punktuellim Falle von Störungen bewußt. Der Kommunikationsprozeß hat dieFunktion, seine Prämissen gerade dadurch, daß er sie nur implizit benutztund sie nicht zum Thema werden läßt, laufend zu bestätigen.[10]

Demgegenüber ist es für organisierte Systeme der

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Informationsverarbeitung typisch, daß sie versuchen, dieses diffuseVorverständigtsein unter Kontrolle zu bringen, es aufzuhellen undbewußtzumachen, selbst über die Prämissen des Entscheidens noch zuentscheiden und damit rational und auf Widerruf festzulegen, von welchenAnnahmen jeder Einzelbeitrag auszugehen hat. Nur so könnenEntscheidungsleistungen von hoher Komplexität und Interdependenzkoordiniert werden. Die Systemgeschichte wird dann als Geschichte vonVorentscheidungen in Registraturen festgehalten, Vertrauen durch Aktenersetzt. Zugleich wird der Kommunikationsprozeß von der Funktionentlastet, seine Prämissen und Implikationen laufend neu zu aktivieren undmitzubestätigen; sie stehen durch ausdrückliche Entscheidung immer schonfest. Daß formale Organisation, die dies zu erreichen sucht, stets nur einenTeil der vollen Lebenswirklichkeit des Sozialsystems ausmachen kann, istein Gemeinplatz der neueren Organisationssoziologie. Daß sie die Situationder natürlich-elementaren Interaktion tiefgreifend umstrukturiert, kann aberebensowenig bestritten werden. Das Kommunikationswesen der Verwaltungerreicht höhere Komplexität, zuverlässigere Änderbarkeit und auch einrascheres Ablauftempo, wenn die Prämissen jeder Mitteilung durchVorentscheidung deutlich fixiert sind und bei Bedarf einfach zitiert werdenkönnen. Nicht zufällig steht denn auch der Begriff derEntscheidungsprämissen im Mittelpunkt der neuerenentscheidungstheoretisch orientierten Organisationstheorie.[11]

Im Rahmen der Programmierung von Entscheidungsprämissen gibt eszahlreiche Techniken, die Kommunikationslast zu regulieren und mit demerreichbaren Kommunikationspotential abzustimmen. Einmal unterscheidensich die verschiedenen Prinzipien der Arbeitsteilung nach denAnforderungen, die sie an koordinierende Kommunikation stellen. Zumanderen gibt es in weitem Umfange Möglichkeiten, Einzelfallanweisungendurch generelle Regelungen zu ersetzen, die Kommunikation sparen.Schließlich muß man sich das Anspruchsniveau, dem eine Entscheidunggenügen soll, als eine Variable vorstellen, mit deren Änderung dieKommunikationslasten steigen bzw. fallen: Optimale Entscheidungenerfordern mehr Information und mehr Kommunikation als nur brauchbareEntscheidungen. All dies sind bekannte, vieldiskutierte Themen derallgemeinen Organisationswissenschaft, auf die hier im einzelnen nicht

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eingegangen werden kann.Soviel sei zu den Prämissen der Kommunikation gesagt. Für das

kommunikative Verhalten selbst ist in Verwaltungen bezeichnend, daß dieerwartete Arbeitsleistung auf Kommunikation in einem ganz speziellenSinne zugeschnitten wird, nämlich auf Mitteilung des Ergebnisses einerInformationsverarbeitung, also auf Weitergabe einer Reduktionsleistung.[12]

Von anderen Komponenten der Kommunikation, etwa der expressiven oderder motivierenden, soll abgesehen werden, weil sie im Hinblick auf diespezifische Funktion der Verwaltung unnützer Ballast wären. Weder dieSelbstdarstellung der Person noch die Motivation zur Fortsetzung desKontaktes ist im Arbeitsprozeß selbst zu leisten – jene soll zurückgestellt,diese durch die generelle Motivation zur Mitgliedschaft sichergestelltwerden. Eine solche Entlastung und funktionale Spezifikation desKommunikationsprozesses steigert die Leistung. Sie ist Voraussetzung dafür,daß die Kommunikation genau auf die »erforderliche Information«zugeschnitten, ihr also nicht mehr und nicht weniger Sinn mitgegeben wirdals nötig ist.[13] Zugleich können, wenn die Einzelbeiträge zumEntscheidungsprozeß des Systems als erwartbareKommunikationshandlungen veräußerlicht und aufgeteilt werden, dieEntscheidungsprozesse selbst arbeitsteilig geordnet werden, so daß Vorteileder Spezialisierung und der Vermeidung von Doppelarbeit sich erzielenlassen. Dadurch werden die Beiträge authentifizierbar. Bleibt eineMitteilung unklar oder umstritten oder stellt sie sich als falsch heraus, kannauf den Mitteilenden zurückgegriffen werden. Er ist als Urheber sichtbarund verantwortlich und kann nicht leugnen, eine bestimmte Mitteilungbeabsichtigt zu haben. Diese Zurechenbarkeit bewirkt nicht nur einevorgreifende Disziplinierung der Arbeitsleistung, sondern auch einewesentliche Beschleunigung der Sinnklärungs- und Kontrollprozesse, alsoeine Steigerung des Kommunikationspotentials im ganzen.

Ist die Spezifizierung des kommunikativen Verhaltens soweitdurchgeführt, dann müssen auch im Bereich der Wirkungen des VerhaltensKonsequenzen gezogen werden. Diese können nicht dem Zufall oder demVerständnis des Adressaten überlassen bleiben, zumal ja demKommunikationsprozeß selbst die werbende, motivierende Kraft genommenist. Die einzelne Kommunikation selbst sorgt nicht mehr dafür, daß der

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Partner bereit ist, die mitgeteilte Information als Entscheidungsprämisse zuverwenden; also muß dafür vorgesorgt sein. Die Sicherstellung sinngemäßerWeiterverwendung der erarbeiteten Information gibt allen Bemühungen umSteigerung des Kommunikationspotentials überhaupt erst ihren Sinn; es sollnicht allein für den »Aktenfriedhof« gearbeitet werden.

Indes ist dieses Problem praktisch schwierig zu lösen. Es können undmüssen in allen Verwaltungen Formen fragloser Effektübertragunginstitutionalisiert und ihre Anerkennung muß als Mitgliedschaftsbedingungformalisiert werden. Das geschieht dadurch, daß Möglichkeiten der internenEntscheidung geschaffen werden, die andere Teilnehmer binden, vor allemalso durch eine hierarchische Organisation von Entscheidungskompetenzen.[14] Nicht alle, ja nur ein sehr geringer Teil der faktischen Kommunikationenwenden solche Entscheidungskompetenzen an. Die Möglichkeit, eineEntscheidung herbeizuführen, muß jedoch in allen wichtigeren Fällenbestehen, da andernfalls die Informationsbearbeitung unter Umständen nichtabgeschlossen und Konflikte nicht gelöst werden können.

Damit ist jedoch noch lange nicht sichergestellt, daß informierendeKommunikationen, die keine bindende Kompetenz in Anspruch nehmen,letztlich doch in Entscheidungen eingehen. Die Verlustquote desUmsonstgeschriebenen ist in Verwaltungen vermutlich relativ hoch,besonders in den oberen Rängen. Das liegt daran, daß nicht alle Arbeit vomErgebnis her vorstrukturiert werden kann, ist also eine Begleiterscheinunghoher Komplexität und Ungewißheit der Entscheidungssituation.

Ein organisiertes Sozialsystem, das in diesen verschiedenen Hinsichten –in Prämissen, Vollzug und Wirkungen – das kommunikative Verhalten unterdie eigentümliche Disziplin der Vereinseitigung und Leistungssteigerungsetzt, muß bestimmten Anforderungen genügen, ohne deren Erfüllung es alssoziales Interaktionssystem nicht möglich wäre. Es muß vor allem inerheblichem Umfange Komplexität schon durch seine Struktur absorbierthaben, und dies vor allem in zwei Hinsichten: Die Motivation zur Arbeitmuß generell sichergestellt werden, wodurch zugleich die individuellenUnterschiede in den Handlungsmotiven nach Möglichkeit einnivelliertwerden. Der Kommunikationsfluß muß zuverlässig fließen unabhängig vonden Persönlichkeitsstrukturen derer, die ihn in Fluß halten, ja selbst wenndie Beteiligten einander nicht ausstehen können. Zum anderen muß das

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Verhalten durch Vorentscheidung »programmiert« sein. Denn eineKommunikation, der jede direkte persönliche Motivation fehlt, setztVorgaben anderer Regeln der Selektion und Verarbeitung von Informationenvoraus.

Solche Absorption von Komplexität durch Systemstrukturen gelingt stetsnur mehr oder weniger gut. Ein Rest ungelöster Problematik bleibt undkommt in verwandelter Form, etwa als »dysfunktionale Folge« derdominanten Strukturentscheidungen oder in Form von psychischen »Kosten«der Mitgliedschaft, auf das tägliche Verhalten zu.[15] Zur Realisierung eineshohen und spezialisierten Potentials für Informationsverarbeitung gehörtdaher auch, daß diese Folgeprobleme gelöst oder doch in den Grenzenerträglicher Schwierigkeiten und Leistungsminderungen gehalten werdenkönnen.

Einige Beispiele mögen das verdeutlichen: Expressive Bedürfnisse derSelbstdarstellung können nicht ganz aus dem Arbeitsgang und seinenKommunikationsweisen verdrängt werden. Sie beeinflussen vor allem das,was indirekt mitkommuniziert wird. Die Ausdrucksmittel sind zwar sehrbeschnitten und oft nur für Eingeweihte deutbar. Auch erzieht das Milieuzum Verzicht auf Originalität. Und trotzdem werden alle Möglichkeitengenutzt, um durch Größe der Fensterfront des Zimmers, Größe desSchreibtisches, Farbe der Briefumschläge, Unterschriftsbefugnisse undnatürlich durch Titel und Positionsrang anderen mitzuteilen, wer man ist –Vorgänge, welche die Ökonomie der Organisation belasten, aber denArbeitsvollzug selbst relativ wenig beeinträchtigen.

Eine andere typische Folge ist die Schmalspurigkeit derVerständigungsgrundlage. Man kommt mit einem Mindestmaß anrollenspezifischem Konsens aus und bleibt im übrigen indifferent gegenüberanderen Rollen des Partners. Die Bekanntschaft wird aufLeistungserfordernisse begrenzt und nicht ins Persönliche vertieft. Daherkommt es nicht zu einer breiter ausgreifenden vertrauensvollenÜbereinstimmung, die ausreichte, um Kurswendungen zu vollziehen, Krisenzu überstehen oder neuartiges, zunächst heikles Verhalten in Gang zubringen. Bei dieser Innenstruktur können von der Bürokratie wederkämpferische Tugenden noch Risikobereitschaft erwartet werden, weil siedafür intern keine soziale Unterstützung aktivieren kann.

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Daraus, daß die Kommunikation authentisch, zurechenbar undverantwortlich organisiert ist, entstehen Kommunikationshindernissebesonderer Art.[16] Sie wiegen um so schwerer, als sie die Funktion derInformationsverarbeitung unmittelbar treffen. Vor allem schriftliche undbesonders nach oben gehende Kommunikation wird unter Ausfilterung allesirgend Bedenklichen so zubereitet, daß sie dem Absender keinesfallsschaden kann. Dadurch wird die Information verzerrt, die der Empfängererhalten müßte, um seiner Aufgabe gerecht werden zu können. MitKontrollen ist dem schwer abzuhelfen, weil diese Waffe der gleichenKorrosion unterliegt. Eher wird man erwarten können, daß ein Durchstoßenzu noch unpersönlicherer, weitgehend automatisierter Kommunikation dieseProblematik entschärft.

Andere Folgeprobleme hängen mit der gesellschaftlichenAusdifferenzierung, mit der Trennung von System und Umwelt, alsBedingung der Leistungssteigerung zusammen. Die besonderenKommunikations- und Verständigungsvoraussetzungen, die in derVerwaltung geschaffen werden, kann man in ihrer Umwelt nichtvoraussetzen. Das macht es notwendig, in Sprache und Stil derKommunikation zwischen Innenverkehr und Außenverkehr zu unterscheidenund Mitteilungen, die nach außen gehen, einer besonderen Bearbeitung zuunterwerfen. Was intern abgekürzt und offen gesagt werden kann, darf nochlange nicht ungemildert nach außen dringen. Zuweilen erhält die Umweltmehr und sicherere Information, als man intern besitzt, zuweilen auchweniger. Typisch wird die Umweltkommunikation zwar nicht als zwingendeSchlußfolgerung aus bekannten Tatsachen, wohl aber als begründeteEntscheidung präsentiert, und es kommt zumal im juristischen Bereich nichtselten vor, daß in die Begründung mehr Arbeit gesteckt werden muß als indie Entscheidung selbst. Nimmt man hinzu, daß namentlich gegenüber derPolitik immer wieder auch begründet werden muß, warum nicht entschiedenworden ist, dann läßt sich ermessen, unter welchenDarstellungsanforderungen die Verwaltung allein schon durch dieInnen/Außen-Differenzierung steht und daß es nicht möglich ist, das volleKommunikationspotential unmittelbar auf die Entscheidungslast zukonzentrieren.

Schließlich ist zu beachten, daß nicht nur die Absendung, sondern auch

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der Empfang von Kommunikationen aus der Umwelt durch die besondereStruktur und Leichtigkeit der internen Kommunikation bedingt ist.Erleichterung für das eine bedeutet nämlich immer zugleich Erschwerungfür etwas anderes. So wirkt das interne Kommunikationsnetz wie einselektiver Filter gegenüber der Umwelt: Was im System weitergegebenwerden kann, wird bevorzugt wahrgenommen.[17] Die Differenzierung derSprachen und Kommunikationsweisen innen und außen läßt mithin dieEmpfindlichkeit der Verwaltung für neuartige Informationen zu einemProblem werden, auf das, zum Beispiel von seiten der Politik, besondereAnstrengungen zur Korrektur von Systemmängeln angesetzt werden müssen.

Diese wenigen zusätzlichen Gesichtspunkte, die am Rande unseresThemas liegen, sollten deutlich machen, daß eine Steigerung desKommunikationspotentials der Verwaltung nicht nur einRationalisierungsprogramm ist, sondern eine reale Möglichkeit, die jedochdie soziale Ausbalancierung des Systems unter wachsende Anforderungenstellt und nach funktional bewußtem Einsatz zahlreicher korrigierender undkompensierender Mechanismen, letztlich also nach soziologischerSystemplanung, verlangt. Diese Notwendigkeit einer Theorie mit höheremPotential für Komplexität wird noch deutlicher werden, wenn wir unsnunmehr dem Problem der inhaltlichen Kriterien des Entscheidens, demProblem der Rationalität der Entscheidungsverwaltung, zuwenden.

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16. Kapitel

Rationalität der Verwaltungsentscheidung

Seitdem das traditionelle teleologische Handlungsmodell und dieBestimmung der Rationalität durch wahre Zwecke aufgegeben werdenmußten, hat sich eine allgemeine Theorie des rationalen Handelns nichtmehr begründen lassen.[1] Das läßt es sinnvoll erscheinen, davonauszugehen, daß es nur systemspezifische Rationalität gibt. Damit kommtman auch den soziologischen Einsichten in die Konsequenzen zunehmenderfunktional-struktureller Differenzierung der Gesellschaft in relativ autonomeTeilsysteme entgegen. Das richtige Entscheiden im Recht, in derwissenschaftlichen Forschung, bei wirtschaftlicher Kalkulation, beimAnfertigen eines Kunstwerkes oder in der politischen Taktik läßt sich inseinen Kriterien der Selektion, der Anordnung von Entscheidungsschrittenund der Ergebnisbewertung nicht mehr auf einen gemeinsamen Nennerbringen; vor allem ist es nicht mehr möglich, die Vielfalt der Rationalitätenauf einen Unterschied von Zwecken zu bringen und dann letztlich doch aufeinen gemeinsamen Zweck zurückzuführen. Zweckrationalität scheint einespezifische Form der Rationalität neben anderen zu sein und nur inbestimmten Bereichen der Gesellschaft, zum Beispiel in der industriellenProduktion, system- und umweltadäquat zu funktionieren. Besonders dieEntwicklung des positiven Rechts und neuestens die der Automation vonEntscheidungsvorgängen legen die Vermutung nahe, daß es fürZweckrationalitäten Alternativen gibt.[2] Man wird demnach nichtumhinkönnen, die Frage, in welchen Formen und nach welchen Kriterien dasEntscheiden rationalisiert wird, von System zu System verschieden zubeantworten und den Sinn dieser Unterschiede in verschiedenengesellschaftlichen Funktionen, Umweltlagen und Selbsterhaltungsproblemenzu suchen.

Die Verwaltung findet im Unterschied zu anderen Teilbereichen despolitischen Systems ihre spezifische Funktion darin, aufgrund politischfestgelegter Entscheidungsprämissen richtige Problemlösungen

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auszuarbeiten. Unter »Richtigkeit« ist dabei ein Verhältnis derEntscheidungen zueinander zu verstehen.

Da die Verwaltung von gesellschaftlich und politisch reduzierter sozialerKomplexität ausgehen kann, also in einem schon strukturierten Feld operiert,ist sie in der Lage, in einem schon begrenzten, allerdings immer nochunüberblickbar großen Entscheidungsspielraum ein gewisses Maß anKonsistenz der Problemlösungen zu erreichen.[3] Diese Konsistenz kannnatürlich nicht Widerspruchsfreiheit in einem streng logischkontrollierbaren Sinne bedeuten. Nicht einmal eine widerspruchsfreie oderauch nur transitive Ordnung des Ranges aller relevanten Werte kann für dieVerwaltung im ganzen vorausgesetzt oder angestrebt werden. DieVerträglichkeit der Entscheidungen kann vielmehr nur darin bestehen, daßbestimmte Problemlösungen andere sowenig wie möglich blockieren. Jehöher die erreichbare Konsistenz, desto mehr politische Ziele können in derVerwaltung untergebracht und in Routinen stabilisiert werden, desto größerist die Fähigkeit des politischen Systems, Forderungen zu absorbieren, destokomplexer kann seine gesellschaftliche Umwelt sein.

Diese breit absorbierende Funktion ist für den Bestand und dieSelbständigkeit des Verwaltungssystems zunächst ausschlaggebend. Auchund gerade gegenüber den fluktuierenden Bewegungen der Politik wird dieVerwaltung verselbständigt dadurch, daß sie die Konsistenz desEntscheidens mit den schon entschiedenen und den künftig noch zuentscheidenden Entscheidungen pflegt und vertritt und daß sie aus Rücksichtauf andere Möglichkeiten oder komplexe Rückwirkungen mit zu vielennachteiligen Folgen nicht jedem Impuls nachgeben kann. Daß diesePerspektive dazu verführen kann, Unübersehbarkeit der Folgen oder garNeuheit selbst schon für einen Nachteil zu halten, ist bekannt und einZeichen dafür, daß die Verwaltung sehr oft mit ihrer eigenen Komplexitätnicht mehr fertig wird.

Wenn diese Einstellung des bürokratischen Charakters als dysfunktionaleFolge jenes Systemprinzips der Konsistenz gewertet werden muß, so giltdas verstärkt für ein zweites Problem. Die Instrumente, mit denen dieVerwaltung die Konsistenz des Entscheidens kontrolliert und darstellt,decken jene Funktion der Absorption von politischen Forderungen undgesellschaftlicher Komplexität bereits nicht mehr genau. Die Verwaltung

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bedient sich vor allem der juristischen Begrifflichkeit und derwirtschaftlichen Kostenrechnung, um den Vergleich mit anderenEntscheidungen zu ermöglichen. Diese Techniken erlauben es, dasgesellschaftlich-politische Konsistenzpostulat, das höchst unklar ist, mitbeträchtlichen Opfern an Sinn und Tragweite entscheidungsrational zupräzisieren. Die Entscheidungs- und Kontrollsprachen der Verwaltungwerden dann zu Ersatzzielen, die, weil leichter zu handhaben, den Blick aufdie Systemfunktion der Verwaltung versperren.[4] Dieser Vorgang einer(immer unzulänglichen) Ersetzung externer durch interne Probleme ist nichtnur die Quelle aller Anpassungsschwierigkeiten der Verwaltung imVerhältnis zu ihrer Umwelt; er begründet mit dem, was er an ungelösterProblematik in die Entscheidungsprogramme der Verwaltung hineinschleust,auch deren »Schwierigkeit« und damit die Bezugsprobleme, an denen sichdie verwaltungsinternen Entscheidungsleistungen orientieren.

Im Mittelpunkt der Transformation externer in interne Probleme steht dieProgrammierung des Entscheidens. Darunter ist eine allgemeine Vorgabe anBedingungen richtigen Entscheidens zu verstehen, nach denen dannzahlreiche Einzelfälle entschieden werden.

Ohne Programmierung wäre Konsistenz von Entscheidungen nicht odernur in sehr einfachen Verhältnissen erreichbar. Es ist undenkbar, jedeEinzelentscheidung mit allen oder auch nur mit einem erheblichen Teil alleranderen Entscheidungen und Entscheidungsmöglichkeiten zu vergleichen undabzustimmen. Die Menge und Komplexität der Möglichkeiten zwingt zurGeneralisierung, eben zur Bildung von Entscheidungsprogrammen, diejeweils eine Vielzahl von Entscheidungen regeln und selbst durchübergeordnete Programme zusammengefaßt sein können, also dieEntscheidungen zu einer quasi hierarchischen Ordnung gruppieren.[5]DieFolge ist, daß die Fallentscheidungen im wesentlichen nicht unmittelbar,sondern nur auf der Ebene der Programme miteinander abgestimmt werdenund daß die Programmausführung dann im engen Horizont der vorgegebenenRichtigkeitsbedingungen abgespult werden kann, wobei ein über dasProgramm hinausgreifender Koordinationsbedarf nur noch ausnahmsweiseauftritt.

So unvermeidlich diese Vereinfachung im Prinzip ist, so problematischbleibt ihre Ausführung. Um diese abgeleitete Problematik aufrollen zu

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können, ist es zunächst notwendig, auf die allgemeine Funktion derVerwaltung und auf ihre System/Umwelt-Problematik zurückzugehen.Daraus ergibt sich nämlich, daß es in Verwaltungen zwei grundverschiedeneTypen von Entscheidungsprogrammen gibt mit je verschiedenenSekundärproblemen und Entscheidungsstrategien. Wenn man das nichtberücksichtigt, gerät die Erörterung sehr leicht in den zu engen Rahmenentweder der wirtschaftswissenschaftlichen oder der juristischenEntscheidungssprache und vermittelt dann gerade für die öffentlicheVerwaltung keine durchgehend brauchbare Konzeption.[6]

Die gesellschaftlich-politische Funktion der Verwaltung erfordert, wiewir gesehen haben, ein hohes Maß an Ausdifferenzierung und Autonomie.Autonomie heißt Selbstbestimmung der Prämissen des eigenen Verhaltens,und zwar nicht eines in sich selbst ruhenden, selbstbezüglichen Daseins,sondern eines Verhaltens im kausalen Kontext der Umwelt.

Für Verwaltungen bedeutet Autonomie Selbstprogrammierung. DieAnwendung ihrer Entscheidungsprozesse auf ihre eigenenEntscheidungsprämissen ist Voraussetzung dafür, daß in der Verwaltung trotzhoher Komplexität ein gewisses Maß an Konsistenz des Entscheidenserreicht werden kann. Diese Selbstprogrammierung bedeutet indes keineAbschließung gegen die Umwelt. Sie steuert vielmehr gerade denKommunikationsfluß, der die Verwaltung mit ihrer Umwelt verbindet. Daherbeziehen sich auch die Bedingungen der Autonomie, die wir im 14. Kapitelerörtert haben, nämlich Umweltdifferenzierung, Trennung sachlicherSinnebenen des Umweltverkehrs und zeitliche Trennung von Input undOutput, auf den Kommunikationsfluß zwischen Verwaltung und ihrerUmwelt; denn Autonomie besagt nichts anderes, als daß die Verwaltung inder Lage ist, diesen Kommunikationsfluß nach eigenenEntscheidungsprogrammen zu steuern. Die Bedingungen der Autonomieermöglichen Selbstprogrammierung, andererseits dient aber auch dieSelbstprogrammierung dazu, jene Bedingungen zu stabilisieren. In derSozialdimension definiert und begreift die Verwaltung mit Hilfe ihrerProgramme ihre eigene Identität, kraft deren sie überhaupt erst eineMehrheit von Umwelten haben kann, und sie benutzt ihre Programme, zumBeispiel ihr Recht, als einheitliche Verhaltensbasis gegenüber allenUmwelten. Sachlich gesehen ermöglicht die Trennung von Programm und

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Fallentscheidung jene Differenzierung von Sinnebenen, durch welche dieVerwaltung ihren Umweltkontakt bei Bedarf generalisieren kann. Diezeitliche Trennung von Ursachen an der Inputgrenze und Wirkungen an derOutputgrenze führt zu einer Differenzierung von Programmtypen undEntscheidungssprachen, so daß die Verwaltung durch Wahl desProgrammtyps mitentscheiden kann, ob sie sich primär an der Inputgrenze,also an Vergangenem, oder an der Outputgrenze, also an Zukünftigem,orientieren will. Wie immer diese Freiheit der Programmwahl und sogarder Programmtypenwahl genutzt wird, sie kann nie die Verwaltung aus ihrerUmwelt herausreißen, sondern nur die Art ihres Zusammenhanges mit derUmwelt variieren. Die unlösbare Verflochtenheit von System und Umweltist nicht durch Inhalt oder Art der Entscheidungsprogramme bewirkt,sondern in ihrer allgemeinen Form schon vorausgesetzt. Auch autonomeVerwaltungen können allenfalls entscheiden, wie, nicht ob sie im Kontaktmit ihrer Umwelt Einfluß annehmen und ausüben wollen.

Das läßt sich verdeutlichen durch eine Analyse der beiden Grundtypenvon Entscheidungsprogrammen, nämlich Konditionalprogrammen undZweckprogrammen, die sich mit Hilfe der Trennung von Input und Outputunterscheiden lassen.[7] Im einen Falle knüpft das Programm an dieInputgrenze, und zwar an einen bestimmten Umwelttatbestand, an und legtdie Entscheidung fest, die immer dann erlassen werden muß bzw. nur dannerlassen werden darf, wenn ein solcher Tatbestand vorliegt. DieserTatbestand bekommt dadurch die Qualität einer Ursache des Entscheidens.Das Programm selbst ist ein Konditionalprogramm, weil es dieEntscheidung von bestimmten Bedingungen abhängig macht. Mit solchenProgrammen macht das System sich von vorgegebenen Tatsachen abhängigund gibt demjenigen Umweltpartner, der die Verwaltung über einen solchenTatbestand informieren kann, eine Art abgeleitete nichthierarchischeAutorität: Er kann durch Kommunikation an die Verwaltung im voraus mehroder weniger bestimmte Entscheidungen auslösen bzw. blockieren.

Im anderen Falle ist nicht eine Ursache, sondern eine Wirkung der Kerndes Programmes; es bezieht sich dann also auf die Outputgrenze. SolcheProgramme sind Zweckprogramme. Eine bestimmte Wirkung wird wegenihres Wertes als Zweck invariant gesetzt, und die Entscheidung bezieht sichauf die Wahl der Mittel, mit denen dieser Zweck erreicht werden kann. Zum

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Programm werden solche Zwecke natürlich nur, wenn sie einen laufendenBedarf bezeichnen und nicht mit einmaligem Einsatz von Mitteln erfüllt undbeseitigt werden können.

Auf einer Trennung der Zeitgrenzen und damit der Programmtypen beruht,wie bereits gesagt, die Autonomie der Verwaltung. Durch diese Trennunggewinnt die Verwaltung die Möglichkeit, jeweils einen Programmtyp zurBegrenzung und Variation des anderen Typs zu benutzen alsoKonditionalprogramme um bestimmter Zwecke willen zu wählen und, inanderen Entscheidungszusammenhängen, Zweckprogramme durchKonditionen zu begrenzen. Das Entweder-Oder und die Fähigkeit zurDifferenzierung beider Programmtypen und zur Wahl zwischen ihnen sindfür sie wesentlich. Wäre ihr Entscheiden durch Ursachen und Wirkungenzugleich definiert, gäbe es keine Wahlmöglichkeit, und die Entscheidung, jadas System selbst, würde sich erübrigen.

Die unterschiedliche Grenzorientierung besagt natürlich nicht, daß derKommunikationsfluß jeweils nur eine der Zeitgrenzen überschritte, daßetwa konditional programmierte Entscheidungen nicht über die Outputgrenzeabgesandt würden und keinerlei Wirkungen hätten oder daß inzweckprogrammierten Entscheidungen keinerlei Umweltinformation alsInput berücksichtigt würde. Das wäre absurd. Der Kommunikationsflußüberschreitet stets beide Grenzen. Der Gegensatz bezieht sich nur darauf, anwelcher Grenze Komplexität durch das Programm und an welcher sie durchdie programmierte Entscheidung reduziert wird. Konditionalprogrammelegen fest, daß bestimmte Ursachen (unter Ausschluß anderer) dasEntscheiden oder Nichtentscheiden verursachen. Sie leisten also eineReduktion aller möglichen Ursachen auf eine oder einige bestimmte undüberlassen es der Entscheidung und vielleicht dem Zufall, welcheWirkungen daraus entstehen. Das Programm reduziert also denUrsachenbereich. Zweckprogramme legen dagegen fest, daß bestimmteWirkungen (unter Ausschluß anderer) das Entscheiden rechtfertigen können,wie immer der konkrete Entscheidungsprozeß die Konstellation derUrsachen vorfinde und die Mittel wähle. Die Reduktionsleistung desProgramms liegt hier in der Gestattung von Indifferenz gegen andereWirkungen, Nebenfolgen oder Kosten; sie liegt also im Wirkungsbereich,während es Sache des Entscheidungsprozesses selbst ist, im Hinblick auf

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den Zweck die Mittel zu wählen und damit auch noch die Ursachen zureduzieren.

Es gibt nur diese zwei Grundtypen. Die Struktur der Zeit, die außer derGegenwart nur Vergangenheit und Zukunft kennt, sowie ihre Explikationdurch das kausale Schema von Ursache und Wirkung lassen weitereMöglichkeiten nicht zu. Das schließt jedoch nicht aus, daß dieProgrammtypen bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht und ineinanderverschachtelt werden können. Die Geltung eines Zweckes mag vonbestimmten Bedingungen abhängig gemacht werden, die bedingte Handlungmag nicht präzise und ohne Alternativen, sondern nur durch einen Zweckdefiniert sein. Auch können Konditionalprogramme wegen bestimmterZwecke, also im Rahmen übergeordneter Zweckprogramme, erlassenwerden, wenn etwa Richtlinien ergehen, unter welchen BedingungenHaushaltsmittel zum Bau von Sportplätzen an Vereine vergeben werdenkönnen. Es handelt sich mithin um idealtypische, hier in äußersterVereinfachung vorgestellte Modelle, aus denen konkreteEntscheidungsprogramme je nach Bedarf zusammengesetzt werden können.

Die Bedeutung dieser grundtypenmäßigen Unterscheidung kann demnachnicht an der Zahl der reinen Fälle abgelesen werden; vielleicht gibt es sieüberhaupt nicht.[8] Die Unterscheidung ist folgenreich deshalb, weil beideTypen Entscheidungssprachen ganz verschiedener Art zusammenschließen.Der Unterschied von juristischer Entscheidungstechnik und wirtschaftlicherKalkulation läßt sich auf diesen Gegensatz zurückführen. Und damit sindnicht nur zwei verschiedene Problemlösungssprachen unterschieden,sondern zugleich auch Formen der Argumentation und Konsensbildung, desStudiums und der Forschung, ferner entsprechende Expertengruppierungenund nicht zuletzt auch Ansatzpunkte eines verdeckten Einflusses vonpersönlich oder sozial bedingten Präferenzen des Entscheidenden auf seinErgebnis.

Kein einigermaßen komplexes politisches System kann sichausschließlich auf Zweckprogramme oder auf Konditionalprogrammestützen, aber die Systeme unterscheiden sich sehr grundsätzlich danach,welchem Programmtyp sie den Vorrang geben. Obwohl dieseUnterscheidung sich auf die Verwaltung bezieht, läßt sie sich nicht auf sieisolieren, sondern wirkt zurück auf die Art der politischen Prozesse, die

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sinnvoll sind, auf die Rollen des Publikums und auf das Verhältnis zu denunpolitischen Bereichen der Gesellschaft.

In sehr grober Charakterisierung kann man sagen, daß die»Polizeistaaten« des Absolutismus und heute die Entwicklungsländer mitEinschluß der sozialistischen Planungsstaaten sich primär anZweckprogramme halten.[9] Darin drückt sich eine strukturpolitischeEntscheidung für die Zukunft, und zwar für die Reduktion der Zukunft aufbestimmte zu bewirkende Wirkungen, aus, eine Reduktion, die politischgeleistet und dann durchgehalten werden muß.[10] Der Ideologiebedarfsolcher Ordnungen ist groß, sie tendieren zum Einparteiensystem sowiedazu, alle politische Kommunikation schon im Entstehen auf dievorentschiedenen Zwecke hin zu filtern, damit keine andere Zukunft in Formkonkurrierender Ziele politische Kraft und Brisanz gewinnen kann.Natürlich haben solche Systeme nicht mehr und nicht weniger Zukunft alsandere auch, aber sie sprechen den Tatbeständen der Vergangenheit, derschon reduzierten Komplexität, die Verbindlichkeit ab und müssen sichdaher auf eine reduzierte Zukunft stützen. Im Rechtsstaat, der derkonditionalen Programmierung den Primat gibt,[11] sind die Investitionen derVergangenheit Tatbestände und Rechte, die Entscheidungen auslösen können.Sie legen, allerdings in laufend neuer politischer Überarbeitung, dieBedingungen fest, unter denen das Publikum von der VerwaltungEntscheidungen erhalten kann. Wer sich nicht genug berücksichtigt fühlt,muß und kann politische Forderungen anmelden. Ein solches System mußmit einer unkoordinierten Überflutung durch Programmierungs- undEntscheidungswünsche rechnen, und es beschäftigt seine politischenZentralen und seine Verwaltung weniger mit der Planung der Zukunft als mitder Sichtung und Reduzierung solcher Forderungen, also mit der Absorptiongesellschaftlicher Komplexität. Es gibt in hohem Maße die Kontrolle derProbleme, über die es entscheidet, aus der Hand, weil es seine»Entwicklung« der unprogrammierten »freien Entfaltung aller Kräfte«überläßt, das heißt aller Kräfte, die sich durchsetzen können. Im Grundeleben solche Systeme mit einer ungeplanten, unreduzierten Zukunft, und dasist nur möglich, wenn ihnen Vergangenheit und Gegenwart Sicherheit genuggeben, wenn also im Maßstabe des internationalen Anspruchsniveaus einhoher Stand der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung erreicht ist.

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Strukturentscheidungen dieser Art setzen sich über die Häufigkeit und diehierarchische Höhenlage der Wahl bestimmter Programmtypen in dieVerwaltungspraxis um und prägen den Stil ihrer Rationalität. Gerade in derVerwaltung kann das jedoch nie in einem exklusiven Sinne geschehen. DieSprache der Juristen und die des wirtschaftlichen Kalküls werden stetsnebeneinander gebraucht, mag auch das, was Recht werden kann, und das,was dem wirtschaftlichen Kalkül zugänglich gemacht wird, von System zuSystem differieren. Wir müssen daher auf diese beidenEntscheidungssprachen etwas genauer eingehen, weil es für die besondereRationalität jeder Verwaltung typisch ist, daß sie sich in dieser Weisenochmals differenziert.

Als Prototyp für die Entscheidungsarbeit unter konditionalen Programmendient uns das juristische Entscheiden. Zwar haben nicht notwendig alleKonditionalprogramme rechtlichen Charaker in dem Sinne, daß sie alsProgramm von einer Stelle festgesetzt worden wären, die zur Rechtssetzungbefugt ist.[12] Die Rechtsnormen haben jedoch, zumindest in den politischenSystemen, die sich als Rechtsstaaten verstehen, die Form vonKonditionalprogrammen angenommen, während Zwecke als solche ihrenRechtswert verloren haben.[13] Die Hauptmasse der Konditionalprogramme,die das Gesicht und die Entscheidungsverfahren rechtsstaatlicherVerwaltungen prägen, besteht aus Rechtsnormen, und daher kann dieEntscheidungsarbeit der Juristen als repräsentativ für den Vorgang gelten,den wir untersuchen wollen.

Die besondere Leistung des Juristen ergibt sich aus der schon reduzierten,aber immer noch beträchtlichen Komplexität seinerEntscheidungsprogramme. Diese Komplexität bedeutet nämlich, daß dievorkommenden Tatbestände die Entscheidungen nicht von selbst einrastenlassen, sondern daß dazwischen sinnverdichtende Arbeit geleistet werdenmuß. Sowohl die Informationen als auch die Programme treten zunächst miteiner gewissen Unbestimmtheit in das Blickfeld, mit einem Hof andererMöglichkeiten, der von Fall zu Fall auf eindeutigen Sinn reduziert werdenmuß. Das kann nur geschehen in einem Prozeß der Konfrontierung vonFallinformation und Programm, indem zugleich die Fallinformationsubsumiert und das Programm ausgelegt wird und die Subsumtion dieAuslegung und die Auslegung die Subsumtion anregt. Auf diese Weise wird

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versucht, die Konsistenz des Entscheidens zu wahren und durch Verwendunggleicher Gedankenelemente und Konstruktionen die Voraussicht desEntscheidens zu erleichtern. Dem dienen in gewissem Umfange logischeSchlüsse, vor allem aber abstrakte, nicht programmspezifischeRechtsbegriffe, Denkfiguren und Argumentationsmittel wie subjektivesRecht, Vertrag, Eigentum, Vertretung, Vorsatz, Fahrlässigkeit, Natur derSache, Gleichheit, Verwaltungsakt, Gefährdungshaftung usw., welche dietheoretische Substanz des Rechts ausmachen, gelernt werden können und, dasie nicht programmspezifisch gelten, neuen Rechtsprogrammen oft durchbegriffliche Vermittlung unvorhersehbare Folgen geben. Die eigentümlicheRationalität dieser juristischen Entscheidungsarbeit ergibt sich mithin nichtaus dem Grade ihrer logischen Korrektheit, sondern aus ihrer Funktion,daraus nämlich, daß sie die Komplexität des normativ geregelten Feldesvon Möglichkeiten auf bestimmte Entscheidungen reduziert und dabei dieKonsistenz des Entscheidens in gewissem Umfange zu wahren versteht.

Die Entscheidungsarbeit des Juristen kann unter diesen Umständen nichtallein als ein Abarbeiten der Einzelfälle nach fest vorgegebenenProgrammen begriffen werden, sie ist immer, wenn es sich umproblematische Entscheidungen handelt, zugleich eine Bearbeitung desProgramms selbst. Eine strenge Trennung von Rechtssetzung undRechtsanwendung, wie sie postuliert und in der Begründung der juristischenEntscheidung selbst dargestellt wird, ist in Wirklichkeit nicht möglich.[14]

Die Trennung von programmierender und programmierter Entscheidungdurch Ausdifferenzierung einer besonderen Gesetzgebung aus demrichterlichen Entscheidungsprozeß ist eine Kunstleistung spätererRechtsentwicklungen, die – je nach Komplexität der Materie – nur mehroder weniger sinnentsprechend funktioniert. Sowohl der Bedarf fürsinnverdichtende Entscheidungsarbeit als auch der Bedarf für nichtprogrammspezifische, abstrakte Denkmittel, also gerade das Streben nachKonsistenz, ziehen einer arbeitsteiligen Trennung von Rechtssetzung undRechtsanwendung Grenzen.

Damit stehen wir vor der Frage, woher der Jurist die Motive nimmt, diezur Reduktion der Komplexität über den Programminhalt und die Logikhinaus nötig sind; was ihn, mit anderen Worten, bestimmt, eine von mehrerenjuristisch begründbaren Entscheidungen zu wählen. Dafür gibt es sicherlich

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zahlreiche rollenimmanente Motive[15] – zum Beispiel die Leichtigkeit oderdie Eleganz der Begründung, die Verwendbarkeit eingeübter Floskeln undoft gebrauchter, also leicht erinnerter Präzendenzien; die Anerkennung, dieeine Entscheidung und ihre Begründung bei Kollegen oder Vorgesetzten alsfachliche Leistung oder wegen der gewählten Richtung finden kann; dieMöglichkeit, den Einzelfall zu isolieren und die Norm gegen unübersehbareKonsequenzen für spätere Fälle zu schützen; das Vermeiden komplizierterfaktischer Ermittlungen und Beweiserhebungen, die bei anderenAuslegungen notwendig werden würden; die Absicherung durch eine»herrschende Meinung« und anderes mehr. Die Bedeutung solcherErwägungen muß sehr hoch veranschlagt werden und mindert das Gewichtder oft erhobenen Anklage einer »Klassenjustiz«. Weitere Motive ergebensich aus der Rücksicht auf die »praktischen Auswirkungen« derEntscheidungen, und zwar auch dann, wenn dieser Gesichtspunkt in derBegründung nicht genannt werden kann. Gerade weil nämlich daskonditionale Programm von Ursachen her konzipiert ist, kann es durchVorblick auf die Wirkungen konkretisiert werden (so wie umgekehrtZweckprogramme von den Wirkungen her konzipiert sind und deshalb imEinzelfall Unterschiede der Ursachen, nämlich der Mittel, als zusätzlichesKriterium verwenden).[16]

Rollenimmanente Entscheidungsmotive und Vorblick auf Wirkungenschließen natürlich nicht aus, daß weitere, andersartige Präferenzen zumTragen kommen, ist es doch beim Vorblick auf Wirkungen gerade die Frage,nach welchen Werten die Wirkungen der einzelnen Alternativen als gut oderschlecht ausgesucht werden. Auch die Auswahl nicht exakt programmierterEingangsinformation ist nur mit Hilfe von mehr oder weniger bewußteingesetzten Selektionsregeln möglich. Ob zum Beispiel dieParteifinanzierung mit der Verfassung in Einklang steht oder nicht, ob esbeim Diebstahl ein Strafmilderungsgrund ist, wenn der Täter sich alslangjähriger Kriegsteilnehmer ausgezeichnet hat, und ob die Verdienste umdie industrielle Entwicklung des Landkreises es rechtfertigen, demFabrikanten ein Wochenendhaus im Naturschutzgebiet zu genehmigen, kann,wie immer die Entscheidung ausfällt, nur aufgrund vorgefaßter Wertungenentschieden werden. Hier fließen ohne Zweifel allgemeingesellschaftliche,schichtenspezifische, gruppenspezifische und rein persönliche

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Wertvorstellungen in den Entscheidungsgang ein in einer Weise und in einemUmfang, die empirisch schwer zu ermitteln sind.[17]

Soziologisch bemerkenswert ist weniger, daß solche unprogrammiertenEinflüsse vorkommen, als vielmehr, wie stark sie durch die eingerichteteVernünftigkeit des Betriebs dezimiert und zersplittert werden, zum Beispieldurch die sachliche Schwierigkeit des Entscheidens, durch vorausgegangenefachspezifische Lernprozesse, durch den hohen Grad an Artikulation undNachvollziehbarkeit der Gedankenführung, durch die genanntenrollenimmanenten Entscheidungsmotive und durch eine Art standesethischerKontrolle guter und schlechter Entscheidungen durch die Berufskollegen. Soist gewährleistet, daß Einflüsse dieser Art, auch wenn sie alsReduktionshilfen und Entscheidungserleichterungen unentbehrlich sind,jedenfalls nicht zu einem zuverlässigen Instrument zielgerichteter Herrschaftzusammengefaßt werden und damit zur politischen Führung in Konkurrenztreten können.

Ganz andersartige und doch funktional analog gebildete Probleme tretenbei der wirtschaftlichen Kalkulation auf. Diese setzt Zweckprogrammevoraus. Sie sucht die Konsistenz des Entscheidens zu erreichen, indem sievon sinnvollen Zwecken ausgehend die Mittel so wählt, daß möglichstwenig nachteilige Nebenfolgen entstehen und möglichst wenig andereMöglichkeiten blockiert werden. Im Idealfalle einer »optimalen«Entscheidung werden sämtliche Folgen sämtlicher Alternativen verglichen,und die günstigste wird gewählt. Das setzt sowohl für den Vergleich alsauch für die Auswahl Quantifikation, praktisch also Geldrechnung, voraus.Die vieldiskutierten Grenzen der Optimierung in privatenWirtschaftsbetrieben können wir hier nicht erörtern. Für öffentlicheVerwaltungen mit ihren komplexen, unausgeglichenen Wertstrukturen undihrer umfassenden politischen Folgenverantwortung sindOptimierungsrechnungen praktisch nicht oder nur unter nicht akzeptierbarenVereinfachungen durchführbar.[18] Damit scheidet die Möglichkeit aus,einzig-richtige Lösungen mit rein rationalen, intersubjektiv zwingendüberzeugenden Methoden aus vorgegebenen Programmen abzuleiten. Ebensowie im Bereich der Jurisprudenz gibt es auch hier nicht die Möglichkeit,allein durch Logik und ohne programmierte Zwischenbewertungen zu einerEntscheidung zu kommen.[19]

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Das heißt aber nicht, daß der Folgenvergleich nicht auch in deröffentlichen Verwaltung praktiziert, methodisiert und rationalisiert werdenkönnte.[20] Ein Ausmerzen von bestimmten unwirtschaftlichen Lösungen istzum Beispiel immer möglich. Auch lassen sich Nebenforderungen, etwaKosten- und Zeitgrenzen, formulieren, denen die zweckwirksameEntscheidung außerdem noch genügen muß, und solcheBrauchbarkeitsbedingungen können mit der Erfahrung variiert, alsoangezogen bzw. abgeschwächt werden, je nachdem wie viele Möglichkeitensie offenlassen bzw. wie sehr sie das Entdecken geeigneter Lösungenerschweren.[21] Auf diese Weise werden in die programmiertenEntscheidungsprämissen zusätzliche Erfordernisse hineingebaut, mit denenandere Entscheidungsbereiche ausgespart, unterstützt oder gegenRückwirkungen abgesichert werden, in dem Sinne etwa, wie eineStraßenführungsplanung zwar kostensparend durchgeführt werden soll,trotzdem aber Naturschutzgebiet A umgehen, dem Industriegebiet B eine guteAnfahrt eröffnen, Enteignungen möglichst vermeiden und noch weitereBedingungen erfüllen soll.

Immer wenn keine einzig-richtige Problemlösung garantiert werden kann,tritt das Problem der zusätzlich-selektiven Motive auf – wie in derjuristischen Entscheidungsarbeit, so auch bei der wirtschaftlichenKalkulation. Einerseits ist die Mehrheit akzeptierbarer (begründbarer bzw.zweckgeeigneter) Lösungen eine notwendige Entscheidungserleichterung;nur wenn das in Kauf genommen wird, kann das System eine Struktur mithohem Potential für Komplexität erhalten. Andererseits zwingt die Mehrheitder brauchbaren Möglichkeiten zur Auswahl einer von ihnen. Damit werdenUnterschiede der Organisation und des Kommunikationswesens, wirdMacht, werden persönlich oder sozial bedingte Motive des Entscheidendenentscheidungsrelevant.[22] Sie wirken sich auf das Ergebnis desEntscheidungsprozesses aus. Auch im Bereich der Zweckprogrammierungkönnen also Kalkülmodelle des Entscheidens, wenn sie ein praktisch inbegrenzter Zeit durchführbares Verhalten vorzeichnen wollen, nicht völliggegen externe, unprogrammierte Einflüsse allgemeingesellschaftlicher,schichtenspezifischer, gruppenspezifischer und persönlicher Art abgedichtetwerden. Die Absorption solcher Einflüsse gehört zur Rationalität desEntscheidens mit dazu, wenn man darunter die Erfüllung der Funktion und

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nicht bloß die Beachtung bestimmter Regeln der Logik versteht.Bei einer genaueren Analyse beider Programmformen und

Entscheidungssprachen haben sich, so können wir zusammenfassen,spürbare Grenzen der Programmierbarkeit des Entscheidens und seinerintersubjektiv zwingenden Rationalisierung gezeigt. Diese Grenzen dürfenindes nicht voreilig als Grenzen der erreichbaren Rationalität derVerwaltung genommen werden, jenseits deren persönliche Willkür, Zufallund Irrationalität begännen. Man muß einen Überlaufeffekt der fachlich-beruflichen Orientierung veranschlagen, der das Bemühen um Konsistenzdes Entscheidens auch dort hinträgt, wo Logik und methodisch strengeEntscheidungsmodelle versagen. Auch die logisch unhaltbaren Schlüssewerden im Gesamtrahmen einer professionellen Orientierung nochdiszipliniert vollzogen und stellen sich einer Kritik mit verringertemAnspruchsniveau.

In diesem Sinne ist der entscheidungswissenschaftliche Sachverstand derBürokratie nicht nur angewandte Wissenschaft, sondern auch eine politischeInstitution. Sicher muß man diesen Sachverstand vielschichtiger sehen, alsMax Weber es tat. Die »lokale« Kenntnis von Zuständen und Personen,Erwartungen und mutmaßlichen Widerständen, Vorgeschichten undEntscheidungsprogrammen mit ihren spezifischen Tücken ist einunentbehrliches Arbeitsplatzwissen eigener Art. Es läßt sich jedoch nicht indem hier gemeinten Sinne professionalisieren.[23] Die relevantenempirischen Wissenschaften, namentlich Psychologie und Soziologie, stehender Verwaltung ziemlich fern. Sosehr die Verwaltung ihre Beiträge zurSachverhaltsklärung hin und wieder zu schätzen weiß, sowenig könnendiese Disziplinen nach ihrem methodischen Selbstverständnis und dem Gradihrer Komplexität Träger eines reduktiven Entscheidungswissens werden.Das gilt auch für die politische Soziologie in dem Sinne, der diesenUntersuchungen zugrunde liegt. Im übrigen scheiden diese empirischenWissenschaften wegen ihrer Themenbreite für eine verwaltungsspezifischeProfessionalisierung aus. Eine besondere Verwaltungswissenschaft hat sichbisher trotz mancher Ansätze weder theoretisch[24] noch institutionell[25]

fixieren lassen.[26] Die fachliche Professionalisierung der Bürokratie wirddaher zunächst noch von jenen Disziplinen getragen, die sich speziell mitder Ausarbeitung und Darstellung von Entscheidungen befassen, im

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kontinentalen Europa hauptsächlich von der Jurisprudenz. Das politischeSystem bleibt hier auf die Leistung eines im Fachlich-Beruflichen geeintenTeilsystems der Gesellschaft angewiesen, das der Politik gegenüber immereine gewisse Eigenständigkeit bewahrt hat.[27]

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17. Kapitel

Programmatik und Opportunismus

Das vorige Kapitel hat den Blick für die Grenzen der Programmierbarkeitvon Entscheidungen geschärft. Auch Programmierung ist nur einEntscheidungsprozeß und kann als solcher unmöglich alle Komplexitätselbst schon absorbieren; sie entscheidet nur über Entscheidungsprämissenanderer Entscheidungen, ohne diese als ganze vorwegzunehmen. DieseGrenzen der Programmierbarkeit lassen sich noch unter einem anderenGesichtspunkt erläutern. Sie weisen auf einen Bedarf für opportunistischesVerhalten hin, dessen eigentümliche funktionale Rationalität besondershervorgehoben werden muß, weil sie im Lichte der herrschendenEntscheidungstheorien nicht leicht erkennbar ist.[1]

Das Problem des Verhältnisses von Programmatik und Opportunismusmuß zunächst mit der nötigen Schärfe und Grundsätzlichkeit alsSystemproblem begriffen werden. Es handelt sich nicht lediglich um jeneTatbestände, die in der klassischen Organisationslehre mit den BegriffenDelegation und Ermessen eingekreist wurden, also nicht einfach um diekompetenzmäßige Sicherung eines Entscheidungsspielraums, von dem manannahm und forderte, daß er in Übereinstimmung mit vorgegebenen,programmierten Normen und Zwecken ausgefüllt werden würde. Es gehtvielmehr um diese Übereinstimmung selbst. Opportunistisch ist einVerhalten, das sich an wechselnden Präferenzen orientiert, alsowiderspruchsvolle Programme verwendet, indem es einmal diesem, einmaljenem Wert auf Kosten der anderen bevorzugte Aufmerksamkeit zuwendet.

Sobald soziale Systeme eine bestimmte Schwelle der Komplexitätüberschreiten, können und müssen sie sich zwar noch mit bestimmtenWerten identifizieren und diese als legitime mögliche Zieleinstitutionalisieren, aber sie können nicht bestimmte transitiveRangverhältnisse zwischen diesen Werten festlegen. Deren Rangordnungmuß vielmehr auf die Situation bzw. den jeweiligen Erfüllungsstand alleranderen anerkannten Werte relativiert werden.[2] Besonders ein politisches

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System, das sich der Reduktion gesellschaftlicher Komplexität widmet, kanngar nicht umhin, nach wechselnden Präferenzen zu entscheiden. Es brauchteine komplexe, widerspruchsvolle Wertstruktur mit Raum für unbestimmte,nicht festgelegte Prioritäten.[3] Es kann sich nicht allgemein und ein fürallemal darauf verpflichten, Kultur für wichtiger zu halten als Hygiene oderFreiheit für wichtiger als Frieden, sondern muß die Möglichkeit haben,kulturelle Ziele auf Kosten wirtschaftlicher, wirtschaftliche auf Kostenmilitärischer und militärische auf Kosten kultureller Ziele zu verfolgen,familiäre Probleme aus religiösen Gründen ungelöst zu lassen, abertrotzdem ein Erziehungssystem zu fördern, das die religiösen Grundlagender Familie untergräbt usw. Je komplexer und widerspruchsreicher dieWertstruktur ist und je höher der Erfüllungsstand aller einzelnen Werte,desto rascher muß das System seine Präferenzen wechseln, destoopportunistischer muß es handeln können, um in einem beschleunigtenTurnus alle Werte auf Kosten aller fördern zu können. Erreicht dieseDynamisierung der Gerechtigkeit ein bestimmtes Tempo, wird siewahrnehmbar. Dann läßt sich kaum vermeiden, daß sie die Motivkraft derEntscheidungsprogramme untergräbt. Der Opportunismus muß dann alsEinstellung legitimiert, als Verfahren rationalisiert und als Funktioninstitutionalisiert werden.

Die Einbeziehung opportunistischer Orientierungen in eine umfassendeTheorie der Verwaltungsrationalität ist auch deshalb notwendig, weil manzumindest im Bereich der Zweckrationalität gar nicht rationalisieren kann,ohne sich in künstlich verengte und daher ausgleichsbedürftige Positionen zubegeben.[4] Jede Zwecksetzung beruht auf einer abdunkelndenNeutralisierung anderer Wertaspekte der Folgen des Handelns.[5] DerZweck dient dann zwar als ein relativ invarianter Gesichtspunkt für denVergleich verschiedener Mittel, aber er leistet dies nur, sofern er bestimmtegeschätzte Wirkungen isoliert – ein Vorgehen, das nicht für alleLebenssituationen eines Systems durchgehalten werden kann. Es istprinzipiell unmöglich, vergleichbare, funktional äquivalenteHandelnsalternativen in den Blick zu bekommen, ohne Werte zuneutralisieren, die man hochschätzt und in anderen Zusammenhängenweder neutralisieren kann noch will, noch muß. Die Zweckrationalitätkann daher als Typus der Programmierung nur ausgebaut und zu immer

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größerer Komplexität und Präzision verfeinert werden, wenn die Zweckenicht in scheinkonsistenten Zweck/Mittel-Hierarchien alten Geprägesfestgelegt und alle daraus resultierenden Konflikte dann dem Menschenzugerechnet werden,[6] sondern ein bewußt kontrolliertes opportunistischesVerfahren des Wechsels von Präferenzen oder des simultanen Gebrauchswiderspruchsvoller Programme hinzukommt.[7]

Leistungsfähiger Opportunismus ist demnach ein Bestandserfordernisaller Sozialsysteme mit einer komplexen, widerspruchsreichenWertordnung, besonders aber politischer Systeme, die in einer starkdifferenzierten Umwelt hohe Fähigkeiten zur Absorptionwiderspruchsvoller Forderungen und sozialer Konflikte ausbilden müssen.Andererseits steht das Gebot der Institutionalisierung opportunistischerVerhaltensweisen im Widerspruch zu anderen Bestandserfordernissen; seineVerwirklichung hat daher dysfunktionale Folgen im System. Opportunismusschwächt die Überzeugungskraft der einzelnen Werte und Programme,schwächt also die Motivation. Er sabotiert außerdem die funktionale undstrukturelle Trennung von Politik und Verwaltung, deren Grenzlinie jagerade durch den Akt der Programmierung gezogen wird. In dem Maße, alsdie Verwaltung sich opportunistisch orientiert, gerät sie in denFunktionskreis der Politik. Um ein volles Verständnis der strukturellenSpannungen in sehr komplexen politischen Systemen zu erreichen, muß mannicht nur der Programmorientierung und ihren immanenten Schwierigkeitennachgehen und nicht nur die Institutionen betrachten, die einopportunistisches Verhalten legitimieren oder doch ermöglichen, sondernaußerdem auch klären, wie der Widerspruch zwischen beidenSystembedürfnissen verkleinert wird.

Zunächst muß festgehalten werden, daß Opportunismus keineswegsimmer und ausschließlich die Form einer offensichtlich widerspruchsvollenProgrammierung oder Programmausführung annimmt. Opportunistisch sindauch schon all die Bemühungen, die nur der Erhaltung der Opportunitätdienen. Sie richten sich nicht direkt auf inkonsistente Ziele, sondern strebennur danach, die Möglichkeit eines Wechsels der Präferenzen sicherzustellen.Die Bewahrung der Liquidität eines Privatunternehmens ist eine solcheStrategie,[8] die Erhaltung eines ideologisch nicht festgelegten Potentialspolitischer Macht eine andere. Die Bemühungen um die Pflege von

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Vertrauen und guten Beziehungen, von gesellschaftlichem Prestige oderhohem Status haben ebenfalls diesen Sinn, Entscheidungen, und damitendgültige Wertfestlegungen, hinauszuschieben und doch sicherzustellen.Alle Sozialsysteme, die einen Teil ihrer Kräfte von der unmittelbarenZweckverfolgung abziehen und der Pflege solcher Kapitalien oderEntscheidungsfreiheiten widmen, suchen damit einen Ausgleich zwischenProgrammbindung und Opportunität, zwischen gegenwärtiger Wertfestlegungund der Möglichkeit zu noch unbestimmter künftiger Disposition, ohne ihrejeweiligen Programme durch offene Widersprüche zu diskreditieren. Mannimmt einfach hin, daß neben der Zweckverwirklichung auch für Liquidität,Public Relations, Macht usw. gesorgt werden muß.[9]

Für die Lockerung der Spannung zwischen Programmatik undOpportunismus scheint ferner wesentlich zu sein, daß in denOrientierungsweisen des Systems Werte und Programme deutlichunterschieden und voneinander abgesetzt werden.[10] Auch Programme sindselbstverständlich wertbesetzte Entscheidungsprämissen. Zwecke ebensowie Normen werden als Gesichtspunkte für das Bevorzugen bestimmterHandlungen vor anderen, also als Werte, erlebt. Nur so können sie ihreFunktionen erfüllen, nämlich Komplexität reduzieren und das Handelnorientieren. Programme, die Wertrelationen eindeutig definieren, müssenaber in einem komplexen Sozialsystem änderbar sein. Über ihnen muß esdeshalb eine Schicht von relativ invarianten Wertgesichtspunkten geben, dieals feststehend und allgemeingültig weithin akzeptiert, alsoinstitutionalisiert sind, die aber eben deswegen nicht in ein eindeutigesRangverhältnis zueinander gebracht werden können. Hygiene, Naturschutz,Arbeitszeitverkürzung, wissenschaftliche Forschung, Sicherung einesminimalen Lebensstandards für alle, Mutterschutz,Verwaltungsvereinfachung sind einige Beispiele für aktuelle positivgeschätzte, Jugendkriminalität, Geldentwertung, Verkehrstote,Wasserverschmutzung Beispiele für negative Werte, die heute soinstitutionalisiert sind, daß niemand Gefahr läuft, Widerspruch zu findenoder sich lächerlich zu machen, wenn er sich öffentlich und politisch fürbzw. gegen sie einsetzt. Andere Systeme pauschalieren ihre Werte nochstärker und heben sie damit noch mehr von der Programmebene ab, bejahensozialistischen Aufbau, Völkerfrieden, nationale Unabhängigkeit usw. bis

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hin zu abstrakten Symbolen wie Wahrheit und Gerechtigkeit, mit denen mansogar das Selbstverständnis des Menschen in der Welt noch als Wert zuformulieren sucht.

Ohne sicher zu sein, für was überhaupt man sich öffentlich einsetzen undZustimmung finden kann, könnte niemand eine politische Diskussionbeginnen, werbend auftreten, Programmvorschläge formulieren. Für dieseVorstrukturierung der Diskussion ist es notwendig, daß bestimmte Werte imPrinzip langfristig und allgemein konsentiert vorliegen, und sie müssendeshalb als Einzelwerte isoliert und unabhängig von einem Rangverhältniszwischen ihnen »gelten«. Über die Beziehungen zwischen Werten kann dannnur auf einer konkreten Ebene, nämlich durch Programmierung, entschiedenwerden mit Hilfe allgemeiner Mechanismen wie Macht oder Geld. Zudieser Programmierung gehört, daß sie durch Entscheidung erfolgt (währendWerte nicht durch Entscheidung in Geltung gesetzt werden) und daß siedurch Entscheidung änderbar ist. Wird die Änderbarkeit der Programmezum Prinzip, tritt damit zutage, daß die jeweils benachteiligten Werte nur imAugenblick und nur in einer speziellen Relation zurückgestellt sind, also nurvorläufig in gewissen Hinsichten nicht zum Zuge kommen; sie werden nichtin ihrer Geltung bestritten, nicht als Werte abgelehnt, ihre Vertreter nicht alsPersonen disqualifiziert. Auch nichtberücksichtigte Werte können dannfestgehalten und bei nächster Gelegenheit mit um so mehr Recht vorgebrachtwerden; sie gelten fort und werden durch eine Reihe von Benachteiligungenzu um so größerer Dringlichkeit aufgestaut. Wenn es gelingt, Werte undProgramme in dieser Weise zu trennen, kann also gerade die Variabilitätder Programme dazu dienen, die Stabilität der Werte zu sichern. DieWertkonflikte werden dann in ein zeitliches Nacheinander aufgelöst und inihrer diskreditierenden Schärfe abgemildert. Es braucht immer nur überaugenblickliche Prioritäten entschieden werden. Man ist den Vertreternanderer Werte gegenüber tolerant und mutet ihnen nur Wartezeiten zu.

Die Änderbarkeit der Entscheidungsprogramme der Verwaltung, ihrerNormen und Zwecke, findet freilich spürbare Grenzen darin, daß imPublikum Entscheidungserwartungen sich bilden, festsetzen und zumKristallisationspunkt weitreichender Handelnspläne und Investitionengemacht werden. Jede Änderung kann dann unübersehbare Rückwirkungenund schwer abzuschätzende Folgeschäden nach sich ziehen. Je größer die

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internen Interdependenzen, desto empfindlicher ist ein System gegenÄnderungen.[11] Eine gewisse vorbeugende Abhilfe bietet dierechtstechnische Möglichkeit, von vornherein klarzustellen, obprogrammabhängige Positionen Bestandsschutz genießen werden oder nicht.Die juristische Unterscheidung von subjektiven Rechten und Reflexrechten(besser Rechtsreflexen) hat diesen Sinn.[12] Das genügt aber nicht, dennauch Programme ohne juristisch verbindliche Zusagen können sehr oftdadurch ausgenutzt werden, daß man sich auf sie verläßt.[13] Das politischrelevante Bestandsinteresse kann und wird im Regelfalle weiter gehen alsdas juristisch relevante. Im normalen politischen Leben differenzierterGesellschaften wird deshalb die Erhaltung (bzw. die nur unmerklich-gleichmäßige Entwertung) des Status quo ein wesentliches, diePlanungsrechnung vereinfachendes Prinzip werden, das dann auch alsmoralisch gut nachempfunden wird. Jede Änderung muß in einer solchenOrdnung politisch und programmatisch nicht als Umverteilung, sondern alsVerbesserung in bestimmten Hinsichten dargestellt werden.[14] Alleopportunistischen Strategien finden im Status quo einen Ausgangspunkt vonbegrenzter Komplexität, und sie versuchen zu operieren, ohne dieseGrundlage anzutasten. Der »Besitzstand« wird garantiert als konsenssichereBasis, von der aus Aufwärtsbewegungen und Zuwachsquoten diskutiert undgeregelt werden können. Das Ausmaß des möglichen Opportunismus hängtdann vom Umfang disponibler Überschüsse ab, die frei verteilt werdenkönnen.

Ein in dieser Weise opportunistisch angetriebener Entwicklungsfortschrittdurch kleine und wechselnde Wertgewinne in allen politisch relevantenHinsichten ist nicht in jeder Art von System realisierbar. Er wird ermöglichtoder doch begünstigt durch bestimmte Strukturen außerhalb und innerhalbder Verwaltung, die dieser besonderen Weise des Umgangs mit hoherKomplexität entgegenkommen. Zwei dieser Strukturbedingungen sollenherausgegriffen und erörtert werden, weil sie in besonderem Maße für dieöffentliche Verwaltung der Bundesrepublik typisch zu sein scheinen,nämlich eine pluralistische Machtstruktur in der politisch relevantenUmwelt der Verwaltung und ein Verwaltungssystem, das mehr mitZuteilungsentscheidungen als mit Befehlen und Eingriffen befaßt ist.

Eine pluralistische Wertstruktur ist nur durch eine pluralistische

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Machtstruktur lebendig zu halten. Sie setzt voraus, daß jedes Interesse, dasals Wert formuliert werden kann, im Prozeß der politischenInformationsverarbeitung seinen Sprecher findet. Sowenig wie abweisende,zurückstellende oder nur teilbefriedigende Programmentscheidungen denbetroffenen Wert selbst negieren, sowenig nehmen sie seinen Sprechern dieMöglichkeit, erneut vorzusprechen, wenn die Konstellation sich geändert hatund die Umstände glücklicher erscheinen. Der Pluralismus derWertordnungen kann nicht allein durch die politischen Parteien garantiertwerden, denen die Funktion der Generalisierung und der Integration zufällt.Nur ein vielfältiges, politisch nicht ignorierbares System von freizusammengeschlossenen Interessenverbänden vermag eine laufendeBeobachtung und Analyse des Prozesses der Programmierung unter sehrspezifischen Wertaspekten zu gewährleisten und zugleich genügend Macht,Erfahrung und Beziehung zu akkumulieren, um im Einzelfall mit Nachdruckbestimmte Werte ins Gespräch bringen zu können. Nur unter dieserVoraussetzung können die politischen Zentralen sich die Szene durch dieAnnahme vereinfachen, daß alles in Ordnung ist, wenn sich niemandmeldet.[15] Nur unter dieser Voraussetzung ist »Warten auf Protest« einesinnvolle politische Maxime.

Der Funktion solcher Interessenverbände im Verwaltungsgeschehen kannman nicht gerecht werden, wenn man Werte und Interessen in einenGegensatz bringt, jene etwa dem Staat und diese der Gesellschaftzuordnend, jene mit dem Gemeinwohl, diese aber mit der Privatsphäreidentifizierend. Einen solchen Gegensatz gibt es nicht. Jeder Wert, auch das»Gemeinwohl«, ist als Einzelgesichtspunkt eine Abstraktion, die zumUnrecht wird, sobald man sie generell und exklusiv zu behaupten sucht. Siekann nur überzeugen, wenn sie als vermittlungsfähig dargestellt wird.[16]

Das Problem liegt in der Ordnung dieses Vermittlungsvorgangs, diesicherstellen muß, daß alle Werte, deren politische Relevanz man nichtschlechthin bestreiten kann, sich im Prozeß der Entscheidungsfindungmelden und hin und wieder Berücksichtigung finden können. Dieunterschiedliche Durchsetzungskraft der Interessenvertreter mag einÄrgernis sein, besonders wenn ihr Erfolg sich nicht auf den Rang ihrerWerte beziehen läßt. Das größere Übel ist jedoch, wenn das politischeSystem überhaupt nicht in der Lage ist, eine hinreichend komplexe,

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widerspruchsreiche Wertkonstellation opportunistisch zu bearbeiten,sondern sich aus Mangel an Kapazität an eine ein für allemalvorentschiedene Werthierarchie klammern muß.

Interessenverbände suchen Einfluß nicht nur auf die Politik, sondern auchauf die Verwaltung. Sie suchen den Weg, der sie so früh wie möglich undzugleich so unmittelbar wie möglich an dem Prozeß der Anfertigungbindender Entscheidung beteiligt, mag dieser seinen Ausgangspunkt in derPolitik oder in der Verwaltung haben. Dieses Ziel läßt sich je nach denUmständen mehr im Kontakt mit der einen oder der dominierenden oder derfür spezifische Interessen aufgeschlossenen Partei oder im Kontakt mit denbürokratischen Institutionen, besonders durch Zugang zu einflußreichenAbgeordneten des Parlaments oder zu nahestehenden Ressorts derMinisterialbürokratie, verwirklichen. Wenn es sich um sehr spezielle Wertehandelt, müssen die Kontakte relativ früh und bei fachlich spezialisiertenoder untergeordneten Stellen der Verwaltungshierarchie angesetzt werden.Dort wird dann versucht, Konsens zu bilden, der in den weiterenverwaltungsinternen Verhandlungen mit dem Anspruch auf Unantastbarkeitauftritt. Nicht selten fungieren dann die Kontaktstellen der Verwaltungsystemintern als Sprecher der Interessen, mit denen sie sich verständigthaben[17] – sei es, daß sie als deren Kontaktmänner in die Verwaltunghineingekommen sind, sei es, daß sie ihre Umweltpartner nicht verstimmenwollen, sei es, daß sie sich ihnen gegenüber als effektiveVerhandlungspartner erweisen wollen, sei es, daß sie sich scheuen, dieschwierigen Verhandlungen mit den Interessenverbänden erneutaufzunehmen. Die Position der Kontaktstellen ist besonders dann stark,wenn die anderen am Entscheidungsprozeß beteiligten Verwaltungsstellen –etwa die Vorgesetzten oder die anderen Ressorts – die Fäden zu dieserbesonderen Umwelt der Sportverbände oder des Bergbaus, derLehrerverbände oder des ADAC nicht in der Hand haben und daher auf dieKontaktmittler angewiesen sind. Solche Außenkontakte verselbständigen dieUntergebenen gegenüber ihren Vorgesetzten, entziehen insbesondere dieBeamten der politischen Leitung, wenn ihr Gelingen nicht durch Weisungsichergestellt werden kann, sie also oben nicht dirigierbar sind. DieChancen spezieller Interessenverbände beruhen somit in weitem Umfangedarauf, daß in komplexen Systemen die Außenkontakte nicht an der Spitze

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zentralisiert werden können, sondern daß Umweltkonsens durch Ressortsund durch untergeordnete Stellen gesucht und dann wie ein Faktum, das denEntscheidungsspielraum einengt, hinaufgereicht werden muß. Zugleichbedeutet das aber auch, daß die Interessenten sich eine opportunistischeVermittlung durch das vertikale und horizontale Kommunikationsnetz derVerwaltung gefallen lassen müssen, soweit nicht »ihr Mann im X-Ministerium« über delegierte Entscheidungskompetenzen verfügt.[18]

Nimmt die Notwendigkeit opportunistischer Entscheidungsfindung in derVerwaltung zu, kann es schließlich erforderlich werden, strukturelleKonsequenzen zu ziehen, und zwar vor allem: die Verwaltung zudesorganisieren. Externe Alliancen werden dann zu internenEntscheidungsfaktoren im Verwaltungsverfahren, und mehr als derhierarchische Standort entscheiden diese äußeren Beziehungen über dasinnere Durchsetzungsvermögen eines Beamten. Nicht die Einheit derVerwaltung wird dann zu ihrem Leitbild, sondern ihr »repräsentativer«Charakter. Nicht die politische Kontrolle einer gut integrierten Struktur vonoben schützt dann gegen Mißbrauch der Kompetenzen, sondern dieNotwendigkeit, in einem pluralistisch-konkurrierenden Gefüge Koalitionenzu bilden, um Entscheidungen zu erreichen. Darauf müssen nicht zuletzt auchdie Formen der Rekrutierung abgestimmt werden, die sicherzustellen haben,daß jedes legitimierbare Interesse in der Verwaltung seine Sprecher findet.[19] Eine solche Ordnung mag den europäischen Verwaltungsfachmannbefremden und als unmoralisch abstoßen. Es ist jedoch wichtig zu erkennen,daß auch sie nicht nach dem Prinzip schrankenloser Beliebigkeit konstruiertist, ihre inneren Konsequenzen hat und in ihr sich zum Beispiel eine strafforganisierte Hierarchie, die befehlsmäßig zu regieren versuchte,verhängnisvoll auswirken müßte.

Wie weit auch immer man in dieser Richtung gehen mag, auf jeden Fallnimmt in einer wertkomplexen Sozialordnung, in der allgemeineRangrelationen zwischen Werten nicht institutionalisiert werden können, derKonsensbedarf des politischen Systems zu. Konsens kann die Klärung derWertverhältnisse ersetzen. Vor der Entscheidung eingeholte Zustimmung derbetroffenen Interessenten erübrigt es, sich nach der Entscheidung durchBerufung auf Werte zu rechtfertigen. In dem Maße, als die Durchsetzunggetroffener Entscheidungen selbstverständlich wird, verlagert sich die

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Problematik in den Prozeß ihrer Vorbereitung. Wo Widerstand sinnlos wird,muß Einfluß gesucht werden. Die Möglichkeit, unabhängig von derZustimmung des Publikums verbindliche Entscheidungen zu treffen, wirdnicht in Zweifel gezogen. Überall aber, wo Spielraum für Opportunismusbesteht, vor allem also bei der Vorbereitung von Entscheidungsprogrammen,wird es zur Verlockung, Wertfragen als Konsensfragen zu behandeln und zulösen. Konsensbedarf und Strukturbedarf, Opportunismus und Programmatikmüssen nach Möglichkeit harmonisiert werden, und das kann nur geschehen,wenn man sie in den Prozeß der Ausarbeitung programmierenderEntscheidungen einbringt und durch die Wahl des Programms ausgleicht.Das Programm sucht dann erreichbaren Konsens und zugleich dieKonsistenz des Entscheidens zu maximieren. Darauf beziehen sich Strategieund Taktik der Entscheidungsvorbereitung: Die Vorgeschichte derwechselseitigen Standpunkte und Äußerungen, die Autorität derRechtsprechung und der Wissenschaft, die Gutachten »unabhängiger«Beiräte, die Möglichkeiten akzeptierbarer öffentlicher Darstellung, dasbegrenzte Kontakt- und Kommunikationspotential etwaiger Gegner – alldiese und andere Gesichtspunkte werden zu Mitteln, mit denen man sichwechselseitig zu überspielen und in Positionen zu manövrieren sucht, vondenen Konsens erteilt werden muß oder doch jedenfalls störender Dissensnicht mehr formuliert werden kann. Die Programmvorbereitung stellt dannso hohe Anforderungen an Zeit, Umsicht und Verhandlungsfähigkeit, daß dasParlament auch aus diesen und nicht nur aus fachlichen Gründen seineEntscheidungen nicht mehr allein vorbereiten, sondern diese Aufgabe ingroßen Teilen an die Exekutive delegieren muß. Ohne Zweifel nimmt dieVerwaltung unter dem Druck dieser Anforderungen Elemente politischenHandelns in sich auf.[20]

Der Druck jener Überkomplexität widerspruchsreicher, nuropportunistisch auszugleichender Wertbeziehungen steigert nicht nur denKonsensbedarf, er färbt darüber hinaus den vorherrschendenEntscheidungsstil der Verwaltung um. Vor allem finden Verwaltungen, dieunter solchen Umweltbedingungen arbeiten müssen, es leichter, durchZuteilungsentscheidungen als durch Eingriffsentscheidungen zu regieren, undsie ziehen Geldüberweisungen dem Befehl als Kommunikationsform vor.Keine Verwaltung kann natürlich ganz auf den einen bzw. anderen

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Entscheidungstyp verzichten, aber deutliche Schwerpunktverlagerungen vonder Eingriffsverwaltung zur Zuteilungsverwaltung lassen sich zum Beispielim politischen System der Bundesrepublik beobachten.

Die Verwaltungsrechtsliteratur[21] hat diesen Wandel am aufmerksamstenbeobachtet, weil er die traditionellen, eingriffsabhängigenRechtsschutzformen zu unterminieren droht. Als Grund gibt sie an, dieKomplexität der Gesellschaft habe zugenommen, die Autarkie des einzelnenabgenommen, so daß der Staat mehr und mehr nicht nur eingreifend undverhindernd, sondern auch leistend und ausgleichend tätig werden müsse.Das ist richtig; aber die Art und Weise, in der sich die hohe Komplexitätund Interdependenz gesellschaftlicher Vorgänge in verwaltungsinterneEntscheidungsprobleme umsetzen, muß genauer geklärt werden.

Zunehmende Interdependenz der gesellschaftlichen Leistungen führt dazu,daß Teilsysteme und Prozesse, die Störungen verursachen, immer weniger inder Lage sind, die Störungen auch zu beseitigen. Automobilfabriken bauenkeine Straßen. Das führt dazu, daß mehr entscheidungsbedürftige Problemeauftreten, daß es also zu der vielbeklagten rein quantitativen Aufgaben- undPersonalvermehrung der Verwaltung kommt.[22] Diese Vermehrung bedeutet,daß die Schwerpunktverlagerung von Eingriffs- aufZuteilungsentscheidungen nicht in Form einer Umstellung vorhandenerAufgaben vor sich geht, sondern in der Form einer unterschiedlichenZunahme der beiden Entscheidungstypen. Hohe Interdependenzen in derUmwelt bedeuten ferner, daß das schadenstiftende Potential vonSondereingriffen steigt und in vielen Fällen unübersehbar wird.[23] DieBelastung der Gesellschaft durch ihr politisches System muß dahermöglichst generalisiert und berechenbar gemacht werden, alsohauptsächlich die Form von allgemein gesetzlich geregeltenHandlungsbeschränkungen und langfristig festliegenden Steuern annehmen,während spezifische Wirkungen mehr durch Förderung als durch Belastungbestimmter Interessen erzielt werden müssen.[24] Auch deshalb werden diezuteilenden Entscheidungen stärker zunehmen als die belastenden. Dazukommt schließlich, daß hohe Interdependenz auch als Spezifikation derWerte und Interessen in Erscheinung tritt, und darauf muß die Verwaltungihren Entscheidungsstil und ihren Koordinationsmechanismus einstellen.

Befehlsverwaltungen sehen ihr Problem in der Integration von

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Handlungen, die auf direkt unvereinbare Werte oder Zwecke gerichtet sind.Sie lösen durch Entscheidung Widersprüche, die als unmittelbareSinnwidersprüche erlebt werden. Zuteilungsverwaltungen befassen sichdagegen mit Widersprüchen, die nur aus der Knappheit von Mitteln folgen.[25] Sie haben infolgedessen hohe Toleranz für Sinnwidersprüche in denZwecken und Werten und können daher in einer sehr komplexen,pluralistischen Umwelt operieren. Das ist für Befehlsverwaltungenschwieriger – und zwar nicht nur ihres Problems, sondern auch ihresProblemlösungsmittels wegen. Eingriffsentscheidungen beruhen auflegitimer Macht, auf einem Kommunikationsmedium also, das sich wederquantifizieren noch teilen, sondern nur als Ganzes einsetzen läßt. JederGebrauch legitimer Macht läßt das politische System selbst in Erscheinungtreten und muß im Konfliktfall zentral verantwortet werden. Daher setztMachtgebrauch im Grunde eine regulierende und begrenzendeWertkonzeption des öffentlichen Interesses voraus, die zu projizieren und zuvertreten den modernen, funktional spezifisch organisiertenEntscheidungsbürokratien sichtlich schwerfällt. Dazu kommt, daßStaatsmacht im Konfliktfalle stets Übermacht ist und daher über ihreGrenzen im unklaren bleibt. Der Informationsrücklauf ist bei Anwendungvon Befehlsgewalt relativ gering.[26] An der Aufnahme einzelnerEntscheidungen lassen sich die Schranken der Befehlsgewalt nicht testen;sie werden erst sichtbar, wenn die Legitimität zerstört ist und es zumAufstand kommt. Auch aus diesen Gründen muß im Bereich derMachtanwendung die Bürokratie ihre Grenzen in sich selbst finden, undzwar in der Form ideologisch konsistenter Entscheidungsgrundlagen, derenWerte in der Umwelt institutionalisiert sind. Im Bereich derMachtanwendung ist aller Opportunismus besonders heikel, und dieKoordinationsprobleme begrenzen die erreichbare Komplexität desSystems.

Zuteilungsentscheidungen haben demgegenüber bessere Annahmechancenaußerhalb und beweglichere Koordinationsmöglichkeiten innerhalb derVerwaltung. Akzeptiert werden sie vom Begünstigten als Vorteil und vonden anderen, weil die Belastung sie nicht direkt als Folge einerEinzelentscheidung trifft. Koordiniert werden sie hauptsächlich durch denGeldmechanismus, nämlich durch die Grenze einer quantitativ vorgegebenen

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Summe. Das Ausmaß der tragbaren Gesamtbelastung der Gesellschaft durchihr politisches System wird zentral, also unter politischer Kontrolle,festgesetzt und durch den Haushalt auf Einzelaufgaben verteilt. Die Teilungder Summe kann, weil es eine Summe ist, ohne sachliche oder garrangmäßige Abstimmung der geförderten Werte erfolgen und bedeutet dochwechselseitige Rücksicht in dem Sinne, daß nicht für jeden Wert alle,sondern eben nur begrenzte Mittel zur Verfügung gestellt werden. Dieseformale Koordination ermöglicht mithin ein hohes Maß an Spezialisierungund Zweckaussonderung mit variablen Rangverhältnissen. Die häufigformulierte Erwartung, man solle im Rahmen der Haushaltsberatungen dieZwecke in ihrem allgemeinen Wertverhältnis zueinander abwägen,überfordert nicht nur die Praxis,[27] sondern steht auch im Widerspruch zudem Bedürfnis, die Komplexität der Verwaltung zu steigern, damit sie einerkomplexen Gesellschaft besser gerecht werden könne.[28] Nicht überWertrangbeziehungen und allgemeine Prioritäten, sondern sehr viel formalernur über ein aufgezwungenes Knappheitsbewußtsein wird die zuteilendeVerwaltung koordiniert, und die Schranken ihres Handelns ergeben sichweder aus dem Widerstand ihrer Umwelt noch aus dem sachlichen Sinneiner zusammenfassenden gemeinsamen Wertordnung, sondern aus denKosten. Diese Art Begrenzung ermöglicht eine Rationalisierung durchRechnung nach den Regeln eines Nullsummenspiels: Ausgaben müssen mitdem Haushaltsansatz in Übereinstimmung gebracht werden, wobei jedebestimmte Ausgabe in entsprechender Höhe die Möglichkeit andererAusgaben blockiert.

Diesem Stil des opportunistischen Zuteilens paßt die politischeBeeinflussung der Verwaltung sich an. Sind in der VerwaltungMöglichkeiten bereitgestellt, auf diese Weise zu verbindlichenEntscheidungen zu kommen, verlockt das die Politiker, sie im direktenZugriff zu benutzen und sich darauf zu konzentrieren, die Haushaltsmittelzugunsten bestimmter Werte zu erhöhen oder herabzusetzen, um aus denReben der Verwaltung politischen Wein zu ziehen. Die unentbehrlichenEntscheidungserleichterungen der Verwaltung werden dann zur Basis, aufder Politik und Verwaltung sich unter relativ geringen Anforderungen anrationale Kalkulation verständigen. So kann man beobachten, daßparlamentarische Ausschüsse, die sich primär an politischen Erfolgen

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orientieren, über formale Regeln ebenso wie über sich einbürgerndeBeteiligungsgewohnheiten sich in die Ausgabenentscheidungen derExekutive einschalten,[29] und natürlich wird auch ein einzelnerAbgeordneter, der die reichlichere Dotierung eines Haushaltstitelsdurchgesetzt hat, kaum verschlossene Türen finden, wenn er wegenbestimmter Ausgabenwünsche im Ministerium vorspricht. Zum Druck derInteressenten von unten kommt der Druck der Politik von oben, ohne daß dieVerwaltung immer verhindern könnte, daß beide Druckrichtungen auf einenPunkt konvergieren. Kommt es zu solchem Konvergieren, dann wird dieVerwaltung aus dem Prozeß der Entscheidungsfindung ausgeschaltet und nurnoch zur Legitimierung und Verlautbarung der getroffenen Entscheidungbenutzt.

Diesen bedenklichen Erscheinungen wird man mit ernstlichenErmahnungen und moralischen Appellen kaum beikommen können. Eshandelt sich nicht in erster Linie um eine Sache des guten Willens. Vielmehrgehen die behandelten Probleme auf ein strukturell angelegtes, im Prinzipalso unvermeidliches Dilemma der Verwaltung zurück,[30] dasfolgendermaßen definiert werden kann: Die Entscheidungserleichterungen,welche die Verwaltung braucht, um Probleme von hoher Komplexitätentscheiden zu können, geben zugleich der Umwelt Macht über sie. Wirhatten bereits im vorigen Kapitel gesehen, daß in dem Maße, als dieEntscheidungsprogramme der Verwaltung Raum geben für mehrere richtigeLösungen, die Motivationsstruktur der Verwaltungsangehörigen, also einebestimmte personale Umwelt der Verwaltung, für dasEntscheidungsergebnis relevant wird. Das gleiche Bild bietet dernotwendige und zugleich nicht unbedenkliche Opportunismus bei derVorbereitung der Entscheidungsprogramme. In dem Maße, als eineVerwaltung sich einem Opportunismus wechselnder Wertbefriedigungenhingibt, der hohe Komplexität erfaßt und wenig »andere Möglichkeiten« imvoraus ausschließt, öffnet sie sich den Einflüssen der Umwelt, die völlig zuRecht den Verwaltungsangehörigen die Verwaltung dieses weiten Ermessensstreitig macht. Soweit die Verwaltung sich selbst das Entscheidenerleichtert, verliert sie nämlich ihre guten Argumente, mit denen siezudringliche Umweltpartner abwehren kann. Sie vermag dann nicht mehrüberzeugend klarzustellen, weshalb eine Entscheidung nur so und nicht

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anders getroffen werden darf.Zuviel Komplexität kann, mit anderen Worten, die Verwaltung allein nicht

verkraften. Damit die Verwaltung ihren eigenen, funktional spezifischenBeitrag zur Reduktion von Komplexität erbringen kann, muß zuvor dieallgemeine Komplexität der Gesellschaft in gewissem Umfange schonreduziert sein. Die Funktionsfähigkeit anderer Teilsysteme des politischenSystems und der Gesellschaft im ganzen ist eine Leistungsbedingung auchder Verwaltung. Das führt auf die allgemeine systemtheoretische Grundthesezurück, daß das Vermögen eines Systems zur Erfassung und Reduktion vonKomplexität nur durch interne Differenzierung, das heißt nur dadurch, daßdas System selbst komplex wird, gesteigert werden kann. Diese Thesebewahrheitet sich hier an ihrer Umkehrung: daß die Überlastung einesTeilsystems mit Komplexität, nämlich ein zu hoher Opportunismus, dieinnere Systemdifferenzierung gefährdet und sehr drastische, kurzgeschalteteSystemgrenzen ignorierende Reduktionsmittel nahelegt.

Trifft diese systemtheoretische Interpretation des Dilemmas vonProgrammatik und Opportunismus den Kern des Problems, dann folgtdaraus, daß letztlich nur die Gesamtordnung des politischen Systems dasProblem wenn nicht lösen, so doch so weit abmildern kann, daß es in derVerwaltung lösbar wird. Die Last der Reduktion von Komplexität muß aufPublikumsrollen, Politik und Verwaltung verteilt werden in einer Weise, diejedem dieser Teilsysteme in seiner eigenen Umweltlage unter je anderenVoraussetzungen, Informationsbeständen und Rationalitätskriterien einensinnvollen Teilbeitrag ermöglicht. Und es muß Kommunikationsformengeben, mit denen sich reduzierte Komplexität, bereits erfolgte Selektion undInformationsverdichtung, von einem Teilsystem auf das andere übertragenläßt. Nur als Teil des politischen Systems ist die Verwaltung in der Lage, fürihre spezifische Funktion der Anfertigung richtiger, nämlich konsistenterEntscheidungen die notwendige Autonomie zu gewinnen.

Für die Verwaltung kann diese allgemeine Systembedingung schärfergefaßt werden als Problem der politischen Planung ihrerEntscheidungsprämissen. Den Entscheidungsprogrammen muß durchpolitische Planung eine Form gegeben werden, die denverwaltungsrationalen Entscheidungssprachen der konditionalen und derzweckrationalen Programmierung hinreichenden Rückhalt bietet. Nur dann

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kann von der Verwaltung erwartet werden, daß sie das fortbestehende oderverkleinerte Dilemma von Programmatik und Opportunismus selbst löst.Nur dann findet sie im selbstgemachten positiven Recht und in gutdurchkalkulierten Zweckprogrammen genügend überzeugende Gründe, umexterne Einflußnahmen abzuwehren, die nicht im Programm selbstvorgesehen und auch nicht bereit sind, durch Änderung der Programmepolitische Verantwortung zu übernehmen.

Damit ist indes nur der eine, verwaltungsseitige Aspekt politischerPlanung erfaßt, der nicht dominieren kann, ohne das Schwergewicht impolitischen System auf die Bürokratie hin zu verlagern. Nicht nur diePlanungsresultate, sondern auch ihre Bedingungen im politischen Milieusind zu beachten. Es handelt sich um eine Grenzfunktion zwischen Politikund Verwaltung, die beiden Bereichen verpflichtet ist. Den Gesamtkomplexder politischen Planung können wir daher erst abhandeln, nachdem wir unseine Vorstellung der besonderen Funktion und Wirkungsweise politischerProzesse verschafft haben – eine Aufgabe, der wir uns nunmehr zuwenden.Ein Kapitel über politische Planung wird den nächsten Teil beschließen.

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IV. Teil

Politik

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18. Kapitel

Funktion der Politik

Im Vergleich zu den Handlungen der »Staatsorgane«, des »government«,also des Bereichs, den wir hier als Verwaltung bezeichnen, haben dieeigentlich politischen Prozesse sehr viel geringere Prominenz undSichtbarkeit und deshalb auch in sehr viel geringerem Maße ungeteiltewissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Das wissenschaftlicheInteresse für Parteien, zum Beispiel, gewinnt erst in diesem Jahrhundert[1]

an Intensität, und noch heute fehlt eine durchgearbeitete Theorie derpolitischen Prozesse als eines Teilsystems des politischen Systems.[2] DerGrund für diese Unterbelichtung des Bereichs der politischen Prozesse isteine Frage wert.

Sicherlich liegt es nicht allein daran, daß Politik hinter verschlossenenTüren gemacht wird und Einblick in die verräucherten Fraktionszimmeroder Parteibüros für Außenstehende nur schwer zu gewinnen ist. Auch dieVerwaltung bereitet ja ihre Entscheidungen weitgehend unter Ausschluß derÖffentlichkeit vor, und die Politiker treten ihrerseits gern mit ausgewähltenund abgestimmten Darstellungen an die Öffentlichkeit. ÖffentlicheDarstellung ist in beiden Bereichen ein Problem, das nur nachnichtöffentlicher Vorbereitung gelöst werden kann. Der Unterschied anaugenfälliger Bedeutsamkeit geht vielmehr darauf zurück, daß das politischeSystem als Ganzes seinen Sinn und den Kulminationspunkt seinesKommunikationskreislaufes in der Publikation bindender Entscheidungenfindet und daß dies ausschließlich Sache der Verwaltung im breiten,Legislative, Exekutive und Justiz umfassenden Sinne ist – und nicht Sacheder Politik. Die Entscheidungen produzierenden Staatsorgane stehen imBlickpunkt der Öffentlichkeit, während die Politiker sich bemühen müssen,diese Organe zu besetzen, um aus der dort erreichbaren Prominenzpolitischen Nutzen zu ziehen.

Zur öffentlichen Sichtbarkeit der Verwaltungsrollen trägt ferner bei, daßsie als Rollen besonderer Art in hohem Maße aus der Gesellschaft

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ausdifferenziert sind, ihnen ihr Handeln also eindeutig zugerechnet werdenkann. Bei den rein politischen Prozessen der Artikulation von Interessen unddes Vorantreibens von Forderungen, der Verdichtung, Generalisierung undVerbreitung politischer Themen, der Bildung und Konsolidierung vonMacht, Konsens und politischer Unterstützung für Personen und Programmeist eine solche rollenmäßige Absonderung des Handelns weniger deutlicherkennbar und, historisch gesehen, jüngeren Datums. Systeme bürokratischerHerrschaft hatten sich schon längst konsolidiert, als die politische Funktiondes Aufbaus legitimer Macht noch gesellschaftlich institutionell garantiertwar. Durch die »Natur« rechtlich-moralischer Selbstverständlichkeiten,durch Krone und Altar erfüllt und gegen weitere Fragen abgedeckt, wurdedie politische Funktion zunächst nicht als Bedarf für besondere spezifischfunktionale Leistungen erlebt. Auch hier scheint die gesellschaftlicheEntwicklung es vermieden zu haben, zu viele Schritte auf einmal zu machen:Die alte Welt hatte Muster der Bürokratie und der Demokratie an getrenntenOrten hervorgebracht, und die Neuzeit baute sie nacheinander auf.

Jene institutionell verankerten, unbeweglich-traditionalen Grundlagenpolitischer Herrschaft werden jedoch gesprengt, sobald das politischeSystem eine gewisse Schwelle der eigenen Komplexität überschreitet,sobald es nämlich die Herrschaft über seine eigenenEntscheidungsprämissen antritt und damit autonom wird. DieseEntwicklung, die im 10. Kapitel über »Autonomie und interneDifferenzierung« des politischen Systems eingehender dargestellt wordenist, macht eine neue, abstraktere und unbestimmtere Systemstrukturnotwendig, die nicht nur das Entscheiden, sondern auch das Entscheidenüber die Prämissen des Entscheidens noch regulieren kann. Einerseits mußjetzt die Verwaltung selbst so rationalisiert sein, daß sie trotz eineslaufenden und »normalen« Wechsels von Programmen und Personen ihreKontinuität und ihre Leistungsfähigkeit nicht verliert. Das wird vor allemdurch eine abstraktere Stellenstruktur erreicht, die eine Änderbarkeit derAufgaben, Kompetenzen, Personen und Kommunikationsweisen in allenStellen ermöglicht. Zum anderen kann die politische Unterstützung desEntscheidens nicht mehr als institutionell vorgegeben unterstellt werden,weil sie sich ja auf variable Entscheidungsprämissen beziehen soll. Sie mußnun von Fall zu Fall zusammengebracht, also im politischen Leben bewußt

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geleistet werden. Politik wird zu einem Entscheidungsvorgang eigener Art.Die Steigerung der Verwaltungsleistung zu hoher Komplexität undVeränderlichkeit ihrer Thematik setzt eine entsprechende Mobilisierung undBeeinflußbarkeit des Publikums voraus. Es müssen im täglichen Lebenüberhaupt Verhaltensalternativen, also Freiheiten, gegeben sein, diereguliert werden können. Das Verhalten muß in gewissem Umfange ausaskriptiven, durch Natur oder Geburt festliegenden Bindungen gelöst sein,soll das politische System die Möglichkeit haben, sich gesellschaftlich nichtnur zerstörend oder unterdrückend, sondern sinnvoll regelnd auszuwirken.Wenn es in erheblichem Umfange zur Regelung des täglichen Lebens durchEntscheidungen des politischen Systems kommt, die als solche mitgeteiltwerden, läßt sich jedoch die offene Komplexität anderer Möglichkeitennicht durch die Entscheidungsrollen allein absorbieren. Es wird dannöffentlich sichtbar, daß auch anders hätte entschieden werden können, undso wird die politische Unterstützung der Verwaltung durch ihr Publikum einProblem. Zwangsgewalt allein reicht, wenn sie nicht durch alternativenloseSelbstverständlichkeiten gestützt wird, nicht aus, um die Legitimität desEntscheidens zu sichern. Politische Unterstützung kann jetzt gewährt oderversagt werden. Über sie muß also ebenfalls entschieden werden. Eine neueArt politischer Beweglichkeit des Publikums wird unvermeidlich. Das aberheißt, daß dafür entweder entscheidungsfähige politische Rollen desPublikums geschaffen werden müssen oder daß die Entscheidungsfreiheitdem Publikum laufend wegsuggeriert werden muß. In jedem Falle entstehtneben dem Problem der Variabilität verwaltungsmäßigerEntscheidungsprämissen und mit ihm zusammen das andere Problem desmöglichen Fluktuierens politischer Unterstützung.

Es liegt auf der Hand, daß die Ausnutzung des immer wiederprogrammierbaren Entscheidungsspielraums der Verwaltung einerseits unddie Veränderungen der Bereitschaft zu politischer Unterstützung andererseitsnicht von selbst gleichsinnig laufen. Je größer die im System erfaßte undrealisierbare Zahl der Möglichkeiten ist, desto größer ist auch die Gefahrder Desintegration. Die Politik hat die Aufgabe, ein solchesAuseinanderlaufen zu verhindern. Wenn die Komplexität des politischenSystems steigt, kann das Problem dieser Integration nicht mehr invariantenInstitutionen, aber auch nicht allein dem Zufall in Gestalt der öffentlichen

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Meinung oder des Auftretens überzeugungskräftiger Führer überlassenwerden. Politik muß als Teil des laufenden Staatsbetriebes, aber außerhalbder Verwaltung, rationalisiert und systematisiert werden. DieseNotwendigkeit steht hinter dem »Zwang zur demokratischen Form«, demalle modernen politischen Systeme ausgesetzt sind; sie sollen daher auchden Kern einer Theorie der Demokratie ausmachen.

Die Erfüllung dieser Funktion durch Arbeit obliegt vor allem denpolitischen Parteien, die als ständige Organisationen aufgebaut sind, umdem Wechsel der Personen und Programme, Werte und Loyalitäten einenfesten Rahmen und einen Zusammenhang mit der erreichbaren politischenUnterstützung durch das Publikum zu gewährleisten. Die Bedeutung dieserLeistung politischer Prozesse außerhalb der bürokratischen Verwaltung läßtsich besonders an den Gefahren ablesen, denen ein so exponiertes,ausdifferenziertes und autonom gesetztes politisches System ausgesetzt ist:Starke Steigerung und Zentralisierung der politischen Macht trifft mit demVerlust alter gesellschaftlicher Rollenbindungen, die zugleich Sicherheit undsoziale Kontrolle gewährten, und mit beträchtlicher Mobilität politischerUnterstützung zusammen. Die Bezugspunkte ebenso wie die Quellen derUnterstützung geraten in Bewegung. Die Presse verstärkt denNeuigkeitswert und Bedrohungseffekt aller Ereignisse, die diese Variabilitätreduzieren. Jedem, der Zeitung liest, wird so der Eindruck einerpermanenten Krise in seinem Interessenbereich vermittelt. Daraus könnensehr leicht Bewegungen entstehen, die lawinenartig anschwellend dasausgewogene Gefüge funktional spezifischer Leistungendurcheinanderbringen und das System auf primitivere Stufen derEntwicklung zurückwerfen – seien es Tendenzen zur Politisierung derGesamtgesellschaft, also zur Aufhebung ihrer funktionalen Differenzierung,sei es ein unkontrollierbarer Ausbruch politischer Leidenschaften inRevolutionen oder fanatisierten Massenbewegungen.[3] Um solchenStörungen, für die stark differenzierte Systeme typisch anfällig sind,rechtzeitig vorzubeugen, müssen die Bedingungen ständig überwachtwerden, unter denen einer Verwaltung politische Unterstützung gewährt undihr sozusagen der Gebrauch des Siegels »verbindliche Entscheidung«überlassen werden kann. Auf dieses Problem bezieht sich die Arbeit derPolitik. Ihr ist an ihrer einen Grenze die Variabilität der politischen

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Unterstützung durch Publikumsrollen, an ihrer anderen Grenze dieVariabilität der Entscheidungsprämissen der Verwaltung vorgegeben. Sieerhält ihre spezifische Funktion überhaupt nur dadurch, daß in diesen ihrenbeiden Umwelten solche Variabilitäten institutionalisiert sind, und sie hatdann dafür zu sorgen, daß die Änderungen in den beiden Umwelten nichtunkoordiniert verlaufen.

Diese Funktion der Politik ist sehr viel komplexer undanforderungsreicher, als die älteren Theorien der Volkssouveränität, derRepräsentation oder des Volkswillens als letzter Ursache aller öffentlichenGewalt es sich vorzustellen vermochten. Es handelt sich nicht lediglich umein Problem der Machtverteilung (unter der Voraussetzung, daß einekonstante Machtsumme gegeben sei) und auch nicht nur umEffektübertragungen aus dem einen Bereich in den anderen, also nicht nurdarum, dem »wahren Willen des Volkes« gegen eine tyrannische,eigensüchtige oder phlegmatische Herrschaft zum Erfolg zu verhelfen oderumgekehrt eine Tyrannei der Mehrheit über Minderheiten zu verhindern.[4]

Vielmehr muß die politische Informationsverarbeitung damit rechnen, daßihre Ausgangspunkte und Ziele unabhängig voneinander variabel sind, unddoppelseitige Variabilität heißt unvermeidlich: hohe unbestimmteKomplexität. Alle politisch relevanten Informationen müssen in einemHorizont fluktuierender Unterstützungsbedingungen und zugleich in einemHorizont veränderlicher Programmierungsmöglichkeiten gelesen werdenund erhalten in bezug auf diese Horizonte anderer Möglichkeiten erst ihrenInformationswert. So kann es in der Politik stets nur vorläufig tragfähigeKonstruktionen geben, die dadurch zustande kommen, daß zweiVariationsreihen aufeinander bezogen werden und füreinanderGesichtspunkte der Selektion definieren, daß man also Programme nach dererreichbaren Unterstützung aussucht und zugleich um Unterstützung fürmögliche Programme wirbt.

Wesentlich ist dabei, daß beide Arten von Variabilität nicht unabhängigvon den politischen Prozessen bestehen können. Die politischeUnterstützung kann nur dann in Form von Publikumsrollen, zum Beispielsolchen des politischen Wählers, mobilisiert werden, wenn es Politik gibt;und ebenso setzen die Positivierung des Rechts und der Zwecke und dieStellenstruktur der Verwaltung voraus, daß es Politik gibt. Daher sind auch

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die Änderungen in jenen beiden Umwelten der Politik nicht etwas, was sichohne Mitwirkung der Politik vollziehen kann. Die Politik bestimmt nichtallein, aber sie bestimmt mit, was die politische Unterstützung desPublikums findet und was für die Verwaltung zur Entscheidungsprämissewird. Nur dadurch ist es ihr möglich, eine Vermittlungsposition einzunehmenund ihren Einfluß an der einen Grenze nach Maßgabe der Bedingungen ihreranderen Grenze auszuüben. Der Einfluß der Politik auf ihre beidenUmwelten ist aber selbst eine variable, keine konstante, als festeEntscheidungskompetenz vorgegebene Größe. Der Einfluß auf die eineUmwelt hängt nämlich vom Einfluß auf die andere ab und umgekehrt, undbeide Einflußkapazitäten sind nur in Beziehung aufeinandersteigerungsfähig. Die Politik kann mehr und generellere Unterstützung desPublikums aktivieren, wenn sie in der Lage ist, mehr Wünsche desPublikums in der Verwaltung durch Fixierung vonEntscheidungsprogrammen unterzubringen; und umgekehrt kann sie dieVerwaltung stärker und präziser beeinflussen, wenn sie ihre politischeUnterstützung für einen weitgefaßten Programmbereich garantieren und siedamit von anderen gesellschaftlichen Kräften unabhängig machen kann.Auch insofern ist für die Politik ein Agieren unter den Bedingungen hoher,unbestimmter Komplexität typisch: Sie muß, um wirken zu können, stetsWirkungen voraussetzen, die sie noch nicht bewirkt hat, also mit ihremErfolg spekulieren. Politisches Handeln ist, schon durch seineStrukturbedingungen, riskantes, erfolgsabhängiges, vertrauensvolles,Kredite und Informationen überziehendes Handeln.

Diese Überlegungen geben uns zugleich den Schlüssel für eine genauereAnalyse der Funktion des Teilsystems politischer Prozesse. Die Situationder Politik ist insgesamt zu komplex und zuwenig strukturiert, als daß jederArt von politischem Einfluß ohne weiteres der Charakter legitimer Machtoder gar verbindlicher Entscheidung zukommen könnte. Bevor legitimeMacht angewandt werden kann, muß sie erst geschaffen werden. Erst wenndie volle Komplexität der Möglichkeiten des politischen Systems – zumBeispiel der Möglichkeit, jedes beliebige Recht zu setzen oder jedenbeliebigen Zweck zu verfolgen – auf das wirklich Mögliche reduziert ist,kann legitime Macht als weiterführender selektiver Mechanismus eingesetztwerden. Zugleich wird in dem Prozeß der Reduktion jener unbestimmten

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Komplexität auf faßbare Themen und entscheidbare Alternativen politischeMacht aufgebaut.

Macht ist nämlich, wie wir im letzten Teil unserer Untersuchungeneingehender ausführen werden, die Generalisierung der Relevanz einzelnerReduktionsleistungen: Daß eine wenig gewinnträchtige Landwirtschafterhalten werden müsse, daß eine bestimmte außenpolitische Entwicklungals bedrohlich zu gelten habe, daß der Abgeordnete X der künftigeVerteidigungsminister sei, soll nicht eine Einzeläußerung bleiben, sondernauch von anderen, auch zu anderen Zeitpunkten und in anderenSachzusammenhängen unterstellt werden, und wenn sichergestellt ist, daßdies geschieht, wird die einzelne Kommunikation zum Träger von Macht.Solche Generalisierung setzt Struktur voraus. Sie kann nicht im Nebel, woalles möglich ist, vollzogen werden und auch nicht in unübersehbarenSituationen, wo weder Konsequenzen noch Alternativen, noch abverlangteOpfer vorausgesehen werden können, die mit einer solchen Reduktionverbunden sind. Vielmehr können die Chancen, Macht zu bilden, nurwachsen mit dem Ausmaß an verarbeiteter, reduzierter Komplexität.

Politische Prozesse haben eine spezifische Funktion für die Legitimationder Macht.[5] Sie bauen legitime Macht dadurch auf, daß sie jeneunbestimmte, übermäßige Komplexität reduzieren, die im politischenSystem strukturell angelegt ist, und sie reduzieren diese Komplexitätdadurch, daß sie Macht aufbauen. Beide Aspekte gehören zusammen, sindzwei Seiten ein und desselben Vorgangs. Ihre Kongruenz definiert dasWesen der Politik, nämlich ihre spezifische Reduktionsweise. ImArtikulieren und Verallgemeinern von Interessen und Werten, in derBeschaffung von Konsens und in der Konsolidierung konsenssichererVertretungsmacht, in der semantischen Arbeit an politischen »Themen«, inder Mobilisierung von Unterstützung für Kandidaten oder Sachvorschläge,beim Lernen und Erproben politischer Geschicklichkeiten, in der Pflege desAnsehens von Organisationen und Positionen und durch vielerlei andereähnliche Strategien wird in einem Zuge legitime Macht aufgebaut undKomplexität reduziert. Der Vorgang hat sehr deutlich einen anderen Stil alsdie wissenschaftliche Forschung, die künstlerische Gestaltung, die religiöseGlaubensvergewisserung oder die juristische Entscheidungsfindung; docheines ist all diesen Reduktionsweisen gemeinsam: Sie eliminieren andere

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Möglichkeiten durch die je besondere Art, wie sie Sinnzusammenhängestiften.

Steigt im politischen System die Komplexität und Variabilität in dembeschriebenen Sinne, kann die Legitimität der Macht nicht mehr durch»Natur« oder durch »Geschichte« – also mit Hilfe von Institutionen, dieschon reduzierte Komplexität präsentieren – gewährleistet werden, sondernnur noch durch laufende Arbeit. Diese Arbeit muß im politischen Sinneselbst vollzogen und organisiert werden. Legitimität wird von derOrganisation von Verfahren abhängig und, vor allem in der liberalenStaatstheorie, ausdrücklich darauf bezogen. Legitime Macht ist jetzt, wieBourricaud[6] glücklich formuliert, »un pouvoir qui accepte ou même quiinstitue son propre procès de légitimation«. Auch darin erscheint die neueAutonomie und Ausdifferenzierung des politischen Systems, daß Legitimitätnicht einfach auf feststehende Gesellschaftsstrukturen gegründet werdenkann, sondern im politischen System selbst erarbeitet werden muß, einVorgang, der durch laufende Kommunikationsprozesse auf die Umwelt despolitischen Systems, die Gesellschaft, rückbezogen und an ihr kontrolliertwird.

Wenn in der Politik legitime Macht erst konstituiert werden soll, kann diePolitik noch nicht legitim sein. Was geleistet werden soll, darf nicht schonvorausgesetzt werden. Politisches Handeln ist daher noch nicht verbindlichund noch nicht legitim, und es muß die in diesem »noch nicht« steckendenChancen zu nutzen verstehen. Der Politiker kann, sofern er nicht im Amte alsStaatsorgan handelt und verbindlich entscheidet, die Vorteile desVorläufigen, Parteilichen, Oppositionellen seiner Äußerung, also besondereverbale Freiheiten in Anspruch nehmen. Er kann Themen lancieren, Werteproklamieren, Symbole polieren, ohne sich damit schon gleich aufProgramme festzulegen. Er braucht niemandem weh zu tun, es sei dennanderen Politikern, und kann unter dem Schutze der Unverbindlichkeit mitwohlklingenden Worten und einem umfassenden Förderungswillen an dieÖffentlichkeit treten. So kann er versuchen, Konsens zu kapitalisieren undPositionen aufzubauen, ohne sich auf sehr spezielle Verwendungen dieserMacht festzulegen. Andererseits muß er auf Erfolg aspirieren undEntscheidungsgewalt anstreben. Er nimmt den Erfolg vorweg, arbeitet mitihm und projektiert das, was er tun würde, wenn er zu entscheiden hätte. So

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ist er genötigt, sich ständig aufs Ganze und aufs Wertvolle hin zuüberanstrengen. Das zwingt ihn zwar nicht zu genauer Kalkulation undMitteilung der Kosten seiner Vorschläge, wohl aber zur Generalisierungallzu spezifischer Interessen und Werte. Die Politik ist und bleibtParteipolitik und ist als Äußerung eines Teils ohne Kraft und Verbindlichkeitfür das Ganze; aber sie ist doch Politik einer Partei, die vorgibt und sichvornimmt, das Ganze repräsentieren zu können.

Politische Systeme unterscheiden sich sehr wesentlich danach, wie und inwelcher Form sie es vermögen, diesen Widerspruch einer regierungsfähigenPartei strukturell auszudrücken und in der Praxis auszunutzen.Einparteiensysteme oder ihnen nahekommende politische Ordnungen suchentypisch den Widerspruch zu unterdrücken und eine »Integration von Parteiund Staat« zu erreichen. Daß es nur eine Partei gibt, ist so paradox, daß derWiderspruch nicht mehr als solcher empfunden wird, sondern die Begriffeverändert. Dabei kann man je nach Färbung der Ideologie mehr die Partei ander Legitimität der Verwaltung oder die Verwaltung an der Parteilichkeit derPartei teilnehmen lassen. Das Verhältnis von Politik und Verwaltung wirddann wie das einer Doppelbürokratie unter dem Gesichtspunkt zweckmäßig-harmonischer Arbeitsteilung begriffen. Mehrparteiensysteme sind eherbereit, der Politik den noch nicht legitimen, parteilichen Standpunkt zubelassen. Sie lösen den Widerspruch ins Zeitliche auf, indem sie jedepolitische Herrschaft einer Partei als vorläufig und widerruflich ansehen.Eine Partei oder Parteigruppe kann dann nicht als organisiertes Systemeigener Art, sondern nur kraft politischer Unterstützung für eine bestimmtePolitik legitime Macht beanspruchen Der Zauber der Verwandlung desParteilichen in das Legitime wird durch Konsens des Volkes erklärt – wasnatürlich auch eine Art ideologische Leugnung des Widerspruchs ist.

Aber der Widerspruch bleibt bestehen, wie immer man ihn darstellen undweginterpretieren mag, denn er ist im Reduktionsprozeß selbst begründet.Weder durch Paradoxierung zur »einen Partei« noch durch Perpetuierungder Unzulänglichkeit im Auftrage des Volkes läßt der Widerspruch sichbeseitigen, obwohl die Form seiner Darstellung nicht ohne Bedeutung fürseine praktische Behandlung ist. Letztlich gehört die Spannung zwischenParteilichkeit und Legitimität zu den großen und fruchtbaren Widersprüchendes politischen Systems, und zwar zu jenen strukturell angelegten

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Widersprüchen, mit denen das ursprüngliche Problem übermäßiger,unbestimmter Komplexität erfaßt und ins Praktikable umgeformt wird. DieNotwendigkeit, Parteilichkeit in Legitimität zu transformieren, um Macht zugewinnen und erhalten zu können, setzt sich also gleichsam als handlicheres,instruktiveres Ersatzproblem an die Stelle des ursprünglichen Problemsübermäßiger Komplexität.

Mit dieser Transformation der Problemstellung wird bereits ein ersterSchritt zur Absorption von Ungewißheit getan, ein Schritt, der die Politikzugleich verstrickt in ideologische Vorurteile über die Wertrichtungen, indenen, und über die Symbole, mit denen Legitimität gewonnen werden kann.Die soziologische Analyse kann diese Ideologiebindung zwar hintergehen,indem sie nach deren Funktion fragt und damit das Problem übermäßigerKomplexität als Bezugsproblem wieder aufdeckt. Aber das bedeutet nur,daß unter dem Gesichtspunkt dieser umfassenden Problematik verschiedeneIdeologien als funktional äquivalent vergleichbar werden, nicht aber, daßder Wertbezug als Handlungsorientierung schlechthin ersetzt werden könnte.Die Soziologie konfrontiert jedes Engagement mit Alternativen, sie klärt undverunsichert es dadurch, aber sie erübrigt es nicht.

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19. Kapitel

Umweltlage, Sprache und Eigenständigkeit der Politik

Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung trennt das politische System vonRollen, die der unmittelbaren Befriedigung von Bedürfnissen dienen,weitgehend ab. Politik ist kein Vergnügen, hat wenig damit zu tun, wie manVorräte sammelt, sich wärmt, sich bildet oder zu Frauen kommt. Daspolitische Handeln hat sich im großen und ganzen auf den Umgang mitWorten und Symbolen bestimmter Art spezialisiert. Die gesellschaftlicheAusdifferenzierung ist die Vorbedingung dafür, daß ein System sich aufdiese Art Arbeit spezialisieren kann und mit anderen, nicht auf seine Worteund Symbole zu bringenden Problemen nicht behelligt wird. Zugleich schafftdie Ausdifferenzierung und die damit verbundene Steigerung derKomplexität des politischen Systems Probleme, die nur noch durchbestimmte Arten von sprachlich-symbolischer Informationsbearbeitunggelöst werden können.

Die fragwürdige Legitimität des Parteilichen ist ein solches Problem, dasder Behandlung im Wege der Symbolbearbeitung bedarf. Es tritt erst auf,wenn das politische System und in ihm die Politik im engeren Sinne ingewissem Umfange ausdifferenziert sind und eigene Komplexität gewonnenhaben, und muß dann mit Mitteln gelöst werden, die nur in einem solchenSystem zur Verfügung stehen. Ein volles systemtheoretisches Verständnisdieses Zusammenhanges erfordert, daß man mehreres zugleich im Augebehält: den Vorgang der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und der dazuerforderlichen Innendifferenzierung nach Funktionen, die Steigerung derSpezialisierung im Außenverhältnis und der Komplexität im Inneren, diedadurch gewonnen werden, die Veränderungen in den Problemen undProblemlösungsmöglichkeiten, die damit verbunden sind und derenerfolgreiche Bewältigung diesen Gesamtvorgang erst ermöglicht und alszivilisatorische Errungenschaft stabilisiert. Wir greifen aus diesemGesamtzusammenhang zunächst das Verhältnis von Umweltlage, Spracheund Eigenständigkeit der Politik als eines Teilsystems des politischen

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Systems heraus, um nach dessen Klärung im nächsten Kapitel einenÜberblick über verschiedene Parteisysteme zu gewinnen, die das Problemder Politik lösen und insofern als rational gelten können.

Jedes System, mithin auch jedes Teilsystem des politischen Systems,findet sich in einer objektivierten, allgemeingültigen Welt und außerdem ineiner einmaligen Umwelt, deren Strukturen perspektivischen Charakterhaben, deren Unterschiede von Nähe und Ferne, von Gleichheiten undVerschiedenheiten, von Wichtigem und Unwichtigem, von Vordringlichemund Aufschiebbarem sich aus der besonderen Lage undBestandsproblematik des jeweiligen Systems ergeben. So findet dieVerwaltung sich im politischen System zwischen die Politik und dasPublikum gespannt und außerdem durch eine Außengrenze gegenüber denpersönlichen Interessen und anderen Rollen der Verwaltungsangehörigenabgegrenzt. Die politischen Prozesse müssen zwischen Publikum undVerwaltung abgewickelt werden, und auch in sie spielen, gefiltert durch eineAußengrenze, persönliche Interessen und andere Rollen der Politiker hinein.Die andere Lage, die andere Umweltkonstellation, erfordert und ermöglichteinen anderen Beitrag zur Erhaltung des politischen Systems im ganzen. Ausder besonderen Umweltlage der Politik lassen sich wichtige Hinweise aufihre eigene Systemproblematik und auf die Art und Weise gewinnen, in dersie ihre Funktion erfüllen kann. Dieser Zusammenhang von Systembildung,Umweltlage und Funktion bedarf daher einer sorgfältigen Analyse.

Folgt man der offiziellen Darstellung des demokratischen politischenSystems, so dienen die politischen Prozesse der Transformation desVolkswillens in verbindliche Entscheidungen. Sie fungieren alsWillensübermittler, in der Rolle eines Boten, der die Botschaft zwarkennen, aber nicht verändern darf. So gesehen leistet die Politikstrenggenommen keinen eigenen Beitrag zur politischenInformationsverarbeitung, und deshalb muß auch ihre Außengrenzegegenüber den persönlichen Interessen und anderen Rollen der Politikerhermetisch abgeriegelt sein. Der Wille des Volkes darf auf seinem Wege zurEntscheidung nicht durch persönliche Launen, besondere Beziehungen oderpartikulare Interessen, die dem Politiker persönlich naheliegen, verfälschtwerden.

Dieses Ideal, dem das Ideal der völlig determinierten, Gesetze

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ausführenden Verwaltung entspricht, läßt offen, wie überhaupt etwasgeschieht, wie es überhaupt zu einer verändernden Verarbeitung vonInformationen, zu einer Reduktion von Komplexität kommt. Dargestellt wirdalso im Grunde ein statisches Ideal – und dies natürlich, um die Dynamik zuverbergen. In seiner Statik hat das Ideal die wichtige Funktion, den Bestanddes ganzen politischen Systems als Ausfluß des Volkswillens zusymbolisieren. Es weckt dadurch politisches Vertrauen, gibt ein Gefühl derSicherheit und der Kontrollierbarkeit des Geschehens[1] – aber es ist wederals Beschreibung noch als Analyse der Wirklichkeit brauchbar.

Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß dieses Ideal der Demokratiekeineswegs aus der Luft gegriffen ist, sondern in bestimmter Weise mit derWirklichkeit zusammenhängt, sie jedoch selektiv abstrahiert. Es betont undverabsolutiert die dominierende Kommunikationsrichtung des politischenSystems. Auf dem Dominieren dieser Kommunikationsrichtung vom Volküber die Politik zur Verwaltung und zum Volk zurück beruht der Symbolwertdieser Idealdarstellung, die Vorstellung zuverlässiger, uneingeschränkterKontrolle des Geschehens. Es kann nicht passieren, was das Volk nicht will– ein tragender Gedanke der Selbstversicherung des politischen Systemsnach seiner Ablösung von religiösen Fundamenten. Diese Symbolik zupflegen und zu erhalten ist ein wesentliches Element der Politik selbst, einkaum zu ersetzender Beitrag zur Erfüllung ihrer Funktion. Es gibt keine offenundemokratische Politik mehr. Damit ordnet sich die Politik, zumindestbekenntnismäßig, der dominanten Kommunikationsrichtung unter.

Aber einseitige Kommunikation ist als Dauereinrichtung nichtinstitutionalisierbar. Schon das Übermaß an Kommunikationen, die auf denPolitiker zufließen, gibt ihm die entscheidende Rolle für dasZustandekommen der Kommunikation. Er kann gar nicht alles aufnehmenoder gar verarbeiten, was an ihn herangetragen wird. Seine selektiveAufmerksamkeit ist als Filter in den Kommunikationsprozeß eingeschaltet,und sie kann natürlich nicht durch die ankommenden Informationen, sondernnur durch schon vorhandene Dispositionen und Überzeugungen gesteuertsein. Der Politiker bildet seine Überzeugungen daher kaum aufgrund vonMitteilungen aus dem Publikum; er muß schon überzeugt sein, damitInformationen ihn überhaupt erreichen können und von ihm inEntscheidungssituationen erinnert werden.[2] Außerdem ist, um den

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Kommunikationsfluß in Gang und in sinnvollen Grenzen zu halten, einegegenläufige Kommunikation erforderlich, jedenfalls dann, wenn unter derBedingung sehr hoher Komplexität keine Sicherheit bestehen kann, welcheMitteilung erwartet werden, »ankommen«, Erfolg haben kann. Schon dieDarstellung jener Symbolik der dominierenden Kommunikationsrichtungverstrickt sich in dieses Dilemma. Sie wird in Gegenrichtung an dasPublikum zurückkommuniziert und dadurch zu einer Leistung, die zu sichselbst in Widerspruch tritt. Politiker, die sich sehr betont als abhängigeVolksvertreter stilisieren, können gerade dadurch unglaubwürdig werden.

Dasselbe Dilemma findet sich in allen anderenKommunikationsleistungen der Politik wieder. Es ist für sie systemtypisch.Stets zielt die dargestellte Kommunikation auf Herbeiführung richtigerVerwaltungsentscheidungen nach dem Willen und zum Wohle des Publikums,aber die Darstellung selbst sucht politisches Vertrauen und Unterstützungdurch das Publikum zu gewinnen und sehr oft den Willen, den sievoraussetzt, eben dadurch erst zu schaffen. Im Prozeß der Herstellung derDarstellung müssen diese beiden, nicht selten widerspruchsvollenZielrichtungen zum Ausgleich gebracht werden.

Typisch findet diese Politik sich zwischen ihren beiden Systemgrenzenzur Verwaltung und zum Publikum hin eingezwängt und daher genötigt, indoppelter Sprache zu sprechen, wenn nicht gar mit doppelter Moral zuhandeln. Beide Grenzen fordern ihr nach Stil und Inhalt verschiedeneKommunikationsweisen ab: Die Verwaltung muß geplant, das Publikum mußberuhigt werden. Die Verwaltung benötigt Mitteilungen, die sich alsEntscheidungsprämissen eignen und sich in ein bereits bestehendes Gefügevon Entscheidungsprogrammen ohne allzu große Schwierigkeiten einfügenlassen; das Publikum benötigt Mitteilungen, die symbolischeIdentifikationen (als Ersatz für unmittelbar konsumtive Befriedigungen)aufbauen und bestätigen und sich in das vorhandene Symbolgefüge derpolitischen Kultur einfügen lassen, also namentlich die anerkannten Wertezitieren. Um das kombinieren zu können, bedient sich die Politik einereigentümlichen Sprache,[3] die sinnreiche Verbindungen beiderAnforderungen ermöglicht. Ein bewährtes Schema dafür ist zum Beispieldie Darstellung von etwas als etwas: von Rüstungsausgaben als Beitrag zurSicherung des Friedens, von personalpolitischer Patronage als Maßnahme

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zur Sicherung einer demokratischen Führung der Verwaltung, vonRationierungen und Kontingentierungen als notwendige Mittel zur Sicherungder nationalen Unabhängigkeit, von Zuwendungen an die Bauern alsMaßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur oder, allgemeiner, vonSubventionen als Strukturverbesserungen, von Besoldungserhöhungen fürdie Hochschullehrer als Förderung der Wissenschaft, von der Errichtungeines neuen Amtes als Beitrag zur Verwaltungsvereinfachung usw.Kurzformeln wie Anpassung an …, Verbesserungen des …, Beitrag zur …,Sicherstellung der … dienen dem gleichen Zweck und der Abwechslung.Zwar gibt es auch grenzspezifische Kommunikationen. NichtöffentlicheAusschußsitzungen können sich unter Umständen ganz aufVerwaltungsplanung einstellen, während eine Ansprache vor derJahresversammlung des Unternehmerverbandes ganz einem ritualischenNennen und Beschwören der Symbole und Lieblingsworte dieses Verbandesgewidmet sein kann. Ein gewisses Verständnis für den Zusammenhang vonSzene und Aussage darf dabei unterstellt werden. Durchweg muß jedochauch ein Politiker sich auf ein Mindestmaß an Konsistenz seiner Äußerungeneinstellen. Er tut daher gut daran, sich bei grenzspezifischen KontaktenVertreter der anderen Grenze als stumme Zuhörer vorzustellen und dieSchranken ihrer Toleranz zu beachten.

Auf eine allgemeine systemtheoretische Formel gebracht, handelt es sichbei diesem Konflikt um den Unterschied von instrumentellen undexpressiven Handlungsaspekten bzw. Systembedürfnissen.[4] Im Verhältniszur Verwaltung dominiert der instrumentale, entfernte Zukunft planendeKommunikationsstil, der gewisse Anhaltspunkte für späteres Verhalten unterziemlich unvorhersehbaren Umständen festlegt. Im Verhältnis zum Publikumkommt es darauf an, in Symbolen verfestigte emotionale Einstellungen,Handlungs- oder auch Wartebereitschaften anzusprechen und zu verstärken.

Die in der Kleingruppenforschung entwickelte, besonders in derFamiliensoziologie benutzte und von Parsons in die allgemeineSystemtheorie übernommene Unterscheidung instrumenteller undexpressiver Variablen ist in ihren Grundlagen noch nicht ausreichendgeklärt.[5] Sie geht letztlich auf ein Zeitproblem zurück,[6] nämlich darauf,daß nicht aller Bedürfnisse Befriedigung vertagt werden kann.

Durch Vertagung von Bedürfnissen läßt sich eine gewisse Trennung von

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Zwecken und Mitteln als verschiedenen Stationen eines Zeit brauchendenKausalprozesses erreichen mit der Folge, daß beide Stationen in bezugaufeinander variiert werden können:[7] Man kann festgesetzte Zwecke mitverschiedenen, wechselnd miteinander oder nacheinander eingesetztenMitteln verwirklichen, und man kann umgekehrt im Hinblick auf einvorhandenes Potential Zwecke setzen und umsetzen. Auf diese Weise lassensich allzu kompakte, funktional diffuse Bedürfniskombinationen auflösen,spezifizieren und so mit besseren Möglichkeiten der Anpassung an dieGegebenheiten befriedigen.

Andererseits läßt diese instrumentelle Perspektive sich nicht ins Extremtreiben. In dem Maße, als Systeme sich an zeitlich fernliegenden Wirkungen,also im Hinblick auf Zwecke, instrumental orientieren, treten aktuelleFolgeprobleme auf, deren Lösung nicht mitvertagt werden kann, vor allemsolche der zwischenzeitlichen Systemerhaltung und der Vertrauensbildung.Es muß dann anstelle der unmittelbaren Befriedigung die Gewißheitgeschaffen werden, daß Mühe und Geduld sich lohnen und daß die Zukunftum so befriedigender ausfallen wird. Das kann in hohem Maße durchsymbolbildende und identifizierende Prozesse geschehen; aber immer mußdiesen permanent akuten Folgebedürfnissen ein Teil der Kräfte gewidmetund von der unmittelbaren Zweckverfolgung abgezogen werden.[8] Man kanndiese Einsicht, wenn man sie aus der üblichen anthropologischen Spracheder Bedürfnisse und ihrer Befriedigungen übersetzt in die kybernetische derReduktion von Komplexität, auch so formulieren, daß nicht alle Komplexitätauf langfristig umweghafte (also selbst komplexe) Weise reduziert werdenkann, sondern daß es daneben und komplementär dazu drastische undgleichsam kurzgeschlossene Formen der Reduktion geben muß, die jeneindirekten stabilisieren. Das Problem, vor dem wir stehen, ist also einsolches der Differenzierung und des Widerspruchsvollwerdens vonReduktionsmitteln. Mit dem Einsatz komplizierter und indirekterReduktionsmittel scheint auch der Bedarf für entgegengesetzt wirkendeFormen der unmittelbar aktuellen Reduktion zu steigen. Die Trennung voninstrumentellen und expressiven Bedürfnissen, Handlungsaspekten oder garRollen, die man in komplexen Sozialordnungen findet, ist eine Möglichkeit,jenen Widerspruch zwar nicht zu lösen, aber doch erträglich zu gestalten.

Soll diese Unterscheidung von instrumentellen und expressiven Variablen

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auf den Bereich der Politik angewandt werden, muß zuvor einMißverständnis ausgeräumt werden, das die sozialpsychologischeOrientierung der Kleingruppenforschung nahegelegt, ja verfestigt hat. DieUnterscheidung darf nicht mit dem Gegensatz von innen und außengleichgesetzt und so verstanden werden, als ob die instrumentellenVariablen der zweckmäßigen Anpassung an die Umwelt, die expressivenVariablen dagegen der internen Stabilisierung eines Systems dienten.[9]

Vielmehr beziehen beide Variablen sich auf die Umwelt des Sozialsystems.Sie bezeichnen verschiedene Strategien der Umweltanpassung einesSystems, setzen also, wenn sie getrennt werden sollen, eine entsprechendeUmweltdifferenzierung voraus. Will ein System erfolgreich instrumentelleund expressive, langfristig umweghafte und einfache, sofort wirksameReduktionsstrategien nebeneinander verwenden, muß seine Umwelt sogeordnet sein, daß ein Teilbereich sich mehr für jene, ein anderer sich mehrfür diese als empfänglich erweist.

Während es für Kleingruppen typisch ist, Mitglieder- undNichtmitgliederumwelt in dieser Weise zu trennen und getrennt zureduzieren, treten in der Politik die sozio-emotionalen Bedürfnisse derPolitiker zurück. Ihre Befriedigung, etwa durch Gewährung eines hohenStatus und öffentlicher Bedeutung, ist ein Moment der Anpassung despolitischen Systems an seine gesellschaftliche Umwelt, vor allem einMoment der Attraktivität und der Besetzbarkeit politischer Rollen.Innerhalb des politischen Systems wird im Bereich der Politik im engerenSinne die Unterscheidung von instrumentellen und expressivenFunktionen dagegen hauptsächlich dazu verwandt, um die Beziehungender Politik zur Verwaltung und zum Publikum zu differenzieren und zuintegrieren. Eine Verbindung instrumenteller und expressiverKommunikation bietet der Politik die Möglichkeit, auf einem langfristigenUmweg über die Verwaltung das Publikum zu beeinflussen und zugleichdafür auf unmittelbar wirksame Weise politische Unterstützung zu erwerben,ohne auf ein Feedback der Verwaltungsentscheidung, auf eine sachlichangemessene Reaktion des Publikums auf die Verwaltung angewiesen zusein.

In der Beziehung zur Verwaltung kann die Politik lediglich Prämissen fürverbindliche Entscheidungen setzen, also nur über Entscheidungen

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entscheiden, die dann in einem sehr komplizierten Gefüge von Rücksichtenund Konsistenzprüfungen erst noch getroffen (oder auch nicht getroffen)werden mit Einzelinhalten und Auswirkungen, die für den Politiker kaum zuübersehen sind. Seine Entscheidungen werden über lange und kompliziertverflochtene Ketten von Zwischengliedern mit anderen abgestimmt und erstdann dem Publikum zugestellt. Je nach Art der Programme ist ihreunmittelbare Auswirkung, von den Fernwirkungen ganz zu schweigen, mehroder weniger unbestimmt. Erst recht ist es dem Publikum nur in denseltensten Fällen möglich, die auf diesen indirekten und vielfältigverschlungenen Wegen auf es zukommenden Eingriffe und Zuteilungen einerbestimmten politischen Linie, einer Partei oder gar einem Politikerzuzurechnen und das politische Verhalten dann durch Wahlentscheidungen zusanktionieren. Diese Möglichkeit sinngemäßen Handelns in der dominantenKommunikationsrichtung des politischen Systems ist zwar nicht blockiert.Sie bleibt bestehen, aber angesichts ihrer Schwierigkeiten braucht daspolitische System, sobald es eine gewisse Schwelle der Komplexitätüberschreitet, komplementäre, funktional äquivalente Formen der Bildungund Erhaltung politischer Unterstützung,[10] und es findet sie in einerkurzgeschalteten expressiven Kommunikationsbeziehung zwischen Politikund Publikum, die es erlaubt, durch symbolbildende, Gefühle bindende,identifizierende Prozesse politische Unterstützung aufzubauen, ohne dasunsichere Feedback der Verwaltungsentscheidungen abzuwarten.

Mit steigender Komplexität und Umweghaftigkeit des Wirkens und mitsteigendem Zeitbedarf steigen nämlich auch die Anforderungen an dasErtragen ambivalenter, vieldeutiger, ungewisser Sachverhalte.[11] Toleranzfür Ambivalenz ist jedoch eine psychisch schwierige, stützbedürftigeEinstellung.[12] Ihre Verbreitung im Publikum kann nur in sehr engen Grenzenvorausgesetzt werden, und in jedem Falle bedarf sie einer Abstützung durchgefestigte Strukturen, in deren Rahmen sie sinnvoll wird. Wenn es daranfehlt, ist die Gefahr groß, daß die Ambivalenz als Unsicherheit bewußt wirdund in Form unkontrollierbarer politischer Bewegungen »sich selbstreduziert«.[13]

Sicherheit, die zum Ertragen ambivalenter, vorläufig offener Situationenbefähigt, kann, wie Sicherheit überhaupt,[14]nur je aktuelles, gegenwärtigesErleben sein. Das Verhältnis von feststehenden, gesicherten zu offenen, noch

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ungewissen Sinnstrukturen hat seine Problematik daher nicht als einelogische oder sachliche Beziehung; es ist, wie die Bestimmung desUnbestimmten oder die Reduktion der Komplexität selbst, ein Zeitproblem:[15] Es muß eine hinreichend unbestimmt bleibende Zukunft hinreichendsicher gegenwärtig vergewissert werden – und gegenwärtig heißt hier wieimmer nicht einmal, sondern dauernd! Soll die Zukunft offengehaltenwerden, ist also eine kontinuierliche Leistung der Vergewisserungerforderlich, die sich gegenwärtig-unmittelbar auswirkt. Das Handeln stehtdann unter diskrepanten Anforderungen, Entscheidungen und Befriedigungenins Ungewisse zu vertagen und sie doch gegenwärtig schon zu vergewissern.[16]

Dieses Problem löst ein Politiker nicht, der darauf vertraut, daß dieZukunft ihm schon recht geben wird. Nicht er, das Publikum muß ihmvertrauen. Die Absicherung eines laufenden politischen Vertrauens kannnicht den künftigen Befriedigungen allein überlassen werden, zumindestmuß der gute Zweck schon gegenwärtig dargestellt, gepriesen und zur Sachegemeinsamer Überzeugung gemacht werden. Je mehr Möglichkeiten derZukunft offengehalten werden müssen, je komplexer das Wirkungsfeld istund je stärker das politische System als Ganzes gesellschaftlichausdifferenziert wird, um so schwieriger wird das politische Verhalten. DieMotivation durch einen gemeinsamen Zweck versagt dann, weil nicht mehralle Möglichkeiten in diesem einen Zweck untergebracht und durch ihnprogrammiert werden können, und natürlich versagt die Tradition als Grundaller Handlungssicherheit. Instrumentelle oder allgemein zukunftsplanendeund expressive, gegenwartssichernde Handlungsanforderungen treten dannschärfer auseinander und zueinander in Widerspruch. Die Verklärung derSymbole dient nicht ohne weiteres der Klärung vonVerwaltungsprogrammen; typisch muß Verklärung vielmehr mit Verunklärungbezahlt werden. Angesichts dieses Dilemmas muß die Expressivität undsymbolisch-emotionale Vergewisserung der Gegenwart ihrerseits geplantund so arrangiert werden, daß sie die Zukunft nicht verbaut. PolitischeDarstellungen werden nun zum Problem, und die Politik muß als einbesonderes System organisiert werden, das unter anderem dieses Problemder Herstellung von Darstellungen lösen kann. Sie muß dafür selektiveEntscheidungsverfahren einrichten, muß lernen können und muß eine eigeneGrenze befestigen, in deren Schutz sie die emotional günstigsten Symbole

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rational auswählen, ihr spontanes Wollen durchkalkulieren, ihreDarstellungen herstellen, kurz: widerspruchsvoll handeln und dadurchwiderspruchsvollen Grenzanforderungen genügen kann. Nur Systeme sind inder Lage, Anforderungen von so zugespitzter Widersprüchlichkeit zuerfüllen, Erfahrungen zu speichern und innovativ zu verwenden sowieinterne und externe Kommunikationen so zu trennen, daß die Herstellungihrer Darstellung unsichtbar bleibt und deren Eindruckskraft nichtdiskreditiert.

Diese Überlegungen lassen sich zusammenfassen in dem Gedanken einesnotwendigen »Führungswechsels« grenzspezifischer Funktionen, der eineSystembildung erfordert.[17] Die Politik muß ihr kommunikatives Verhalteneinmal mehr an den Programmperfektionierungsbedürfnissen der Verwaltungausrichten und sich dann wieder mit rituellem, symbolpflegendemDarstellen dem Publikum widmen, um abwechselnd beiden Umweltengerecht werden zu können. Dazu ist eine gewisse Freiheit der Entscheidungüber das Wann und Wie erforderlich, die systemmäßig gesichert sein muß.Umweltdifferenzierung ist, wie wir oben[18] gesehen haben, eineVorbedingung der Systemautonomie; sie erfordert aber auch, daß dieAutonomie genutzt wird.

Die Freiheit zu solchem Führungswechsel grenzspezifischer Funktionenist indes nicht beliebig gegeben. Sie ist vielmehr durch die Symbolik derdominanten Kommunikationsrichtung strukturiert. Das heißt: Sie kann alsProblem nicht mit dargestellt und nicht offen praktiziert werden. DieSymbolik der dominanten Kommunikationsrichtung fingiert, daß die Politikihren Input nur durch das Volk erhält und ihren Output nur an die Verwaltungweitergibt, daß also die zeitliche Differenzierung nach Input und Output mitder sozialen Differenzierung verschiedener Umwelten exakt zusammenfällt.Die Zeitdifferenzierung zwischen Input und Output könnte, so gesehen, nichtbenutzt werden, um Zeit für eine Vermittlung zwischen verschiedenenUmwelten zu gewinnen, der Zeitaufwand der Politik wäre also allenfalls einkommunikationstechnisch bedingter Zeitverlust. In der Symbolik derdominanten Kommunikationsrichtung ist mithin kein Platz vorgesehen füreine frei entscheidende Politik. Das ist nicht zufällig so und auch nichtaufgrund mangelhafter Erkenntnis. Die Symbolik dient der Vergewisserungdes politischen Systems im ganzen und muß deshalb die widerspruchsvolle

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Autonomie, ja den Systemcharakter einer Mehrheit von Teilsystemen, derPolitik ebenso wie der Verwaltung, leugnen. Die Unterordnung derpolitischen Darstellungen unter diese Symbolik der »Demokratie« vollziehtdie Einordnung der Politik in das politische System. »Demokratie« ist dasStrukturgesetz der Politik, das ihr durch ihre Zugehörigkeit zum politischenSystem vorgezeichnet ist.

Aber dieses Strukturgesetz ist keine faktische Festlegung der Richtung deskonkreten Kommunikationsflusses, sondern nur ein Konglomerat von Regelnder Verwaltungsbeeinflussung (zum Beispiel der Stellenbesetzung) und dersymbolischen Darstellung dieser Beeinflussung, deren Beachtung mitanderen Notwendigkeiten kombinierbar ist. Es gibt rhetorische,darstellerische Taktiken genug, die eine kontrafaktische Stabilisierung vonSymbolen ermöglichen. Davon abgesehen bietet die Unterscheidung undVerbindung instrumentaler und expressiver Ausstrahlungen des politischenVerhaltens wichtige Kombinationsmöglichkeiten, die den Widerspruch fastzum Verschwinden bringen. Nach der Symbolik der dominantenKommunikationsrichtung herrscht der instrumentale, auf die Verwaltunggerichtete Sinnbezug vor. Was sie darstellt, wählt die Politik daher typischaus dem Themenschatz der Verwaltung: Sie spricht von Steuersenkungen,Schulbau, Milchpreisstützungen, Pressegesetzen. Wie sie diese Themendarstellt, bietet dann immer noch Gelegenheit genug, aktuelle Solidarität mitdem Publikum in Werten und Symbolen zur Schau zu stellen. Das Wasdominiert das Wie, das Thema den Stil – jedenfalls in der Darstellung. Aberbei der Herstellung der Darstellung kann trotzdem das Thema im Hinblickdarauf ausgesucht werden, welche Chancen für korrektes Ritual, fürstörungsfreies Aufzählen aller relevanten Werte, für ein Beschwörenwichtiger Symbole oder gar für expressive Bravourleistungen es vermittelt.Das Was fesselt die Aufmerksamkeit, das Wie wärmt mehr unbewußt, undeben deshalb kann das Was benutzt werden, um die Aufmerksamkeit zufesseln und davon abzulenken, wie sie für symbolbildende undgefühlsfixierende Prozesse eingespannt wird.

Mit solchen Bemühungen versucht die Politik, ihre eigene Parteilichkeitzu überwinden, sich als Katalysator der Verschmelzung von Volkswillen undVerwaltungsentscheidung und damit als legitim zu erweisen. Aber dies Zielfordert ihr, wie gezeigt, Leistungen ab, die sie nicht mit legitimieren kann.

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Sie kann als System das nicht sein, was sie leisten soll. So ist sie daraufangewiesen, daß ihre Symboldarstellungen tatsächlich Gefühle fassen undbinden können – oder daß mit soziologischen Analysen und demDurchschauen ihrer Darstellungen zugleich das Verständnis für diesetragische Situation wächst.

Die politischen Systeme moderner, stark differenzierter Sozialordnungenhaben jene Schwelle der Komplexität längst überschritten, von der abpolitische Prozesse von Verwaltung und Publikum getrennt und inSystemform organisiert werden müssen. Politische Kommunikationen habendann unvermeidlich eine Innenansicht, nach der sie hergestellt, und eineAußenansicht, in der sie dargestellt werden. Die Diskrepanz dieserAnsichten und ihre Folge, ein manipulativer Symbolismus, ermöglichen eineKombination selektiver Prozesse unter verschiedenen, die Selektivitätverstärkenden Gesichtspunkten. Solche Selektivitätsverstärkung ist inhochkomplexen Systemen unentbehrlich. Wie in der Verwaltung Normen undZwecke programmiert werden müssen, das heißt auch überEntscheidungsprämissen noch entschieden werden muß, so müssen in derPolitik auch Werte noch bewertet, auch Symbole noch dargestellt werden.Es gibt kein Naturrecht mehr, vielmehr muß alles unter Ausschluß andererMöglichkeiten in diese Funktion gebracht werden, und das heißt: durch einHintereinanderschalten selektiver Prozesse, die unter verschiedenenKriterien operieren.

Soll ein so hohes Niveau der Komplexität gehalten werden, besteht indiesen Hinsichten keine Wahl. Aber damit ist über den Inhalt der Symboleund der Verwaltungsprogramme, die diesen Anforderungen undBehandlungsweisen genügen können, noch nichts ausgemacht. Und auch dieStrukturen und Handlungsweisen sind damit nicht vorgezeichnet,geschweige denn determiniert, durch welche eine solche politischeSelektivität organisiert und in die Wirklichkeit überführt werden kann. Wirhaben nur eine etwas genauere Vorstellung vom Problem der politischenKomplexität und dem Spielraum seiner Lösungsmöglichkeiten gewonnen.Die Frage, durch welche strukturellen Varianten, durch welcheParteiensysteme dieser Spielraum ausgefüllt werden kann, überlassen wirdem folgenden Kapitel.

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20. Kapitel

Rationalität der Politik

In der unbestimmten Komplexität des Bereichs politischerHandlungsmöglichkeiten findet nicht nur die funktionale Analyse der Politikihr Bezugsproblem; dieses Problem bestimmt auch das, was in der Politikals rational und richtig angesehen werden kann. Rational sind Leistungen,wenn und soweit sie Systemprobleme lösen und dadurch zur Erhaltung desSystems beitragen. Die Probleme der Politik sind andere als die derVerwaltung unbeschadet der Tatsache, daß beide Arten von Problemen impolitischen System bewältigt werden müssen. Die Rationalität despolitischen Handelns kann demnach nicht mit der Rationalität derVerwaltungsentscheidung gleichgesetzt werden. Auch läßt sie sich nicht mitHilfe der Rationalitätskriterien der Verwaltung messen oder sich ihnenunterordnen in dem Sinne, daß die Rationalität einer Politik sich an derRichtigkeit der Verwaltungsentscheidung ablesen ließe, die sie herbeiführt.Der Politik stehen nicht so viele feste Anhaltspunkte zur Verfügung wie derVerwaltung, um die Konsistenz des Entscheidens zu kalkulieren, dient dochdie Politik gerade dazu, diese Anhaltspunkte erst zu schaffen und derVerwaltung in Form von Entscheidungsprämissen zur Verfügung zu stellen.So muß bezweifelt werden, ob die Rationalität politischen Handelnsüberhaupt als Konsistenz von Entscheidungen begriffen werden kann.[1]

Das Zusammenspiel von Politik und Verwaltung, das wir als einen Prozeßder Reduktion von Komplexität zu begreifen suchen, wurde bisher zumeistin ein einheitliches Schema gemeinsamer Rationalität gepreßt und mit Hilfeder Unterscheidung von Zweck und Mitteln dargestellt: Die Politik setze dieZwecke, die Verwaltung entscheide über die Mittel. Diese Auffassung istjedoch, wie wir im 16. Kapitel gesehen haben, unhaltbar, weil nicht einmaldie Rationalität der Verwaltung ausschließlich als Zweck/Mittel-Logikkonstruiert werden kann, und vor allem, weil völlig ungeklärt bleibt, wieman auf rationale Weise zu Entscheidungen über Zwecke kommen kann (essei denn durch Wahl dieser Zwecke als Mittel für übergeordnete Zwecke).[2]

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Gerade die Hauptfrage, wie die Politik in einem überkomplexen Feld vonMöglichkeiten auf rationale Weise zu Festlegungen kommen könne, bleibtdamit unbeantwortet.

Daß für die Rationalität des politischen Handelns ein lösungsbedürftigesBezugsproblem angegeben werden kann, bedeutet nicht, daß dieses Problemnur auf eine Weise richtig gelöst werden könne. Selbst im besserstrukturierten Bereich der Verwaltung konnten wir zwei verschiedeneRationalität suchende Programmtypen und Entscheidungssprachenidentifizieren, die im einzelnen unvergleichbar sind. In der Politik tragenund verwirklichen unterschiedliche Parteiensysteme die Absorption vonUngewißheit. Darin liegt etwas Gemeinsames, das einen problembezogenenVergleich ermöglicht. Aber die Systeme, in denen das geschieht, können aufsehr verschiedene Weise dieses Problem verkleinern und in lernbareVerhaltensregeln, ja tägliche Routinen überführen. Für das Problem, ineinem parteilichen, noch nicht legitimen Verfahren derInformationsverarbeitung Prämissen für legitime Entscheidungen zugewinnen, muß nämlich nochmals eine engere Definition, eine operationalbrauchbare Ersatzformel, gefunden werden, die bessereArbeitsinstruktionen zu geben und mehr Konsens in Aussicht zu stellenvermag. Es muß genauer umrissen werden, wie man es machen soll. DieseProblemverdichtung kann nicht mit rein logischen Operationen aus demursprünglichen Problem übermäßiger Komplexität herausdestilliert werden.Sie setzt Systembildung im Bereich der Parteipolitik voraus, die einenengeren Verhaltensrahmen festlegt, und sie erzeugt in diesem Rahmen ihreeigenen Konsequenzen und Folgeprobleme, die nicht mehr unmittelbar mitdenen anderer Systeme vergleichbar sind.

Parteisysteme unterscheiden sich strukturell im Stile der angestrebtenRationalität in erster Linie danach, ob sie mehreren Parteien oder nur einerden Zugang zur legitimen Macht offenhalten. Mehrparteiensysteme gewinnenwirksame zusätzliche Vereinfachungsmöglichkeiten dadurch, daß sie sichdie politische Situation als Kampfsituation der Parteien gegeneinandervorstellen können. Die Eliminierung von Alternativen läßt sich dann zumTeil durch Kampf zwischen den Parteien, also außerhalb der einzelnenParteiorganisation, vollziehen. Demgegenüber sind Einparteiensystemedarauf angewiesen, alles Ausscheiden von Alternativen innerhalb einer

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Parteiorganisation vorzunehmen und, soweit dazu Kämpfe erforderlich sind,diese unter dem Deckmantel ideologisch geeinter, freundschaftlicherKollegialität der Parteigenossen durchzuführen. Kampfziele selbst könnendann nicht als rational gelten.[3] Je nachdem, welches System gewählt wird,differenzieren sich mithin die Ersatzformeln für Komplexität und dieKriterien rationalen Verhaltens. Wir müssen diese beiden Grundtypen mitihren jeweiligen Varianten (Vielparteiensystem oder Zweiparteiensystemund beides mit oder ohne Proporz der Verwaltungspostenverteilungeinerseits und Einparteiensysteme im strengen Sinne oder solche mitdominierenden oder hegemonialen Parteien andererseits) getrenntuntersuchen, um sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Rationalität vergleichenzu können.

Ein Mehrparteiensystem bringt die Diskrepanz von Parteilichkeit undLegitimität und damit die Komplexität der Politik ins Offene und setzt denMechanismus der politischen Wahl zur Lösung dieses Widerspruchs ein,nämlich als Verfahren der Verteilung von Ämtern (jedenfallsParlamentssitzen, zuweilen auch Regierungs- oder gar Verwaltungsposten)auf die Parteien. Es verzichtet, um im Bereich der Politik hohe Komplexitäterreichen zu können, auf die Grundelemente organisatorischer Einheit,nämlich auf ein gemeinsames Wertsystem, auf eine einheitlicheFührungsorganisation und auf eine Garantie der Entscheidbarkeit allerKonflikte – all dies wird erst in der Bürokratie gewährleistet –, undbegründet die Interdependenz des politischen Handelns allein durch einekünstlich institutionalisierte Knappheit, ebendie Knappheit des Zugangs zurlegitimen Macht, um die deshalb nach bestimmten Regeln gekämpft oderdoch gehandelt werden muß.[4] Auf diese Weise wird das politischeVerhalten im Prinzip als ein Kampf mehrerer Parteien um Ämter strukturiert,in der Hauptsache um eine feststehende Zahl von Parlamentssitzen, dieperiodisch durch politische Wahl neu verteilt werden.

Da das politische System und besonders seine Verwaltungausdifferenziert ist, kann der politische Kampf jetzt nicht mehr (wie etwa imMittelalter) um die Verteilung von Hoheitsrechten geführt werden, dasheißt nicht mehr um ihre invariante (eigentumsmäßige, erbliche)Kombination mit anderen gesellschaftlichen Rollen, sondern nur noch umdie Verteilung disponierbarer Vorteile und Nachteile durch Verwaltung der

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Hoheitsrechte, die einer permanenten sozialen Einheit, dem »Staat«,gehören und mit abstrakten Stellen (Ämtern) verbunden sind. Solche»Stellen« müssen dabei vorausgesetzt werden können; sie müssen dempolitischen Kampf vorgegeben sein. Mindestens insofern hängt die Politikstrukturell von einer bestehenden Staatsorganbürokratie ab.[5] Das bedeutetunter anderem, daß die Kompetenzen der Stellen, um die gekämpft wird,nicht von dem Ausgang der Wahl abhängen dürfen, daß sie nicht etwaaufgrund der jeweils erreichten Stimmzahlen dosiert werden, sondern daßdie bestehenden Stellen nur als solche übertragen bzw. nicht übertragenwerden können.

Unter diesen Bedingungen ist die Rationalität des Verhaltens die einesziemlich gut kalkulierbaren Nullsummenspiels, da der Gewinn einer Parteistets notwendig im gleichen Umfange Verlust für die anderen ist.[6] Nur soist es ferner möglich, die Erfolgskriterien zu quantifizieren, sie damiteindeutig zu machen und als Kriterien der politischen Kontroverse zuentziehen. Wie eine Wahl ausgegangen ist, ist im allgemeinen wederzweifelhaft noch umstritten.[7] Auch minimale Wahlsiege werden dann trotzweittragender Folgen von den Verlierern akzeptiert.[8] Weiter ist an diesemParteiensystem bemerkenswert, daß es zwei Probleme, nämlich Reduktionder Komplexität und Auswechseln der Machthaber, die für sich allein sehrschwierig zu lösen sind, miteinander verquickt und dadurch die Lösungbeider erleichtert. Chance und Gefahr des Machtwechsels sind dieBezugspunkte, im Blick auf welche die Parteien ihre politische Taktikfestlegen, also Komplexität reduzieren, und damit ist eine gewisse Aussichtgegeben, daß die Parteien die Mobilität der Macht als Systemkonzeptionauch tatsächlich bewahren, sich also den Bedingungen des Erwerbens undVerlierens der Macht fügen.[9] Das Problem des Machtwechsels nimmt,indem es den reduktiven Informationsverarbeitungsprozeß strukturiert, andessen Alltäglichkeit teil und kann dadurch seine Sprengkraft verlieren. DerAustausch von Personen in leitenden Positionen wird dann ähnlich wie dieÄnderung von Programmen laufend erwogen und nach den Regeln undResultaten des politischen Kampfes vollzogen. Ja, es scheint, daß diesesProblem des Machtwechsels, das den Einparteiensystemen so gerneSchwierigkeiten bereitet, von Mehrparteiensystemen nicht selten zu gutgelöst wird, indem die Machtwechsel oft ohne zureichenden Grund und noch

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öfter ohne wesentliche Folgen vollzogen werden.Parteien, welche die Chancen zu rationaler Kalkulation nutzen wollen,

die ihnen mit einer solchen Ordnung gegeben sind, werden das Kriteriumihres Erfolges, den Gewinn von Wahlen und Parlamentssitzen, sich als Zielvornehmen und diesem Ziel andere Erwägungen unterordnen. Sie werdenzum Beispiel ihre Führer, ihre Alliancen, ihre Selbstdarstellung und vorallem die Werte und Interessen, die sie fördern, sowie die Symbole, die sieansprechen, auswählen unter dem Gesichtspunkt der Eignung als Mittel fürdas Formalziel des Wahlerfolges und nicht umgekehrt den Wahlerfolgbestimmter Programme oder Personen zuliebe suchen.[10]Dadurch kommt esin der Politik zu einer auffälligen Vertauschung von Zwecken und Mitteln imVergleich zu den gesellschaftlichen Normalerwartungen. Während nachallgemeiner Auffassung das Sachprogramm Zweck und der WahlerfolgMittel, es durchzusetzen, sein sollte, kalkuliert die Partei umgekehrt undwählt die Zwecke der üblichen Sicht als Mittel für die üblichen Mittel, diedamit zum Selbstzweck werden. Durch diese Pervertierung der normalenWerteordnung wird ein besonderer Bereich systemspezifischer (aber nichtallgemeingültiger) Rationalisierung ausgesondert, um eine bessereIntegration von Systemzielen und Bestandschancen in diesem Teilbereichder Politik zu ermöglichen: Systemfunktionale Rationalisierung wird alsomit einer gewissen moralischen Verfremdung im Verhältnis zur Umwelterkauft.

Ähnliche Erscheinungen bringen stark differenzierte Sozialordnungenauch in anderen Bereichen hervor: Zum Beispiel kehrt auch dasGewinnmaximierungsprinzip des Privatunternehmens die üblicheWertrangordnung um, welche die Leistung und nicht den Gewinn als Zweckdes Betriebes sieht,[11] und die Organisationssoziologie hat Zweck/Mittel-Verschiebungen als typische Phänomene in allen großen Organisationenaufgedeckt.[12] Es handelt sich in all diesen Fällen nicht um pathologischeIrrwege aus Kurzsichtigkeit, verwerflicher Eigensucht oder menschlicherSchwäche, die vermieden werden müssen, sondern um sinnvollePerversionen der öffentlichen Moral, ohne welche hohe Systemkomplexitätnicht erreicht werden kann.[13]

Weshalb? Hohe Systemkomplexität erfordert, daß auch überEntscheidungsprämissen noch entschieden werden kann, daß also die

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Entscheidungsprozesse des politischen Systems reflexiv werden, das heißtauf sich selbst angewandt werden können. Diese Art Reflexivität kann nichtallein auf der Ebene der Programme (als Programmieren desProgrammierens) gesichert werden. Es ist zwar möglich, sich Zwecke derZwecksetzungen auszudenken und die Normsetzung zu normieren, aber aufdiese Weise gelangt man zu zunehmend inhaltsleeren oder nurverfahrensmäßig relevanten Programmen, die nicht genug Instruktion für dasselektive, reduzierende Verhalten abwerfen.[14] Auch diese Erfahrungbezeugt, daß die Entscheidungssprachen der Verwaltung nicht für sich alleinbestehen können: Sie können nicht allein für sich reflexiv gemacht werden.Die Positivierung des Rechts und der Aufgaben als selbstgesetzt erfordert,daß nicht nur die Programmierung, sondern auch die Wertbildung reflexivwird; daß nicht nur über Programme, sondern auch über Werte entschiedenwerden kann. Die besonderen Werte, welche die Wahl derEntscheidungsprogramme bestimmen, müssen als Faktoren im Prozeß derpolitischen Unterstützung selbst noch bewertet werden können. Dafür sindin der neuzeitlichen politischen Entwicklung zwei funktional äquivalenteStrategien ausgebildet worden, die mit der strukturellen Unterscheidung vonEinparteiensystemen und Mehrparteiensystemen zusammenfallen: ImEinparteiensystem wird die Reflexivität der Werte bestimmendes Momenteiner einheitlichen Ideologie.[15] In Mehrparteiensystemen wird sie durchdie Pervertierung der Werte erreicht, nämlich dadurch, daß man siesystemrelativ instrumentalisiert.

Die letztgenannte Lösung, die Zweck/Mittel-Vertauschung, die sämtlichegesellschaftlichen Werte als Mittel den Gesichtspunkten des Stimmgewinns,Wahlgewinns und Postengewinns unterordnet, kann natürlich nicht alsallgemeingültige Ideologie mit Verbindlichkeit für die ganze Gesellschaftproklamiert werden. Das bewußte politische Bemühen richtet sich in einersolchen Ordnung auf nicht allgemein anerkannte Ziele, und die Funktion derPolitik, der Aufbau legitimierender Entscheidungsgrundlagen, wird imwesentlichen latent erfüllt. Ein auf das Ganze gerichtetes Bewußtsein fehltder politischen Praxis; es vermag jedenfalls keinen Wahrheitsanspruch zuerheben und wird gefährlich, wenn es sich in die Tat umzusetzen versucht.

Die politische Zweck/Mittel-Vertauschung bleibt daher eine Strategie derPolitik ohne Anspruch auf Relevanz für andere Bereiche. Die

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Abweichungen vom allgemeinen Denken müssen außerdem in Grenzengehalten und durch andere Mechanismen in der Gesamtordnung ausgewogenwerden. Man wird davon ausgehen können, daß selektive Prozeduren, diesich am Formalziel des Wahlgewinns einer Partei orientieren, zu teilweiseanderen Ergebnissen führen als solche, die zum Beispiel eine eigenwilligeInterpretation des Gemeinwohls auf dem Wege wirtschaftlicher Entwicklungzu realisieren suchen, also unmittelbar Sachzwecke verfolgen. Da es ineinem Feld von so hoher Komplexität ohnehin keine einzig-richtigenErgebnisse geben kann, brauchen solche Divergenzen keinen Einwand gegendas eine oder das andere Reduktionsverfahren zu bilden. JedeVorgehensweise hat aber ihre spezifischen Gefahrpunkte undFolgeprobleme, braucht also eigentümliche Korrektive und Gegenhalte imSystem, die mit ihr zusammen institutionalisiert sein müssen, weil sonstdysfunktionale Folgen auflaufen und das Verfahren schließlichdiskreditieren.

Für die Überbrückung der Diskrepanz zwischen parteipolitischerRationalität und öffentlicher Moral ist wesentlich, daß die Politik selbstdarin ein Problem sieht und zwar nicht ihre Kalkulation, wohl aber ihreDarstellungen der allgemein akzeptierten Werteordnung anpaßt.[16] ZurRationalität der politischen Kalkulation gehört auch, daß sie nicht (oder nurin engen, ausgesuchten Kreisen) als Motiv dargestellt werden kann, sonderndaß dafür die andere Sprache der öffentlichen Moral gewählt werden muß.Die Darstellung muß dann kalkuliert, aber die Kalkulation darf nichtdargestellt werden.

Die öffentliche Moral als Medium politischer Darstellung zu benutzenfällt an sich nicht schwer, weil eine überzeugungskräftige Darstellungohnehin alle anderen Möglichkeiten verwerfen oder verdecken muß. Wenndann Sachprogramm und Wahlerfolg der Partei als einziger Weg zur Rettungdes Volkes angeboten werden, braucht über die Frage, was dabei Zweckund was Mittel ist, nicht weiter nachgedacht zu werden. Immerhin bleibtnicht selten ein Schatten von Unaufrichtigkeit am Politiker hängen. DerVerdacht, daß seine Darstellungen hergestellt sind und diese Herstellung ineiner Weise motiviert ist, die nicht mit dargestellt wird, ist weit verbreitetund trägt zum schlechten Ruf der Politik, ja zu einem oft weit überzogenenMißtrauen gegen alles Politische bei. Unter diesen Umständen erleichtert es

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das Geschäft der Politik, wenn ihre kommunikativen Situationen sostrukturiert sind, daß diesem Mißtrauen kein Ausdruck gegeben werden kann– sei es, daß gesellschaftliche Gebote der Höflichkeit und des Taktes dasverhindern, sei es, daß die Einseitigkeit der Kommunikation überMassenmedien es unmöglich macht. Aber die wechselseitige Entfremdungzwischen Politik und Publikum wird wachsen, wenn die Politik sich aufsolche Kommunikationsschranken verläßt.

Auch setzen solche Diskrepanzen den Politiker den Gefahren öffentlicherEntgleisungen und gezielter Indiskretionen aus, da er ständig intern undextern in verschiedenen Sprachen sprechen muß. Ein Teil seiner Kräfte mußdaher für Ausdrucksbeherrschung und Informationskontrolle abgezweigtwerden, ein anderer Teil auf Abschwächungen und Beschwichtigungen,wenn peinliche Widersprüche sichtbar geworden sind. Wieder andereKräfte werden durch Abhängigkeiten und Solidaritäten gebunden, die imgemeinsamen Besitz nichtdarstellbarer Informationen ihren Ursprung haben.Wenn außerdem die Presse diese Art von diskreditierenden Informationenbevorzugt verbreitet, nimmt es nicht wunder, daß die absichtliche oderabgeschwächte Indiskretion diejenige Kommunikationsweise wird, durchdie der einzelne Politiker sich aus der Anonymität des komplexenpolitischen Geschehens herausheben und ein persönliches Profil gewinnenkann. Die Erfahrungen der Bonner Szene zeigen, wie schwer es unter diesenUmständen ist, die Einheitlichkeit der öffentlichen Darstellung sozialerEinheiten, etwa einzelner Parteien oder auch einzelner Staatsorgane (zumBeispiel des Kabinetts), zu wahren.

Ergibt diese Analyse schon, daß ein Mehrparteiensystem kein politischesIdeal sein kann, sondern deutlich sichtbare Schwächen aufweist, soverstärkt dieser Eindruck sich, wenn man den noch-nicht-legitimenCharakter der Parteiarbeit in seinen Konsequenzen bedenkt. Die Parteienbesitzen keine Position, von der aus sie Forderungen des Publikums legitimzurückweisen könnten (es sei denn, daß die Forderung gegen politischneutralisierte Symbole verstößt). Sie müssen sich zumindest den Anscheingeben, jedes an sie herangetragene »Anliegen« ernst zu nehmen. Auf denNenner von Interessen gebracht und so personalisiert, sind alleEntscheidungsbegehren in einem letzten Sinne gleich, sofern einmal diefundamentalen Lebensbedürfnisse befriedigt sind. Es gibt in diesen

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Systemen eine Art Grundrecht des Wünschens und Forderns.[17] Daspolitische System muß deshalb in diesem Bereich mit illegitimen oder dochaußerlegitimen Filtern arbeiten, wenn es verhindern will, daß seineVerwaltung mit einer Vielzahl nicht zu vereinbarender Forderungenüberschüttet wird.[18] Typisch ist trotz einer ausgeprägten Rollentrennungeine gewisse Politisierung der Verwaltung nicht zu vermeiden. Sie kommt,wie besonders amerikanische Erfahrungen zeigen,[19] durch ein Abschiebenpolitisch ungelöster Probleme auf die Verwaltung zustande, ist alsoopportunistische, nicht ideologische Politisierung. Während fürEinparteiensysteme das Problem, wie wir noch sehen werden,[20]in derHerstellung hinreichender politischer Sensibilität liegt, stecken dieSchwierigkeiten hier infolge umgekehrter struktureller Prämissen imDurchhalten eines Mindestmaßes an politischer Schwerhörigkeit.

Andere Folgeprobleme gehen darauf zurück, daß trotz allerPräzisierungen der politischen Kalkulation durch Summenkonstanzprämisseund Zielformalisierung die Ungewißheit über vorzuziehende Alternativenimmer noch recht hoch ist, und zwar deshalb, weil die Reaktion derWählerschaft schwer vorausgesehen werden kann. Eine zuverlässigeInformierung über jeweilige Stimmungen aller Wähler und über derenZusammenhang mit bestimmten Entscheidungen oder Entscheidungsvorhabendes politischen Systems würde dessen Informationsverarbeitungspotentialweit überfordern. Die Politik muß sich daher mit grob vereinfachtenRechengrößen, mit Anhaltspunkten für den mutmaßlichen Wählerwillenbegnügen.[21] Sie orientiert sich an Symptomen. Als Symptome desWählerwillens dienen zum Beispiel in Systemen mit Mehrheitswahlrechtdie Nachwahlen, bei regional gegliedertem Staatsaufbau dieRegionalwahlen, ferner die Presse, die den Wählerwillen zu kennen vorgibtund vermutlich mitbestimmt,[22] die statistische Meinungsforschung, dieAndeutungen von Interessenverbänden über Stimmungen undAbstimmungsabsichten ihrer Anhänger sowie deren Bedingungen, einselbstgeschaffenes, kontinuierlich gepflegtes System von Symbolen, mitdenen man den Wähler emotional identifiziert glaubt, und anderes mehr.Möglicherweise ist auch die in der Politik verbreitete Annahme, daß derWähler primär aufgrund seiner wirtschaftlichen Interessen politischentscheide, eine solche Symptomorientierung: Man unterstellt den

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niedrigsten gemeinsamen Nenner als determinierend, zumal er den Vorzughat, in Geld meßbar zu sein. Sobald Informationen symptomatischen Werthaben, lenken sie die Aufmerksamkeit auf sich, strukturieren undvereinfachen sie übermäßig komplexe Handlungssituationen und werdendadurch in ihrem Effekt potenziert. Sie dienen als Gewißheitsäquivalente.

Wenn die Politik notgedrungen beginnt, mit Symptomen statt mit Fakten zukalkulieren, wird die Kontrolle über die Symptome ein Mittel, politischenEinfluß zu gewinnen. Auf diese Weise wird die Meinungsforschung einProblem für die Demokratie.[23] Die Presse sucht nicht nur Einfluß auf denWähler, sondern den präziseren, effektvolleren, schnelleren Einfluß auf dasBild, das die Politik sich vom Einfluß der Presse auf den Wähler macht.Der Wähler selbst muß, will er rational handeln, neben dem gezählten denexpressiven, symptomatischen Effekt seiner Stimmabgabemitberücksichtigen. Er muß bei Landtagswahlen auch die politischeSituation im Bunde bedenken, muß beachten, daß nicht nur absolute Zahlenund Mehrheiten, sondern auch »Trends«, ja selbst minimale Abnahmen undZunahmen der Stimmzahlen für die Politiker Orientierungswert haben. Undallgemein wird das Gewißheitsäquivalent der symptomatischen Informationzum Konsensersatz: An die Stelle der Verständigung aller mit allen tritt dieOrientierung daran, was andere denken, daß andere denken …

Ist eine solche Welt kaum verifizierbarer Vorurteile stabilisiert, wird dieLernfähigkeit der Politik zum Problem. So günstig die Lernbedingungen ansich sind in einer Ordnung, die eine zwingend normierte ideologischeVorstrukturierung der Wahrnehmungen und Kommunikationen weitgehendentbehren kann, so sehr beeinträchtigen die Schwierigkeiten der Voraussichtund der nachträglichen Zurechnung des Wählerwillens dieLernmöglichkeiten. Für die Interpretation von Wahlresultaten bestehtzumeist ein erheblicher Deutungsspielraum, und begreiflicherweise wirddieser Spielraum eher zur Bestätigung als zur Korrektur der bisherverfolgten politischen Linie einer Partei ausgenutzt. Während in ideologischstraff gebundenen Einparteiensystemen die Struktur die Lernfähigkeiteinschränkt, hat hier die Unstrukturiertheit der Situationen den gleichenkonservativen Effekt.

Schließlich muß daran gedacht werden, daß der Gewinn von Wahlennicht das Ziel des politischen Systems selbst ist, sondern nur ein Teilziel

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seiner politischen Parteien, das aufs Ganze gesehen kompensiert und inseiner Einseitigkeit ausbalanciert werden muß. Dieser Ausgleich erfolgtnicht mehr in alter, hierarchischer Weise dadurch, daß das Teilziel desWahlgewinnes als Mittel für »höhere« Zwecke begriffen und diesenuntergeordnet würde; das hätte keinen hinreichenden Effekt, da dieseübergeordneten Zwecke dann so abstrahiert werden müßten, daß siesinnleer und ohne Reduktionswert blieben. Statt dessen werden bestimmtesystemwichtige Werte, Normen und Rollen mehr oder weniger erfolgreichdem Parteienkampf entzogen und politisch neutralisiert.[24] Hier liegtübrigens einer der Gründe, weshalb selbst Mehrparteiensysteme nichtvollständig ideologiefrei eingerichtet werden können. Sie benötigenRudimente einer gemeinsamen Ideologie, zum Beispiel einer solchen desRechtsstaates oder des ökonomischen Liberalismus, um politische Tabus zulegitimieren und etwaigen Verstößen dagegen Anreiz und Erfolgschancen zunehmen.

Solche Tabuierungen sind auf der Ebene einzelner Werte, die ohnehinjedermann anerkennt, ziemlich unproblematisch. Keine Partei würde gegenRecht und Gerechtigkeit, gegen Freiheit, Erziehung, Familie usw. als Wertzu Felde ziehen. Für Normen, etwa die Grundrechte, die Regelung derGewaltenteilung, des Rechtssetzungsverfahrens usw., ist eine solcheNeutralisierung schon schwieriger zu erreichen, aber in zahlreichen Fällenlangfristig und überzeugend gelungen. Erst recht stößt die politischeNeutralisierung von Rollen im politischen System auf Schwierigkeiten, dasie Funktion und Einfluß der Politik gefährdet und zugleich offenläßt,welche Einflüsse anderer Art in das Vakuum der Macht einströmen.Praktisch wird es sich immer um Verwaltungsrollen handeln, durch derenNeutralisierung die in der Politik nicht hinreichend beachtete Konsistenzdes Entscheidens gesichert werden soll.[25]

Mehrere Typen von Lösungen dieses schwierigen Problems scheinen sichnebeneinander zu bewähren: Man kann den politischen Einfluß auf Rollenzulassen, aber strikt kanalisieren, also nur in bestimmten Formen gestatten.So kann z. B. die Justiz nur im Wege der Gesetzgebung beeinflußt werden,und sie wacht selbst über die Einhaltung dieser Schranken. Oder manschneidet die Funktion der neutralisierten Rollen so zu, daß diese entwederkeine Kompetenz zu bindender Entscheidung haben, also nur über politisch

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abhängige Instanzen wirken können (zum Beispiel Rechnungshöfe), oder daßsie nur solche Funktionen ausüben, für welche in der Politik mit mehr oderweniger Mühe funktionale Äquivalente beschafft werden können (so beiZentralbanken).[26] Als Regel wird man daher feststellen können, daß imUnterschied zu Werten und Normen Rollen bzw. Rollensysteme politisch nurneutralisiert werden können, wenn eine ausreichende Beweglichkeit fürProblemverschiebungen besteht, so daß wichtige Probleme auch außerhalbdieser Stellen oder sogar gegen ihren Willen politisch gelöst werdenkönnen.

Bisher hatten wir ohne weitere Differenzierung vonMehrparteiensystemen gesprochen. Nach diesem Überblick über Stil undGrenzen ihrer Rationalität muß jetzt noch wenigstens kurz auf einigewesentliche Varianten eingegangen werden. Wir orientieren uns einmal ander Unterscheidung, ob zwei oder mehr Parteien Chancen haben, an derVerwaltung legitimer Macht beteiligt zu sein (Zwei- bzw.Mehrparteiensystem von jetzt ab in diesem engeren Sinne), und ferner an derFrage, ob der Wahlkampf nur um Parlamentssitze geführt wird oder ob mitderen Verteilung nach fester Erwartung zugleich über die Verteilung derführenden Posten der Exekutive entschieden wird (Proporzsystem).

Das Zweiparteiensystem[27] wird geprägt durch die Tatsache, daß jededer beiden Parteien fähig sein muß und gegebenenfalls verpflichtet ist, dieRegierung allein zu führen. Jede hat daher die Chance, findet sich aber auchvor der Notwendigkeit, die Unterstützung einer soliden Mehrheit desPublikums zu gewinnen und zu behalten. In dieser Lage ist es vorteilhaft, einmöglichst breites Angebot der Befriedigung aller relevanten Werte zuvertreten, sich also nicht durch eine selektive Ideologie auszuzeichnen.[28]

Dem Zweiparteiensystem werden daher Tendenzen zur Mäßigungnachgesagt. Wie auch in der Wirtschaft bei oligopolitischer Konkurrenz zubeobachten, führt die Konkurrenz nicht etwa zu einer Differenzierung,sondern zu einer Angleichung des Angebots. Diese Tendenz wird nochverstärkt dadurch, daß die Parteien einander in der Macht ablösen und dabeiin der Regel die Neuerungen ihrer Konkurrentin übernehmen, sie alsomitvertreten müssen, weil sonst ein allzu kostspieliges Hin und Her – etwazwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft, zwischen Verstaatlichungenund Reprivatisierungen – entstünde.[29] Sehr häufig können die Parteien dem

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Publikum keine sachlichen, sondern nur noch personelle Alternativen zurWahl anbieten, die bestenfalls durch eine gewisseOberflächendifferenzierung der Parteiprogramme unterstützt werden. So istdie Frage berechtigt, zwischen was die Wähler im Zweiparteiensystemeigentlich wählen können.

Unter solchen Bedingungen gewinnen die Parteien aus dem politischenKampf selbst wenig Verhaltenshinweise – es sei denn für kurzfristige Zügeetwa bei der Ausnutzung taktischer Fehler der anderen Seite. Die Hauptlastder Reduktion von Komplexität wird, wie im Einparteiensystem auch, aufdie parteiinternen Entscheidungsprozesse abgewälzt. Deren Organisation –der Grad an Zentralisierung bzw. Dezentralisierung des Einflusses, die Art,wie Mitglieder rekrutiert und in Anspruch genommen werden, die Art undElastizität der Loyalitäten der Mitglieder und des hauptamtlichenParteiapparates, die Aufstiegsregelungen, die Quellen derParteifinanzierung, die Intensität und die parteihierarchische Höhenlage desPublikumskontakts und anderes mehr – gewinnt erhebliche politischeBedeutung.[30] Im Grunde wird die Leistungsfähigkeit solcherOrganisationen und nichts anderes zur Wahl gestellt.

Der Entscheidungsspielraum für die Parteiorganisation ist nicht nur durchdie sachliche und soziale Komplexität der politischen Situation gesichert –fast für alle Projekte hat die Partei gute Freunde, die dafür, und guteFreunde, die dagegen sind –, sondern auch dadurch, daß ihr eine solideMehrheit im Parlament zum Regieren genügt. Sie braucht nicht Stimmzahlenzu maximieren, nicht exzessive Anstrengungen und Kosten auf sich zunehmen, um auch die letzte Stimme noch zu gewinnen. Es gibt auf denKurven des Entgegenkommens Sättigungspunkte, hinter denen die Freiheitbeginnt, nein zu sagen, und Kulminationspunkte, von denen ab dasNeinsagen vorteilhaft wird, weil die Befriedigung weiterer Wünsche mehrAnhänger abschrecken als hinzugewinnen würde. Freilich kennt die Partei,da die Wahlergebnisse schwer vorhersehbar sind, diese Punkte nicht. Ihreinterne Organisation, die berufen wäre, sie zu finden, kann diese Aufgabe ineiner zu komplexen Umwelt nicht mit hinreichender Sicherheit lösen undbeschäftigt sich statt dessen mit der eigenen Komplexität und den darausresultierenden Problemen – auch dies ein Fall der Problemverschiebungvon außen nach innen, mit der das ursprüngliche Problem übermäßiger

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Komplexität abermals verkleinert wird. Auch deshalb wird es imZweiparteiensystem für den politischen Wähler rational, die seiner Ansichtnach leistungsfähigere Parteiorganisation zu wählen.

In Systemen mit mehr als zwei Parteien (Vielparteiensystemen) ist diepolitische Komplexität anders verteilt, und deshalb bewähren sich andereMechanismen und Strategien ihrer Reduktion. In diesen Systemen sind mehrals zwei Parteien, aber normalerweise nicht eine allein, in der Lage,legitime Macht zu übernehmen. Die Regierung kommt dann typisch durchBildung einer Koalition zustande. Der Wähler muß sich für eine bestimmtePartei entscheiden, ohne ihr die Alleinverantwortung für vergangeneEntscheidungen sicher zurechnen und ohne ihr Gewicht in den kommendenKoalitionsverhandlungen voraussehen zu können. Die Situation ist für ihn sounübersichtlich, daß er andere, nichtrationale Entscheidungshilfen braucht,vor allem weltanschauliche, interessenmäßige oder gruppenmäßigeAnhaltspunkte dafür, daß diese Partei, was immer in der Verwaltunggeschehe, ihm nahestehe.[31]

Um sich in den Augen des Wählers zu unterscheiden, genügt den Parteiendaher nicht die Tatsache, eine personell-organisatorische Einheit zu bilden,die entweder an der Macht ist oder in der Opposition steht. Die Parteienmüssen sich ideologisch oder durch Identifikation mit bestimmtenSymbolen, Interessen, Schicksalen, Sozialsystemen oderGesellschaftsschichten differenzieren, um einem begrenzten Kreis vonWählern Motive zu geben, sie zu wählen. Natürlich verschleißt auch hierdie Teilnahme an der Macht, besonders unter den Bedingungen einerKoalition, die ideologische Überzeugungskraft; aber da der Wähler keineÜberzeugungen, sondern nur Entscheidungshilfen braucht und da eine klareEntscheidungsverantwortung ohnehin nicht gegeben ist, ist es möglich, denParteien einen weiten Spielraum für opportunistisches Taktieren im Rahmenihrer Prinzipien einzuräumen.

Die Entscheidungslast, aber auch die Autonomie der einzelnen Partei, isthier weniger groß als im Zweiparteiensystem, weil sie ihr »Image« im Augedes Wählers identisch halten muß. Die politischen Situationen sind für jedePartei durch ihre eigene Identität stärker strukturiert. Viele Möglichkeitenscheiden allein dadurch schon aus, die Entscheidungslage beiSachproblemen ist einfacher. Allerdings wird nun die periodisch

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auftretende Koalitionsfrage zum Brennpunkt der Ungewißheit, in demletztlich ohne ausreichende Anhaltspunkte Fakten geschaffen werdenmüssen.

Die Ungewißheit der Koalitionsbildung kann noch weiter aufgelöst undwieder in eine Kette von Problemen für das tägliche Verhalten umgewandeltwerden, wenn die Beteiligung aller oder bestimmter Parteien an derKoalition ohne Rücksicht auf den jeweiligen Stimmbedarf typisch underwartbar wird. Man kann im Hinblick darauf von Proporzsystemensprechen. Der Ausgang politischer Wahlen drückt sich dann nicht nur in derVerteilung der Parlamentssitze, sondern mehr oder weniger automatischauch in der Verteilung der leitenden Exekutivpositionen aus. Systeme dieserArt sind zum Beispiel in Österreich, der Schweiz und im Libanon praktiziertworden. Sie führen dazu, daß die parlamentarische Mehrheitsentscheidungals letzter Mechanismus der Entscheidung politischer Streitfragen umgangenwird und diese Konflikte bis in die Exekutive hineingetragen werden. Dortgibt es keine Möglichkeit kontinuierlicher Überstimmungen mehr, weil alleBeteiligten »eigene« Kompetenzen verwalten, deren Zusammenwirken inwechselnden Interessenkonstellationen und Abhängigkeitslagenunentbehrlich ist; man muß sich also wohl oder übel vertragen. So findensich Proporzregeln typisch in politischen Systemen mit intensiven odergleichgewichtigen Konfliktlagen, die es sich nicht leisten können, dasMehrheitsprinzip als Mechanismus der Unterdrückung zu verwenden.[32]

Die Kontinuität der Koalitionen führt dann zur Institutionalisierungpolitischer Kompromißbereitschaft zwischen den – nicht wie imZweiparteiensystem in den – Parteien, da alle Koalitionsparteien unter dem»Gesetz des Wiedersehens in veränderten Macht- und Abhängigkeitslagen«stehen.[33]

Im Ergebnis bedeutet diese Ordnung jedoch, daß die politischeKomplexität nicht in der eigentlich politischen Sphäre bewältigt, sondern indie Verwaltung abgeschoben wird und dort abgearbeitet werden muß aufKosten der spezifischen Verwaltungsfunktionen. Und auch in der Verwaltungstellen juristisch besorgte Beobachter noch Verschiebungen der faktischengegenüber den rechtlichen Kompetenzen und Verantwortungen fest.[34]

Koalitionstaktische Kompromisse sichern zwar auch eine Art vonZusammenhang des Entscheidens, aber nicht unbedingt jene

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programmatische Konsistenz, welche die Verwaltung zu pflegen hat.Proporzsysteme bezahlen ihren Versöhnungseffekt mit dem Verlust mancherVorteile, die aus einer schärferen funktionalen und strukturellen Trennungvon Politik und Verwaltung gezogen werden könnten.

Alle diese Lösungen des Problems der Rationalisierung politischenVerhaltens erwachsen trotz ihrer Verschiedenartigkeit aus einemgemeinsamen Stamm. Sie beruhen darauf, daß die Komplexität des Bereichsder Politik in zwei unvergleichbaren Schritten reduziert wird: zunächstdurch Konstituierung einer Mehrzahl von Parteien, deren allgemeineSituation dadurch strukturiert ist, daß sie im Widerstreit miteinander umlegitime Macht konkurrieren; sodann durch parteiinterneEntscheidungsprozesse, die in dieser schon strukturierten Situation denBestand der jeweiligen Partei durch Erwerb legitimer Macht zu erhalten undauszubauen suchen. Reduktion in zwei Schritten ist ein Verfahren, daserhebliche Vorteile bietet, auch wenn in keinem der Schritte das ganze,ursprüngliche Problem der Komplexität gesehen und gelöst wird.[35]

Wir gehen nunmehr zum Einparteiensystem über, das diese Weise desVorgehens in diskrepanten Schritten verwirft, aber auf andere Weise zuähnlichen Ergebnissen kommt – nämlich durch die Differenzierung vonIdeologie und Aktion.

Einparteiensysteme empfehlen sich namentlich dann, wenn die gesamteKomplexität des politischen Systems, ja der Gesellschaft überhaupt, in einereinheitlichen ideologischen Gesamtkonstruktion erfaßt wird und auf dieserBasis reduziert werden soll. Die Ideologie ist dann die eigentlicheVerfassung der politischen Prozesse. Sie steuert das, was auf der Ebene derWerte und Programme als Sinn zulässig ist. Auf der Ebene der Rollenentspricht ihr die eine Partei, die sich als Träger der einen Ideologiebegreift und sich durch sie in ihrem Anspruch auf Einheit undAusschließlichkeit gerechtfertigt sieht.[36] Die Lösung des Problemskomplexer Politik, die Verschmelzung instrumenteller und expressiv-konsumatorischer Aspekte des Erlebens, wird zunächst von der Ideologieerwartet. Sie soll Fernziele, z. B. Entwicklungsziele, vergegenwärtigen undmit Sinn, Sicherheit und Orientierungskraft ausstatten. Der Entwurf derIdeologie fixiert die Grenzen des zulässigen Sinnes und absorbiert damitjene äußerste Komplexität, die jede sinnhafte Orientierung gefährdet.

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Innerhalb des so gesteckten Rahmens wird dann, explizit oder implizit,widerspruchsfreie Orientierung des Handelns als erreichbar postuliert, zumBeispiel in der Form, daß alle Widersprüche als unstabil behandelt und inAntriebe einer dialektischen Entwicklung aufgelöst werden. EinheitlicheRationalität des Handelns scheint dann von je bestimmten historischenLagen aus möglich und letztlich ein Erfordernis des Bestandes derGesellschaft zu sein. Unauflösbare Widersprüche führen zu Revolution. Dermarxistische Sozialismus ist der einzige, groß und tief ansetzende Versuch,diese Reduktionsweise zu verwirklichen. Anders orientierteEinparteiensysteme haben keine dem Problem angemessene Ideologiehervorgebracht.

Macht man diese Voraussetzung einer gesellschaftseinheitlichen (nichtgruppenspezifischen oder schichtenspezifischen) Ideologie, hat es keinenSinn, das politische System und seine interne Differenzierung in Politik undVerwaltung auf äußerste Komplexität, auf eine unbestimmte undunvorhersehbare Vielfalt von Problemen und Problemlösungsmöglichkeiteneinzustellen. Divergierende Begriffe von Rationalität in Politik undVerwaltung anzuerkennen ist dann unnötig; eine institutionelle Vorsorgedafür wäre schädlich, weil sie die Einheit und Überzeugungskraft derIdeologie untergrübe. Es wird der Anspruch erhoben, bewußte und wahrePolitik für die Gesellschaft als Ganzes zu machen: zu planen.

Andererseits sind die Sozialordnung und dieEntscheidungszusammenhänge bereits so komplex, daß auf der Ebene derRollen an eine strukturelle Verschmelzung von Politik und Verwaltung zueiner einheitlichen politischen Hierarchie alten Stils nicht mehr gedachtwerden kann. So wählt man eine dazwischenliegende Möglichkeit: Politikund Verwaltung, Partei und Bürokratie ordnen sich der gemeinsamenIdeologie unter und differenzieren sich durch ihr Verhältnis zurverbleibenden Innenkomplexität dieser Ideologie. Eine Trennung von Politikund Verwaltung wird zwar vorgesehen, aber nur unvollständig verwirklicht.Sie bleibt im wesentlichen auf die Ebene der Rollen beschränkt. Personellbestehen zumeist starke Verflechtungen: Die Verwaltungsorganisation wirdauf allen Stufen der Hierarchie mit Parteiangehörigen durchgesetzt, um einelückenlose Überwachung aller Etappen des Reduktionsprozesses durch diePartei zu gewährleisten. Die Wertbekenntnisse sind in beiden Bereichen

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identisch, und auf der Ebene der Programme findet man zumindest in denGipfelprogrammen der gesellschaftlichen Entwicklung eine gemeinsame,Politik und Verwaltung umfassende Planung.

Infolge starker personeller Verschmelzung und ideologischer Integrationuntersteht die Verwaltung demnach einer doppelten Hierarchie – ihrereigenen und der der Partei.[37] Das ermöglicht es, unbeabsichtigteNebenwirkungen, dysfunktionale Folgen, unvorhergesehene Kosten derBürokratie, ihrer jeweiligen Organisationsformen oder ihrer jeweiligenProgramme, in der Parteihierarchie rücksichtslos als »Fehler« zu behandelnund zu bekämpfen, ohne daß dabei zwischen vermeidbarem Schlendrian undpsychischen oder sozialen Strukturgesetzlichkeiten scharf unterschiedenwürde.[38] Der offiziellen Darstellung zufolge ist dieses Verlangenwiderspruchsfrei und berechtigt. Demgemäß »hilft« die Partei derVerwaltung lediglich bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. In der Praxis setztsich die behauptete Konsistenz der Ideologie in eine scharfe Kontrolle derVerwaltung um, die ihrerseits durch Unabhängigkeitsstrategien aller Art dieSachlogik und Erfolgsbedingungen ihres Arbeitsbereiches verteidigt.[39]

Solche »Mängel« der Verwaltung bleiben der Partei nicht verborgen, die, dasie eine eigengesetzliche Autonomie der Verwaltung als eines sozialenSystems braucht und doch ideologisch nicht akzeptieren kann, darauf mitperiodischen Umbesetzungen, Reorganisationen oder mitErziehungskampagnen reagiert.[40]

Die Ideologie muß, soll sie ihre integrierende Funktion bewahren,allgemein und unbestimmt formuliert sein, so daß sie jeweils neuen LagenSinn zu geben vermag. Die Verwaltung braucht hingegen ziemlich präzise,handlungsnah formulierte Entscheidungsprogramme: Rechtsnormen,Planziele, Prioritäten usw., die sie zügig anwenden kann. Sie kann nichtunmittelbar nach dem Kanon der geheiligten Schriften planen und judizieren,sondern bedarf einer Zwischenschicht von Entscheidungsprämissen, derenideologisch einwandfreier Charakter ihr bescheinigt ist und bis auf weiteresunterstellt werden kann. Sie muß sich auf eine jeweils geltende Auslegungder Ideologie und der historischen Lage stützen können, und es muß ihr hinund wieder zugeflaggt werden, wie unerwartete Ereignisse korrekt zuinterpretieren sind, wie die Linien verlaufen, jenseits deren man»abweicht«, und auf welche Vergangenheit man sich berufen bzw. nicht

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berufen darf. Diesen vorausgesetzten Beitrag leistet das »Gewissen derRevolution«, die interpretierende und kontrollierende Partei.

Auch hier ist und bleibt Politik selbstverständlich Machtbildung. Nichteinmal in Jugoslawien wird sie zu einer rein literarischen,wissenschaftlichen oder humanitären Beschäftigung mit der Ideologie. Aberdie Art, wie Macht gebildet, wie die Reduktionsleistung einzelnerKommunikationen generalisiert werden kann, wird durch die Voraussetzungder Ideologie vorgegeben. Der Machtgebrauch wird in ungewöhnlich hohemMaße verbalisiert. Das Phrasenzimmern, Parolenausgeben,Bekenntnisabgeben, Beim-Wort-Nehmen, Äußerungenauslegen undÄußerungenwiderrufen wird zum täglichen Medium der Politik.[41] DieMacht bleibt in die Ideologie verstrickt. Exegese wird, wie DolfSternberger[42] formuliert, zur Herrschaftsaufgabe. Damit ist nicht nurgemeint – was evident ist –, daß alle öffentlichen Kommunikationen imRahmen des ideologisch Zulässigen zu bleiben haben. Vielmehrtransformiert die Ideologie die unbestimmte Komplexität von Politik undGesellschaft in bestimmte oder doch bestimmbare Komplexität und setztdamit zugleich die offenen und die latenten Probleme der Erhaltung undDarstellung der Ideologie an die Stelle des ursprünglichen Problemspolitisch-gesellschaftlicher Komplexität. Anstelle dieses Problems deräußersten Komplexität müssen dann die Folgeprobleme der immerhin nochbeträchtlichen Komplexität der Ideologie gelöst werden – so wie dieMehrparteiensysteme die Folgeprobleme eines dauernden Kampfes um dieMacht zu ertragen und abzuarbeiten haben.

Setzt sich die Ideologie als Weltanschauung durch, dann lassen sichSachzusammenhänge und Konsenschancen besser abschätzen. Das Verhaltengewinnt an Voraussicht. Das gilt vor allem für das konforme Verhalten, sehrentschieden aber auch für das ablehnende Verhalten, das die Ideologieverneint, damit die ursprüngliche Komplexität wiederherstellt und sichselbst deshalb nur in einer unvorteilhaft-drastischen Reduktionsweise alsAngriff auf die Ideologie, als Kampf gegen das System verstehen kann. Amwenigsten profitiert von diesem Gewinn an Struktur und Voraussichtvielleicht das innovative, Neuerungen anstrebende Verhalten, und hiersammeln sich denn auch die Hauptprobleme einer solchen Ordnung an.

Die Vorteile einer ideologischen Grundorientierung können nämlich nicht

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mehr in invarianten Institutionen eingefangen und sichergestellt werden,wenngleich sie gewisse zentrale Gedanken mit dem Scheinwissenschaftlicher Erkenntnis, als angeblich bewiesene historischeGesetzlichkeit oder auf andere Weise, abzustützen sucht. Die Rechtfertigungdes Handelns soll ihren absoluten Charakter nicht verlieren, muß aber aufwechselnde Inhalte bezogen werden.[43] Faktisch ist die Ideologie ständig inArbeit, und sie muß ihr In-Arbeit-Sein mit ideologisieren. Sie verwirklichtsich nicht durch naiven, thetischen Seinsglauben, sondern als ein reflexiverProzeß, dessen Eigenart in einer kontinuierlichen Anwendung auf sich selbstbesteht. In diesem Prozeß werden auch die letzten Werte noch bewertet undgegebenenfalls umgewertet im Hinblick auf ihre Funktion, das Handeln zuorientieren. Ideologie ist in ihrem Kern Reflexivität des Wertens, undinstitutioneller Träger dieser Reflexivität ist die Partei.[44]

Als Einfallstor und Legitimierungsformel dieser Reflexivität dient in dermarxistischen Ideologie die Doktrin der »Einheit von Theorie und Praxis«.Dies Postulat ist in seiner dialektischen Auslegung eine Formel fürunendliche Komplexität, denn es bedeutet, daß die Theorie mit der Praxisund zugleich die Praxis mit der Theorie variiert, so daß schlechthin allesmöglich ist.[45] Alle Ideen werden im Bereich dieser Doktrinhandlungsbezogen erlebt, alle Aussagen werden zu Bekenntnissen, und allesHandeln muß entsprechend laufend auf seine Implikationen für die Ideologieabgehorcht werden. An diesem Prinzip der Reflexivität bricht die Trennungvon Ideologie und Aktion, jene unentbehrliche Zweitaktigkeit der Reduktionvon Komplexität, immer wieder zusammen und muß immer wieder neustabilisiert werden, damit man für eine Zeitlang wenigstens weiß, wasrichtig ist. Mit seltener Schärfe und Klarheit treffen die Forderungen nachunendlicher Komplexität und nach Reduktion aufeinander und erzwingeneine entsprechend bewußte Lösung dieses Widerspruches – durchOrganisation und Arbeit.

Soll eine Ideologie rational gehandhabt werden als Grundlage derReflexivität des Wertens, muß ihre Funktion bewußtgemacht und alsOrientierungsgesichtspunkt benutzt werden. Auch hierfür gibt dasmarxistische Denken das beste Beispiel ab: Das Phänomen der Ideologiewird zunächst am anderen, am Kapitalisten, in seiner latenten Funktionalitätentdeckt, die Brauchbarkeit von Ideologien wird gelernt und die Ideologie

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dann so geformt, daß ihre Funktion manifest werden kann. Sie heißt dann»Theorie« des Handelns und ihre offengelegte Funktion wird als »Prinzipder Parteilichkeit« verklärt.

Während beim Mehrparteiensystem die Disponibilität der Programmeund Werte durch eine systemrelative Zweck/Mittel-Vertauschung gewonnenwurde, macht das Einparteiensystem die Reflexivität und ihren Träger, diePartei, zum zentralen Moment einer allgemeingültigen Ideologie: Die Parteiartikuliert das richtige Bewußtsein der historischen Lage, ein Bewußtsein,das das Handeln in dieser Lage determinieren kann, weil es sich durch siedeterminieren läßt. Während das Mehrparteiensystem gewisse Werte undNormen politisch neutralisieren muß, um sie dem Parteienkampf zuentziehen, muß das Einparteiensystem gewisse Elemente der Ideologie derVerunsicherung durch die Reflexion entziehen – am besten dadurch, daß esdie Grundlagen der Ideologie als bewußtseinsunabhängig, alsomaterialistisch auslegt. Das Bekenntnis zum Materialismus ist einfunktionswichtiges Requisit der Ideologie, die gesamtgesellschaftlicheIdeologie (und keine »Klassenideologie« mehr) sein will. Überhaupt ist diegedankliche Form von Ideologien, die in funktional differenzierten,hochkomplexen Sozialordnungen Erfolg haben können, durch diesesProblem der Reflexivität des Entscheidens, Wertens und Programmierensbedingt: Die alte begriffliche Aufteilung der Welt in Materie und Form bzw.Materie und Geist oder Bewußtsein wird fortgeführt, aber jener Funktionder Sicherung und Begrenzung reflexiver Entscheidungsprozesseuntergeordnet.[46]

Wie die Konzeption der Ideologie im ganzen muß auch ihre Verwendungauf die Erhaltung der Reflexivität des politisch-administrativenEntscheidungsprozesses achten. Sie darf nicht unversehens dogmatisiertwerden oder gar in naturhaft-unveränderliches Sein zurücksinken,[47] so daßdie Funktion der Begriffe nicht mehr verstanden wird. Das erfordert einenunaufhaltsamen Kampf gegen die Tendenzen des menschlichen Bewußtseinszur Verdinglichung seiner Gegenstände, ein Kampf, der im politischenBereich kaum besonders günstige Bedingungen findet. Außerdem wird esimmer notwendig, in neuen Situationen vergangene Engagementsabzuschütteln, also ohne Bindung durch die Geschichte zu handeln.[48] DasRecht zum Selbstwiderspruch muß in der Ideologie zumindest für die Partei

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vorgesehen sein und darf den Handelnden nicht diskreditieren, solange erdabei für die Partei handelt. Diese hat das richtige Zukunftskonzept, führt ineine schon festliegende Zukunft hinein und findet darin genug Sicherheit, umsich von der Vergangenheit frei zu machen und auch darüber noch zuentscheiden, was sie an eigener Geschichte beibehalten will. Nicht daß erseinen Prinzipien treu bleibt, sondern daß er sich auf dem laufenden hält,macht den wahren Marxisten aus.[49]

Mit dieser Gefahr der Dogmatisierung ist die andere desIdeologischwerdens der Ideologie eng verbunden. Damit ist gemeint, daßdie Ideologie ihre Führungsfunktion verliert und in einer bestimmtenFassung antievolutionär festgehalten wird, weil sie so die Gesellschaftintegriert und die Rolle der Partei mitsamt ihren »vested interests«legitimiert, obwohl andere Gesellschaftsstrukturen sich längst zu höhererKomplexität fortentwickelt haben. Das Phänomen ist, die paradoxeFormulierung soll das anzeigen, schwer zu entdecken. Immerhin scheint esfeinfühligen Beobachtern so, als ob der voluntaristisch-mitreißende Stil derIdeologiebehauptung aus der Anfangszeit des Kommunismus inzwischeneinem mehr defensiven Stil der Ideologiepflege, des Ermahnens undWiederbelebens gewichen sei, hinter dem uneingestanden die Möglichkeitlauert, die Ideologie könne irrelevant, die Partei könne überflüssig werden.[50]

Andere Schwierigkeiten gehen darauf zurück, daß die Anforderungen andie Reduktionsleistungen der Ideologie, an ihre Verwendbarkeit alsEntscheidungs- und Erklärungshilfe, sehr hoch zu liegen pflegen, sich nichtauf bestimmte Situationen isolieren lassen und praktisch unvorhersehbarsind. Die Ideologie kann ihre Orientierungsfunktionen daher nur durch hoheSymbolkonsistenz und Formuliertheit ihrer Werte, Programme undFaktendeutungen erfüllen. Dieses Konsistenz- und Formuliertheitsgebotgefährdet die Änderungsfähigkeit der ideologisch abgedecktenEntscheidungsprämissen. Wie immer bei starken Interdependenzen könnenhier kleine Änderungen zu Lawinen anschwellen und unübersehbareFolgewirkungen haben. Neuerungen müssen daher außerordentlichbehutsam, mit Gefühl für ihre logischen und symbolischen Implikationen undmöglichst unter Isolierung auf einzelne Sachfragen oder Teilbereicheeingeführt werden.[51] Sie verbergen sich oft unter einer begrifflich

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nichtssagenden Fassung des neuen Programms.[52] Nicht selten müssen siezurückgezogen oder abgeschwächt werden, wenn die Konsequenzensichtbar werden und der Änderungsprozeß außer Kontrolle zu geraten droht.[53]

Das Risiko einer Änderung kann unter diesen Umständen nur getragenwerden, wenn über die Ungewißheit der Folgen weitreichender Konsenshinweghilft – Konsens, der nicht zuletzt auch die gemeinsame Absichtdokumentiert, »unmögliche« Auslegungen der Neuerung zu vermeiden. BeimAufbau eines solchen Änderungskonsenses bedient man sich der Partei alseiner Struktur der Machtdifferenzierung, die zugleich die Konsensrelevanzdifferenziert. Es wird nicht nur wichtig, wen man für neue Gedankengewinnen kann; die Machtordnung der Partei läßt für die Eingeweihten aucherkennbar werden, wen man gewinnen muß, wessen Vorkonsens an welchenStellen zählt, wessen Konsens den anderer nach sich zieht oder voraussetzt,welche Personalveränderungen durchgesetzt werden müßten, wann eineneue Richtung so viel Schwung gewonnen hat, daß man sie nicht mehrnegieren, sondern allenfalls umleiten kann, und wann spätestens man sichmit ihr solidarisch erklären muß, um den Anschluß nicht zu verpassen. Einesolche Ordnung strukturiert das Hineindiskutieren von Änderungen in dieIdeologie, sie erleichtert oder erschwert es je nachdem, welcheKonsequenzen die Neuerung hat und für wen und wie sie in die Geschichtedes ganzen Systems und in die Biographien seiner Hauptakteure hineinpaßt.Bei der dichtgewebten Konsistenz des Ganzen sind wesentliche Neuerungennicht einführbar, ohne daß die Geschichte umgeschrieben werden muß. Soist es für die Konsenschancen nicht unerheblich, wer in welchen Hinsichteneine neue Vergangenheit braucht und wie sie ihm verschafft werden kann. Injedem Falle ist das Zentrum der Diskussion die Partei, schon weil ihreStruktur benötigt wird, um Vorgehensweise, Verantwortung für Teilschritteund Konsensrelevanz zu dosieren. Die Diskussion ist nicht notwendiggeheim oder vertraulich, aber sie hat ihren ordnenden Kern nicht in derÖffentlichkeit. Gezielte Veröffentlichungen sind nicht ungewöhnlich; sienehmen jedoch die Öffentlichkeit nicht als Medium der Wahrheitsfindungoder als Schiedsrichter in Anspruch, sondern nur als Mittel, die Lage in derParteidiskussion zu verändern, Verknotungen aufzulösen oder zu umgehen,neue Situationen und Argumentationsweisen zu schaffen oder alte zu

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blockieren.[54] All das setzt bei den Teilnehmern der Diskussion einUrteilsvermögen und eine Kenntnis der Lage voraus, die Uneingeweihte vonvornherein ausschließen und der Diskussion auch insofern den Anscheineiner geschlossenen Veranstaltung geben.

Die dysfunktionalen Folgen einer solchen Ordnung derideologieverwaltenden politischen Prozesse sind zunächst einmal die einesjeden Großbetriebes. Man hat im Inneren der Partei zum Beispiel miterheblichen Kommunikationsschwierigkeiten zu rechnen, besonders wasInformationen angeht, die ideologisch heikel sind oder nicht sicher definiertwerden können. Unangenehme Wahrheiten werden in allen Großbetrieben andie Grenzen zurückgestaut, da zu Recht oder Unrecht vermutet wird, daß dasUnglück am Überbringer gerächt wird. Nachteilige Informationen gelangennur in statistischer Verdünnung oder sonstiger Abschwächung an die Spitze.Das mindert die ohnehin schon ideologisch vorschematisierte politischeSensibilität der Partei auch im alltäglichen Verkehr.[55]

Andere Folgeprobleme gewinnen besonderes Gewicht durch dieeigentümliche Stellung, welche die Partei im politischen System einnimmt –vor allem dadurch, daß sie faktisch, wenngleich nicht juristisch, dasMonopol auf letzte inappellable Entscheidung beansprucht. Anders als imFalle der Verwaltung wird die Parteiführung nicht von außen eingesetzt undlegitimiert; und anders als im Mehrparteiensystem erweist ihre Eignungoder Nichteignung sich nicht am kurzfristigen Feedback der politischenWahl. Sowohl Bewährung als auch Wechsel der Führung muß inparteiinternen Prozessen vollzogen werden, die Ursachen und Kriterien insich selbst finden.

Zuverlässige Selbstanalysen aus der Führungsspitze solcher Parteien sindbegreiflicherweise selten. Man wird indes annehmen können, daßkleingruppenartige Prozesse zusammen mit taktisch-berechneten Alliancenund eine gewisse Rücksichtslosigkeit in der Ausnutzung von Machtvorteilendazu verhelfen, daß erwartbare Führungsleistungen sich kristallisieren undverfestigen. Die Notwendigkeit, ohne Außenhalt intern zu motivieren, stelltzweifellos hohe Anforderungen an das Führungspotential der Spitzenkräfte.Mangels struktureller Sicherstellung wird sich hier nur ein relativ labilesGleichgewicht der Kräfte einspielen können, das von System zu System undvon Epoche zu Epoche variiert.

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Noch wichtiger ist das Problem, wie die Machtstruktur reflexiv gemachtwerden kann, so daß auch die Machthaber übermächtigt und gegebenenfallsausgewechselt werden können. Die Reflexivität der Ideologie und derEntscheidungsprozesse sichert nicht automatisch auch die Reflexivität derMacht, die erstere verwaltet. Je straffer hierarchisch die Partei organisiertist, um ihre Macht zu steigern, desto schwerer muß es ihr fallen, ihreMachthaber wie auswechselbare Entscheidungsprogramme zu behandelnund bei Bedarf zu Lebzeiten abzulösen, weil sie dazu, im Widerspruch zurformalen Struktur, in untergeordneten Stellen mehr Macht ansammeln müßteals an der Spitze. Den Tod des Chefs abzuwarten überfordert die Geduldund überläßt den Machtwechsel einem Zufall, der mit denEntscheidungsbedürfnissen nicht koordiniert ist; den Tod im Bedarfsfalleherbeizuführen verschärft die internen Spannungen, da die Machthaber dannnicht nur um ihre Macht, sondern auch um ihr Leben kämpfen werden.[56]

Für das System ist es ein klarer Vorteil, wenn der Machtwechsel bei Bedarfmit Überlebenschancen oder sogar mit Pensionsaussichten für dieBeteiligten durchgeführt werden und die Macht gleichsam ungeschmälertübergeben werden kann, wenn sie in der Führungsgruppe keinenausreichenden Rückhalt mehr findet.[57] Dann können durch Machtwechselnicht mehr nur sporadisch auftretende Ersatzprobleme gelöst, sondern auchsystemimmanente Funktionen der Anpassung und Innovation erfüllt werden– eine bei steigender Komplexität und Variabilität zunehmend unerläßlicheErrungenschaft.

Daß diese Lösung nicht ausgeschlossen ist und vielleicht sogar dauerhaftinstitutionalisiert werden kann, scheinen die Erfahrungen der Sowjetunionseit dem Tode Stalins zu lehren.[58] Offensichtlich ist das Ausmaß derInstitutionalisierung der Partei als permanenter Organisation ein dafürausschlaggebender Faktor. Möglicherweise ist dies für Systeme, derenMacht nicht extern gestützt, sondern intern aufgebaut wird, überhaupttypisch, daß die relativ größte Macht nicht an der Spitze, einer mehr oderweniger beengten Sackgasse des Kommunikationsnetzes, anfällt, sondern anden nachgeordneten Knotenpunkten der Kommunikation. Jedenfalls könnenfür eine solche Entwicklung in Gestalt von Hausmeistern, Shogunen,Großwesiren, Polizeichefs, Untergeneralen und nicht zuletzt auch in Gestaltvon Parteisekretären viele Beispiele gefunden werden. Das würde auch

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erklären, weshalb die stabiler gebauten Einparteiensysteme nicht Parteieneines »starken Mannes« sind, sondern ihre formale Spitze in einemGremium haben, das vom Amt des Parteisekretärs oder vom Politbüro ausmehr oder weniger sicher beherrscht werden kann.

Weitere Sekundärprobleme hängen mit den Schwierigkeiten des Lernensin einem ideologisch strukturierten und zugleich bürokratisierten politischenParteibetrieb zusammen – Lernen hier verstanden als Aufnahme neuerErfahrungen mit entsprechender Umbildung der Entscheidungsprämissen,also als Strukturänderung. Die Lernfähigkeit ist in einer solchen Ordnungnicht durch Strukturmangel und Überkomplexität erschwert, etwa durchBezugsunklarheit der Feedback-Informationen wie im Mehrparteiensystem,sondern sie leidet umgekehrt unter der Struktur der ideologischenVerhaltensprämissen, die Initiativen mit erheblichen Risiken, nicht seltenmit Gefahr für Freiheit und Leben, belastet und zahlreicheÄnderungsvorschläge als völlig aussichtslos entmutigt. Dazu kommt, daß diePartei, die die Ideologie verwaltet, zu wesentlichen Innovationsquellen,nämlich Wissenschaft und technisch-fachlicher Effizienz, in einemuneingestandenen Spannungsverhältnis lebt. Die Wissenschaft behauptet einMonopol auf Wissen, dessen intersubjektive Geltung methodisch zwingendgesichert ist. Die Ideologie muß, um an dieser Geltung partizipieren zukönnen, sich als Wissenschaft ausgeben;[59] aber ihre Folgenverantwortungist größer und ihre Reduktionsleistung einschneidender. Weder kann dieIdeologie sich das detachierte Eingeständnis prinzipiell falsifizierbarerHypothesen leisten, denn ihre Symbole müssen Gefühle engagieren undbinden, noch kann sie bei dem jeweils gesicherten Wissensstandstehenbleiben, sondern muß das wissenschaftlich mögliche Wissenüberziehen. In dieser Zwangslage ist sie gegen Kritik im Namen derWissenschaft oder der Technik außerordentlich empfindlich.[60] Auch dasbelastet ihre Lernmöglichkeiten.

Schließlich findet die Lernfähigkeit Schranken darin, daß die Ideologieauch die Problemstellung zu erfassen und vorzustrukturieren sucht unddaher Wahrnehmung wie Lösung von Problemen auf ein begrenztes,selektives Problemverständnis gründet. Solch eine ideologische Kontrolleder Genesis von Problemen hat über die Frage der Lernfähigkeit hinausgrundsätzliche Bedeutung für die gesellschaftliche Ausbalancierung des

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politischen Systems und gibt der Unterscheidung von Mehrparteiensystemenund Einparteiensystemen eine Tragweite, die weit über den Bereich derpolitischen Prozesse im engeren Sinne hinausreicht.

Bei der Erörterung der allgemeinen Funktion des politischen Systems,bindende Problementscheidungen zu treffen, waren wir bereits daraufgestoßen, daß der Problembegriff eine Variable bezeichnet, die sehrverschiedene Formen annehmen kann.[61] Das ermöglicht es, Gesellschaftenunter dem Gesichtspunkt zu vergleichen, welche Probleme sie alsentscheidungsbedürftig politisieren. Ferner kann, und darauf stoßen wir hier,die Frage gestellt werden, wo im politischen System dieentscheidungsbedürftigen Probleme artikuliert werden, wie also dieKontrolle über die Problemstellung (im Unterschied zur Auswahl derLösungen) im politischen System verteilt ist und welche Konsequenzendiese Lokalisierung hat.

Mehrparteiensysteme tendieren dazu, eine uneingeschränkte Formulierungvon Entscheidungswünschen durch das Publikum zuzulassen.[62] Der Ideenach werden Entscheidungsbegehren durch Publikumsrollen artikuliert. Inder Praxis leisten Interessenverbände maßgebliche Formulierungshilfe.Außerdem entstehen viele Probleme aus den Entscheidungsschwierigkeitenund Programminkonsistenzen der Verwaltung und werden alsPerfektionswünsche an die Politik zurückgegeben. Typisch liegt dieProblemartikulation aber nicht bei den Organisationen, die gegebenenfallsdie Regierungsverantwortung tragen müssen – bei den Parteien. Sie ist, mitanderen Worten, nicht durch Rollenidentitäten mit Herrschaft, mitmaßgeblicher Auswahl der Problemlösungen, gekoppelt. Die Parteipolitikwird daher mit Entscheidungswünschen überschwemmt und konzentriertsich auf ein Sortieren, Filtern, Generalisieren, Ausgleichen, Reduzieren vonForderungen, deren Entstehung sie nicht kontrolliert. Sie arbeitet imwesentlichen auf Anstoß, hat mit ständiger Überforderung zu kämpfen,braucht eine pluralistische Struktur, um hinreichende Sensibilität für alleWünsche zu entwickeln, und tendiert dazu, einen Teil der Entscheidungslastauf die Verwaltung abzuwälzen, die unter dem Druck dieser politisch nichtbewältigten Komplexität mehr oder weniger opportunistisch verfahren muß.Mit der Kontrolle über die Problemstellung geht den Parteien sehr leichtauch die Fähigkeit zu weitsichtiger Planung verloren.

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Einparteiensysteme erstreben eine etwas andere Balance zwischenPlanung und Sensibilität für Forderungen. Kein politisches System kann aufSensibilität für Forderungen oder auf Planung ganz verzichten; aber dieAkzentuierung läßt sich beträchtlich verschieben. Wenn es mit Zwang undanderen Mitteln gelingt, eine Ideologie als Gesetz der öffentlichen Meinungzu institutionalisieren, kommen keine Probleme mehr ans Licht derÖffentlichkeit, die nicht den Test der Ideologie schon passiert haben.[63]

Alle bewundern immer die Aufbauarbeit der Partei und ihren Kampf fürFrieden und Völkerverständigung, und man gibt höchstens zu bedenken, wiedas eine oder andere noch besser gemacht werden könnte.

In den marxistisch denkenden Systemen wirkt diese Schematisierung sichso aus, daß alle Probleme sich auf technische oder wirtschaftlichereduzieren lassen, es also für die Politik keine Probleme mehr gibt, die sichnicht durch Steigerung des Wirtschaftspotentials lösen ließen. Auch indiesem Vereinfachungseffekt bewährt sich der materialistische Grundansatzder Ideologie. Was auf die Politik zukommt, sind dann, wenn man von derAußenpolitik absieht, nur noch Probleme der Verteilung knapper Güter.[64]

Dafür genügt ein Einparteiensystem. Dessen Potential fürInformationsverarbeitung ist auf diese vereinfachte Problemvorgabeabgestimmt. Ein begrenzter Interessenpluralismus wird inEinparteiensystemen durchaus akzeptiert, ja als funktionswichtig erkannt undorganisiert.[65] Die Sensibilität des politischen Systems im Verhältnis zurGesellschaft kann in komplexen Sozialordnungen, die tägliches Verhaltendurch politisch-administrative Entscheidung regeln müssen, nie ganz durchMachtentfaltung ersetzt werden.[66] Der »Kontakt mit den werktätigenMassen« wird zur Parole, zum Gegenstand gelegentlicher Parteikampagnen,zum Hebel einer Einfallskritik.[67] Das bleibt nicht ohne jede Wirkung. Auchdarf die Praxis einstimmiger Entscheidungen der Staatsorgane nicht darüberhinwegtäuschen, daß es in der Politik durchaus Alternativen gibt, diedurchdiskutiert, ja ausgefochten werden müssen. Aber Konsens über dieIdeologie und damit Limitierung nicht nur der Argumente, sondern auch derProbleme, ist Voraussetzung der Diskussion und Garantie hoherVerständigungsbereitschaft. Die gewährten pluralistischenAusdrucksmöglichkeiten würden nicht ausreichen, wenn es darum ginge,daß religiöser Glauben sein eigenes Recht gegen den wirtschaftlichen

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Fortschritt, Familienleben sein eigenes Recht gegen Appelle zurProduktionssteigerung oder gegen Programme der politischen Integration,wissenschaftliche Forschung ihr eigenes Recht auch für den Fall desKonfliktes mit der Ideologie geltend zu machen suchten und solcheProbleme als fallweise entscheidungsbedürftig (und nicht generellvorentschieden) im politischen System behandelt werden müßten. DieFähigkeit eines solchen Systems zur Absorption von Widersprüchen undKonflikten reicht nicht sehr weit.

Einparteiensysteme können durch gedankliche und organisatorischeZusammenfassung von Problemartikulation und Problemlösung dasAuftreten von unlösbaren Problemen und Widersprüchen zur Ideologie impolitischen System verhindern. Sie erreichen eine beachtlichePlanungskapazität, die auf hoher Kongruenz von Weltsicht,Problemverständnis und Entscheidungstechnik beruht. Gerade diese innereKonsistenz und Entscheidungserleichterung birgt jedoch die Gefahr in sich,daß die interne Koordination des politischen Systems sich auf Kosten seinerexternen Koordination, also seines Verhältnisses zur Gesellschaft,entwickelt. Besonders wenn die gesamtgesellschaftliche Entwicklung in dieRichtung zunehmender funktional-struktureller Differenzierung verlaufensollte, in einer Richtung also, welche Wirtschaft ebenso wie Politik nurnoch als Teilsysteme neben anderen brauchen kann, wird dieProblemverarbeitungskapazität eines solchen politischen Systems einesTages vielleicht nicht mehr ausreichen, um die dann sich entwickelndenKonflikte wahrzunehmen und zu entscheiden. Das gilt um so mehr, als dieseArt Politik ihre Basis in der Indoktrination der Ideologie in der gesamtenGesellschaft findet. Das zwingt zur weitgehenden Politisierung allenöffentlichen Handelns. Die Wirtschaft wird politisiert, weil die Politik nurnoch wirtschaftliche Probleme entscheiden kann. Überhaupt ist dieAusdifferenzierung des politischen Systems aus der Gesellschaft ebensowie die Innendifferenzierung des politischen Systems nach Politik undVerwaltung zwar rollenmäßig möglich, stößt aber auf der Ebene derProgramme und der Werte an sehr enge Grenzen, da die Ideologie einegeringe Toleranz hat. Diese Nachteile wiegen um so schwerer, als daspolitische System für ihre Wahrnehmung keine Antennen ausbildet – eshandelt sich nicht nur um mangelnden Kontakt mit den Massen – und seine

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Unzulänglichkeit nicht in Form interner Diskrepanzen zu spüren bekommt.Eine politische Ordnung, die sich für eine forcierte wirtschaftlicheEntwicklung ihrer Gesellschaft bewährt und sich deshalb wirtschaftlichenErwägungen unterordnet, wird vermutlich tiefgreifend geändert werdenmüssen, wenn die Lösung wirtschaftlicher Probleme nicht länger dominiert,wenn die Wirtschaft nicht länger das führende Teilsystem der Gesellschaftist – oder es wird die weitere Entwicklung der Gesellschaft zu höhererKomplexität blockieren und zu einer Belastung des Fortschritts werden.[68]

Nicht alle Einparteiensysteme erreichen den Rang des bisher behandeltenPrototyps mit marxistischer Ideologie, nicht alle finden ihre innereRechtfertigung darin, die Komplexität der Politik durch eine gemeinsameIdeologie – und deshalb durch eine Partei – zu reduzieren. Als eine Strukturpolitischer Prozesse steht das Einparteiensystem nicht in einem notwendigenZusammenhang mit dieser besonderen Reduktionsweise. Ergänzend mußdaher auf wenigstens zwei Varianten hingewiesen werden, die sich aus derUnterscheidung von Struktur und Funktion theoretisch ableiten lassen: DasStrukturschema der »einen Partei« kann für andere Funktionen als die derIdeologieverwaltung eingesetzt werden. Das geschieht oft inEntwicklungsländern. Und umgekehrt läßt sich, wie Beispiele aus demmarxistischen Lager zeigen, die Reduktion durch eine gemeinsame Ideologieauch bei Zulassung mehrerer Parteien erreichen, sofern eine von ihnenunbedingt und fraglos dominiert.

Die politischen Prozesse der Entwicklungsländer bieten einaußerordentlich vielfältiges Bild, dem wir hier auch nicht annähernd gerechtwerden können. Gewisse typische Grundzüge lassen sich jedochherausheben, wenn man auf unsere Ausgangsanalyse, auf die Bedingungenhoher Komplexität des politischen Systems, zurückgeht. Das Gesamtzieleiner forcierten wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft erfordertvariable Entscheidungsprogramme mit Primat der Zweckprogrammierung.Die allgemeinen gesellschaftlichen Vorbedingungen dafür, die wir im 7.Kapitel skizziert haben, sind jedoch nicht oder nur in ersten Ansätzenvorhanden. Sowohl in den Verwaltungsprogrammen als auch in ihrerpolitischen Unterstützung muß hohe Komplexität kontrolliert werden. DieProgramme müssen erst positiviert, genauer gesagt, als gesetzte undveränderliche institutionalisiert werden. Die politische Unterstützung muß

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erst mobilisiert, das heißt aus askriptiven invarianten Bindungen gelöst undauf die jeweiligen Programme bezogen werden. Und zugleich muß diedaraus fließende Unsicherheit der Koordination beiderVariationsrichtungen, die in der Umbausituation noch größer sein wird alsnormal, gemeistert werden. In dieser schwierigen Lage scheint einideologiefreies, sich rein opportunistisch verhaltendes Einparteiensystemgewisse Erfolgschancen zu haben – zum Beispiel in der Form einerMassenpartei, die das Herrschaftsmonopol der Bürokratie in Frage stelltund den Aufstieg einer neuen Elite organisiert, oder in Form einerFührerpartei, die sich auf vorhandene Statusträger stützt.[69] Die einfacheStruktur einer einzigen Partei kommt den Orientierungs- undIntegrationsbedürfnissen einer zersplitterten, sich aus traditionalenBindungen lösenden Gesellschaft entgegen, die noch nicht ideologiereif ist,noch keine öffentliche Meinung bildet und sich eher personal als sachlich-programmatisch orientiert. Daher ist auch eine unvollständigeAusdifferenzierung der Partei aus anderen gesellschaftlichenRollenordnungen für diese Länder charakteristisch.[70]

Eine andere Variante des Einparteiensystems ist gegeben, wenn dieFunktion der ideologischen Reduktion politischer Komplexität festgehalten,aber die Struktur des Parteisystems durch Zulassung mehrerer Parteienabgewandelt wird. Dann gibt es zwar mehrere Parteien, aber es fehlt einwesentliches Merkmal des Mehrparteiensystems: die Vergleichbarkeit ihrerMachtansprüche.

Beispiele dafür finden sich in politischen Systemen des sozialistischenLagers, etwa in Polen oder der Deutschen Demokratischen Republik. Hiergeht der Variationsspielraum nicht sehr weit. Die Einheit der Ideologieerfordert die Konzentration politischer Macht und Auslegungskompetenz ineiner Partei. Die anderen Parteien werden nicht als Konkurrentinnen um dieMacht, sondern als Elemente jenes begrenzten politischen Pluralismuszugelassen. Sie dürfen eigene Mitglieder werben, aber nicht unabhängigeWahllisten vorlegen, also nicht ein eigenes Programm zur Wahl stellen. Siedienen als Sammelbecken besonderer Gruppen, die auf diesem Wege keinenunmittelbaren Zugang zur Macht erreichen, wohl aber Druck auf dieherrschende Partei ausüben können. Es handelt sich, der Funktion nach, umpressure groups. Ihre Zulassung steigert die politische Sensibilität des

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Systems, ohne die Macht der herrschenden Partei zu gefährden.[71]

Dieser Seitenblick auf verschiedene Varianten, der bei der Erörterungsowohl von Einheitsparteisystemen als auch von Mehrparteiensystemennotwendig war, zeigt, mit welchen Schwierigkeiten ein Vergleichverschiedener Parteiensysteme zu rechnen hat.[72] Das bloße Aufzählenverschiedener Strukturtypen führt nicht sehr weit. Gleiche Strukturen könnensehr verschiedenen Funktionen dienen, so wie umgekehrt eine bestimmteFunktion durch sehr verschiedene funktional äquivalente Strukturen erfülltwerden kann. Ein Vergleich der Parteiensysteme setzt daher eine Klärungdes Funktionszusammenhanges, das heißt des Systems, voraus, in dem dasParteiensystem operiert.[73]

Als Vergleichsgesichtspunkt muß man deshalb jenes Problem ausfindigmachen und voraussetzen, durch welches die politischen Prozesse in daspolitische System eingegliedert werden, durch dessen Lösung, mit anderenWorten, sie ihre spezifische Funktion im politischen System erfüllen. DiesesProblem haben wir allgemein als das der politischen Komplexität, genauerals das Problem der unabhängigen Variabilität vonEntscheidungsprogrammen und politischer Unterstützung in komplexenpolitischen Systemen definiert. Die Lösung dieses Problemes erfordertspezifische, also ständig organisierte Anstrengungen in eigens dafürausgesonderten politischen Rollen, die als »Parteien« zusammengefaßt sind.Die Ausdifferenzierung kann in Mehrparteiensystemen so weit gehen, daßsie auch die Wertorientierung erfaßt und für den Gebrauch in der Politikpervertiert. Damit sind Vorteile einer sehr hohen Komplexität undVariabilität des politischen Systems verbunden. Die Reflexivität derEntscheidungsprozesse und der Macht, vor allem das Problem desMachtwechsels, läßt sich lösen. Die Fähigkeit zur Absorption sozialerWidersprüche und Konflikte kann beträchtlich gesteigert werden. Einsolches politisches System kann eine sehr komplexe gesellschaftlicheUmwelt haben und dieser Umwelt angemessene Reduktionsweisenausbilden. All das geht auf Kosten der zeitlichen und sachlichen Konsistenzdes politisch-administrativen Entscheidens. Die im traditionellenRationalismus verankerten Ansprüche an Konsistenz erweisen sich in sehrkomplexen Gesellschaften ohnehin als illusorisch und müssen beträchtlichherabgesetzt werden. Das ist nur möglich, wenn die Systeme der Umwelt

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des politischen Systems, namentlich die Wirtschaft, die Religion, diewissenschaftlich-technische Kultur, die Familie und nicht zuletzt dieindividuellen Persönlichkeiten, hohe eigene Autonomie mit eigenen Formender Konsistenz (Bilanz, Glaube, Logik, Liebe, Gewissen) gewinnen unddarin gegen Variationen des politischen Systems geschützt werden. Impolitischen System selbst können durch scharfe Trennung von Politik undVerwaltung die pervertierte politische Rationalität und ihr Opportunismuszum Teil abgefangen und ausgeglichen werden.

In all diesen Hinsichten bilden ideologisch gefestigte Einparteiensystemeeinen anderen, aber nicht immer schlüssigen Stil politischer Rationalitätaus. Sie versuchen, die unbestimmte Komplexität des politischen Bereichsdurch eine noch ziemlich komplexe, aber schon einigermaßen bestimmte undkonsistente Ideologie aufzufangen, stellen daher an Einheit der Orientierungund Planung hohe Anforderungen und sehen um derentwillen von zu starkerfunktional-struktureller Differenzierung ab, sei es im Verhältnis despolitischen Systems zu anderen Bereichen der Gesellschaft, denen keine»Grundrechte« konzediert werden, sei es im politischen System imVerhältnis von Politik und Verwaltung. Sie richten also nicht die erreichbareKonsistenz nach einem vorhandenen Pluralismus der Gesellschaft, sondernumgekehrt den zugelassenen Pluralismus nach ihrer Fähigkeit zuideologisch-konsistenter Informationsverarbeitung.

Den Parteiensystemen, die mit hoher politischer Komplexität schonrechnen, stehen andere gegenüber, die diese Komplexität, vor allem inzeitlicher Hinsicht als Variabilität und Mobilität, erst schaffen müssen. Fürmanche Entwicklungsländer ist typisch, daß sie durch politischeBewegungen zu erreichen suchen, was nur eine gesamtgesellschaftlicheEntwicklung in allen Funktionsbereichen sein kann. Sie wählen als Hebelund Beschleuniger einen strukturell einfachen und deshalb nichtungefährlichen politischen Dynamismus, der jene Voraussetzungen schaffensoll, aufgrund deren die Wahl zwischen ideologisch gebundenenEinparteiensystemen und Mehrparteiensystemen überhaupt erst sinnvollgetroffen werden kann.

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21. Kapitel

Grenzen der Ausdifferenzierung

Die vorangegangenen Erörterungen über Funktion, Autonomie undRationalität der Politik haben unsere Vorstellungen über einesystemtheoretische Behandlung dieses Teils des politischen Systems so weitgefördert, daß wir nunmehr die eingangs gestellte Frage nach dem Grad derrollenmäßigen Ausdifferenzierung der Politik wiederaufgreifen und zumThema eines besonderen Kapitels machen können. In erster Linie handelt essich dabei natürlich um eine empirische Variable. Wieweit rein politischeRollen in einer Gesellschaft unterscheidbar sind und wieweit sie imsozialen Leben auch tatsächlich getrennt werden, kann von System zuSystem sehr verschieden sein; desgleichen unterscheiden sich Systemedanach, wieweit sie politische und andere Rollen denselben Werten undHandlungsprogrammen unterstellen, wieweit sie Konsistenz in derDurchführung verschiedener Rollen verlangen und wieweit sieInkompatibilitäten zwischen verschiedenen Rollen vorsehen, so daß mannicht zugleich Politiker und Frau, Politiker und Kapitalist, Politiker undJude, Politiker und Beamter sein kann. Bei all diesen Fragen gibt es nichtnur eine einzige gangbare Möglichkeit. Politische Systeme können in sehrverschiedener Weise und mit sehr verschiedenem Ausmaß derAusdifferenzierung bestandsfähig institutionalisiert sein.

Das besagt indes nicht, daß man sich auf die Erforschungunvergleichbarer einzelner Systeme zurückziehen müsse. Vielmehr muß manversuchen, die Ausdifferenzierung nicht als konkreten Zustand, wohl aberals Variable mit anderen Variablen in Verbindung zu bringen, um auf dieseWeise die Zahl möglicher Kombinationen zu begrenzen und Systeme unterdem Gesichtspunkt zu vergleichen, ob sie eine bestandsfähige Kombinationfinden und welche. In diesem Sinne legen unsere bisherigen Überlegungenes nahe, einen Zusammenhang zwischen Ausdifferenzierung,Systemkomplexität und Autonomie anzunehmen. Die Hypothese lautet, daßalle drei Variablen nur zusammen steigerungsfähig sind, daß also stärkere

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Ausdifferenzierung höhere Systemkomplexität und höhere Autonomieerfordert, ebenso wie umgekehrt mehr Autonomie und Systemkomplexitätsich nur durch stärkere Ausdifferenzierung gewinnen lassen.

Wenn man, von dieser Hypothese ausgehend, nach den Grenzen derAusdifferenzierung politischer Prozesse fragt, wird es nützlich sein, sichzuvor die Grenzen der Autonomie und die Grenzen der Systemkomplexitätdes politischen Bereichs vor Augen zu halten, weil diese Variablen denGrad sinnvoller Ausdifferenzierung mitbestimmen. Sie beleuchten zugleichden Grund, weshalb die gesellschaftliche Ausdifferenzierung, ebenso wieAutonomie und Systemkomplexität, in der Politik nicht so weit getriebenwerden kann wie in der Verwaltung.

Die Grenzen der Autonomie des rein politischen Bereichs haben wir inder Formel von der problematischen Legitimität der Parteien festzuhaltenversucht. In Einparteiensystemen tritt dieses Problem nicht auf oder bleibtdoch latent, weil die Partei die Moral der gesamten Gesellschaft zuvertreten behauptet und damit gerade keine Autonomie für sich als System,sondern Entscheidungskompetenz für die Gesamtordnung in Anspruchnimmt. Ein entsprechend geringerer Grad gesellschaftlicherAusdifferenzierung, vor allem eine Politisierung der Gesellschaft und eineSozialisierung der Politik, ist die Folge.

In Mehrparteiensystemen hatten dagegen die Professionalisierung despolitischen Handelns und seine besondere Moral schon sehr bald nach derEtablierung des Parteiwesens im modernen Sinne Aufmerksamkeit undWiderspruch gefunden.[1] Ein nachhaltiger Erfolg war diesen Bemühungenum Brechung der spezifischen Moral der »Parteimaschine« und umWiedereinführung amateurhafter gesellschaftlicher Komponenten in diePolitik zwar nicht beschieden. Immerhin stehen die Parteien, wie wir sahen,zumindest in ihren Darstellungen unter dem Druck der Notwendigkeit, dasEigenrecht ihrer politischen Kalkulation zu leugnen und sie auf dieherrschenden Symbole und Überzeugungen zu beziehen – ganz anders als dieVerwaltung, die in aller Offenheit ihre kunstvollen rechtlichen undwirtschaftlichen Überlegungen durchführen kann und dabei vielleicht nurwenige oder unaufmerksame Zuschauer findet, nicht aber solche, die gegendie moralischen Grundlagen ihres Entscheidungsstils protestieren.

Ähnlich verhält es sich mit dem Ausmaß an erreichbarer

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Systemkomplexität. Wir hatten gesehen, daß Umweltlage undProblemstellung der Politik größere Komplexität aufweisen als die derVerwaltung.[2] Die Politik kann nicht die gleiche Komplexität desorganisatorischen Aufbaus und der Entscheidungsprogramme gewinnen wiedie Verwaltung. Die Zahl ihrer Handlungen ist geringer. Vor allem bietet sieweder im Einparteiensystem noch im Mehrparteiensystem rechteAnsatzpunkte für eine funktionale Differenzierung. Es mag in den einzelnenParteien mehr oder weniger ausgeprägte Tendenzen zur Bürokratisierungund mit deren Hilfe funktionsverschiedene Parteiämter geben. Im großen undganzen ist jedoch das Differenzierungsprinzip der Politik segmentiert, nichtfunktional.[3] Das heißt: Es werden gleichartige Teilsysteme gebildet, diegleiche Ziele verfolgen – in diesem Falle Aufbau politischer Macht undEinflußnahme auf die Verwaltung.[4] Systeme mit segmentierenderDifferenzierung können bei weitem nicht die Komplexität funktionaldifferenzierter Systeme erreichen, und so bleibt die Politik der Verwaltungauch in dieser Hinsicht unterlegen. In etwas anderer Formulierung kann manauch sagen, daß das Komplexitätsgefälle zwischen Umwelt und System imFalle der Politik größer ist als im Falle der Verwaltung, und das bedeutet,daß sie sich in einer Situation von relativ unbestimmter Komplexitätbefindet und ihr die Möglichkeiten rationaler Bestimmung dieserKomplexität fehlen.[5]

Geringere Autonomie und geringere Eigenkomplexität bringen nun mitsich, daß die Politik in erheblichem Umfange auf Entscheidungshilfen ausihrer Umwelt angewiesen ist. Zwar ist auch die Politik in modernen, weitentwickelten Sozialordnungen schon so komplex geworden, daß dieKomplexität als solche isolierend zu wirken beginnt: Nicht jedermann kannin der Politik überzeugend und wirksam mitreden, einfach weil die dazunötigen Kenntnisse nicht allgemein verbreitet sind. Ihre eigene Komplexitätschirmt die Politik ab auch gegen den Ansturm gesellschaftlicher Kräfte, diePosten und Einfluß suchen. Neulinge können nicht sofort hoch einsteigen; siemüssen erhebliche Lern- und Anpassungszeiten in Kauf nehmen. All daszugestanden, läßt sich doch nicht verkennen, daß die rollenmäßigeAbsonderung der Politik an unübersteigbare Grenzen stößt. Das Gefällezwischen Komplexität des politischen Problems (nämlich: die Varianten derBedingungen politischer Unterstützung und die Variationen der

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Verwaltungsprogramme zu koordinieren) einerseits und derEigenkomplexität und Leistungsfähigkeit der rein politischen Organisationenandererseits ist zu groß, als daß die Politik allein es überbrücken könnte.Sie muß voraussetzen können, daß ihre Umwelt ihr unter die Arme greift undihr in der einen oder anderen Form schon reduzierte Komplexität zurVerfügung stellt.

Dies kann natürlich in beliebiger Form geschehen. Es muß sich umVorverarbeitungen handeln, die politisch verwendbar sind und die vor allemdie relative Autonomie der politischen Informationsverarbeitung nichtbeeinträchtigen. Eine Art solcher Entscheidungshilfen haben wir bereitskennengelernt: die Symptome des mutmaßlichen Wählerwillens, die inMehrparteiensystemen den Parteien eine laufende Orientierung ermöglichen.Solche Symptome müssen der Politik durch ihre Umwelt innerhalb undaußerhalb des politischen Systems zugeflaggt werden. Sie beeinträchtigendie rollenmäßige Ausdifferenzierung der Politik nicht, setzen sie imGegenteil gerade voraus. Von anderen Entscheidungshilfen läßt sich diesnicht mit gleicher Entschiedenheit behaupten. Auf zwei von ihnen, vielleichtdie wichtigsten, wollen wir etwas ausführlicher eingehen, um an diesenBeispielen den Zusammenhang von Systemkomplexität, Autonomie undAusdifferenzierung zu veranschaulichen. Wir erörtern zunächst das Problemder »politischen Persönlichkeit«, anschließend die politische Bedeutungvon Interessenverbänden und schließlich das Verhältnis von Politik undWissenschaft.

Als politische Persönlichkeiten[6] wollen wir Menschen bezeichnen, diein ihrer Individualität, in ihrer Einzigartigkeit (und nicht nur alsArbeitskraft, als Substrat für durchlaufende Informationsprozesse) fürpolitische Funktionen in Anspruch genommen werden. Ihre Leistung bestehtnicht in der zuverlässigen Durchführung vorgegebener Programme. Sieprogrammieren sich gleichsam selbst und können dann anstelle vonSachprogrammen das politische und administrative Entscheiden orientieren.Ihre politische Bedeutung beruht darauf, daß sie einen relativ konsistentenZusammenhang von Erwartungen und Verhaltensweisen darstellen undstabilisieren können, der in dieser Form von anderen Personen nichtgewährleistet werden kann. Sie ziehen Vertrauen auf sich, das nichtübertragbar ist.[7] Solche Persönlichkeiten sollen hier nicht in ihrer schwer

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entwirrbaren kausalen Auswirkung auf den Gang der Geschäfte oder auf dieEntscheidungen des Wählers[8] behandelt werden, sondern lediglich in ihrersymbolisch-expressiven Funktion. Ein Bedarf für diese Leistung kann aufzwei verschiedenen Bedeutungsebenen auftreten: bei der Legitimierung despolitischen Systems mit oder ohne Umbildung von legitimierendenInstitutionen (Rollen, Programmen oder Werten) oder bei der täglichenIntegration von instrumentellen und expressiven Bedürfnissen. In beidenFällen, die im konkreten politischen Leben oft schwer zu unterscheiden seinwerden, setzt sich die individuelle Persönlichkeit als konkreteGeneralisierung von Verhaltenserwartungen ein, um andere Formen derGeneralisierung zu entlasten. Die Gegenwärtigkeit ihres Gleichzeitig-mit-anderen-Lebens ermöglicht es ihr, Zukunft zu vergegenwärtigen und jetztschon von dem zu überzeugen, was erhofft und erwartet wird.

Daß es sich hierbei um Leistungen durch Individualität handelt, schließtdie Frage nach den sozialen Vorbedingungen und nach den Folgen nicht aus.In beiden Hinsichten bedeutet Abhängigkeit von Individualität für daspolitische System zugleich Abhängigkeit von der Gesellschaft. Die Politikist vor allem darauf angewiesen, daß die Gesellschaft Persönlichkeiten mitdem individuellen Zuschnitt, der benötigt wird, überhaupt ausbildet und zurVerfügung stellt. Diesem Erfordernis werden wir im breiteren Rahmen desKapitels über Rekrutierung weiter unten nachgehen. Hier interessiertbesonders der Zusammenhang zwischen Gesellschaftsstruktur undRekrutierungsbedarf. Können nur gruppenspezifisch oderschichtenspezifisch stilisierte Persönlichkeiten in der Politik Erfolg haben,müssen Gruppen oder soziale Schichten vorhanden sein, die entsprechendeErziehungsleistungen erbringen und ein Reservoir talentierter Bewerberbereithalten. Das setzt eine fraglos konstituierte, politisch nicht umstritteneSozialhierarchie voraus, die der Differenzierung in Politik, Wirtschaft,Erziehung, Geselligkeit usw. vorgeordnet ist und überall gilt. Löst dieseStatushierarchie sich unter dem Druck schärferer funktionalerDifferenzierung der Gesellschaft auf, kann nicht mehr ein Typ – etwa derdes gelehrten Mandarins, des Grundbesitzers oder des in bestimmtenSchulen erzogenen Gentleman –, sondern nur noch die überzeugendeindividuelle Persönlichkeit zwischen Gesellschaft und Politik vermitteln,die dann gerade durch ihren untypischen Charakter über allen Interessen,

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Schichten und Gruppen stehen und so generalisierend wirken muß. SolchePersönlichkeiten kann die Gesellschaft nur anbieten, wenn sie ein hohesMaß an Individualismus institutionalisiert hat und in all ihren Institutionen,vor allem aber in den Familien und dem Erziehungswesen der höherenSchichten, respektiert.

Diese Abhängigkeit von der Gesellschaft kann nicht aufgehoben, wohlaber gemildert werden, wenn und soweit es dem politischen System gelingt,die Persönlichkeitsgestaltung für Zwecke der Politik in eigene Regie zunehmen. Solche Bemühungen interessieren hier nicht in ihren technischenEinzelheiten, wohl aber als Mittel des politischen Systems, relativeAutonomie und Unfallsicherheit gegenüber der Gesellschaft zu gewinnen.Lern- und Sozialisierungsprozesse des politischen Lebens, vor allem dasErfordernis einer Karriere in politischen Organisationen, haben hier ihreBedeutung. Allerdings sind die Fähigkeiten und Tugenden, die man braucht,um sich zu hohen Positionen vorzuarbeiten, sehr oft nicht identisch mitdenen, die man, dort angelangt, vorzeigen und verwenden kann.Berufspolitiker treten daher nach durchstandener Karriere oft mit einergewissen Blässe und abgeschliffenen Profillosigkeit ans Licht, die wenigIndividualität erkennen lassen. Sie müssen dann aufgefrischt und mit denstarken Farben einer bedeutenden Persönlichkeit bemalt werden. Ihr Imagewird von Beratern durchkalkuliert, auf einige rasch erkennbare Eigenartenverdichtet und als persönliches Programm mit entsprechender Biographiefestgelegt. Das Problem liegt in den sich herausstellenden Diskrepanzenzwischen Image und Wirken: Eisenhower hat das Prestige eines siegreichenGenerals nicht genutzt,[9] Macmillan konnte selbst in Wahlzeiten nicht als»super-mac« auftreten, und an Erhards Schicksal erwies sich, daß mit einemfür Öffentlichkeitsarbeit geradezu idealen Lebenslauf allein keine Politik zumachen ist. In dieser abgeleiteten Fassung kann man das Problem in derPolitik zu lösen versuchen, zum Beispiel durch vorsichtiges »Nachsteuern«des Image und laufende Arbeit an der Versöhnung von Image undWirklichkeit.

Weitere Probleme ergeben sich aus gewissen Konsequenzen derpolitischen Verwendung persönlicher Individualität, daraus nämlich, daß dieindividuelle Persönlichkeit alle Rollentrennungen durchbricht und damit derRollendifferenzierung Schranken zieht.[10] Prominente Persönlichkeiten sind

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in allen Aspekten ihrer Lebensführung interessant und politisch relevant. Siewerden, um einige Beispiele aus den letzten Jahren aufzugreifen, amWeihnachtssonntag auf dem Sofa mit dem Enkel auf dem Schoßphotographiert; ihr Verhalten in vergangenen Kriegen oder untervergangenen Regimen wird genau unter die Lupe genommen; sie müssenihren Aktienbesitz offenbaren und gegebenenfalls verkaufen, wenn siebestimmte Posten übernehmen wollen; sie müssen zurücktreten, wenn ihreFrau die zeremonielle Integrität oder Mitwirkungswilligkeit verliert, odersie verderben ihre Karriere, wenn sie sich angesichts der Frage nach demSchultyp, den sie für ihre Kinder bevorzugen, ungeschickt verhalten. Siehaben kein Privatleben. Wenn ihnen durch Takt oder Gesetz ein Schutz ihrerIntimsphäre zugebilligt wird, so bedeutet das nur, daß sie aufdringlicheJournalisten oder Fragesteller, gedeckt durch allgemeinen Konsens,abwehren können und ihnen für ihre Selbstdarstellung eine gewisse Freiheitder Selektion gewährt wird.

Solch eine Rollenverschmelzung durch Individualität ist nicht nurpersönliches Schicksal, sondern zugleich ein Gefahrpunkt für das politischeSystem. Die politische Unterstützung wird hier auf dem Wege überunpolitische Motive des Publikums gesucht – auch dies ein Verzicht aufAusdifferenzierung. »Man rückt«, bemerkt Ulrich Lohmar,[11] »dieEigenheiten der privaten und politischen Persönlichkeit, von denenangenommen werden darf, daß sie den Wähler ›unpolitisch‹ für denWortführer einnehmen, in den Vordergrund.« Die Politik liefert sich damitEreignissen in ihrer Umwelt aus, die sie nicht beherrschen und oft nichteinmal voraussehen kann und die doch die Symbolfunktionen der politischenPersönlichkeit stören, wenn nicht zerstören können. So ist es verständlich,wenn die Politik, die die Ereignisse nicht kontrollieren kann, sich bemüht,wenigstens die Informationen über die Ereignisse zu kontrollieren, da imGrunde ja nicht die Ereignisse selbst, sondern nur die Informationen überdie Ereignisse das symbolische Geschehen beeinflussen.Informationskontrolle kann hier in gewissem Umfange die fehlendeAusdifferenzierung der politischen Rolle ersetzen, aber sie hat natürlichihre eigenen Probleme. Mochte es einfacheren Gesellschaften gelingen, denTod eines Königs jahrelang zu verheimlichen, die heutige Dichte undMobilität des Kommunikationswesens schließt Informationskontrolle in

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vielen Fragen aus und macht Versuche des Verheimlichens gerade auch imHinblick auf ihre symbolischen Implikationen gefährlich.

Ein anderer Kontaktbereich, in dem die Grenzen zwischen Politik undGesellschaft nur sehr unbestimmt und verschwommen gezogen werdenkönnen, weil die Politik auf Vorleistungen der Gesellschaft angewiesen ist,wird durch die Interessenverbände besetzt. Die funktionalistischePerspektive dieser Untersuchungen und ihre Konzentration auf daspolitische System bedingt, daß das ziemlich geschlossene Phänomenorganisierter Pflege und Förderung besonderer Interessen unterverschiedenen Gesichtspunkten relevant wird und daher getrennt erörtertwerden muß:[12] als Einengung des Entscheidungsspielraums eineropportunistisch handelnden Verwaltung,[13] als Quelle von Symptomen desmutmaßlichen Wählerwillens[14] und ferner noch als Zusammenfassung undVerstärkung einer bestimmten Art von Publikumsrollen.[15] Hier interessiertein weiterer Gesichtspunkt, die Tatsache nämlich, daß Interessenverbändeihren Wert für die Politik gerade dadurch besitzen, daß sie nicht reinpolitische Organisationen sind, also nicht, wie die politischen Parteien, alsTeilsysteme des politischen Systems begriffen werden können.

Als organisierte Sozialsysteme lassen Interessenverbände sich sowohlvon der Staatsbürokratie als auch von den politischen Parteien deutlichunterscheiden.[16] Interessenverbände sind frei und auf mobiler Grundlagegebildete Vereinigungen zum Zwecke der Förderung spezifischer, mehr oderweniger genau umgrenzter Interessen ohne Übernahme eigener politischerVerantwortung für kollektiv-bindende Entscheidungen. Alle diese Momentesind wesentlich. Auf ihnen beruhen die Sonderstellung und die spezifischeFunktion dieser Verbände, Interessen zu konsolidieren, zu artikulieren, inverhandlungsfähige Programmpunkte auszumünzen und die vertretenenInteressen gegebenenfalls zu binden. Die Mobilität der Eintritts- undAustrittsmöglichkeiten garantiert ein hohes Konsenspotential: DieVerbandsleitung kann sich von der wahren Meinung der Mitglieder selbstbei gering entwickelter Innendemokratie nicht allzuweit entfernen. DieOrganisation des Verbandes gewährleistet gleichwohl eine gewisseGeneralisierung der Entscheidungsvollmachten: Es kann nicht jedeÄußerung mit allen Mitgliedern abgestimmt werden, dieVerhandlungsaufträge müssen relativ unbestimmt, das Vertrauen in die

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Verbandsführung muß relativ pauschal erteilt werden. Nicht zuletzt istwesentlich, daß nur spezifische Interessen, und nicht etwa Wahrheitenvertreten werden, und auch das typisch nur für den Bereich bestimmterRollen, nicht für die gesamte Lebenssphäre konkreter Menschen. Dadurchgewinnen die Verbandsziele Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und eineEignung für Kompromisse, die nur durch die internenEntscheidungsprozesse des Verbandes und seine Fähigkeit zurMitgliedermotivation begrenzt wird.

Nach diesem offiziellen Bild getrennter Systeme fürInteressenartikulation, für politische Legitimierung und für bindendeEntscheidung müßten die Verbandsaktivitäten sich aufKommunikationsprozesse zwischen den Systemen beschränken, also in derForm von Rollen und Gegenrollen in getrennten Systemen stabilisiert sein.So wird der Verbandssyndikus zu Gesetzentwurfsberatungen im Ministeriumhinzugezogen und angehört. Der Verbandsvorsitzende schreibt dem Minister.Die Pressestelle einer Partei nimmt zu öffentlichen Angriffen auf einerVerbandstagung Stellung. Das ist eine wichtige, wenn nicht dievorherrschende Verbindungsform zwischen Verbänden einerseits undParteien bzw. Behörden andererseits. Sie fügt sich der allgemeinenDifferenzierung von Publikumsrollen und von politischen Rollen bzw.Verwaltungsrollen ein. Sie scheint jedoch weder den Verbänden noch denParteien allein auszureichen. Jedenfalls erschöpft sie die möglichen undbenutzten Einflußformen nicht. Neben dieser Kommunikation zwischenKomplementärrollen wird die alte Form der Abstimmung sozialerHandlungskreise durch personale Rollenkombination weiterbenutzt, und dasbeeinträchtigt die strukturelle Ausdifferenzierung der Parteipolitik und inminderem Grade auch der Verwaltung.

Um diesen Einflußweg zu erschließen, versuchen Interessenverbände mitmehr oder weniger Erfolg, »ihre Leute« in die Parteien, die Parlamente odersogar in die Verwaltungsbehörden hineinzuschleusen – etwa mit derBegründung, daß nur, wer in einem Milieu gelebt habe, darüber richtigurteilen könne.[17] Das kann, besonders im Verhältnis zu Parteien imParlament, die Form offener Doppelmitgliedschaften annehmen; fürVerwaltungsbehörden ist eine Rekrutierung von Verbandsfunktionärentypischer, die ihren früheren Posten aufgeben, ihren Bekanntenkreis und ihre

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Loyalitäten aber mitbringen. Ob Verbände sich auf diesem Wege einverläßliches, erfolgreicheres Führungsinstrument zimmern können, mußbezweifelt werden.[18] Die Ausnutzung der damit gegebenen Verbindungenbleibt an persönliche Beziehungen geknüpft und läßt sich schlechtorganisieren und zentralisieren. Sofern nicht große Gruppen auf diese Weiseunter Kontrolle gebracht werden können, die sich in der Behörde oder imParlament gegenseitig stützen – das beste Beispiel sind die »grünenFraktionen« einiger Landtage –, unterliegt die Loyalität entsandter Emissärein ihrer neuen Umgebung starker Korrosion, da diese Umwelt ihre eigenenGesetze hat. So bleibt vielfach offen, wer hier wen in seinen Dienst nimmt.Bevor eine Überfremdung und Außensteuerung der Parteien undVerwaltungen durch die Verbände beklagt wird, muß zunächst einmal geklärtwerden, welche Funktion solche Rollenverschmelzungen für das politischeSystem haben und warum ihre Auflösung zu stärker differenziertenRollenstrukturen mit Integration durch komplementäres Rollenverhaltennicht gelingt.

Das Problem scheint in dem Verhältnis von Komplexität undKommunikationspotential zu liegen. Wir haben bereits gesehen, daß ihreUmweltlage die politischen Prozesse mit hoher und weithin unbestimmterKomplexität überbeansprucht und die Politik dadurch zum Gebrauch sehrdrastischer Reduktionsmittel (zum Beispiel Orientierung an Symptomen,Freund/Feind-Schematisierung) gezwungen ist. So hohe Komplexität kannnicht allein durch explizite Kommunikationsprozesse abgearbeitet werden,die alle logisch notwendigen Selektionsschritte ausdrücklich vollziehen.Dafür reicht das Kommunikationspotential der politischen Organisationenbei weitem nicht aus, zumal ihnen die organisatorischen Möglichkeiten derSteigerung der Kommunikationsleistung, welche die Verwaltung besitzt,[19]

nicht in gleichem Maße zur Verfügung stehen. Die Reduktion der politischenKomplexität kann mithin nicht allein von Kommunikationsprozessenerwartet werden, die zwischen Systemen oder zwischen getrennten, aberkomplementären Rollen hin und her spielen. Es muß daneben auchMöglichkeiten kommunikationsloser Selektion geben, und eine dieserMöglichkeiten ist die personale Rollenkombination, die den Inhabermehrerer Rollen zur stillschweigenden Rücksicht auf seine eigenen anderenRollen in anderen Systemen veranlaßt.

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Häufungen von Posten und Loyalitäten in Verbänden, Parteien undVerwaltungen haben demnach eine wesentliche integrative Funktion. Siewerden in einer Gesellschaft und einem politischen System, die derfunktional-strukturellen Differenzierung den Vorrang geben, zwar einSchattendasein führen, latent bleiben, wenn nicht gar zur Illegalität verurteiltsein. Ihre Aktivierung in ausdrücklichen Kommunikationsprozessen, etwadas Sich-Berufen auf solche Zusammenhänge, setzt soziale Nähe, Vertrauen,Schutz gegen Indiskretion und ähnliche Vorsichtsmaßnahmen voraus. Diesegesellschaftliche Diskriminierung darf indes den Soziologen nicht zu einervoreiligen theoretischen Diskriminierung verleiten. Eine politischeOrdnung, die mehr Konsens braucht, als sie durch Verhandlungen beschaffenkann, wird personale Rollenkombinationen weiterhin benötigen, solange sienicht andere, funktional äquivalente Lösungen des Reduktionsproblemsinstitutionalisieren kann. Der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung derpolitischen Prozesse sind also auch in dieser Hinsicht Schranken gesetzt.

Vergleichbare oder doch andersartige Situationen ergeben sich imVerhältnis von Politik und Wissenschaft. Konnten die Verbände Konsenskraft eigenen Interesses (und insofern überzeugend) anbieten, vermag dieWissenschaft den interesselosen Konsens aller Vernünftigen in Aussicht zustellen. Seit dem Beginn der Neuzeit hat die europäische Wissenschaft sichdarauf spezialisiert, Theorien auszuarbeiten und an der Erfahrung zubestätigen, für die intersubjektiv zwingende Gewißheit der Erkenntnis inAnspruch genommen werden kann – sei es, daß die Erkenntnis aufOperationsregeln beruht, die prinzipiell jedermann nachvollziehen kann, seies, daß sie durch Wahrnehmungen bestätigt ist, die jedermann selbst machenkann. Die spektakulären Erfolge dieser wissenschaftlichen Forschung habenihren Aussagen ein so hohes Prestige verliehen, daß ihr Konsenswert sichkaum übertreffen läßt. Gegen die Wissenschaft anzugehen ist schlechterdingssinnlos geworden. In dem Bereich der Feststellungen, den sie beherrscht, istlediglich eine wissenschaftsimmanente Kritik möglich, nämlich eine selbstwissenschaftliche Kritik einzelner Begriffe, Hypothesen, Theorien oderMethoden mit dem Ziele, sie durch bessere zu ersetzen oder sie als imWiderspruch zu gesichertem Wissen stehend zu widerlegen.

Diese besondere institutionelle Stellung der Wissenschaft in der heutigenGesellschaft – und nur davon sprechen wir hier – läßt sich im politischen

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System in zwei Richtungen ausnutzen, und zwar scheinen diese beidenMöglichkeiten jeweils die Verwaltung bzw. die Politik primär zuinteressieren:[20] Das wissenschaftliche Wissen kann übertragen, also in dieEntscheidungsprozesse der Verwaltungspraxis übernommen und dorttechnisch nutzbar gemacht werden. Daran ist primär die Verwaltunginteressiert. Sie braucht, um praktische Problemstellung undwissenschaftlich geprüfte Selektion von Informationen und Alternativenkoordinieren zu können, eine relativ enge Form der Kooperation zwischenWissenschaftlern und Praktikern, die anonym, ja gegebenenfalls informalbleiben können. Wenn die Verwaltung versucht, große wissenschaftlicheNamen als Gutachter zu gewinnen, so geschieht das aus Unsicherheit überdie Qualität anderer Wissenschaftler, nicht aber in der Absicht, den Namenals Symbol für Konsens zu benutzen.

Auf diese Symbolfunktion kommt es dagegen in der Politik an. Hier istdie Komplexität der Handlungssituationen so groß, daß für eine technischeInformierung und Beratung durch die Wissenschaft die Ansatzpunkte undProblemstellungen fehlen.[21] Eine andere Funktion der Wissenschaft ergibtsich daraus, daß sie ein Monopol verwaltet, nämlich das Monopol aufFreigabe des Symbols für intersubjektiv zwingenden Konsens, und andiesem Symbol ist die Politik unmittelbar interessiert. Mit seiner Hilfe kannder Politiker seinen Gegnern die Vernunft absprechen. Wer wissenschaftlichgesicherte Erkenntnisse ablehnt, ohne sie wissenschaftlich widerlegen zukönnen, scheidet aus der Gemeinschaft der vernünftigen Menschen aus undverliert damit das Recht, kollektiv bindende Entscheidungen beeinflussen zukönnen.

Der symbolische Gebrauch von Wissenschaft in der Politik dientebenfalls der Reduktion von Komplexität durch Eliminierung vonAlternativen. Dieser Vorgang muß jedoch mit den drastischenReduktionsnotwendigkeiten der Politik, mit Wertefixierungen undParteinahmen, koordiniert werden und diese stützen können. Er läßt sichdaher nicht Schritt für Schritt wissenschaftlich kontrollieren undverantworten. Andererseits ist das Verhältnis nicht so zu verstehen, daß dieWissenschaft nur nachträglich herangezogen würde, um schon beschlossenenEntscheidungen den Schein der Objektivität zu verleihen. Die Vorausschauauf das Konsenspotential, das die Wissenschaft mobilisieren kann, mag auch

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den politischen Entscheidungsgang sehr wohl in die eine oder andereRichtung zu lenken, besonders wenn keine gewichtigen politischenInteressen entgegenstehen. Aber die Verwendung der Wissenschaft erfolgt ineiner inkongruenten Perspektive, für Zwecke, die nicht die ihren sind, undnicht wegen des Wahrheitsgehaltes ihrer Aussagen, sondern wegen ihresKonsenswertes und wegen der Möglichkeiten respektablerSelbstinterpretation, die sie bietet.

Dem entsprechen die Formen der Verbindung, der Kooperation und derKommunikation bis hin zur finanziellen und rollenmäßigen Verflechtung. Ineinem oft unmerklichen Prozeß der Umwandlung von Begriffen inSchlagworte und von Schlagworten in Schlag-Worte wird demkooperationswilligen Wissenschaftler seine Ware aus der Hand genommen.Sein Vokabular wird verständlich gemacht, die Einschränkungen undVorbehalte werden weggelassen oder, je nachdem, als die Hauptsachebehandelt, und die Konsequenzen werden von der Politik selbst gezogen.Eine ernste Frage ist, wieweit es hier, wie im Verhältnis zu denInteressenverbänden, zu Rollenkombinationen zwischen Politik undWissenschaft kommen muß.[22] Solange die Wissenschaft hinreichendkontrovers ist, wird die Politik sich im großen und ganzen mit einerselektiven Auswahl von Gutachtern begnügen bzw. einfach zitieren können,was sie zu brauchen meint. Man begegnet auch engeren Bindungen, die dieUnsicherheiten der Prognose von Gutachten zu umgehen erlauben. AberForschung im eigenen Hause kann als ein In-sich-Geschäft nie den gleichenKonsenswert erreichen wie Forschung an unabhängigen Institutionen. IhreFunktion mag im ganzen mehr in der prompten Gegenkritik, imwissenschaftlichen Widerlegen wissenschaftlicher Stellungnahmen liegen.Auch das setzt einen kontroversenreichen wissenschaftlichen Markt voraus.

Damit sind wir auf jenes Moment gestoßen, das das nahezu absoluteKonsensgewicht der Wissenschaft am stärksten neutralisiert und derenOrganisation als politische Macht verhindert: die wissenschaftlicheKontroverse. Sie ist stets möglich, stets neu entzündbar, ist mitinstitutionalisiert. Das Monopol auf Zuteilung des Symbols fürintersubjektive Gewißheit wird zwar von der Wissenschaft betreut, aber»die Wissenschaft« ist weder in einer einheitlich entscheidenden Hierarchieorganisiert, noch gestattet sie die Bildung monopolistischer

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Gutachterkartelle. Mit der Freiheit der Wissenschaft wird zugleich dieAutonomie der Politik gesichert.

Ohne diese Freiheit ist das Verhältnis von Wissenschaft und Politik dennauch sehr viel gespannter, ja einem im Grunde undurchführbarenVerschmelzungszwang unterworfen. In ideologisch gesteuerten politischenSystemen, die eine Gesamtkonstruktion der Gesellschaft anstreben, kanneine gesellschaftliche und politische Autonomie der Wissenschaft nichtzugelassen werden, da die Ideologie selbst als Wissenschaft auftritt undsomit der Wissenschaft ihr Konsistenzgebot aufzwingen muß. Diewissenschaftliche Aussage muß in all den Aspekten, in denen sie mit derIdeologie in Berührung kommt, auch politisch verantwortet werden.Wissenschaftliche Kontroversen, welche die ideologisch tabuiertenBereiche nicht umgehen können, müssen mit Rücksicht auf ihreideologischen Implikationen entschieden werden. Nicht nur die Richtigkeiteinzelner Aussagen steht auf dem Spiel, sondern darüber hinaus die Frage,ob der Aussagende ein falsches, gesellschaftsschädliches Bewußtsein hatoder nicht. Weder für den Wissenschaftler noch für den Politiker besteht dieFreiheit, wissenschaftliche Kontroversen anzufachen und sich damit vonbestimmten Meinungen oder Fachrichtungen zu distanzieren. Nicht auf dieseharmlose Weise, nämlich durch Kontroversen als solche, sondern nur durchBeherrschung der Wissenschaft kann die Politik ihre Autonomie bewahren.Diese Beherrschung erweist sich als zunehmend schwierig. Mit steigenderKomplexität der Forschung wird eine politische Gesamtverantwortung füralle Aussagen und für die Entwicklungsrichtung der Wissenschaft in ihrenzahlreichen Disziplinen immer problematischer, selbst wenn sie auf eineKontrolle symbolischer Implikationen beschränkt wird. Wie oft beiinvarianten Korrelationen kann sich schließlich die Frage stellen, wer hierwen führt. Die Politik kann dann in Situationen geraten, in denen sie frohsein muß, wenn diese Frage nicht offen zur Entscheidung gestellt wird.

Haben ideologisch bestimmte Systeme im Verhältnis zur Wissenschaftwegen unzureichender funktionaler Differenzierung besondereSchwierigkeiten zu erwarten, so finden sie sich im Verhältnis zu denInteressenten aus dem gleichen Grunde günstiger gestellt alsMehrparteiendemokratien. Die Anmeldung von Forderungen, ja dieÄußerung von Interessen wird einer vorgreifenden Kontrolle unterworfen

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und dadurch für das politische System verharmlost. Das Zurückstauenunannehmbarer Wünsche mag seine eigenen Probleme haben, aber dieseProbleme treten nicht im politischen System zutage als Probleme, die zulösen sind. Und was zunächst als eine illusionäre Konformität derInteressendarstellung erzwungen wird, mag sich, so ist die Hoffnung, in einewirkliche Konformität der Interessen verwandeln, wenn jedeKommunikation gegenteiliger Erwartungen wirksam unterbunden wird.Diese Rechnung beruht auf der Annahme, daß eine stärkere funktionaleDifferenzierung der Gesellschaft und damit eine stärkere Ausdifferenzierungdes politischen Systems aus seinen gesellschaftlichen Bezügen unnötigseien. Wenn dem so ist, sind in der Tat die Grenzen der Ausdifferenzierungdes politischen Systems, das Thema dieses Kapitels, kein echtes Problem.Ob jene Ausnahme zutrifft oder nicht, wird auf lange Sicht das Schicksal derideologisch gesteuerten Systeme entscheiden.

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V. Teil

Publikum

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22. Kapitel

Ausdifferenzierung von Publikumsrollen

Die politischen Systeme der neuzeitlichen Gesellschaften sind, das habendie Untersuchungen des vorigen Teils zeigen sollen, durch eine weitgehendeAusdifferenzierung aus den gesellschaftlichen Sinn- undErwartungszusammenhängen gekennzeichnet und haben eine hohe Autonomieder Selbstregelung gewonnen. Die tragenden Sinnebenen dieserAusdifferenzierung sind die der Rollenbildung und der Normierung.Politische Systeme zeichnen sich deshalb durch ein hohes Maß anRollentrennung und an Eigenart ihrer Normen und Rationalitätskriterien aus,die auf eine spezifisch politische Funktion bezogen sind und nicht ohneweiteres in andere Bereiche der Gesellschaft verpflanzt werden können.

Im Bereich der bürokratischen Verwaltung liegt diese ArtEigenständigkeit offen zutage. Auch die politische Herrschaft ist alsabsolute, souveräne Herrschaft unter diesen Gesichtspunkten diskutiertworden. Weniger gilt dies schon für die politischen Prozesse im ganzen, dievorwiegend als Repräsentation gesellschaftlicher Kräfte, also im Sinne vonWeiterleitung und Sinnzusammenhang und nicht als Trennprozesse, erörtertworden sind. Am wenigsten sichtbar geworden ist die funktionaleDifferenzierung und Autonomsetzung in dem Bereich, den wir mit demBegriff der Publikumsrollen meinen. Weder die angelsächsischeUnterscheidung von government und civil society noch die deutscheUnterscheidung von Staat und Gesellschaft hat diesem Phänomen besondererpolitisch-administrativer Publikumsrollen gerecht werden können. Erst eineTheorie des politischen Systems, die sich im Gegensatz zurangelsächsischen Government-Konzeption auch auf das Publikum erstreckt,aber im Gegensatz zum deutschen Staatsbegriff das Publikum nur in Formvon Rollen, nicht aber als Menschen, in das politische System einbezieht –erst diese Theorie erstellt einen begrifflichen Bezugsrahmen, in dem dieFrage der Ausdifferenzierung und Autonomsetzung besondererPublikumsrollen erörtert werden kann.

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Dieses Phänomen der Ausdifferenzierung besonderer Publikumsrollen istvon der Tradition der politischen Wissenschaft übergangen worden. In denStaatsvertragslehren hatte man es zum Beispiel in eine zeitlicheUnterscheidung von »vorher« und »nachher« aufgelöst: Individuen schließensich zu einem Publikum zusammen. Die liberale Theorie kam dann zu dermerkwürdigen Auffassung, daß gerade die (lesenden, diskutierenden,kritisierenden) Privatleute das Publikum seien.[1] Die gleichzeitigeUnterscheidung von Staat und Gesellschaft blieb theoretisch von derVerbandsvorstellung abhängig und vermochte ebenfalls keinen Einblick indie sich anbahnende Rollendifferenzierung zu vermitteln.

Daß man auf diese Weise an einem wichtigen Tatbestand vorüberging,hatte seinen Grund nicht nur in theoretischen Vorurteilen, sondern in derSache selbst. Die Ausdifferenzierung geht hier weniger weit als in anderenTeilbereichen des politischen Systems. Dazu kommt, daß derSystemcharakter dieser Publikumsrollen in Zweifel gezogen werden kann,daß er zumindest weniger deutlich ausgebildet ist als etwa im Falle derVerwaltungsbürokratie. Die Publikumsrollen sind nicht ein System, jede fürsich ist als Einzelrolle ein Kleinsystem, das sich im Verhältnis zu anderenRollen des einzelnen relativ konstant zu halten vermag. Diese Invarianzzeigt sich zum Beispiel daran, daß der einzelne nach seiner Scheidungimmer noch dieselbe Partei wählt, daß sozialer Aufstieg seine politischenPräferenzen und seinen Einfluß auf die Verwaltung unverändert läßt, daßseine Eigentumsentwicklung sich nicht unmittelbar in politische Aktivitätübersetzen läßt. Solche Invarianzen sind jedoch, soweit sie überhauptbestehen, gleichsam nur statistisch zu entdeckende Phänomene. Sie sindnicht so auffällig wie die konzentrierte Übermacht »absoluter« politischerHerrschaft, und sie fesseln auch nicht wie die Bürokratie als Landplage dieAufmerksamkeit. Unauffälligkeit heißt jedoch nicht Bedeutungslosigkeit. DieAusdifferenzierung der Publikumsrollen mag als Struktur und in ihrerFunktion unerkannt wirken, aber daraus folgt noch nicht, daß sie für dieStabilisierung des politischen Systems weniger wichtig wäre als etwa dieVerselbständigung von Politik und Verwaltung. Es ist ein besonderesVerdienst soziologischer Forschung, diese Einsicht gefördert, das Interessefür latente Funktionen und Strukturen geweckt und dieBeobachtungsmethoden dafür geschärft zu haben.

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Jede stark differenzierte Sozialordnung braucht, will sie die Autonomieihrer Teilsysteme erhalten, Trennfunktionen und filternde Mechanismen, dieverhindern, daß jede Änderung innerhalb und außerhalb gegebener Systemelawinenartig fortwirkt. Ein System, in dem alles von allem abhinge, alsoalles geändert werden müßte, wenn sich irgendwo etwas ändert, käme demChaos gleich.[2] So hängt auch die Stabilität eines politischen Systemsdavon ab, daß im Verhältnis zur Gesellschaft zugleich verbindende undtrennende Mechanismen existieren, so daß Politik und Verwaltung zwargesellschaftlich bestimmbar bleiben, sich aber nicht jede Änderung inanderen Teilsystemen ungefiltert auf das politische System auswirkt.

Diese notwendige Filterung kommt durch eine eigentümlicheKombination von Rollenerfordernissen und individueller Selbstbestimmungzustande, durch jene Kombination, die der älteren politischen Diskussionnamentlich des 19. Jahrhunderts wie ein gigantisches Ringen von Zwang undFreiheit vorkam. Sie nimmt verschiedene Formen an je nachdem, ob sie fürverwaltungsbezogene oder für politische Rollen des Publikums vollzogenwird.

Für die gesellschaftliche Ausdifferenzierung von Partnerrollen derVerwaltung ist deren Juridifizierung entscheidend. Sie wird dadurcherreicht, daß der neuzeitliche Staat sich als Rechtsstaat begreift, sich denBürger als Rechtssubjekt mit eigenen Rechten vorstellt und nur nochgesetzmäßige Eingriffe in subjektive Rechte zuläßt. In der ideologischenFassung dieses Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung stehen die»Werte« der Freiheit und der Rechtssicherheit im Vordergrund, die Schutzverdienen. Soziologisch ebenso wichtig ist das Indifferenzprinzip, dasdahintersteht. Gesetzmäßige Behandlung heißt Behandlung nach universellangewandten speziellen Kriterien unabhängig davon, welche anderen Rollender Bürger außerhalb des Eingriffszusammenhanges ausübt – alsounabhängig von Stand und Religion, Vermögen und Verwandtschaft,unabhängig davon auch, welche Verdienste der Betreffende sich in jeweilsnicht aktuellen Rollenzusammenhängen als Tanzmusiker oder Frontkämpfer,Politiker oder Lebensretter erworben hat, und unabhängig vor allem davon,in welcher Statusbeziehung er zum entscheidenden Beamten steht: ob ernach allgemeinen gesellschaftlichen Regeln höheren oder niedrigeren Rangzu beanspruchen hat. Dieser Gedanke wird auch als Prinzip der »Gleichheit

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vor dem Gesetz« ausgedrückt. Wenn alle Bürger gleich sind, kann das nurheißen, daß Rollen, die nicht von allen wahrgenommen werden, prinzipiellunberücksichtigt bleiben sollen und ihre Berücksichtigung im Einzelfall,also Ungleichbehandlung, der Begründung bedarf.[3] DieUngleichbehandlung ist damit nicht ausgeschlossen genauso wenig wie derEingriff in Rechte ausgeschlossen ist, aber beides wird zumEntscheidungsproblem gemacht, dessen Lösung einer akzeptablenBegründung bedarf. Die Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit dienenals Schema der Frage nach dem zureichenden Grunde des Gegenteils.

Daß eine solche Ausdifferenzierung von Publikumsrollen nach universellanwendbaren Kriterien Grundbedingung rationaler, großbetrieblicherVerwaltung ist, liegt auf der Hand. Bei der Rollen- und Statusvielfaltmoderner Gesellschaften würde jede andere Einstellung die Verwaltung mitKomplexität überlasten, zwänge sie, jeden Fall mit all seinen Hintergründenals Unikum zu sehen, und das schlösse jede spezialisierende Arbeitsteilungaus. Weniger leicht zu entdecken, aber nicht minder bedeutsam ist dieAusdifferenzierung von Publikumsrollen im Bereich des politischenHandelns. Hier kommt sie teils durch die Mitwirkungsbedingungen zustandeund teils dadurch, daß die Gesellschaft dem einzelnen mehr Motive zuspielt,als er politisch auswerten kann, so daß er auswählen und damit seineindividuelle Persönlichkeit zwischen die Gesellschaft und das politischeSystem hineinschieben muß.

Wer aus dem Publikum politisch wirksam handeln will, muß diejenigenKommunikationswege und Ausdrucksweisen benutzen, die im politischenSystem Wirkungen haben können. Er muß Wahlzettel ankreuzen, Petitioneneinreichen, Verbände finanzieren, Leserbriefe schreiben, an politischenDiskussionen mit vertretbaren Argumenten teilnehmen und sich dabei auf jeverschiedene Bedingungen der Interaktion einlassen. Er findet sonst keinGehör, ja, es würde nicht einmal verstanden werden, was er eigentlich will,wenn er das falsche Medium wählt. Von übergreifendem Stilzwang indiesem Sinne hatten wir bereits gesprochen.[4] Selbst Rebellionen müssensich politisch ausdrücken, müssen eine politisch mögliche Konzeptionvortragen und zum Beispiel darauf abzielen, Machthaber oderVerfassungsartikel in einem stehenbleibenden Gesamtrahmenauszuwechseln. Mit diesem Stilzwang wird garantiert, daß das politische

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System trotz wesentlicher Änderungen fortbesteht, daß nicht alles auf einmalProblem wird, sondern daß die schon geleistete Reduktion der Komplexität,die zur Struktur geronnene Geschichte des politischen Systems, imwesentlichen erhalten bleibt.

Eine Interaktionsordnung dieser Art ist nicht Einschränkung, sondernBedingung gesellschaftlichen Einflusses auf das politische System. Sie legtallgemeine Rollenvorzeichnungen, also Verhaltensprämissen, fest, nicht dasVerhalten selbst. Sie bleibt deshalb mit einem hohen Maß individuellerFreiheit vereinbar und gibt ihr erst Sinn und Wirkungsmöglichkeiten.

Darüber hinaus deuten Ergebnisse der neueren Wahlforschung sehrsuggestiv darauf hin, daß persönliche Freiheit des politischen Verhaltens instark differenzierten Sozialordnungen nicht nur möglich ist, sondern auchbenötigt wird. Sie erfüllt ihrerseits eine wesentliche Funktion für dieStabilisierung des ausdifferenzierten politischen Systems. Freiheitermöglicht es nämlich, die individuelle Persönlichkeit, also ein jebesonderes System der Erlebnisverarbeitung, als unbestimmten Mittlerzwischen die verschiedenen (religiösen, wirtschaftlichen, kulturellen,familiären, politischen) Rollen des einzelnen zu setzen und diese dadurchstrukturell zu trennen. Freiheit ist, soziologisch gesehen, ein Mechanismusder Rollentrennung.

In dem Maße, als alle Teilbereiche sich zu steigender Komplexitätentwickeln, wird jede Art von Automatismus in der Verbindung zwischenihnen gefährlich und zugleich mehr oder weniger ausgeschlossen. Jene altenMechanismen der starren Koordination durch Rollenidentitäten entfallen.Aus dem religiösen Erleben ergibt sich nicht mehr ohne weiteres, waspolitisch zu tun ist. Die Familienbeziehungen legen den einzelnen nichtunbedingt fest, wenn es darum geht, eine Verwaltungsentscheidunganzufechten oder nicht anzufechten. Selbst schwere konjunkturelleWirtschaftskrisen haben als solche kein automatisches Ansteigen politischerAktivität zur Folge.[5] Korrelationen dieser Art sind nicht ausgeschlossen,sind vor allem nicht etwa verboten. Aber sie werden durch persönlicheEntscheidungen vermittelt, also durch sehr verschiedenartige Systeme derErlebnisverarbeitung gefiltert, bei denen die Wahrscheinlichkeit gering ist,daß sie auf gleiche Ereignisse gleich reagieren. Wirtschaftliche, kulturelle,religiöse und selbst politische Ereignisse können sich daher nicht

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geradenwegs, sondern nur gebrochen politisch auswirken – vorausgesetzt,daß es gelingt, die Individualität der Zwischenentscheidung wirklich zuinstitutionalisieren und von einer massiven sozialen Gleichschaltung derReaktionen freizukommen.

Psychisch regulierte Vermittlung wäre ihrerseits bedenklich, wenn sieRollenbindungen durch Bindung an bestimmte psychische Mechanismenersetzte, wenn sie zum Beispiel das politische System den Neurotikernauslieferte oder den »autoritären Persönlichkeiten« oder denen, die ihrenAusweg in Aggressivität suchen. Es mag gesellschaftliche Bedingungengeben, die solchen Persönlichkeiten die Politik als ein besondersattraktives, vielleicht als einzig sinnvolles Betätigungsfeld erscheinenlassen.[6] Im großen und ganzen sind jedoch die Mechanismen psychischerProblemlösung zu vielfältig, als daß daraus bestimmte politischeBewegungen erwachsen könnten. Was bei einzelnen Persönlichkeitenfeststellbar ist, hebt sich in der Masse auf.[7] Jede politische Bewegung mußdaher auf eine Mehrzahl tragender Persönlichkeitsstrukturen zurückgreifenkönnen. Die individuelle Motivation ist eine Sache für sich, ihreKonsequenzen für das politische System eine andere. Ihre Auswirkungenwerden so komplex vermittelt und vermaßt, daß der individuelle Anlaß inder Wirkung nicht mehr zu erkennen ist. Das politische System hat eineKomplexität, eine Autonomie und ein Eigengewicht gewonnen, die nicht nurbestimmte Rollenbindungen, sondern auch bestimmte Motivgruppen in ihrenKonsequenzen weitgehend neutralisieren.

Wesentliche Vorbedingung für diese Neutralisierung sind die Vielzahl unddie Komplexität der durch das Individuum zu kombinierendenRollenzusammenhänge, die den einzelnen »überdeterminieren« und dadurchunberechenbar machen. Aus der Vielfalt seiner sozialen Rollen erhält dereinzelne zahlreiche Anregungen für Forderungen an politisch-administratives Entscheiden, die jedoch das Richtige nicht ohne weiteresauf der Stirn tragen, ja sich widersprechen können. Er ist auf einenzusätzlichen Selektions- und Verarbeitungsmechanismus angewiesen. Diesenkann der einzelne in sich selbst finden. Er kann als Wähler auf dasÜberangebot von unvollständig überblickbaren Möglichkeiten mitapathisch-indifferentem Hinnehmen oder mit Eifer für eine bestimmte Sacheoder eine politische Persönlichkeit, mit launischem Wechseln seiner

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Präferenzen nach Maßgabe jeweils letzter Eindrücke oder mit einer sichselbst eingeredeten Rationalität der sorgfältig abgewogenen Stimmpolitikreagieren. Er kann ferner soziale Anlehnung und Bestätigung suchen und soentscheiden, wie sein »opinion leader«[8] es ihm oder seiner Kleingruppe[9]

in persönlichen Kommunikationen vor Augen führt.All diese und andere Lösungen des Problems übermäßiger Komplexität

sind, vom Standpunkt des einzelnen gesehen, funktional äquivalenteMechanismen der Reduktion. Für die Autonomie des politischen Systemskommt es entscheidend darauf an, daß nicht eine einzige Motivgruppe dieserArt im Publikum dominiert – auch nicht die einer vermeintlichen, aber garnicht möglichen Rationalität – , sondern daß durch die Individualität derReaktionen aus Politik und Verwaltung jene Alternativität erhalten bleibt.Denn gerade dieses Nichtfestgelegtsein des Publikums ist die Grundlage fürdie Autonomie des politischen Systems gegenüber anderenGesellschaftsbereichen sowie dafür, daß der Gewinn dieser Autonomie ankontinuierliches Bemühen um politische Zustimmung gebunden ist.[10]

Für die notwendigen nichtrationalen Entscheidungshilfen des Publikums,seien sie psychischer oder sozialer Art, ist demnach eine eigentümlicheIndirektheit bezeichnend. Sie verhelfen zur Reduktion von Komplexität,aber sie determinieren das Verhalten nicht, fungieren also nicht alsMechanismen der Einflußsicherung. Nur in indirekter Abhängigkeit von derGesellschaft kann das politische System Autonomie gewinnen.

Diese Indirektheit ermöglicht es, den aktiven Beitrag des Publikums zumFunktionieren des politischen Systems in besondere Rollen des Wählers,Antragstellers, Diskussionsredners usw. zu fassen und auf die spezifischeFunktion der Artikulation von politisch relevanten Interessen undForderungen zuzuschneiden.[11] Die Artikulation politisch-administrativerEntscheidungsgrundlagen wird notwendig in dem Maße, als sich die altenethisch, naturrechtlich oder wie immer konzipiertenSelbstverständlichkeiten auflösen, die impliziten Rollenbindungen zerfallenund durch explizite Entscheidungsprämissen ersetzt werden müssen. Gelingtes, Publikumsrollen auszudifferenzieren und dem politischen Systemzuzuordnen, dann kann dieser Artikulationsprozeß sich innerhalb derGrenzen des politischen Systems vollziehen – und nicht etwa in derWirtschaft, im Erziehungswesen, in den Kirchen oder in Intimgruppen. Er

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kann, wenn im Verhältnis zu anderen Bereichen der Gesellschaft genügendFreiheit und Distanz institutionalisiert sind, auf die besonderenAusdrucksmöglichkeiten, Kommunikationswege und Konsenschancen despolitischen Systems ausgerichtet werden. Er wird dann vom politischenSystem zwar nicht vorgreifend festgelegt, aber doch in gewissem Umfangedurch Bedingungen des Erfolgs gesteuert. Eine politisch-ideologischeProgrammierung der Interessendarstellung ist denkbar, aber durchaus nichtnotwendig.

In einer selbsttätigen Artikulation von Interessen und Forderungen kannman die spezifische Funktion ausdifferenzierter Publikumsrollen erblicken.Sie besteht in einer Darstellung der gesellschaftlichen Komplexität in derSondersprache des politischen Systems – in einer Form also, die impolitischen System aufgenommen und verarbeitet werden kann. Wird dieseFunktion erfüllt, können die eigentlich politischen Prozesse darananknüpfen. Sie finden dann das Material vor, mit dem sie sich zubeschäftigen haben und können sich ihrerseits darauf spezialisieren,Interessen zu generalisieren und Forderungen zu reduzieren. FormulierteInteressen und Forderungen sind gleichsam bedingte Zusagen politischerUnterstützung. Indem die Politik sie aufgreift und verarbeitet, kann sie einebesondere Leistung erbringen und damit zugleich jene Unterstützung zuerhalten suchen, die ihren Fortbestand sichert.

Die Bedeutung der Interessenartikulation ist mithin nicht auf sie selbstoder auf rein expressive Funktionen beschränkt. Sie trägt wesentlich zurErhaltung eines funktional differenzierten politischen Systems bei. Das läßtsich, wie in anderen Fällen auch, am Gegenbeispiel der Entwicklungsländerveranschaulichen.[12] Deren gesellschaftliche Struktur und derenBildungsniveau lassen eine Ausdifferenzierung von Publikumsrollen nichtoder kaum zu. Daher fehlt es an Formen der Interessenartikulation, diesowohl von der Politik wie auch von anderen Funktionsbereichen derGesellschaft hinreichend unabhängig sind. Der Politiker kriegt so keinenBoden unter die Füße. An die vorhandene Gliederung und ihre traditionalenOrdnungssegmente kann er bei einer Entwicklungspolitik nicht anknüpfen.Er muß daher mit allgemeinen Schlagworten, insbesondere denen dernationalen Unabhängigkeit und des zu erstrebenden wirtschaftlichenWohlstandes, arbeiten, die in einer undifferenzierten Interessendarstellung

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steckenbleiben. So vermag die Politik auch ihre eigene Leistung derGeneralisierung von Interessen, der Reduzierung von Forderungen und desAufbaus konsensfähiger, machtgestützter Programmpositionen nichtüberzeugend zu erbringen, und sie erscheint im Verhältnis zur Verwaltungals entbehrliche Nachahmung fremder Verhaltensmuster.

Ausdifferenzierung von Publikumsrollen, die zu selbsttätiger, relativungebundener Artikulation von Interessen und Forderungen fähig sind, istmithin ein wesentliches Element der funktionalen Differenzierungpolitischer Systeme und eine Voraussetzung dafür, daß auch die anderenTeile des politischen Systems sich funktional auf eine eigene Leistungspezialisieren können. Diese These darf freilich nicht zu der Annahmeverallgemeinert werden, daß der politische Prozeß sich darin erschöpfe,eine Pluralität von Interessen gegeneinander aufzufahren und auszugleichen.Die Leistungen des Publikums für das politische System bestehen nicht nurin der Artikulation von Interessen und Forderungen, werden also nicht nurüber ausdifferenzierte Publikumsrollen geleitet. Daneben gibt es vor allemden wichtigen Funktionsbereich der Rekrutierung für politisch-administrative Rollen. Außerdem darf man nicht unterstellen, daß derProzeß der Artikulation von Interessen ein einheitlicher Vorgang sei, derhauptsächlich von Interessenverbänden betrieben werde. BeideFehldeutungen liegen bei der gegenwärtigen Zentrierung der politologischenForschung auf Institutionen der Repräsentation, insbesondere Wahlen undParteien, und auf Interessenverbände nahe. Wir werden ihnen in denfolgenden Kapiteln ausführlich entgegentreten müssen. Zunächst sollenverschiedene Formen und Ebenen der Interessenartikulation erörtert werdenin den Kapiteln 23, 24 und 25, welche die Differenzierung derPublikumsrollen in die des Verwaltungspublikums und die des politischenPublikums zum Gegenstand haben.

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23. Kapitel

Innendifferenzierung der Publikumsrollen

Die Symbolik der dominanten Kommunikationsrichtung im politischenSystem erfordert zur Schließung des Kommunikationskreislaufes, daß derBürger seine Erfahrungen mit der Entscheidungspraxis der Verwaltungumsetzen kann in Kommunikationen an die Politik und gegebenenfalls inEntscheidungen über Gewährung oder Verweigerung politischerUnterstützung. Wie die Politik durch diese Symbolik unter das Gebot derSensibilität und die Verwaltung unter das Gebot politischer Lenkbarkeitgestellt werden, so steht das Publikum unter der Erwartung vernünftigerReaktion. Die Reaktionsfähigkeit des Publikums, symbolisiert in der Gestaltdes rationalen Wählers, ist der Schlußstein in der offiziellenSystemdarstellung einer Demokratie.

Ohne gewisse Anhaltspunkte in der Realität könnte diese Symbolik derdominanten Kommunikationsrichtung nicht einmal rein symbolischeFunktionen erfüllen.[1] Das Publikum muß von der Möglichkeit und derWirklichkeit vernünftiger Reaktionen laufend überzeugt werden. Es mußalso solche Reaktionsmöglichkeiten zunächst einmal institutionell geben.Andererseits ist eine einseitig ausgerichtete Reaktionsbahn ebensoweniginstitutionalisierbar wie Kommunikationen in einer Richtung. Gerade wennPolitik und Verwaltung systemmäßig getrennt werden, wird es unmöglich,Reaktionen auf Verwaltungsentscheidungen einfach der Politik zuzuleiten, dadiese nur bestimmte Arten und begrenzte Mengen von Informationenbearbeiten kann. Ein Vorgang der Filterung ist notwendig. Die offizielleSymbolik erwartet diese Filterung von der Vernunft des Wählers. Wirwollen zunächst nach den institutionellen Stützen dieser Vernunft fragenoder genauer danach, wie die Filterung wirklich erfolgt, die dann alsLeistung der Vernunft dargestellt werden kann.

Als Hauptmechanismus der Selektion dient eine Differenzierung derPublikumsrollen. An den Publikumsrollen bewahrheitet sich einmal mehrdie allgemeine Regel, daß in differenzierten Sozialordnungen die

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teilnehmenden Systeme sich selbst differenzieren und auch in ihrenTeilsystemen unterdifferenzieren müssen. Die einheitliche Stellung des»gemeinen Mannes« zur »Obrigkeit« wird aufgegliedert, sobald daspolitische System sich selbst stärker differenziert. Gemäß der allgemeinenTrennung von Politik und Verwaltung müssen dann verschiedenePartnerrollen getrennt werden je nachdem, ob der einzelne an der Politikoder an der Verwaltung teilnimmt. Beide Kontaktbereiche stellen nämlichunterschiedliche Verhaltensanforderungen, die bis in den expressiven Stildes Verhaltens, zum Beispiel das Ausmaß empfundener und darstellbarerFreiheit, hineinreichen. Sie lassen divergierende Verhaltenserwartungengerinnen, treten situationsmäßig auseinander, so daß schließlich bewußtwird, daß man im Kontakt mit der Bürokratie eine andere Rolle zu spielenhat als im Kontakt mit der Politik – im einen Falle Auskunftsuchender,Antragsteller, Beschwerdeführer, Abgewiesener; im anderen Falle passiverBeobachter der politischen Szene, Wähler, Diskussionspartner, Interessent,der Kontakt mit politisch einflußreichen Personen sucht, um bestimmteProjekte zu fördern oder zu verhindern.

Diese Differenzierung der Publikumsrollen ist eine Folge der Trennungvon Politik und Verwaltung, aber sie ist mehr als das. Sie gewinnt eineneigenen Sinn, der die Trennung von Politik und Verwaltung bestätigt unddarüber hinaus für das politische System als Ganzes eine wesentlicheFunktion übernimmt. Sie bricht das spontane Reagieren des Publikums undermöglicht ein abgestuftes Umsetzen von Erleben in Aktion dadurch, daß siedas Verhalten auf mehrere Rollen aufteilt.

Solange der gemeine Mann seiner Obrigkeit in nur einer Rollegegenübersteht, ist es undenkbar, ihm Macht über seinen Herrn zu geben.Macht träfe auf gleiche Macht und würde sich wechselseitig neutralisieren.Eine hierarchische Ordnung setzt Eindeutigkeit des Macht- und Ranggefällesvoraus. Sie kann nur vorsehen, daß der einzelne sich den Entscheidungenseiner Obrigkeit zu fügen hat – bestenfalls nachdem ihm die Möglichkeitgegeben wurde, untertänigst vorzusprechen. Das bedeutet im typischen Fall,daß der Betroffene nur eine einzige Rollenbeziehung als Reaktionsbahn zurVerfügung hat, die unter ebendiesem Gesetz steht. Er muß deshalb sofortreagieren. Er kann seinen Groll zwar innerlich aufstauen, will er ihn aberentladen, dann stehen dafür innerhalb des politischen Systems keine

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Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. Er muß gleichsam rollenlosrevoltieren, indem er die Herrschaft als solche angreift.[2] Der Herrscherselbst muß dann engen Kontakt mit dem Volke halten, sich etwa, und das istbezeichnend, verkleidet unter das Volk mischen und hohe Sensibilität für dieGrenzen des Erträglichen entwickeln, will er seine Herrschaft nichtgefährden. Das Kommunikationspotential des politischen Systems ist aufdiese eine Rollenbeziehung festgelegt, stark strukturiert und daher vongeringer Leistungsfähigkeit für Informationsverarbeitung. Die Grundlagender Herrschaft können zwar symbolhaft dargestellt, aber nicht diskutiertwerden.

Werden die Publikumsrollen differenziert, so wird diesem Entweder-Oder, dieser auf Biegen und Brechen zugespitzten Herrschaft, die Schärfegenommen. Es gibt dann innerhalb des politischen Systems legitime,rollenmäßig mehr oder weniger deutlich strukturierte Verhaltensbahnen, diezwar die Verbindlichkeit des Entscheidens nicht in Frage stellen, aber dochGegenzüge ermöglichen. Der Bürger kann in andere Rollen ausweichen, seies, um seiner Verärgerung in anderen Situationen gegenüber anderenZuhörern Ausdruck zu geben, sei es, um einen Anstoß zur Änderung derEntscheidungsprämissen zu geben, die ihm mißfallen.

Bei einem ersten groben Überblick, der alle Feinheiten undSystemunterschiede zunächst vernachlässigen muß und daher weder auf denUnterschied von Parteien und Interessenverbänden, Verwaltungsbehördenund Gerichten, Staats- und Kommunalsystemen, Einparteien- undMehrparteienordnungen noch auf die unterschiedlichen Akzentsetzungeneingeht, mit denen bestimmte politische Systeme von diesen Möglichkeitender Strukturierung im einzelnen Gebrauch machen – in einer so weitdistanzierten Blickstellung also lassen sich grundsätzlich und vor allemanderen die Partnerrollen gegenüber Verwaltung und gegenüber der Politikunterscheiden. Gegenüber der Verwaltung werden die Publikumsrollen aufMitwirkung an der Ausarbeitung programmierter Entscheidungenspezialisiert, auf einen Kontakt also, in dem das Interesse des einzelnen inseiner vollen Individualität dargestellt und zur Erwägung gebracht werdenkann, in dem aber das Entscheidungsprogramm und die Kompetenz derletzten Entscheidung durch die Behörden bzw. Gerichte nicht in Fragegestellt werden können. Für die Politik gilt in etwa die umgekehrte

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Bedingung. Hier gibt es keine Kommunikationssperre durch vorentschiedeneProgramme oder Kompetenzen: Alles ist offen und machbar in den Grenzendessen, was einflußreichen Konsens finden kann. Andererseits kommt ebendeshalb der einzelne nicht mit seiner ganz besonderenInteressenkonstellation zum Zuge. Er muß sich so ausdrücken, daß seinWunsch Gesetz für andere werden kann.

Keine dieser Rollenbeziehungen beschert dem Bürger schrankenloseFreiheit oder ungetrübte Freude. Die eine versagt, was die andere inAussicht stellt. Beide bieten eine unterschiedliche Mischung von Chancenund Hemmungen, Vorteilen und Nachteilen. Gewonnen wird damit vor allemKomplexität, nämlich die Möglichkeit, sich innerhalb des politischenSystems nach widerspruchsvollen Kriterien zu verhalten. Der Bürger kann,nicht in jedem Einzelfalle, aber doch im Prinzip, aus einer Rolle in dieandere schlüpfen. Er kann zum Beispiel versuchen, bestimmte Erfahrungenmit der Verwaltung zu politisieren und ihnen in der meinungsbildendenpolitischen Diskussion Gehör zu verschaffen; oder er kann sich bemühen,auf politischen Wegen Programm- oder Personalentscheidungen zuerreichen, die ihm der Verwaltung gegenüber einen tragfähigen Boden fürdas Vorführen seiner eigenen Interessen bereiten. Ob, für wen, mit welchenErschwernissen und Kosten politische Wege gangbar sind und was siejeweils an Beziehungen, gemeinsamer Vergangenheit, persönlicher Potenzusw. voraussetzen, ist eine Variable, die sehr verschiedene Werte annehmenkann. In den politischen Systemen der Kommunen werden andereVerhältnisse herrschen als auf der Ebene des Staates, inEinparteiensystemen andere als in Mehrparteiensystemen. In der einenOrdnung kann es nützlich sein, einen »Blutzeugen der Bewegung« zu kennen,der sich der subalternen Parteibürokratie gegenüber durchsetzen kann. Inanderen Systemen sind die Beziehungen zu Verbandsmanagern wichtig, diesich den Anschein geben können, für große Wählerzahlen zu sprechen. Oderes mag genügen, den Abdruck eines Leserbriefes zu erreichen oder denörtlich zuständigen Abgeordneten zu einer »kleinen Anfrage« zu bewegen. Inanderen Fällen bieten die Clubs und Salons der höheren Gesellschaft, diearrivierte Politiker zulassen, Kontaktmöglichkeiten; in wieder anderenzählen Großfamilien oder religiös-politische Bruderschaften. Allen diesenVerschiedenheiten, die keineswegs bagatellisiert werden sollen, ist zunächst

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und vor allem ein Moment gemeinsam und entscheidend: die Offenhaltungeines zweiten Wegs, der von den Entscheidungsprozessen der Verwaltungunabhängig ist und unter anderen Gesetzen betreten wird. Dieser Weg gibtdem Publikum Gelegenheit, einflußreiche politische Persönlichkeitenanzusprechen, die keinem unsichtbaren Vorgesetzten Gehorsam schulden undfür die Gesetze nicht Prämissen, sondern abänderbare, daher zuverantwortende Produkte ihres Handelns sind.

Die Politik muß, mit anderen Worten, in der Lage sein, einen eigenenunmittelbaren Kontakt zum Publikum herzustellen, dieses zur politischenKommunikation heranzuziehen und Rollenmuster dafür bereitzustellen. Diegrößtmögliche Breite dieses Kontaktes, seine Zugänglichkeit für jedermann,ist die ideale Forderung, die jedoch im Widerspruch steht zu derunvermeidlich begrenzten Aufmerksamkeits- und Kontaktspanne derPolitiker. Überhaupt wäre es in jeder Art politischen Systems illusorisch,gleichen Einfluß für alle zu fordern. Das wäre unvereinbar mit derNotwendigkeit, Einfluß durch selektive Strukturen zu intensivieren,Interessen unter vorgefaßten Gesichtspunkten zu sammeln, Forderungen aufmögliche Entscheidungsprogramme zurückzuschneiden, kurz: unvereinbarmit dem zwingenden Gebot der Reduktion von Komplexität. Die Hauptsacheist, daß der politische Weg für das Publikum überhaupt offengehalten wird,und zwar so weit offengehalten wird, daß die Verwaltung durchweg mit derMöglichkeit rechnen muß, daß Bescheide, die sie nach unten ausstößt, aufirgendeine Weise den Weg nach oben finden und ihr von dort um die Ohrengeschlagen werden.

Wie immer die Doppelgleisigkeit der Kontakte zwischen Publikum undPolitik bzw. Verwaltung eingerichtet sein mag, in jedem Falle setzt dieseRollentrennung voraus, daß der Bürger Zeit hat, daß er – aus inneren undäußeren Gründen – imstande ist abzuwarten. Zeit wird allein schon zumRollenwechsel gebraucht, impliziert er doch einen Wechsel von Situationen,Partnern und Selbstdarstellungen, der nicht impulsiv auf der Stellevollzogen werden kann. Zeit ist aber auch deshalb erforderlich, weil Politikund Verwaltung kooperative Interaktionssysteme sind, die ihre Termineerzeugen und nur im Rhythmus ihrer eigenen Zeit beeinflußt werden können:Die nächste Fraktionssitzung ist erst Dienstag nachmittag, der AbgeordnetePaul Müller ist erst übernächste Woche wieder in seinem Wahlkreis, vor

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dem Gewerkschaftskongreß ist eine Entscheidung bestimmter Fragen nichtzu erwarten, der Minister besichtigt zur Zeit Entwicklungsländer und istnicht erreichbar. Nur wenn ein Vorgang sich in diesen Rhythmus der Termineund Verabredungen einfügen läßt und mit ihm fließen kann, ohne mit der Zeitan Aktualität zu verlieren, hat er überhaupt Chancen, ein Politikum zuwerden – ungeachtet der Tatsache, daß es gerade deshalb auchterminbezogene Strategien gibt und politisches Handeln zuweilen darinbesteht, Termine durcheinanderzubringen, neue Termine in die schonbesetzten Kalender hineinzuschießen oder den Terminstau anderer zueigener unbehinderter Aktivität auszunutzen.

Dazu kommt, daß die Termine in der Politik und zwischen Politik undVerwaltung schlecht oder gar nicht koordiniert sind. Der Bürger hat es mitzwei Systemen zu tun, und so kann er nicht sicher sein, den Abgeordnetennoch zu erreichen, bevor die Rechtsmittelfrist in seiner Verwaltungssacheabläuft. Er muß, will er die ihm gebotenen Möglichkeiten nutzen, nicht nurüber Geduld verfügen, sondern auch über die Fähigkeit zu langfristigvoraussehender Zeitplanung. Besonders mit politischen Vorhaben muß manfrüh beginnen, will man Zeitdruck vermeiden, im Grunde so früh, daß esnoch kaum möglich ist, Interesse und Gehör zu finden.

In diesen Erfordernissen, die daraus entspringen, daß die sachlichezugleich eine zeitliche Trennung der Publikumsrollen involviert, steckeneinige Antriebe, die mit unbemerkter Hand zur Generalisierung politischerAnliegen zwingen. Früh beginnen kann man nur mit mehr oder wenigerprinzipiellen Vorhaben. Als Individuum findet Interesse nur, wer seineWunden vorweisen kann. Ebenso filtert die lange Dauer der SachbehandlungThemen aus, die nur situationsgebunden aktualisierbar sind und sich nichtals Muster- oder Testfälle hochspielen lassen. Die taktischen Anforderungender Zeitplanung lassen es ratsam erscheinen, die Sache in die Handversierter Vertreter zu legen – in eine Hand, die viele Dinge zusammenfaßtund in der Ballung wirksamer, aber auch weniger individuiert, voranbringt.Die Zeit wirkt also im ganzen wie ein selbsttätiger Mechanismus derGeneralisierung und der Reduktion von Komplexität. Themen, die immerwieder genannt werden und aktuell bleiben, weisen sich damit als politischrelevant aus. Sie haben eine erste Probe auf dem langen Wege zurverbindlichen Entscheidung bestanden.

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Ähnlich wie die Zeitdifferenz fördern auch die sachlichen Unterschiedezwischen den Publikumsrollen die Generalisierung derEntscheidungsbegehren. Wenn man das Verhältnis der verschiedenenPublikumsrollen zueinander unter dem Aspekt eines Kommunikationsflussesvon den verwaltungsbezogenen Rollen zu den politischen Rollen sieht, wirddas deutlich. Jene lassen im Rahmen dessen, was für bestimmteEntscheidungsprogramme relevant ist, konkrete Interessendarstellung zu.Wird ein Thema aus jenem Bereich in den politischen überführt, dann mußeine trennende Schwelle überschritten werden, an der politischUnwesentliches oder Unrealisierbares hängenbleibt. Gewisse Argumentemüssen weggelassen, andere hinzuerfunden werden. Das gilt ganzoffensichtlich, wenn der Ärger über bestimmte Programmfolgen auf denWeg der Umprogrammierung geleitet werden soll. Er muß dann ideologischaufgeblasen oder mit Wählerstimmen ausstaffiert werden. Selbst in jenenfragwürdigen Grenzfällen, in denen Politiker partikulare Wünsche einzelnerKlienten zu erfüllen suchen, müssen sie sich einer generalisierten Sprachebedienen. Wer einen Antrag auf Genehmigung eines Wochenendhauses imNaturschutzgebiet abgelehnt erhält, findet vielleicht die Gelegenheit, einenAbgeordneten ins Ministerium zu schicken. Dieser wird dann aber denEinzelfall nur als Beispiel für eine grundsätzlich bedenkliche, imallgemeinen zu rigorose Ablehnungspraxis des Bezirkes A darstellen, diedem Vergleich mit anderen Bezirken nicht standhält; oder er wird vortragen,daß es gar nicht zu der im Gesetz vorgesehenen Interessenabwägunggekommen ist. Selbst wenn alle Beteiligten verstehen, um was es sicheigentlich handelt, sind ihre Ausdrucksmöglichkeiten undArgumentationsweisen auf der Ebene des Allgemeingültigen fixiert, so daßnicht alle Motive zur Sprache kommen können.

Die Frage ist natürlich, wie diese Filterung im einzelnen angesetzt wirdund wie weit sie gehen darf. Sie darf den Kreislauf der Kommunikation impolitischen System nicht unterbrechen. Eine »Rückkoppelung« zwischenVerwaltung und Politik mit Hilfe des Publikums muß erhalten bleiben. DiePolitik darf sich nicht nur in immer neue Planungen versteigen, sie muß andas Bestehende anknüpfen und sich davon beeindrucken lassen, wie schonprogrammierte Entscheidungen gewirkt haben und welche Folgeproblemedabei aufgetreten sind. In dieser Hinsicht stellen politisch zentralisierte und

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politisch dezentralisierte Staatswesen sehr unterschiedliche Anforderungen.Unitarische Systeme, welche die politischen Prozesse auf eine einzige

Staatsspitze hinlenken und nur administrative Dezentralisierung kennen,müssen von ihrem Staatsbürger erwarten, daß er auf sehr vielfältigeErfahrungen mit der Verwaltung in einem einzigen System politischerProzesse reagiert, also seine Reaktion sehr stark generalisiert und selbstseine widerspruchsvollen, wechselnden guten und schlechten Erfahrungenzu einer einzigen Summe zusammenzieht, wenn er als Wähler entscheidet.Bei einem föderalen Staatsaufbau oder bei starker Betonung kommunalerSelbstverwaltung im Sinne einer relativen Autonomie kleiner,nichtsouveräner politischer Systeme wird dem Bürger eine mehrgleisigeReaktion angeboten, aber auch abverlangt. Er muß dann zusätzlichunterscheiden zwischen dem, was politisch und verwaltungsmäßig auf dieEbene der Kommunen, die Ebene der Länder oder die Ebene desBundesstaates gehört. Will er auf die Verwaltung politisch reagieren, setztdies erhebliche Strukturkenntnisse und vor allem Rechtskenntnisse voraus.Er muß die Entscheidungsprämissen und Entscheidungsleistungen aufdröselnund feststellen können, ob es sich bei den Ergebnissen, die ihm mißfallen,um Konsequenzen eines Bundesgesetzes oder eines Landesgesetzes oder umSelbstverwaltungsentscheidungen lokaler Art, um Folgen desFinanzausgleichssystems oder der nationalen oder einzelstaatlichenSubventionspolitik usw. handelt. Bei starker Interdependenz derEntscheidungen auf allen Ebenen, wie sie zunehmend typisch wird, läuft dasauf eine Überforderung hinaus, die das politische Reagieren auf Verwaltungin weiten Bereichen blockiert oder in falsche Kanäle lenkt.[3] So muß mansich fragen, ob dieser Aufbau wirklich, wie gedacht, geeignet ist, die Politikdem Bürger näherzubringen, oder ob er es ihm nicht vielmehr erschwert,sein Erleben, soweit es von der Entscheidungspraxis des politischenSystems bestimmt ist, zu politisieren. Das politische Interesse konzentriertsich auch in Staatswesen mit politisch dezentralisiertem Aufbau auf dienationale Ebene – vor allem wohl aus dem Gefühl heraus, daß eigentlich nurdort Politik gemacht wird und auf allen anderen Ebenen Politik im Grundenur mehr oder minder sachlichen Eingriff in die Verwaltung bedeute.[4]

Zusammenfassend und als Grundlage für die folgenden Einzelanalysender verwaltungsbezogenen und der politischen Rollen des Publikums läßt

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sich festhalten, daß deren Trennung eine wesentliche Funktion hat für dieErhaltung jenes Kommunikationskreislaufs, den wir als dynamischen Aspektunseres allgemeinen Modells des politischen Systems im 12. Kapitelerörtert haben. Diese Trennung der Publikumsrollen besagt nicht, daß dieErfahrungen des Publikums mit der Verwaltung politisch bedeutungsloswären, also nicht ins Politische übersetzt werden könnten, sondernlediglich, daß dies nur in bestimmter, generalisierender Weise geschehenkann. Wie es für funktional differenzierte Systeme überhaupt typisch ist,schließt Trennung Verbindung nicht aus, sondern dient nur dazu, sie zuspezifizieren und so zu intensivieren. Trennung der Rollen bedeutet deshalbnicht ein zusammenhangloses Nebeneinander von Teilen des Systems,vielmehr nur, daß in den Fluß der Kommunikation zwischen den TeilenFilter eingebaut sind, die bewirken, daß jeder Teil in der Kommunikationmit anderen seinen spezifischen Stil behält und nicht mit all den Sorgen desanderen, also mit Komplexität, überlastet wird. Die Art der Filterung, derProzeß der Generalisierung und der Reduktion von Komplexität, ist jeneLeistung, die das politische System als System zusammenhält und zugleichseine Systemfunktion im Verhältnis zur Umwelt erfüllt.

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24. Kapitel

Verwaltungspublikum

Im Vergleich zu dem reichen wissenschaftlichen Material, das für diepolitischen Rollen des Publikums aus langem Nachdenken über Demokratieund Repräsentation und durch die neuere Wahlforschung zur Verfügung steht,ist unser Wissen auf dem sehr viel alltäglicheren Gebiet des Verhältnissesder Verwaltung zu ihrem Publikum spärlich gesät und unsicher.[1] Daher sindauch unsere Vorstellungen und Erwartungen im Hinblick auf dieverwaltungsbezogenen Rollen des Publikums unklar und widerspruchsreich.Wenige Buchpublikationen widmen sich eigens diesem Thema,[2] undgelegentliche Betrachtungen in Zeitschriften[3] führen nicht sehr weit. DieserZustand sticht auffällig ab von den Erwartungen, die man zu den Zeiten desFreiherrn vom Stein in die Beziehungen zwischen Verwaltung und Publikumsetzte – Erwartungen, die so weit gingen, von diesen Beziehungen dieRegeneration einer zusammengebrochenen politischen Ordnung zu erhoffen.

Zwar hat dieses Bild des rationalen, informierten und interessiertenVerwaltungspartners nicht die gleiche enttäuschende Kritik erfahren wie dasentsprechende Urbild des politischen Wählers, die Situation ist jedoch inbeiden Fällen nicht unähnlich. Das klassische Ideal läuft auf eineprinzipielle Überforderung des Handelns in sehr komplexen Umweltenhinaus. Man darf nicht zuviel Komplexitätsreduktion vom Handeln selbsterwarten, sondern muß, besonders als Soziologe, sehr viel stärker dieSystemstrukturen in Betracht ziehen, in deren Rahmen gehandelt wird. DieRollen, die das Publikum gegenüber der Verwaltung einnehmen kann,werden durch eine Reihe von strukturell festliegenden Verhaltensprämissender Verwaltung so stark vorgeprägt, daß der Spielraum für eine freieUmgestaltung, für Werbung, anfeuernde Belebung oder herzlicheVerständigung recht gering ist. Das kommt nicht zuletzt daher, daß hier dasEndprodukt der politisch-administrativen Arbeit ausgegeben wird – einVorgang, der in hohem Maße schon reduzierte Komplexität in Form vonstrukturellen Zwängen voraussetzen muß. Wer plastischere Verhältnisse

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sucht, muß sich der Politik zuwenden.Nachdem wir die Verwaltung zuvor schon behandelt haben, wollen wir

auf einige ihrer Systemmerkmale hier noch einmal eingehen, weil sie –entsprechend unserer allgemeinen Einsicht in übergreifenden Stilzwang beiInteraktionen zwischen Systemen[4] – auf die Publikumsrollen abfärben undihre Entfaltungsmöglichkeiten vorstrukturieren. Solche Merkmale sind vorallem: die Spezifizierung der Verwaltung auf das Anfertigen bindenderEntscheidungen, die Komplexität der Verwaltung, ihre interneDifferenzierung und Spezialisierung, die in vielen VerwaltungszweigenMassenanfertigung von Entscheidungen erlaubt, und die Programmierungdes Entscheidens.

Durch ihre Spezialisierung auf Entscheidungsanfertigung unterscheidenVerwaltungen sich deutlich von Dienstleistungsbetrieben. AufDienstleistung spezialisierte Betriebe, zum Beispiel Schulen,Krankenhäuser, Reiseunternehmen, Orchester, Gefängnisse, haben ihreBesonderheit darin, daß ihre Leistungen an oder mit ihren Kunden erbrachtwerden. Die Kunden müssen sich selbst oder ihre Sachen zur Verfügungstellen. Ihre Kooperation ist Erfolgsbedingung.[5] Deshalb gewinnen derKundenkontakt und seine Probleme erstrangige Bedeutung. Die Erhaltungder Bedürfnisse und der Kooperationswilligkeit der Kunden wird zu einemvordringlichen Bestandserfordernis, dem sich andere, mehr formal-organisatorische Gesichtspunkte unterordnen müssen. Der Bürokratisierung,und das heißt immer auch der Komplexität, eines solchen Systems sinddaher Grenzen gesetzt.[6] Die Schwierigkeit der Aufgabe muß dann vorallem im unmittelbaren Zusammenwirken mit dem Kunden gelöst und kannnicht schon vorweg durch Strukturen und Programme absorbiert werden. Imübrigen werden für Systeme dieser Art die Auswahl der zu behandelndenbzw. nicht zu behandelnden Kunden ein kritisches Problem und das Rechtdazu bestandswichtig.[7] Dienstleistungsbetriebe, besonders solche mitprofessionellem Ehrgeiz, müssen in der Lage sein, ungeeignete Kundenzurückweisen oder ausmerzen zu können.[8]

Das alles zeigt, wie stark und prinzipiell Verwaltungen sich im Grundevon Dienstleistungsbetrieben unterscheiden. Gewiß versteht auch dieVerwaltung sich vielfach als »Dienst am Volk«. Damit ist jedoch nur eineLegitimationsweise, ein Gesinnungs- und Stilprinzip, angegeben,[9] nicht

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aber die eigentümliche soziale Struktur der Dienstleistungsbeziehungübernommen.[10] Das Entscheidungshandeln der Verwaltung findet so gutwie ausschließlich auf verbaler Ebene statt, ist also abstrahierbar undspezialisierbar. Es ist bei weitem nicht in gleichem Maße wieDienstleistungen im engeren Sinne auf Kooperation des Publikumsangewiesen. Von diesem Kooperationsbedarf ist die Verwaltung durch diePolitik weitgehend entlastet worden, die sicherstellt, daß Existenz undFunktionsweise einer programmiert und unpersönlich wirkenden reinenEntscheidungsbürokratie sozial erträglich sind. Die Abhängigkeit derVerwaltung von ihrem Publikum läßt sich daher im wesentlichen auf Fragender Informationsgewinnung und des Akzeptierens von Entscheidungenzurückschneiden. Bei der Informationsgewinnung ist der einzelne Bürgerteils am Mitwirken interessiert, teils ersetzbar, teils sind Aussagenerzwingbar. Das Akzeptieren ist teils durch die Legitimität derEntscheidung, teils durch Zwang sicherzustellen. Im Vergleich zu echtenDienstleistungsbetrieben kann und muß die Verwaltung in einem sehrdistanzierten, abstrakten, spezialisierten Verhältnis zum Publikum operieren,das ist Bedingung der Autonomie ihres Entscheidens, und auf denelementaren sozialen Kontakt als Mittel einer wechselseitigen sozialenKontrolle verzichten. Die Verwaltung soll eben nur politisch kontrolliertwerden. Ihr Erfolg darf im Prinzip nicht vom persönlichen Charme deseinzelnen Beamten oder von der Bereitwilligkeit eines hinreichend großenTeils der Bevölkerung zu konkreter Mitarbeit abhängen; sie würde sichdamit dem Zufall ausliefern. So willkommen der verständnisvolle undkooperationswillige Partner ist und sosehr er die Arbeit erleichtern kann –die Tendenz geht dahin, die Verwaltung davon unabhängig zu machen.

Wenn die Politik es der Verwaltung ermöglicht, Distanz undUnabhängigkeit zu gewinnen und sich auf der Ebene rein verbalerKommunikation zu stabilisieren, kann die Verwaltung zu einem sehrkomplexen, eingehend spezialisierten, großbetrieblichen System derEntscheidungsanfertigung aufgebaut werden. Dann wird dieEigenkomplexität der Verwaltung ein weiteres Strukturmoment, das sie demPublikum entfremdet. Hohe Komplexität macht die Verwaltung für dasPublikum undurchschaubar. Der Informationsstand des Publikums in bezugauf die Verwaltung muß daher, obwohl zuverlässige Ermittlungen fehlen,[11]

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als außerordentlich gering angenommen werden. Bei allem guten Willen derVerwaltung, sich verständlich zu machen und ihren Entscheidungenausführliche Begründungen beizufügen, wird sich das im Prinzip kaumändern lassen.[12] So sichtbar die Bürokratie als »schwarzer Kasten«, alskompaktes Phänomen des täglichen Lebens, ist, so undurchsichtig sind ihreArbeitsgänge und Einzelerwägungen für die Bevölkerung.

Spezialisierung des Verwaltungsentscheidens bedeutet zudem, daßzwischen bestimmten Personen der Verwaltung und des Publikums nurselten und sporadisch Kontakte zustande kommen. Je nachdem, was derBürger will oder soll, wird er in immer wieder andere Amtszimmergeschickt. Begegnungen haben daher den Charakter des Zufälligen undVorübergehenden, sie geben keinen Anlaß, auf spätere Kontakte Rücksichtzu nehmen.[13] Die Beteiligten lernen sich persönlich nicht kennen undverstehen, es spielt sich kein Vorverständigtsein ein, das eine freiereAusdrucksweise erlauben würde.[14] Dieser Charakter der Unpersönlichkeitwird dadurch noch verstärkt, daß die Verwaltung weitgehend aufgrundvorentschiedener Programme richtige Entscheidungen sucht und diesenStil ihres Arbeitens auch darstellt. Damit scheint sie sich menschlicherAnregung oder Fürbitte zu entziehen. Sie gestattet dem einzelnen zwar, seineInteressen selbst darzustellen, entnimmt dieser Darstellung aber nur das,was sie vorher schon wissen wollte, und hinterläßt bei ihrem Besucher danndas Gefühl, nicht richtig gehört, nicht richtig verstanden oder gar mißbrauchtworden zu sein.

Programmiertes Entscheiden führt außerdem typisch dazu, daß dasFehlerproblem zentrale Bedeutung gewinnt und die Aufmerksamkeithaupsächlich fesselt.[15] Die Verwaltung sucht richtige, das heißt fehlerfreieEntscheidungen. Sie sieht und behandelt die Kommunikationen aus demPublikum daher unter dem Gesichtspunkt von Fehlerquellen oder von Hilfenbei der Vermeidung, Entdeckung, Ausmerzung oder Entschuldigung vonFehlern. Für das Publikum versteht es sich indes nicht von selbst, dieseJagd nach dem Fehler mitzumachen und darin den Sinn der eigenen Rollenzu erblicken. Auch diese Einstellungsdifferenz kann zur Quelle vonMißverständnissen und Enttäuschungen werden.

Nimmt man all diese Strukturmerkmale der Beziehung von Verwaltungund Publikum zusammen in den Blick und stellt man weiter in Rechnung,

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daß ihr Gewicht sich eher noch verstärken als abschwächen wird, dannwird man einer »public relations«-Pflege durch die Bürokratie keinedurchschlagenden Erfolge prophezeien können. Bei der Kluft, die zwischenPublikum und Verwaltung aufgerissen ist, läßt sich schlechterdings nichterwarten, daß das Publikum die Selbstidealisierung der Verwaltungunbesehen abnimmt. Der gute Sinn jener Bemühungen ist zwar heute kaumnoch umstritten[16] und wird in Deutschland sogar als »verfassungsmäßigesRecht der Regierung auf eigene Öffentlichkeitsarbeit gegen die Eifersuchtder Politiker« geschützt.[17] Der Nutzen einer gut dosierten Pressepolitik,einer rechtzeitigen Erläuterung allgemein interessierender oder besondersheikler Vorhaben oder eines geschickten Abfangens öffentlicher Angriffesoll nicht verkleinert werden. Typisch wird es sich dabei aber um einVorsondieren, um ein Abfeilen scharfer Kanten, um ein Umschiffen oderAuflösen von Verkrampfungen handeln, kurz um Strategien, denen eineglückliche Hand für den Einzelfall zu wünschen ist, von denen aber einegrundlegende Verbesserung in den Beziehungen zwischen Publikum undVerwaltung nicht erwartet werden kann. Jeder Versuch der Verwaltung, sichin großem Stil einen eigenen Markt politischer Unterstützung aufzubauen,würde überdies zur Politik werden und durch die politischen Kräftezurückgewiesen werden müssen, soll die Trennung von Politik undVerwaltung erhalten bleiben.[18]

Ebenso skeptisch wird man die Auswirkungen der periodischwiederholten »Höflichkeitskampagnen«[19] in der Verwaltung zu beurteilenhaben. Geduld im Anhören und unverbindliche Freundlichkeit imBescheidgeben sind wohltuende Eigenschaften des Beamten. Auch hier gehtes indes lediglich um eine Abschwächung von Folgeproblemen, die aus derwechselseitigen Entfremdung zwischen Publikum und Verwaltungerwachsen, nicht um eine Beseitigung des Übels. Öffentlichkeitsarbeit undHöflichkeit stehen dem Beamten als permanente Anstrengung bevor, ohnedaß er erwarten könnte, einmal den Dank aufkeimender staatsbürgerlicherGesinnung dafür zu ernten. Die Hoffnung, daß ausgerechnet im Kontaktzwischen Verwaltung und Publikum Staatsgesinnung wachse oder gar GeistWirklichkeit werde,[20] wird man aufgeben müssen; sie lenkt von denpolitischen Prozessen ab, die sich dieser Funktion widmen.

Weitere Ansätze, die Kluft zwischen Verwaltung und Publikum zu

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überbrücken, findet man in den Bestrebungen, Bürger in die Verwaltung zu»kooptieren«,[21] sie zu ehrenamtlicher Mitwirkung in denEntscheidungsvorgang einzubauen, um ihnen gleichsam im Tausch gegenEinfluß Verständnis und Unterstützung abzugewinnen. Diese Strategie mußals Versuch der Verwaltung angesehen werden, Schwierigkeiten mit derUmwelt dadurch loszuwerden, daß man sie in das System hineinzieht.

Die ehrenamtliche Einfügung gesellschaftlicher Kräfte in die staatlicheund kommunale Verwaltung war der Grundgedanke der preußischenReformer zu Beginn des 19. Jahrhunderts und wurde noch von Rudolf vonGneist als Prinzip der Selbstverwaltung angesehen.[22] Er setzte jedochrelativ kleine Städte und einen auf bestimmte Gesellschaftsschichtenbegrenzten Kontakt zwischen Publikum und Verwaltung voraus. DieseVoraussetzungen trugen die Möglichkeit einer Verdichtung des Kontaktes insich. In dem Maße, als sie entfielen, mußte der Selbstverwaltungsgedankeumgeformt werden; statt auf ehrenamtliche Mitwirkung wurde aufAutonomie, das heißt auf Selbstprogrammierung, des politischen Verbandesder Kommune abgestellt und damit die Möglichkeit geschaffen, dieTrennung von demokratischer Politik und bürokratischer Verwaltung nachstaatlichem Vorbild auch auf die Kommunen zu übertragen.[23] Darin lagzugleich das Eingeständnis, daß das Problem der Trennung von Publikumund Verwaltung durch personale Rollenkombinationen nicht zu lösen warund daß die Hoffnungen, die man in jene Inpflichtnahme durch Ehrenämtergesetzt hatte, sich nicht erfüllt hatten.[24]

Etwas günstigere Erfahrungen werden aus den Vereinigten Staatenberichtet. Dort wird das Prinzip der Einheit der Verwaltung und ihrerhierarchischen Koordination weniger straff durchgeführt als in Deutschland,[25] Integration als weniger dringlich empfunden, und daher ist es möglich,zahllose Sonderbehörden einem »board« von ehrenamtlich tätigen Bürgernzu unterstellen, der in der Praxis weniger eine leitende als eineratifizierende und orientierende Funktion ausübt und als Puffer zwischenVerwaltung und Publikum der Kontaktvermittlung, der Absorptionwechselseitiger Kritik und der Verständigungshilfe dient.[26] Auch hier gibtes jedoch starke Tendenzen, mehr und mehr zu monokratischer Leitungüberzugehen, die mehr Effizienz verspricht. Die Erfolge des Board-Systemsscheinen mehr bei kleinen Behörden in kleinen Orten zu liegen, wo es

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gelingen kann, einflußreiche Bürger für den board zu gewinnen und derBehörde dadurch größere öffentliche Resonanz zu geben.[27] DieDezentralisierung des amerikanischen Schulwesens gibt dafür guteAnsatzpunkte.[28] Eine allgemeine Umformung der Publikumsrollegegenüber der Verwaltung ist auf diesem Wege aber kaum zu erreichen, undsobald man den verwaltungsinternen Koordinationsbedarf höherveranschlagen und organisatorisch ausdrücken wollte, würde man diesenamerikanischen Erfahrungen den Boden entziehen. Sie lassen sich nichtverallgemeinern.

Nach alldem ist vom Publikum eine freudige und positive Partnerschaftmit der Verwaltung nicht zu erwarten. Das Vorherrschen negativer Ansichtenüber Bürokratie und Verwaltung oder gar über den Staat als ganzen istsicher kein Zufall und auch nicht nur ein Irrtum, der sich durch werbendeAufklärung beseitigen ließe. Solche Negativbilder sind gewollt, weil sieerleichtern und entlasten. Sie dienen dem Ausdruck von Protesten, derErklärung von Enttäuschungen, der Fixierung und Verharmlosung vonGefühlen[29] und erfüllen gerade damit eine positive Funktion. Es scheint,daß eine solche stereotype Negativbewertung des Partners Verwaltung einwesentliches Merkmal der Einstellung des Publikums ist und daher alsGrundorientierung zur Publikumsrolle mit dazugehört.[30]

Wie es für Stereotype und Bilder, die benötigt werden, typisch ist,[31]

werden solche Bilder gesichert gegen Widerlegung durch Logik undErfahrung.[32] Sie können nicht entbehrt, also nicht aufgegeben werden. DasBild bleibt deshalb vage und verschwommen, es wird nicht insNachprüfbare »operationalisiert«, in seiner inneren Widersprüchlichkeitnicht ausgearbeitet.[33] Das Bild stellt sich dem Test der Wirklichkeit nicht.Eben deshalb kann es auch nicht ohne weiteres dem faktischen Kontakt vonPublikum und Verwaltung zugrunde gelegt werden. Es prägt die Ansichten,aber nicht mit gleicher Schärfe auch das Verhalten. Daraus ergibt sich dieMöglichkeit eines »conformisme negatif«.[34] Wie das Bild gegen dieErfahrung, so wird das Verhalten gegen das Bild immun gemacht. DasCliché wird für seine spezifische Funktion erhalten und geschont, aber alsHandlungsgrundlage neutralisiert. Das Publikum lebt dann in zweiverschiedenen Welten zugleich: mit einem allgemeinen Negativbild der»Bürokratie«, das die schlechten Erfahrungen abschöpft, und mit konkret-

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praktischen Behördenvorstellungen, die das unmittelbare Erwarten undHandeln lenken.

Wir können nun auch deutlicher sehen, wohin die werbendeÖffentlichkeitsarbeit, die Höflichkeitskampagnen und das Beteiligen derBürger bestenfalls führen: nicht zu guter Gesinnung, sondern allenfalls zurNeutralisierung der schlechten für bestimmte Problem- oderInteraktionszusammenhänge. Die Verwaltung muß daher lernen, in einerAtmosphäre der uninformierten Abneigung einen modus agendi zu finden.Dabei wird es ihr helfen, wenn sie ihre Konzeption für die Partnerrollendes Publikums möglichst rechtlich und möglichst unpolitisch entwirft.Juridifizierung und Entpolitisierung sind zwei nah verwandte Strategien,durch welche die verwaltungsbezogenen Publikumsrollen auf spezifischeFunktionen zugeschnitten und zugleich gegen ein Durchsickern negativerRessentiments abgedichtet werden: Man kann die Kontakte daraufspezialisieren, die Rechtslage zu klären, und nicht selten wird der Beamtedann zum sachkundigen Berater des Publikums für die Ausnutzung derChancen, die die Rechtsordnung dem einzelnen bietet.[35]

Noch werden die weitreichende Rechtsbindung des ausführendenVerwaltungshandelns und die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Verwaltungzumeist als eine auferlegte Beschränkung erlebt – so wie sie gedacht war. InWirklichkeit ist das, was als Schutz des Bürgers vor der Verwaltungeingeführt wurde, längst zum Schutz der Verwaltung vor der Politikgeworden. Die Beschränkungen, die die Verwaltung an ihrerPublikumsgrenze erfährt, gibt sie an ihre politische Grenze weiter. DieVerwaltungsgerichtsbarkeit stärkt in der Verwaltung die unteren Rängegegenüber den oberen. Wer als Sachbearbeiter in der Behörde die Praxisseiner Kammern und Senate genau kennt und voraussagen kann, kann dieGrenzen des Handelns definieren. Am Hinweis auf die »ständigeRechtsprechung« endet die Weisungsgewalt des Ministers. DiePetitionsausschüsse der Parlamente haben es zunehmend mitAngelegenheiten zu tun, in denen die Ministerialvertreter vor einem Eingriffin laufende Gerichtsverfahren warnen und um Aussetzung derBeschlußfassung bitten, bis sie durch ein Gerichtsurteil unnötig wird. Werim übrigen nicht klagt, obwohl er könnte, beweist sein eigenesUnrechtsbewußtsein. An der Verwaltungsfront, im Verkehr mit mächtigen

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Interessenten, wird es deshalb zu einem Moment der Taktik, anschwellendeProblemlagen möglichst frühzeitig in Rechtsverfahren einzufangen, um eineimmer naheliegende Alliierung von Interessenten und Politikern zuverhindern – eine Vorgehensweise, die freilich stets das Risiko in sich birgt,daß die handelnden Behörden durch die Gerichte diskreditiert werden undsich dann um so stärkerem politischen Tadel ausgesetzt sehen. Auch sonststützt die ausführende Verwaltung sich zunehmend auf Gesetze und Urteilestatt auf Personen oder Verbände, weil sie sich dadurch dem Fluktuieren derPolitik entziehen kann, und sie sucht zu erreichen, daß der politischeEingriff die Form einer rechtsförmlichen Änderung vorhandenerEntscheidungsprogramme annimmt. Nur neues Recht erlaubt ihr, sich übereine bestehende Gerichtspraxis hinwegzusetzen. Die Stärke dieser Tendenzist, da empirische Untersuchungen fehlen und Vergleiche der Relevanzverschiedenartiger Entscheidungsprämissen schwierig sind, schwerabzuschätzen; doch drängt ihre Bedeutung[36] sich jedem Beobachter derdeutschen Verwaltung auf.

Soweit die rechtliche Orientierung sich durchsetzt, gerät das Publikumder Verwaltung gegenüber in die Rolle von Rechtssubjekten, die ihresubjektiven Rechte geltend machen und notfalls auf dem Wege derVerwaltungsgerichtsbarkeit durchfechten können, aber insoweit nicht zupolitischer Aktivität greifen sollten. Das Recht ist gleichsam vergangene,verbindlich gewordene Politik, die Geltung erlangt hat und daher nicht mehrangetastet werden sollte. Der lange, hürdenreiche Weg desVerwaltungsgerichtsverfahrens dient dann als Auslaufbahn fürVerärgerungen und Proteste, auf der der einzelne schließlich erschöpft unddie Allgemeinheit zu der Einsicht geführt wird, daß Recht Recht ist undbleiben muß, und zugleich der Verwaltung eine Gelegenheit gegeben wird,etwaige Irrtümer zu korrigieren.

Damit gelangen wir zu einer Frage, die für das Verhältnis von Verwaltungund Publikum zunehmend wichtig zu werden scheint, der Frage nämlich, obdie Durchführung eines geregelten Verfahrens zur Legitimation vonEntscheidungen beitragen könne. Die klassische Konzeption des öffentlichenVerfahrens, wie sie vom liberalen Rechts- und Staatsdenken entwickelt unddurchgesetzt worden war, hatte das Verfahren noch primär als Mittel derWahrheits- und Rechtsfindung gesehen. Aber es dürfte kein Zufall sein, daß

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man sich gerade in der Zeit des Übergangs vom Naturrecht zu positiviertemRecht verstärkt auf Verfahren zu berufen beginnt, so als ob dies einenGegenhalt bieten könnte gegen die neue, unheimliche Variabilität undBeliebigkeit des Rechts. Verfahren der Rechtssetzung ebenso wie derRechtsanwendung sollen nun Raum geben für die Mitwirkung deröffentlichen Vernunft. Aus dieser liberalen Gedankenwelt haben weder dieVorstellung der Öffentlichkeit als Medium der Wahrheitsfindung undAufklärung[37] noch der Gedanke einer ehrenamtlichen Beteiligung vonBürgern an der Entscheidung[38] ihre Bedeutung behalten können. Dagegenkann die Vermutung, daß die Beteiligung des Betroffenen am Verfahren, dasGefühl, gehört und beachtet zu werden, ihn zur Annahme der Entscheidungbereit machen könne, ernsthaft diskutiert werden.[39]

Die sozialpsychologischen Mechanismen, die eine solche Identifizierungbewirken könnten, liegen freilich noch im dunkeln. Gewisse Ansatzpunktefür eine Klärung scheint der symbolische Interaktionismus zu bieten.[40]

Verfahren, an denen die Entscheidungsempfänger teilnehmen, lassen sichdanach als ein Drama mit ungewissem Ausgang begreifen, in dem alleBeteiligten mitspielen. Der Fortgang des Verfahrens erfordert einewechselseitige Übernahme implizierter Rollen, durch welche dieBeteiligten das Verfahren als zeremonielles System der Interaktion betreibenund sich selbst in ihren Darstellungen anerkennen und festigen. Motiviertdurch die Chance, einen ungewissen Ausgang zu ihren Gunsten wenden zukönnen, werden die beteiligten Angehörigen des Publikums veranlaßt,Rollen und Kompetenzen, Normen und Hintergrundauffassungen symbolischzu bestätigen und ins eigene Handeln zu übernehmen.

Sie werden so zu unbezahlter zeremonieller Arbeit veranlaßt.[41] JederTeilnehmer wird dazu gebracht, seine Unzufriedenheit zu spezifizieren undverständliche Gründe dafür anzugeben, die offenen Streitpunkteherauszuarbeiten und durch die Adressierung seiner Darstellungen dieEntscheidungskompetenzen anzuerkennen, und er findet sich schließlichwieder als jemand, der sich selbst eingesponnen hat und nun nicht mehr inder Lage ist, für seine Sache breite soziale oder politische Unterstützung zumobilisieren oder auch nur wegen eines großen moralischen Unrechtsöffentlich zu leiden. Es handelt sich nur noch um Fragen, für die niemand aufdie Barrikaden geht, etwa darum, wie eine bestimmte Klausel des neuen

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Enteignungsgesetzes auszulegen ist. Bei solcher Isolierung undVerkleinerung der Entscheidungsprobleme verliert schließlich sogar dieFrage, ob der Betroffene die Entscheidung innerlich akzeptiert oder nicht, anBedeutung. Die soziale und politische Ordnung macht sich mithin von derZustimmung des einzelnen unabhängig dadurch, daß sie ihn durch seineigenes Verhalten thematisch und sozial isoliert und etwaige Proteste insFolgenlose ableitet. Ebendiese Indifferenz gegen individuelleMotivationsstrukturen und Zustimmung oder Ablehnung einzelner wird mitdem Begriff der »Geltung« von Werten und Normen ausgedrückt. Verfahrendienen dazu, diesen Geltungsanspruch im sozialen Leben gefahrlos zuverwirklichen.[42]

Die Reichweite solcher rechtlich geregelter Verfahren bezieht sich indes,wenn man von nicht unwichtigen Randerscheinungen wie präjudiziellenBindungseffekten, Normenkontrollklagen oder verfassungsgerichtlicherKontrolle der Legislative absieht, nur auf die Einzelfallbehandlung. Nurinsoweit gewährt sie eine Alternative für politische Reaktion aufVerwaltungsentscheidungen; nur insoweit gräbt sie der Politik das Wasserab. Problematische Entscheidungen einzelner Fälle sollen nach dieserKonzeption nicht politisiert, sondern im Rahmen bürokratischerInstitutionen, was Gerichte einschließt, bereinigt werden. Diese Regelentlastet den politischen Weg und unterstützt zugleich seineGeneralisierungsfunktion. Ja, sie macht den unaufhaltsamen Zwang zurGeneralisierung der Interessen, Forderungen und Darstellungen, den man impolitischen Handeln erfährt, erst tragbar. Zum Rechtssubjekt gegenüber derVerwaltung geworden, ist der Bürger genötigt, Enttäuschungen undReaktionen zu differenzieren und auf den Gerichtsweg bzw. den politischenWeg zu lenken je nachdem, ob er die Ausführung juristischerEntscheidungsprogramme rügen oder eine Umprogrammierung erreichenwill. Er muß damit selbst jene Rollentrennung vollziehen, die dem Systementspricht: die Trennung von Partnerrollen für Politik und für Verwaltung.

Für die Kanalisierung der Publikumsreaktion ist schließlich die Art undWeise bedeutsam, in der bindende Entscheidungen auf Interessenlagentreffen. Das kann einmal durch allgemeine Entscheidungen, namentlichGesetze, geschehen, die publiziert werden und dann von jedermann inbestimmten Lagen befolgt werden müssen; zum anderen durch besondere

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Verwaltungsbescheide, die dem einzelnen zugestellt werden und unmittelbarnur für ihn Verhaltensprämissen setzen. Beide Arten von Entscheidungenkönnen, von der Interessenlage des einzelnen her gesehen, begünstigen oderbelasten. So gibt es nach diesem groben Schema allgemeine begünstigende,allgemeine belastende, besondere begünstigende und besondere belastendeEntscheidungen. Wenn man diesem differenzierten Ausstoß der Verwaltunggegenüber das Interesse des einzelnen als auswählendes undweiterbewegendes Prinzip ansetzt, ist keine gleichmäßig-sachlicheWeiterbearbeitung des Informationsflusses durch Publikumsrollen zuerwarten; die Reaktion selbst erhält vielmehr eine teils blockierende, teilsverstärkende selektive Tendenz von erheblicher struktureller Bedeutung –und dies nicht etwa nur in dem Sinne, daß »private Interessen« nun das»öffentliche Interesse« überwuchern. Die politische Soziologie muß geradesolchen latent bleibenden, aber strukturell bedeutsamen Folgen öffentlicherEinrichtungen der Demokratie und des Rechtsstaates ihre besondereAufmerksamkeit zuwenden.

Für Allgemeinentscheidungen ist vor allem festzuhalten, daß ihnengegenüber keine besonderen Verwaltungsrollen des Publikums konsolidiertwerden können. Hier bietet die Bürokratie zuwenig Ansatzpunkte für einMit- oder Gegenhandeln der einzelnen Mitglieder des Publikums. Selbstwenn wegen der Folgerungen, die aus Gesetzen gezogen werden,Verwaltungsverfahren oder Gerichtsverfahren stattfinden mögen, demGesetz selbst gegenüber und im Gesetzgebungsprozeß gibt es keinePublikumsrollen. Das Gesetz wird vom Publikum daher als Prämisse desVerhaltens in anderen Rollen erlebt, und die Reaktion erfolgt, wennüberhaupt, rein politisch. Der Filter vorgeschalteter besondererVerwaltungsrollen versagt hier also. Für generelle Regelungen gibt es nurgeneralisierte Reaktionen. Die Brechung dieser Reaktionen erfolgt dannohne Rollenstruktur im Innenraum der individuellen Persönlichkeit, imRahmen ihrer Aufmerksamkeitsspanne und ihrer Interessenentfaltung. Dieserrelativ kurze, zeitlich aber unter Umständen sich über eine ganzeWahlperiode erstreckende Reaktionsweg hat seine eigene Problematik: Erkann in sehr komplexen Situationen und dort, wo sehr viele Fragen im Wegeder Gesetzgebung entschieden werden, zur Unberechenbarkeit desPublikums und zur Anstoßüberlastung der politischen Prozesse führen. Er

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verschiebt den Strukturbedarf, das heißt den Bedarf für Reduktion vonKomplexität, in die Politik. Unter diesen Umständen läßt sich eineverständliche Tendenz beobachten, Gesetzesentscheidungen inAuslegungsprobleme umzudeklarieren, sie damit als offene Probleme in dieausführende Verwaltung abzuschieben, der gegenüber das Publikumbesondere Rollen hat, um auf diese Weise wenigstens einen Teil derReaktion auf Verwaltungsverfahren und Verwaltungsgerichtsprozesseabzuleiten. Die Direktbelastung des einzelnen durch Gesetze ist im übrigenauch aus rechtstechnischen Gründen eine ziemlich seltene Erscheinung. Esüberwiegen die Gesetze, die in der Verwaltung durch begünstigende oderbelastende Verwaltungsakte ausgeführt werden müssen.

Der Unterschied von Begünstigung und Belastung durch besondereVerwaltungsakte hat ebenfalls seine strukturellen Konsequenzen, wenn mandie Auslösung der weiteren Informationsbearbeitung imKommunikationskreislauf des politischen Systems dem einzelnen in seinerVerwaltungsrolle überläßt. Der einzelne reagiert nämlich primär aufBelastungen und auf Begünstigungen, sofern sie hinter seinen Erwartungenzurückbleiben. Auf diese Weise kommt keine vollständige Darstellung derInteressenlage zustande. Besondere Begünstigungen sind typischBelastungen der Allgemeinheit. Wer aber durch die Begünstigung andererbelastet wird, hat in der Regel weder eine Rolle noch Motive genug, umsich zu melden. Durch die Antriebsbedingungen der Weiterbearbeitung wirdalso die Aufmerksamkeit auf besondere Belastungen hingelenkt, währenddie besonderen Begünstigungen auf Kosten der Allgemeinheitwiderstandslos aufgenommen werden. Auch die Verwaltungsgerichtewerden, da sie nur auf individuelle Klage wegen Rechtsverletzung tätigwerden, in diese verzerrende Perspektive gedrängt, und es ist bezeichnendgenug, daß die Figur eines »Vertreters des öffentlichen Interesses«, diediesen Mangel ausbalancieren sollte, keine praktische Bedeutung hatgewinnen können. Die Folgen für die Allgemeinheit verdünnen undverlieren sich so sehr, daß sie nicht gegengerechnet werden können. DasPrinzip der »Interessenabwägung« begünstigt als Prinzip die besonderenmateriellen Interessen des einzelnen.[43] Erst in ihrer Kumulation wird dieBelastung aller nach einiger Zeit sichtbar, zum Beispiel in der Form eineslaufend anwachsenden Steuervolumens, und dann läßt sie sich nicht mehr

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auf bestimmte Entscheidungen der Vergangenheit zurückführen. Einepolitische Reaktion bleibt möglich und wird schließlich nötig, aber sie wirdsich mehr an dem aufgestauten Unmut über die Ergebnisse als an bestimmtenursächlichen Fehlentscheidungen orientieren. Die Lernfähigkeit einessolchen Systems wird gering sein, wenn dieser Mangel nicht anderswo,etwa durch zentrale Planung, korrigiert wird.

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25. Kapitel

Politische Publikumsrollen

Als politische Publikumsrollen können jene Rollen des Publikumsbezeichnet werden, die der Politik zugewandt sind, also die Interaktionzwischen Angehörigen des Publikums und Politikern auf seiten desPublikums steuern. Wir kommen damit zu einem Bereich des politischenSystems, den die klassische demokratische Theorie vom Begriff derRepräsentation her zu erfassen und zu begreifen versucht hatte.[1] DieseTheorie steht hier nur im Blick, soweit sie die Rollen des Publikumsbetrifft. Sie läßt sich am besten dadurch kennzeichnen, daß sie die Symbolikder dominanten Kommunikationsrichtung als Theorie akzeptiert. Ihr Themasieht sie infolgedessen im Problem der Übertragung von Erwartungen,Interessen und Forderungen aus dem Bereich des Publikums in den Bereichder Politik und Verwaltung, also in die Entscheidungsprozesse despolitischen Systems, und in der Verwandlung privater in öffentliche,partikularer in allgemeine Interessen, die dadurch vermeintlich vollzogenwird. Diese Übertragung und Umformung von Entscheidungsgesichtspunktenist und bleibt ein wichtiges Problem. Eine andere Frage ist jedoch, ob dieseProblemkonzeption schon ein angemessenes theoretisches Verständnisermöglicht.

Jedenfalls reicht es nicht aus, die Symbolik der dominantenKommunikationsrichtung zur Theorie zu erklären und dann nur noch nachMitteln zu suchen, durch die eine nachdrückliche Kommunikation vonInteressen, Forderungen und Werteinstellungen des Publikums an die Politikam besten verwirklich werden könne. Eine Abspiegelung undVergegenwärtigung von Publikumswünschen in der Politik, eine getreue undgleiche Punkt-für-Punkt-Übertragung in den Entscheidungsgang, garantiertnoch keine Stabilität des politischen Systems, und sie läßt auch unerklärt,wie die Umwandlung des privaten und partikularen in das öffentliche undallgemeine Interesse zustande kommt. In der Notwendigkeit, zuregierungsfähigen Mehrheiten zu kommen und die Repräsentativität der

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Repräsentation mit Rücksicht darauf einzuschränken, melden sich bereitsandere Systeminteressen. Sie werden heute weithin anerkannt undberücksichtigt. Die vorgefundene Passivität des Publikums, sein scheinbargeringes Interesse an seinen Interessen und am Vorgang ihrerRepräsentation, ist ebenfalls nicht unbemerkt geblieben, wird aber nur alsFaktum notiert und zur Erklärung einer in den Repräsentativverfassungennicht vorgesehenen Aktivität der Politik verwandt, nicht aber auch alsfunktional sinnvolle Lösung bestimmter Systemprobleme begriffen. Alldiese Einsichten konnten noch durch Abschwächung und Modifikation derRepräsentationstheorie verortet werden. Das Scheitern derRepräsentativverfassungen in zahlreichen Entwicklungsländern macht indesdeutlich, daß sehr komplexe sozialstrukturelle Voraussetzungen erfüllt seinmüssen, wenn die Kommunikation vom Publikum zur Politik wirklich alsdominant und repräsentativ institutionalisiert werden soll. Daß der Begriffder Repräsentation dafür als Theorie nicht mehr ausreicht, ist sicher. DieSuche nach anderen Orientierungen beginnt.[2]

Eine politische Soziologie, die von der Systemtheorie herkommt, wirdsehr viel komplexer ansetzen müssen. In der hier vertretenen Versionpostuliert die Systemtheorie einen Variationszusammenhang vongesellschaftlicher Ausdifferenzierung, Systemkomplexität, funktionalerInnendifferenzierung und relativer Autonomie des politischen Systems undseiner Teilsysteme. Die Symbolik der dominanten Kommunikationsrichtungund besonders die Theorie der Repräsentation setzen all dies voraus, ohnees zu explizieren; denn eine umweghafte, kreislaufende Kommunikation impolitischen System ist nur möglich, wenn die politischen Rollen desPublikums hinreichend ausdifferenziert sind und wenn zugleich im Innerendes politischen Systems die einzelnen Teilsysteme und Rollen funktionaldifferenziert werden in dem Sinne, daß sie die Komplexität desGesamtsystems in seinen einzelnen Bereichen unter verschiedenenGesichtspunkten bearbeiten und reduzieren. Auch die Trennung vonPublikum, Politik und Verwaltung ist funktional-strukturelle Differenzierungin diesem Sinne. Sie läßt sich durch eine einfache Entgegensetzung vonGesellschaft und Staat oder von privatem und öffentlichem Interesse nichtzureichend begreifen, wenn nicht die Verschiedenheit der selektivenPerspektiven, das Zuordnungsverhältnis der Prämissen und Ergebnisse der

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Informationsverarbeitung und die Komplementarität derfunktionsspezifischen Leistungen im Ganzen des politischen Systemsherausgearbeitet werden. Erst dadurch kann sichtbar gemacht werden, daßund in welchem Sinne der Vorgang der Repräsentation beim Überschreitender Teilsystemgrenze zwischen Publikum und Politik eine Veränderung desSinnes und des Bearbeitungskontextes der politisch relevantenInformationen zu bewirken vermag.

Für die weiteren Erörterungen wollen wir zwei Gesichtspunkteherausgreifen, die von der Repräsentationstheorie nicht behandelt werdenkonnten. Der erste hängt mit dem Problem der Ausdifferenzierung zusammenund bezieht sich auf die Art der Formung von Interessen und Konflikten, dieüber Publikumsrollen durch Vorgänge der Repräsentation in das politischeSystem hineingetragen werden; der andere betrifft die funktionaleDifferenzierung der Publikumsrollen.

Ausdifferenzierung von politischen Publikumsrollen bedeutet, daß derenFunktion, vor allem die Gewährung politischer Unterstützung und dieArtikulierung von Interessen und Forderungen, im Verhältnis zurGesellschaft und zu den politisch-administrativen Institutionen mobilisiert,das heißt zur Wahl gestellt wird. Die Stabilität des politischen Systems wirddemnach gerade auf die Variabilität seiner gesellschaftlichen Grundlagengestützt und nicht mehr auf deren Invarianz. Werden damit Mobilität undVeränderlichkeit, Möglichkeiten der Entscheidung und des Rollenwechsels,Bestandsgrundlage des politischen Systems, müssen sie als Vorbedingungauch vorliegen. Die politische Mobilisierung des Publikums wird ersttragbar, sinnvoll und notwendig, wenn die übrigen Bereiche einentsprechendes Maß an Rollenvielfalt, Rollenspezifikation undRollenmobilität erreicht haben. Eine Steigerung der politischen Mobilität istdagegen gefährlich, wenn die allgemeine gesellschaftliche Mobilität ausökonomischen, kulturellen oder anderen Gründen nicht Schritt hält.[3]

Ist nämlich die Gesellschaft, unter welchen Gesichtspunkten immer,primär in funktional-diffus orientierte Personengruppen gegliedert, die sichfür mehr oder weniger alle Lebensfragen zusammengehörig fühlen, führt dieMobilisierung der Teilnahme am politischen System lediglich dazu, daß dieGruppen die politischen Rollen ihrer Mitglieder in den Dienst ihrerBestandsinteressen und Gruppenziele stellen.[4] Es kommt dann zu einer

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gefährlichen vertikalen Integration oder »Versäulung«[5] sozialer undpolitischer Rollen. Zwischen den Säulen in sich integrierter, abergegeneinander gerichteter Lebensauffassungen und Interessen herrscht dannwenig Kontakt und wenig Mobilität. Ein Überwechseln aus der einen in dieandere Gruppenordnung für bestimmte Situationen oder zur Verfolgungspezifischer Zwecke ist nicht möglich oder doch sehr erschwert. Formierensich dann auch noch die der Politik zugewandten Rollen entsprechend,werden diese Gegensätze ins politische System übertragen und durch dessenVerhaltensbedingungen in einen Konflikt um den Zugang zur legitimen Machttransformiert, also zugespitzt. Werden die wichtigstenInteressengliederungen und Konfliktfronten auf diese Weise in der Politikrepräsentiert, was durch Weltanschauungsparteien, Gruppenparteien,Interessenparteien geschehen kann, liegt es nahe, daß der politische Kampfdie gesellschaftlichen Konflikte akzentuiert und verschärft, statt sie durchquerlaufende, »rein politische« Konfliktfronten zu desorientieren und sie soeiner Lösung näher zu bringen. Je weniger Konfliktthemen und je wenigerParteien es gibt, desto größer wird die Gefahr, daß sich durchgehende, dieGesellschaft in allen Fragen zerreißende Fronten bilden, die sich zumBeispiel an religiösen Gegensätzen, an sprachlichen, nationalen oderstammesmäßigen Unterschieden oder an Klassendifferenzen entzündenmögen, dann aber mit Hilfe der Politik auf alle zu entscheidenden Problemeausgedehnt werden. Eine getreue Repräsentation der gesellschaftlichenGegensätze in der Politik wirft dann schwierige, oft unlösbare Probleme derIntegration und Konsensbildung auf.[6]

Das besagt nicht, daß eine so strukturierte Gesellschaftsordnung keinerleipolitische Mobilität und keine Ausdifferenzierung politischerPublikumsrollen tragen könne, aber die Probleme dieser Mobilisierungmüssen dann in der Politik abgefangen und entschärft werden. Sind diegesellschaftlichen Tendenzen zur Versäulung stark, kann die Politik nichtoder nur mit beträchtlichen Abschwächungen als Konflikthandelninstitutionalisiert werden. Einen Lösungsversuch unternehmen die bereitsoben[7] behandelten Proporzsysteme, die allen politisch relevanten Gruppenmit einiger Zuverlässigkeit einen proportionalen Anteil an der Macht inAussicht stellen und das Mehrheitsprinzip als Modus derKonfliktentscheidung praktisch ausschalten. Noch entschiedener müssen

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manche Entwicklungsländer mit sehr geringer gesellschaftlicherDifferenzierung und Mobilität die Politik von Konfliktstoff entlasten. Siemüssen die politischen Prozesse, wenn überhaupt mobile politischePublikumsrollen gebildet werden, primär unter Integrationsgesichtspunktenorganisieren, und das legt ein Einparteiensystem nahe.[8] Auf diese Weisewird den politischen Publikumsrollen gleichsam die Mobilität ihresGegenstandes, nämlich die Wahlmöglichkeit, genommen und damit dieSpitze des Problems abgestumpft.

Auch Systeme mit hoher gesellschaftlicher und politischerRollendifferenzierung und Mobilität können jedoch keine exakteRepräsentation, das heißt keine genaue Korrelation zwischengesellschaftlichen Interessenkonstellationen und politischenKräftegruppierungen, herstellen. Eben weil dies unmöglich ist, können sieden rein politischen Konflikt als problemverkleinernden Mechanismuseinsetzen. Bei der Vielzahl rollenspezifischer Interessenlagen und beimFluktuieren der Prozesse, die sie aktivieren, ist eine politischeWiderspiegelung dieser Situation unmöglich; auf solcher Basis könnte diePolitik keine organisierbaren Leistungen erbringen. Sie muß und kanngegenüber den gesellschaftlichen Konflikten eine relative Autonomiegewinnen und ihren eigenen Konflikt nach spezifisch politischen Kriteriendes Kampfes um die Macht organisieren, je nach den Umständen sich diesenoder jenen gesellschaftlichen Impuls, diesen oder jenen Interessenstoff zueigen machend. Politische und gesellschaftliche Interessen müssen,wohlgemerkt, korrelierbar bleiben,[9] aber die Korrelation selbst muß zumGegenstand politischer Entscheidung werden. Sie ist nicht invariantvorgegeben, sondern es bleibt von der Situation, dem Zufall, denGeschicklichkeiten der Beteiligten und den jeweiligen Zügen der Gegnerabhängig, welche Alliancen sich für wie lange als tragfähig erweisen.

Unter solchen Umständen gewinnt das Problem besondere Bedeutung, inwelchen Rollen und mit welchen unterschiedlichen Chancen sich dasPublikum am politischen Spiel beteiligen kann. »Gerechte« Repräsentationist weder zu erreichen noch sinnvoll, wenn die Struktur der Gesellschaftprimär auf Rollen abstellt und nicht auf Personen. Ein so einfachesMaßstabsdenken löst die aufgedeckten Probleme in der Verbindung vonpolitischem System und Gesellschaft nicht. Aber die damit gemeinte

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Problematik kehrt in den Problemen der angemessenen Differenzierungpolitischer Publikumsrollen und der Möglichkeiten kommunikativerInteraktion zwischen Publikum und Politik wieder. Gewiß können durchsolche Rollendifferenzen allein die vorstehend behandeltensozialstrukturellen Probleme im Aufbau der Gesellschaft und ihrespolitischen Systems nicht gelöst werden. Wenn sich aber durch zunehmendeMobilisierung der Gesellschaft eine Umstellung des politischen Systems aufStabilisierung durch variables Rollenverhalten anbahnt, müssen für dieKoordinierung von Publikum und Politik beweglichere und differenziertereFormen gefunden werden als bloße Repräsentation.

Gegenüber der Politik können Angehörige des Publikums eine Vielzahlverschiedener, mehr oder weniger deutlich voneinander abgrenzbarerRollen einnehmen. Um einen groben Überblick zu gewinnen, kann man dieseRollen in drei Funktionsgruppen einteilen: disziplinierendes Zuschauen,Gewährung politischer Unterstützung und Artikulieren von Interessen undForderungen.[10] Während es in sehr einfachen politischen Systemendenkbar ist, daß diese drei Rollenarten zusammenfallen, da alle allesmiterleben und Unterstützung wegen befriedigender Leistungen gewähren,müssen in stärker differenzierten Verhältnissen diese Funktionenrollenmäßig auseinandergezogen und in einem komplizierten Verhältnisfunktionaler Interdependenz ausbalanciert werden.

Angehörige des Publikums können einmal als Zeitungsleser,Rundfunkhörer, Fernseher, Versammlungsbesucher an dem für sieveranstalteten Drama der Politik als Zuschauer teilnehmen. Diese Rollekorrespondiert mit der des symbolisch-expressiven Handelns in der Politik.Allein schon sich beobachtet zu wissen zwingt den Politikern Rücksichtenauf. Gewiß werden nicht alle Falten ihres Daseins und alle Windungen ihresTaktierens der Öffentlichkeit zugekehrt und vor den Augen des Publikumsausgebügelt.

Aber irgendwie muß das politische Handeln öffentlich dargestelltwerden, und diese Darstellung steht unter der Forderung, konsistent undvertrauenswürdig zu bleiben. Insofern wird schon durch das Zuschauen eineArt Einfluß ausgeübt, wenn auch nicht in einem zweckwirksamen,zielsicheren Sinne.

Weil die Politik überkomplex ist und vom Zuschauer, der schließlich

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noch anderes zu tun hat, nicht im einzelnen verfolgt werden kann, und weilder Zuschauer weiß, daß er nicht hinter die Kulissen schauen kann,gewinnen gewisse symptomatische Informationen ausschlaggebendeBedeutung. So wie die Politiker das Publikum auf Symptome mutmaßlichenWählerwillens abtasten,[11] so achtet das Publikum in seiner Zuschauerrolleauf Symptome der Vertrauenswürdigkeit. Es hat nicht genug Information undgeschultes Urteilsvermögen, um jeden Zug der Politik sachgemäß würdigenzu können, aber es kann sich ein mehr oder weniger sachgerechtes, mehroder weniger rationales Urteil über die Vertrauenswürdigkeit von Personenbilden. Damit übt das Publikum keine sachliche Kontrolle der politischenGeschäftsführung aus, sondern nur eine vereinfachte symbolische Kontrolleseines Vertrauens in die Geschäftsführer. Dazu gehört, daß im Falle einesVertrauensbruchs überscharf reagiert und der Politiker bzw. die Partei, dieihn stützt, disqualifiziert werden. Das hohe Risiko des Vertrauens inVorgänge, die man nicht kennen kann, findet seinen Ausdruck in der Drastikder Reaktion auf symptomatisch-diskreditierende Informationen.[12] Es wäreverfehlt, hier Gerechtigkeit, Abwägung des Verschuldens oder Milde in derBeurteilung kleinerer Sünden zu fordern.

Zweifellos variiert die Vertrauensempfindlichkeit des politischen Klimasvon Land zu Land. Die Sensibilität der britischen Öffentlichkeit fürVertrauensfragen wird in der Bundesrepublik zum Beispiel bei weitem nichterreicht. Selbst Politiker, die ihre Stellung zu Akten persönlicher Rachemißbrauchen, können hier weiterregieren. Das mag verschiedene Ursachenhaben, bedeutet aber im Effekt, daß das bloße Zuschauen wenigdisziplinierend wirkt und andere Publikumsrollen, zum Beispiel solche desinteressierten Forderns und der konkreten Konsenserteilung, einspringenmüssen, um den Aktionskreis der Politik zu definieren.

Da die Erlebensbereiche der Politiker und der Publikumsrollen jebegrenzt sind und weit auseinander liegen, werden besondere Systemebenötigt, die zwischen ihnen vermitteln. Diese Aufgabe fällt in derHauptsache den sogenannten »Massenmedien« Presse, Tonfunk undFernsehen zu.[13] Sie haben in diesem Zusammenhang die Funktion,Permanenz und Passivität des Zuschauens zu gewährleisten und damit zu derspezifischen Ausprägung dieser besonderen politischen Publikumsrollebeizutragen.

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Durch die Massenmedien wird die Funktion des Zuschauens von derNotwendigkeit persönlicher Anwesenheit und damit auch von zeitlich-terminlicher Abstimmung abgelöst und sogar unabhängig von derindividuellen Motivlage und anderweitigen Rollenverpflichtungen deseinzelnen stabil gehalten. Die unausgesetzte Beobachtung des politisch-administrativen Handelns und die disziplinierende Wirkung einer solchenBeobachtung können somit gesichert werden, gleichgültig ob jemand, wannjemand und wer Zeit und Lust hat, politische Information aufzunehmen undzu verarbeiten – im Vorortszug oder beim Frühstück, in der Tagungspauseoder bei den Abendnachrichten oder durch die murmelnde Mitteilung deszeitunglesenden Ehegatten. Das Festhalten und die unbestimmte Verstreuungder Nachrichten durch die Massenmedien erspart demnach eine konkreteSynchronisation von politischen Rollen und Publikumsrollen, die indifferenzierten Gesellschaften nicht oder nur sehr sporadisch möglich wäre,und gewährleistet gerade durch diese Indifferenz gegen Einzelheiten diekontinuierliche und gleichmäßige Ausübung der Funktion des Zuschauens –ein Beispiel dafür, daß in stark differenzierten Sozialordnungen stärkergeneralisierte Formen der Abstimmung von Situationen, Zeitplänen,Rollenpflichten und Interessen gefunden werden müssen.

Mit der Permanenz sichern die Massenmedien zugleich dieunentbehrliche Passivität der Rolle des Zuschauers. Er kann nicht sofortwidersprechen, zurückfragen, seine Meinung sagen, protestieren, zumindestnicht gegenüber der Quelle der Information. Die Kommunikation ist, austechnischen und daher einleuchtenden Gründen, einseitig. Der Zuschauerwird so aufs Zuschauen spezialisiert. Die Beschränkungen, die er beiaktiven Rollen auf sich nehmen müßte, können daher entfallen. Für seinepolitische Aktivität wird er auf andere Rollen verwiesen.

Solche aktiven Rollen müssen freilich auch gegeben sein. Manchkritischer Impuls wird allerdings beim Zuschauen bereits erstickt,besonders wenn die Nachrichten in großer Zahl und raschem Wechsel alsimmer wieder neu und aufregend herabgeschüttet werden. Das fesselt undschläfert ein.[14] Selbst an das permanente Krisengefühl, das dieMassenmedien suggerieren und unterhalten, gewöhnt man sich. Man beziehtdie Notstände im Abonnement und billigt dann, was zu ihrer Beseitigungnötig zu sein scheint. So absorbiert die Rolle des reinen Zuschauers bereits

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manche Spannungen und Aktionsbedürfnisse.[15] Und doch verlöre dasZuschauen ohne jede Möglichkeit aktiver Reaktion seinen Sinn und seinedisziplinierende Funktion. Der Zuschauer würde wie eine Sache behandeltund frustriert. Es müssen also Möglichkeiten des Übergangs in eine andereRollenkonstellation mit anderen Chancen und Beschränkungen bereitgestelltund beide, die passiven und die aktiven Rollen, müssen in einigenHinsichten, zum Beispiel in der zulässigen Thematik, aufeinanderabgestimmt werden.

Für politische Aktivität steht eine Mehrheit von Verhaltensmöglichkeitenoffen, die nur zum Teil in Rollenform konsolidiert sind.[16]

Bezeichnenderweise wird das gelegentliche, ja selbst das sich häufende undinteressierte politische Verhalten unter Angehörigen des Publikums, zumBeispiel die politische Diskussion am Stammtisch oder unterArbeitskollegen oder in der Familie, die politische Akzentuierung einerRede von der Kanzel oder vom Katheder, das Weitererzählen politischrelevanter Beobachtungen im Freundeskreis usw., also alles das, was zurpolitischen Meinungsbildung beiträgt, nicht als Bestandteil einer spezifischpolitischen Rolle erlebt. Die empirische Wahlforschung hat dieBedeutsamkeit solcher meinungsbildenden Aktivitäten, die man längstkannte, erneut erhärtet, aber sie hat selbst für die verdichtete, politischeinflußreiche Kommunikationstätigkeit eines »opinion leaders«[17] keinefeste soziale Rolle nachweisen können.

Das ist kein Zufall. Die Übernahme einer sozialen Rolle impliziertSichtbarkeit und Konsistenz eines größeren, Zukunft und Vergangenheiteinschließenden Handlungszusammenhanges und damit Verantwortung.[18]

Das Handeln muß auf andere Rollen eingespielt werden und zuverlässigerwartbar sein. In einer Gesellschaftsordnung, die ein politisches Systemrollenmäßig ausdifferenziert hat, muß jede politische Rolle sich diesemSystem sinnvoll einfügen. Der Einfluß im elementaren,kleingruppenmäßigen Prozeß politischer Meinungsbildung beruht aberweitgehend auf unpolitischen Mitteln, die sich nicht mit ausdifferenzierenlassen: auf diffuser sozialer Nähe und dadurch begründetem Vertrauen, aufpersönlicher Eindruckskraft und Darstellungsgewandtheit, auf wie auchimmer begründetem sozialem Status. Der Prozeß politischerMeinungsbildung lebt hier von Ordnungsleistungen, die anderswo in der

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Gesellschaft erbracht sind und die nicht voll und ganz in das politischeSystem einbezogen werden können.[19]

Rollenlose Aktivität mag vom einzelnen her gesehen sehr viel wirksamersein als die Wahrnehmung seiner eigenen politischen Rolle, zum Beispieldurch Ausübung seines Wahlrechts. Er kann seine Effektivität dadurchpotenzieren – zumindest wenn nicht auch alle anderen im gleichen Maßeaktiv werden. Dieser Verstärkungseffekt hängt aber weitgehend davon ab,daß andere Bürger eigene Rollen im politischen System wahrnehmen oderdoch Zugang zu solchen Rollen haben, nämlich wählen können,Parteimitglieder sind oder freiwillige Helfer in Wahlkampagnen,Interessenverbänden angehören oder sonstige Kontaktrollen im politischenSystem wahrnehmen können. Denn als Reflex der Tatsache, daß daspolitische System auf Rollenebene ausdifferenziert wird und daß die Politikselbst in festumrissenen Rollen betrieben, ja zunehmend als Arbeitorganisiert werden muß, geraten auch die komplementären Verhaltensweisenunter Rollenzwang. Die Bürger müssen in einem Prozeß der Übernahmeimplizierter Rollen die Bedingungen sinnvollen Einwirkens lernen und sichihnen fügen; sonst würden sie von den Politikern nicht verstanden und nichtbeachtet werden. Das gilt für Wähler ebenso wie für Leserbriefschreiber,für Leute, die Unterschriften für ein Volksbegehren sammeln, ebenso wie fürDemonstranten, für Parteimitglieder, die gegen den neuen Kurs der Spitzeprotestieren, ebenso wie für Besucher, die einen Abgeordneten zu sprechenwünschen.

Die komplementären Rollen, die das Publikum an die Politik anschließen,haben zwei verschiedene Funktionen zu erfüllen: das Artikulieren vonInteressen, Erwartungen, Forderungen auf der einen Seite und dieGewährung politischer Unterstützung auf der anderen. Politische Systemelassen sich danach unterscheiden, ob und wieweit es ihnen gelingt, diePublikumsrollen nach Maßgabe dieser Funktionen strukturell zudifferenzieren, das heißt, die Mitteilung von Interessen und Forderungensowie die Mitteilung politischer Unterstützung auf je andere Rollen zulegen.

Eine solche Differenzierung läßt sich dadurch erreichen, daß das Recht,über politische Unterstützung mit Ja oder Nein zu entscheiden, formellanerkannt und in einer besonderen Rolle ausgeübt wird, nämlich als

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politisches Wahlrecht. Das politische Wahlrecht sondert die Rolle desWählers nicht nur von anderen, unpolitischen Rollen des Wählers ab[20] –eine Trennung, die durch Abstraktion der Wahlthemen sowie durch denallgemeinen, gleichen und geheimen Charakter der Wahl bewirkt wird –,sondern es trennt sie auch von anderen möglichen politischen Rollen desPublikums, so namentlich von den Rollen für politische Interessenförderung.Für die Mitteilung persönlicher oder auch gruppierter Interessen undEntscheidungswünsche bietet die politische Wahl wenig Gelegenheit. Siezwingt zu scharfer Abstraktion und Generalisierung der Kommunikation, danur zwischen sehr wenigen vorformulierten Alternativen personeller odersachlicher Art gewählt werden kann. Seine individuellen Motive muß derWähler daher weitgehend abstreifen, wenn er an die Wahlurne tritt. Dasbedeutet indes nicht notwendig, daß diese Motive unterdrückt werden undsich im politischen System nicht ausleben können. Aber sie werden andieser Stelle abgewiesen und auf andere mögliche Rollen für politischeInteressenförderung verwiesen, die wiederum keinen direkten Bezug zurGewährung politischer Unterstützung haben: auf gezielte Einflußnahmenüber »Beziehungen«, auf Meinungskampagnen, auf Beteiligung anInteressenverbänden usw.

Eine solche Differenzierung gibt beiden Rollenarten verschiedeneChancen und unterwirft sie zugleich verschiedenen Beschränkungen. DerEinfluß auf dem Wege der politischen Wahl ist rechtlich gesichert und reichtdurch die politischen Prozesse hindurch bis in das bürokratische System derVerwaltung hinein. In der Wahl wird über die Besetzung von Stellen derLegislative und oft auch der Exekutive entschieden. Andererseits ist dieserEinfluß für den einzelnen Wähler minimal und von sehr unbestimmterAuswirkung auf die Entscheidungspraxis der Bürokratie. Eine Aufwendungvon Zeit, Mühen und Informationskosten für die Ermittlung richtigerWahlentscheidungen lohnt sich daher für den einzelnen nicht. Wer seinenKräfteeinsatz rational kalkuliert, wird lieber uninformiert bleiben und in derpolitischen Wahl nichtrational entscheiden (und umgekehrt wird also eine»möglichst rationale« Wahlentscheidung dem einzelnen von der Gesellschaftals unrationales Handeln nahegelegt).[21] Demgegenüber läßt sich diepolitische Interessenverfolgung sehr viel besser mit spezifischenMotivlagen und Entscheidungsbegehren in Einklang bringen. Sie lohnt

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Aufwendungen daher eher, ist aber andererseits nicht selbst schon legitim,so daß zu den Informations- und Kalkulationskosten noch Kosten derEinflußnahme, zum Beispiel der Unterhaltung eines Netzes guterBeziehungen oder einer Verbandsbürokratie, hinzukommen.

Der Sinn dieser Trennung von Unterstützungsrollen und Förderungsrollenbesteht indes nicht nur darin, dem Publikum die Wahl zwischen zweiverschiedenen Einflußkanälen mit je unterschiedlicher Streuung vonVorteilen und Nachteilen offenzuhalten. Die Trennung erhält die Komplexitätund Autonomie in anderen Bereichen des politischen Systems. Sieverhindert nämlich oder erschwert jedenfalls einen direkten Tausch vonForderungserfüllung gegen politische Unterstützung. Stände der Bürger demPolitiker nur in einer einzigen Rolle gegenüber, in der er Forderungen zuformulieren und zugleich Unterstützung zu gewähren und zu versagen hätte,drängte sich eine tauschförmige Transaktion auf. Die Politik könnteUnterstützung nur für die Zusage bestimmter Entscheidungen erhalten, alsoauch von der Verwaltung nicht getrennt werden. Sie würde an ihrerPublikumsgrenze festgelegt werden und gewänne keine generalisiertePosition, die einen Interessenausgleich in der Politik ermöglicht. Wenn dieBeziehungen zwischen Publikum und Politik auf eine Rolle konzentriertwerden, ist es deshalb praktisch unausweichlich, dem Publikum die echteEntscheidung über Gewährung oder Versagung politischer Unterstützung zunehmen und die Mitteilung politischer Unterstützung auf gelegentlicheBeifallskundgebungen zu beschränken, um die notwendige Autonomie derpolitisch-administrativen Problembearbeitung zu erhalten. Eine Trennungvon Unterstützungsrollen und Forderungsrollen erlaubt es dagegen, demPublikum die Möglichkeit der Wahl zwischen Ja und Nein in bezug aufbestimmte Personen, Gruppen oder Programme der Politik zu gewähren undtrotzdem die Autonomie der Politik zu erhalten, weil die Gewährung oderVersagung politischer Unterstützung nicht direkt mit der Erfüllungbestimmter Forderungen verknüpft werden kann, sondern nur ein sehr starkgeneralisiertes Tauschverhältnis, nämlich global gewährte politischeUnterstützung gegen Befriedigung im großen und ganzen, möglich ist. Auchan dieser Stelle läßt sich demnach beobachten, daß steigende Komplexitätdes Gesamtsystems nur durch Stärkung der Autonomie der Teilsysteme,stärkere Rollendifferenzierung und Generalisierung der Kommunikations-

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und Tauschbeziehungen zwischen den Teilsystemen erreicht werden kann.Diese Trennung von Unterstützungs- und Forderungsrollen darf freilich

ihren Zusammenhang nicht ausschließen. Die Erfahrungen in der einen Rollemüssen prinzipiell auf die andere übertragbar sein – sonst könnten beideRollen nicht einem System angehören. Außerdem bilden sich in der Praxiszur Stärkung der Forderungsrollen des Publikums Interessenverbände, diepolitischen Einfluß suchen und danach streben, auf höherer Ebene dennochzu einem Tausch von Forderungsbefriedigung gegen Unterstützung zukommen. Solche Vereinbarungen mögen die konkreten politischenEntscheidungen mehr oder weniger bestimmen.[22] Immerhin wirkt dieTrennung von Forderungsrollen und Unterstützungsrollen sich auch hier nochaus: Die Interessenverbände können Wählerstimmen nur in sehr unsichererund unbestimmter Form zum Tausch anbieten; nur bei selten strafferOrganisation wären sie tatsächlich in der Lage, »to deliver the vote«.[23]

Ebenso können die Parteien bestimmte Entscheidungsprogramme nur für denFall ihres Wahlsiegs und bei einer Vielzahl von Parteien sogar nur für denFall zusagen, daß sie sich in den Koalitionsverhandlungen durchsetzenkönnen. Der Tausch verdünnt sich mithin zu einem Tausch ungesicherterHoffnungen. Dazu kommt, daß die Interessenverbände genötigt sind, dieInteressen, die sie vertreten, selbst zu bearbeiten, zu bündeln und zu sieben,zu generalisieren und zu verhärten, als Gemeinwohl zu verkleiden und aufdas realistisch Erreichbare zu reduzieren, vielleicht sogar nach Maßgabeder politischen Lage und ihrer Chancen vertretbare Interessen zufabrizieren,[24] alles in allem also der Politik einen Teil ihrer Arbeitabzunehmen. So scheint der Einfluß der Interessenverbände heute wenigerauf Tauschgeschäften oder Drohungen zu beruhen, sondern in erster Liniedarauf, daß sie der Politik bei der Reduktion ihrer Komplexität zu helfen inder Lage sind. Die Verlegung etwaiger Tauschbeziehungen auf diese Ebenehat also erhebliche Vorteile. Andererseits ist nicht zu leugnen, daß dieseProblemlösung die Gleichheit der Angehörigen des Publikums verzerrt undden organisierbaren Interessen – und das sind nicht notwendig zugleich auchdie wichtigeren oder die berechtigteren Interessen – übermäßige Chanceneröffnet.

Die Vorteile einer Trennung von Rollen für politische Unterstützung undfür Interessenartikulation und Forderungen sind von der Art, in der die

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politischen Prozesse geordnet werden, weitgehend unabhängig. Sie könnenvor allem in Mehrparteiensystemen geerntet werden, aber auchEinparteiensysteme, welche die politische Unterstützung nicht zur Wahlstellen, schaffen für ihren Ausdruck besondere Rollen und besondereGelegenheiten. Denn die Bereitschaft zur politischen Unterstützung desRegimes muß, wenn sie nicht an freier Entscheidung des Publikums getestetwerden kann, besonders überzeugend demonstriert werden. Sie kann dannerst recht nicht mit Forderungen oder Bedingungen belastet, als »ja, aber«oder »ja, wenn« formuliert werden. Und doch sind auch inEinparteiensystemen gewisse Interessendarstellungen durch das Publikumunentbehrlich. Sie müssen aber durch eine andere Tür in die Politik hinein,zum Beispiel über einzelne Parteimitglieder, lokale Gremien, Organeindustrieller Selbstverwaltung, und sie müssen von vornherein nicht alsprivate, sondern als spezielle Version eines Ausschnitts des öffentlichenInteresses auftreten. Noch schärfer als in Mehrparteiensystemen wird inEinparteiensystemen eine tauschförmige Festlegung der Politik vermieden,weil hier auf die Autonomie der Politik gegenüber dem Publikum nochgrößeres Gewicht gelegt wird.

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26. Kapitel

Rekrutierung

Das allgemeine analytische Modell eines funktional differenziertenpolitischen Systems, das im 12. Kapitel skizziert worden ist, berücksichtigtnur Rollenbeziehungen und Kommunikationsprozesse. Im breiterenGesichtswinkel der Frage nach den Bestandsvoraussetzungen einesdifferenzierten politischen Systems zeigt sich, daß dieses Modellunvollständig ist. Nicht alle Leistungen, die zur Erhaltung eines politischenSystems erforderlich sind, werden durch Rollen dieses Systems selbsterbracht. So kann zwar der Prozeß der Formulierung politisch tragfähigerEntscheidungsgrundlagen weitgehend in das politische Systemhineingezogen, dort besonderen Publikumsrollen und politischen Prozessenaufgegeben und dadurch erleichtert werden. Doch das allein genügt nicht. Imvorigen Kapitel haben wir bereits gesehen, daß die Ausdifferenzierung vonPublikumsrollen psychische und soziale Prozesse der Reduktion vonKomplexität voraussetzt, die außerhalb des politischen Systems ablaufen,daß sie also auf eine vorstrukturierte psychische und soziale Ordnungangewiesen ist. Dazu kommt ein weiterer Gesichtspunkt, den wir jetztbehandeln wollen: daß die Ausdifferenzierung des politischen Systems nurauf der Ebene der Rollenbildung vollzogen wird, die Rollen aber irgendwiemit handelnden Personen besetzt werden müssen. Diese Besetzung ist fürdie Publikumsrollen selbst unproblematisch, denn zum Publikum gehörtjedermann. Für die politisch-administrativen Rollen ist dagegen eineAuswahl aus dem Publikum erforderlich, weil diese Rollen größere undspeziellere Anforderungen stellen. Die Frage ist, wie diese Auswahlzustande kommt.

Die Publikumsrollen, die als solche erkennbar werden, sind schon aufbestimmte Funktionen spezialisiert, und zwar auf Funktionen derArtikulation von Interessen und Forderungen auf sehr verschiedenenSinnebenen und Kontaktbahnen. Mit diesem Beitrag wird eine bedingteKonsenszusage erteilt, also gleichsam der Kredit gewährt, mit dem das

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politische System arbeiten kann. Solche Zustimmungsvorgabe ist jedoch nursinnvoll, wenn zuvor eine elementare Arbeitsteilung eingerichtet ist, wennnämlich nicht der Interessierte und Zustimmende selbst, sondern ein andererdie Geschäfte führt. Diese Arbeitsteilung haben wir oben[1] unter demstrukturellen Aspekt der vertikalen Differenzierung behandelt. Hier muß sieunter dem weiteren Gesichtspunkt personeller Mobilität betrachtet werden.

Sollen bestimmte Geschäftsführungsrollen ausdifferenziert werden, dannmuß ein Teil des Publikums in besonders definierte Rollen gebracht werden.Für solche Rollen gelten dann besondere Eintritts- undAustrittsbedingungen, besondere Regeln der Mitgliedschaft in einerformalen Organisation, die nicht allgemein jeden Staatsbürger betreffen.[2]

Solche Mitgliedsrollen müssen immer zugleich besondere Rechte undbesondere Pflichten vorsehen, da eine Organisation, in der nicht jedermannselbstverständlich Mitglied ist, immer attraktiv und leistungsfähig zugleichgestaltet werden muß. Der Beitrag, der in solchen Rollen für die Erhaltungdes politischen Systems geleistet wird, ist daher eine honorierteMehrleistung gegenüber dem allgemeinen Prozeß politischer Unterstützungund von diesem zu unterscheiden. Wenn es zu einer solchen Ordnung kommt,in der nicht mehr jedermann an allen Aspekten des politischen Prozesses ingleicher Weise beteiligt ist, muß das Publikum mithin ein Doppeltes leisten:politische Unterstützung und Artikulation von Interessen und Forderungen inbestimmten Publikumsrollen einerseits und Rekrutierung für die politisch-administrativen Rollen, in denen diese Eingangsinformationenweiterbearbeitet werden, andererseits.

Daß diese beiden Leistungen erbracht werden müssen, besagt an sichnoch nicht, daß sie getrennt, also unabhängig voneinander erbracht werdenmüssen. Die Trennung ist keine Bestandsnotwendigkeit für einfacherepolitische Systeme. Sie bietet jedoch erhebliche Vorteile und wirdunabweisbar, wenn das System eine gewisse Schwelle der Komplexitätüberschreiten soll. Die Trennung ermöglicht es nämlich, beide Prozesse jefür sich funktional zu spezifizieren und dadurch in ihrer Leistung zu steigern,nämlich politische Unterstützung nach rein sachlichen Gesichtspunkten desNutzens bestimmter Programme zu erteilen und die Rekrutierung ebenfallsnach rein sachlichen Gesichtspunkten der Eignung für bestimmtespezialisierte Aufgaben vorzunehmen, ohne daß beide Entscheidungen

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aneinandergekoppelt werden und sich wechselseitig hemmen. Gelingt einesolche Trennung, erreicht das politische System mithin eine sehr hoheKomplexität, weil es Sachfragen und Personalfragen unterscheiden undProblemlösungen in beiden Bereichen unabhängig voneinander variierenkann. Wie bei der Differenzierung der Publikumsrollen, die wir im vorigenKapitel behandelt haben, geht es auch hier darum, den partikularen Tauschallzu unmittelbarer Vorteile zu verhindern, um indirekte, umweghafte,komplexe Informationsverarbeitung zu ermöglichen.

Diese hohe strukturelle Varietät ist jedoch sehr schwer zuinstitutionalisieren, und sie läßt sich nicht ins Extrem treiben. Sie ließe sichwohl nur im Grenzfalle eines vollständig durchgeplanten politischenSystems maximieren. Es gibt nämlich sinnvolle Gegeninteressen, vor allemdies, daß Personen als solche kaum entbehrliche Konsensfaktoren sind, daßsie Vertrauen gewinnen, Zustimmung für sich als Person kristallisierenkönnen und daß diese Leistung gerade in stark differenzierten politischenSystemen benötigt wird, weil sie eine sachlich hoch generalisierte Form desKonsenses ergibt – Konsens nämlich für alles, was diese Person bejaht undunternimmt.[3] Deshalb ist es durchaus verständlich und kaum zu vermeiden,daß Personalentscheidungen immer wieder benutzt werden, um politischeUnterstützung zu gewinnen oder zu zementieren, obwohl man damit auf dieVorteile unabhängiger Variabilität von Rekrutierungs- undUnterstützungsentscheidungen verzichtet. Wie es für funktionaleDifferenzierung im allgemeinen typisch ist, muß ein politisches System, dasRekrutierung und Unterstützung trennen will, im Hinblick aufwiderspruchsvolle Anforderungen ausbalanciert werden.

Unter diesen Umständen muß die Trennung von Rekrutierungs- undUnterstützungsentscheidungen als das Ergebnis eines langwierigenevolutionären Prozesses gesehen werden, als ein Entwicklungsgewinn, deran die Struktur des Systems hohe Anforderungen stellt und nur stabilisiertwerden kann, wenn zahlreiche Folgeprobleme im System gelöst werdenkönnen. Für die Entwicklung selbst scheinen vor allem vierErrungenschaften bedeutsam gewesen zu sein, die nach und nach erreichtworden sind: die Befreiung der Rekrutierung aus askriptiven Bindungen,also eine soziale Generalisierung der Rollenbesetzung, und dieAusdifferenzierung besonderer Rollen für die Gewährung (oder Versagung)

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politischer Unterstützung, die Differenzierung verschiedener Aufstiegswegein der Gesellschaft und die Trennung von Politik und Verwaltung.

In archaischen Sozialordnungen waren, selbst wo die Ausdifferenzierungpolitischer Herrschaft gelang, Rekrutierung und Unterstützung an dieselbenaskriptiven (also feststehenden) Kriterien gebunden und dadurch invariantgekoppelt. Es gab in einer solchen Ordnung strukturell keine Alternativen.Nur der Älteste der dominierenden Linie des Stammes konnte von seinenStammesverwandten für politische Entscheidungen Konsens erwarten.Häufig ist dann die Tötung des Häuptlings, motiviert etwa durch magischeFehlleistungen oder Verlust der Gnade des Himmels, die einzigeMöglichkeit, politische Unterstützung und Rollenbesetzung in einem Zuge zuvariieren. Die weitere Entwicklung verläuft im großen und ganzen parallelzur zunehmenden Ausdifferenzierung des politischen Systems von eineraskriptiven zu einer leistungsorientierten Rekrutierung.[4]

Der erste große Schritt zur Trennung von Rekrutierung und Unterstützungbestand darin, die Legitimität politischer Herrschaft von der Voraussetzungeiner Verwandtschaft mit den Beherrschten abzulösen und auf besondereZeichen religiöser Berufung, Wahl, traditionelles Recht einer bestimmtenFamilie oder was immer zu gründen. Im wesentlichen blieb es freilichdabei, daß die Besetzung der höchsten politischen Ämter durch einezumindest scheinbare strukturelle Automatik erfolgte, zum Beispiel aufgrundangestammter Rechte und nicht aufgrund freier Entscheidung, weil andersdie notwendige Stabilität nicht hätte erreicht werden können. Mit einervoraussetzungslosen freien Wahl hätte man die politische Herrschaft in einerwenig differenzierten Gesellschaft dem Streit und der Willkür ausgeliefert.Immerhin wurde in den republikanisch verfaßten Stadtstaaten der Antikedieses Risiko bereits mit mehr oder weniger Erfolg eingegangen und sogarfür politische Herrschaftsrollen die Trennung von Amt und Personinstitutionalisiert. Dadurch sind diese Staaten zum klassischen Vorbild desneuzeitlichen Staatsaufbaus geworden.

Das andere Einfallstor für eine Absonderung und Rationalisierung derRekrutierungspolitik waren die Ansätze zu einer bürokratischen Verwaltungin den älteren Großreichen Chinas, Ägyptens und Vorderasiens, dann imspätrömischen Reich. In diesen Fällen bot der hierarchische Gesamtaufbaudes politischen Systems einen sicheren Rahmen für eine mehr oder weniger

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elastische, sachangepaßte Personalpolitik unterhalb der höchsten Ebene.Die Rekrutierung und zum Teil sogar das Auswechseln von Personen inÄmtern konnten dem Herrscher als Recht zur Verfügung gestellt werden,konnten von ihm freilich nur in den sehr engen Grenzen seiner faktischenMacht und eines sehr unvollkommenen Organisations- undKommunikationspotentials genutzt werden. Die Personalentscheidung gerietdem Herrscher besonders dann leicht aus der Hand, wenn der Unterhalt derAmtsträger aus zugewiesenem Landbesitz bestritten werden mußte, an demsich dann unvermeidlich Selbstversorgungs- und Familieninteressenkristallisierten. Erst in dem Maße, als die Geldwirtschaft sich durchsetzte,konnte die Rekrutierung des Verwaltungspersonals von der Zuweisung oderVoraussetzung eines Vermögens unabhängig werden und allein auf diesachlichen Erfordernisse des Amtes abgestellt werden.

Es ist vermutlich kein Zufall, daß in der Vorgeschichte der europäischenNeuzeit politische Demokratie und bürokratische Verwaltung sichnebeneinander und nicht zusammen entwickelt haben. Beide Aspekte derRollenrekrutierung gleichzeitig freizugeben und von Entscheidungenabhängig zu machen hätte die Gesellschaftsordnung überfordert. Diepolitische Rekrutierungsweise der antiken Ämterrepubliken erlaubte keinenAufbau großer, permanenter Bürokratien – der auf Zeit gewählte Amtsträgerblieb auf die Hilfe seines Hauspersonals angewiesen –, so wie umgekehrtBürokratisierung voraussetzte, daß eine politische Herrschaft stabilisiertwar, die der willkürlichen Personalpolitik entzogen blieb. Man kann darausentnehmen, daß eine Gesellschaft, die sich eine variable Besetzungpolitischer und administrativer Rollen gleichzeitig leisten kann, erheblichenAnforderungen genügen, vor allem hohe innere Komplexität aufweisen muß.

Ähnlich wie im Falle der Autonomie[5] sieht man auch hier, daß hoheinnere Varietät eines politischen Systems nur unter besonderen strukturellenVoraussetzungen möglich ist und nur in laufender Anstrengung stabilgehalten werden kann. Sie bedeutet nämlich, daß die Rollenbesetzunggrundsätzlich eine Sache der Entscheidung, der Auswahl aus einem großenBereich von Möglichkeiten, wird und daß Konsens dafür nicht mehrinstitutionell vorausgesetzt werden kann, sondern im Entscheidungsprozeßeigens beschafft werden muß. Das ist nur möglich, wenn derEntscheidungsprozeß organisiert abläuft und wenn er gegen sachfremde

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Einflüsse, gesellschaftlichen Druck oder Überlastung mit zuwiderspruchsvollen Forderungen ausreichend abgedichtet werden kann. Nurso ist das Prinzip institutionalisierbar, daß jedermann aus dem PublikumPolitiker oder Beamter werden kann.

Eine erste Voraussetzung besteht in der Ausdifferenzierung vonPublikumsrollen für die Formulierung der Bedingungen politischerUnterstützung – ein Thema, das wir im 22. Kapitel eingehender behandelthaben. Wenn die Rekrutierung auf Entscheidungsprozesse gelegt, das heißtim politischen System selbst vollzogen werden soll, müssen auch die dafürKonsens bildenden Prozesse im politischen System selbst ablaufen unddürfen nicht zu stark an externe Bedingungen gebunden sein. Ein Politikeroder Beamter kann selbst dann natürlich noch unter Mitwirkenaußerpolitischer Motive (zum Beispiel wegen seiner Religion, wegen seinerpersönlichen Beziehungen, aus Dankbarkeit für frühere Leistungen) in seinePosition gelangen, aber solche Entscheidungen werden zunehmenduntypisch, die Darstellung ihrer Gründe muß frisiert werden, und selbstwenn sie ihre tragenden Motive außerhalb des politischen Systems findensollten, könnten sie die Notwendigkeiten der Amtsführung kaum außer achtlassen. Es ist eine Sache, bei der Beförderung geeigneter Beamter denKatholiken aus Gründen des Proporzes zu bevorzugen oder bei der Vergabevorrangiger Plätze auf Wahlvorschläge die Herkunft als Arbeiter oder dieAuszeichnung als Frontkämpfer mitzuberücksichtigen, eine andere dagegen,wenn der örtliche Priester als solcher den Vorsitz eines politischenGremiums innehat oder es den Gewerkschaften erlaubt wird, einMinisterium so zu besetzen, daß es ein Mittel für ihre Zwecke wird.

Ferner ist der Zusammenhang zwischen der Komplexität des politischenSystems bzw. seiner Teilsysteme und den Formen der Rekrutierung zubeachten. Hohe Komplexität des politischen Systems führt sowohl in derPolitik als auch in der Verwaltung dazu, daß beträchtliche Vorbedingungenerfüllt werden müssen, bevor jemand überhaupt in einer der Systemrollensinnvoll handeln kann, und daß außerdem erhebliche Lernzeiten im Systemhinzukommen müssen, bevor jemand schwierigere Rollen meistern kann.Lernzeiten sind typisch zugleich Zeiten der »Sozialisierung«. Die Neulingelernen nicht nur Informationen und Geschicklichkeiten, sondern auch diedazu passenden Gefühle und eine Einstellung zu den vorherrschenden

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Verhaltenserwartungen, die ihnen ein Verbleiben im System ermöglicht.Diese Sachlage erschwert den plötzlichen Einmarsch neuer Kräfte oder garneuer Gruppen in das System.[6] Wenn unter gesellschaftlichem Druck einsolcher Personenschub vollzogen werden muß, kommt es fast unvermeidlichzu einer drastischen Verkürzung der Entscheidungsketten und zurVereinfachung des Handelns.

Daß Komplexität allein schon autonome Personalpolitik zu garantierenvermöchte, wird man natürlich bezweifeln müssen. Eine weitereVoraussetzung relativ unabhängiger, im politischen System selbstbetriebener Personalpolitik scheint zu sein, daß dabei nicht eingesellschaftliches Monopol auf Status, Aufstieg und Versorgung verwaltetwird.[7] Sonst wäre der gesellschaftliche Druck zu stark, um im politischenSystem ohne weitere institutionelle Hilfe allein durchEntscheidungsprozesse abgefangen werden zu können. Man findetfreigegebene, die Spitze einschließende Rekrutierung eigentlich nur dort,wo die Gesellschaft mehrere Statuspyramiden und mehrere Aufstiegswegenebeneinander kennt.

Diese Bedingung ist in den stark differenzierten neuzeitlichenSozialordnungen typisch erfüllt. Der einzelne kann seine Karriere in derKirche oder in den Gewerkschaften, in Wirtschaftsunternehmen, in derVerwaltung oder in der Politik, in der Wissenschaft oder über die Medienöffentlicher Unterhaltung machen. In einer solchen Ordnung muß man damitrechnen, daß Politik und Verwaltung nicht mehr ohne weitereserstrebenswerte Positionen zu bieten haben und Personal aus dem Publikumnach Belieben auswählen können, daß man vielmehr in der Wirtschaft mehrverdienen kann als in der Verwaltung und daß ein anerkannterWissenschaftler, ein populärer Journalist, ein berühmter Astronaut,»Gammler« oder »Provo« den gebotenen Einstieg in die Politik gemessenan Art und Ausstrahlungskraft seines bisherigen Status nicht attraktiv genugfindet.[8]

Dies gilt jedenfalls, wenn Politik und Verwaltung langwierige Karrierendes Bewährungsaufstiegs einrichten. Dann muß bei der Stellenbesetzung aufdie intern schon lange Wartenden Rücksicht genommen und dasÜberspringen der üblichen Stufen durch Außenseiter zur Ausnahme werden.Durch eine solche Kombination von Aufstiegsalternativen außerhalb und

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verzögernder und verunsichernder Aufstiegsregelung innerhalb despolitischen Systems wird der Andrang in die politisch wirkungsvollenRollen und öffentlichen Ämter gebremst. Ja, es entstehen ernsteRekrutierungsprobleme für die öffentliche Hand, wenn sie nicht in der Lageist, ihre internen Rollenbesetzungsregeln genügend elastisch zu handhaben.[9] Mehr noch als die Verwaltung scheint die Politik unter geringerAttraktivität zu leiden, was um so auffälliger ist, als sie die Rollen mit demhöchsten gesellschaftlichen Prestige zu besetzen vermag.[10] Personalpolitikund Rollenbesetzung werden dadurch in der Verwaltung und mehr noch inder Politik zu einem problemreichen Entscheidungsgebiet, das unter demDruck widerspruchsvoller Anforderungen steht. Sie müssen laufend eineBalance finden zwischen Angebot und Nachfrage und zwischen Regel undAusnahme, zwischen der Attraktivität des politischen Systems und denanderen Chancen der Bewerber sowie zwischen der Sonderförderungvielversprechender Außenseiter und der Offenhaltung einer aussichtsreichenAufstiegsbahn. Damit verliert das Ausgangsproblem personeller Mobilitätin der Gesellschaft und ihrem politischen System seine Sprengkraft, es wirdzu einem im Einzelfall entscheidbaren Problem verkleinert und dann in derkonkreten Situation aufgrund mehr oder minder weit reichender Informationgelöst.

Schließlich wird die Mobilität der Rekrutierung und ihre Trennung vonden Prozessen politischer Unterstützung gefördert durch die Trennung vonPolitik und Verwaltung, also durch die funktional-strukturelleDifferenzierung des politischen Systems. Wir haben im 11. Kapitel bereitserörtert, daß diese Art der Differenzierung das politische System in zweiTeilbereiche zerlegt, deren Verhaltenserwartungen und Rationalitätskriteriennicht unbedingt konsistent zu sein brauchen. Man kann diese in Grenzenzulässige Inkonsistenz daher benutzen, um ein Nebeneinander verschiedenerEintrittsbedingungen und Rekrutierungsweisen, verschiedener Karrieren undeine unterschiedlich weit gehende Trennung von Rekrutierung undUnterstützung zu organisieren.

Für die Politik im engeren Sinne ist ein geringeres Maß an Trennung vonRekrutierung und politischer Unterstützung bezeichnend. Grundsätzlich giltauch in der Politik, daß die Unterstützung nicht unbedingt an die Persongebunden ist, daß, mit anderen Worten, das Publikum nicht alles und nicht

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nur das unterstützt, was bestimmte Personen unternehmen. Andererseits istder Konsens bildende Wert bestimmter Personen ein unverzichtbaresElement der Politik, so daß Prominenz, Publicity und Posten an diePersonen vergeben werden, die Konsens wachsen lassen und kristallisierenkönnen. Die Rollenbesetzung in der Politik kann, weil die politischenRollen primär der Mobilisierung politischer Unterstützung dienen, nichtohne Rücksicht auf diese Funktion erfolgen.

Im einzelnen lassen die Wahlforschung und die wissenschaftlicheBeobachtung politischer Prozesse bisher keine sicheren Schlüsse darüberzu, ob und unter welchen Umständen Persönlichkeiten oder sachlicheProgramme als Attraktion überwiegen. Die beiden Gesichtspunkte sinddadurch schwer zu trennen, daß Persönlichkeiten sich im allgemeinen nichtals kapriziöse Subjektivität vorstellen, sondern sich mit einer bestimmtensachlichen Linie identifizieren. Jedenfalls ist die doppelte Möglichkeit derOrientierung des Wählers an Personen oder an Programmen ein zentralesElement der Stabilisierung des politischen Systems; insofern nämlich, alsdie Politik eine heikle oder unformulierbare Programmatik mit Hilfe vonPersönlichkeiten durchziehen kann (zum Beispiel die Aufgabe Algiers durchde Gaulle) und umgekehrt das Fehlen überzeugender politischerPersönlichkeiten durch ein attraktives Sachprogramm wettgemacht werdenkann. Wichtig ist daher, daß die Alternativität dieser beiden funktionaläquivalenten Möglichkeiten, um politische Unterstützung zu werben,erhalten bleibt und das System sich nicht einseitig auf Personen bzw. aufProgramme festschwört. Von daher ergeht an die Politik die Aufforderung,Auswahl und Aufstieg politischer Persönlichkeiten nicht nur unter demGesichtspunkt ihres taktischen Geschicks, sondern auch unter dem ihrerwerbenden Kraft in einer breiteren Öffentlichkeit zu regeln, die Selektionalso nicht allein innerbürokratischen Ausscheidungskämpfen in denpolitischen Organisationen zu überlassen, sondern frühzeitig genug dieWirkung einer Persönlichkeit auf die Öffentlichkeit zu erproben.

Während in der Politik die Prozesse persönlicher Rekrutierung undpolitischer Unterstützung zwar unterschieden, aber nie ganz getrennt werdenkönnen, ist in der Verwaltung eine solche Trennung prinzipiell durchführbar,ja für die spezifische Funktion der Verwaltung wesentlich.[11] Von derVerwaltung wird programmiertes Entscheiden erwartet. Sie soll bestimmte

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Zwecke verwirklichen oder auf bestimmte Tatbestände in vorgezeichneterWeise reagieren. Auf diese Weise wird die individuelle Persönlichkeit alsEntscheidungsfaktor nach Möglichkeit eliminiert. Praktisch gelingt diesnatürlich nie ganz. Auch Verwaltungen sind ja von Menschen betriebeneSozialsysteme mit einem Bedarf für gegenstrukturelle Leistungen. Abersowohl die wirtschaftlichen als auch die juristischen Modelle richtigenEntscheidens sind prinzipiell indifferent dagegen, wer entscheidet. EinOptimum ist ein Optimum, gleich wer es errechnet, und in gleichliegendenFällen soll ein Urteil dem anderen gleichen, auch wenn es jeweils vonverschiedenen Richtern gefällt wird. Diese Neutralisierung der Person inihrer Individualität ist ein Strukturprinzip der Verwaltung.[12] Daher kannund soll die Rekrutierung in der Verwaltung sich speziell nach denFähigkeiten zu richtigem Entscheiden richten und nicht etwa nach derFähigkeit, Konsens und Unterstützung für bestimmte Programme zuaktivieren.

Soweit die Verwaltung nach universellen, nicht von persönlichenBeziehungen, Ähnlichkeiten oder Zusammengehörigkeiten abhängigenKriterien entscheidet, verliert das Rekrutierungsproblem seine strategischeBedeutung für die Beziehung zwischen Verwaltung und Publikum, da dieMitglieder des Publikums nicht mehr nur über Freunde, Verwandte oderGenossen in die Verwaltung hineinlangen und günstige Entscheidungenerwirken können. Statt dessen wird die Frage des Zugangs zur Verwaltungund des Einflusses auf sie verstärkt problematisch und zunehmendorganisationsbedürftig:[13] Es etablieren sich hauptberufliche Sachwalter fürden Verkehr mit der Verwaltung, Kontaktbüros und Interessenverbände, die,auch wo sie keinen Einfluß auf den Rekrutierungsprozeß suchen, »guteBeziehungen« zur Verwaltung unterhalten. Die Kontaktbasis ist nicht mehrnatürlich-gesellschaftlich vorgegeben, sie muß eigens geschaffen werden.

Im Organisatorischen wird diese Trennung von Rekrutierung, sachlicherEntscheidung und sozialer Unterstützung dadurch erreicht, daßVerwaltungsrollen – und dazu rechnen im weiteren Sinne auchParlamentssitze, Regierungsämter und Richterrollen – im Gegensatz zu reinpolitischen Rollen als »Stellen« institutionalisiert sind. Das Stellenprinzipist ein Prinzip der Mobilität. Es besagt, daß Rollen rein organisatorischidentifiziert werden und alle Inhalte (Personen und Aufgaben, Rang,

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Kommunikationsweisen und Mittelausrüstung) aufgrund der Konstanz diesesformalen Bezugspunktes variiert werden können.[14] Werden Rollen alsStellen festgelegt, so sind sie da, auch wenn sie nicht besetzt sind. DiesesDasein symbolisiert schon politische Unterstützung für die Stelle als solche:Sie ist im Haushalt und im Organisationsplan oder gar in der Verfassungvorgesehen. Über die Besetzung kann und muß dann jeweils entschiedenwerden, wobei das, was der Stelle sonst an (variablen) Merkmalen anhaftet(Rang, Aufgaben, Ausrüstung usw.), das Auswahlkriterium abgibt. DiePersonalentscheidung kann dadurch unter spezifischen Sachkriterienrationalisiert werden.

Nach alldem ist eine Unterschiedlichkeit der Einstellung zumRekrutierungsproblem in Politik und Verwaltung offensichtlich. Sie wirddadurch abgemildert, daß sie nicht nur im Nebeneinander, sondern auch imNacheinander zur Geltung kommt. Sie wirkt sich auf verschiedene Stadieneines einheitlichen Prozesses der Informationsverarbeitung aus. ImKommunikationskreislauf unseres Modells kommt die Politik mit ihrenEntscheidungskriterien vor der Verwaltung zum Zuge. Dieser Prozeß istdamit zugleich ein Prozeß zunehmender Entpersonalisierung desEntscheidens. Der Wähler läßt sich durch persönliche Motive bestimmenund erst recht der Interessent. Aber schon in den Konsequenzen der Wahlund der Interessenvertretung kommen diese persönlichen Motive nicht mehrvoll zum Ausdruck. Der Politiker hat als individuelle Person einenwesentlichen und sinnvollen Einfluß auf die Gestaltung derVerwaltungsprogramme, sofern er als Person Konsens schaffen oderrepräsentieren kann – ein Einfluß, der aber, weil er persönlich ist und demAktivieren politischer Unterstützung dient, kein verbindliches Entscheidenlegitimiert. In den Stellen, die nach Maßgabe politisch ausgehandelterProgramme verbindlich entscheiden, wird dagegen die Person neutralisiert,weil nun vorausgesetzt werden kann, daß das Programm politischakzeptabel und dem Publikum zumutbar ist und es nur noch darum geht,aufgrund dieses Programms die richtigen Entscheidungen zu treffen. DerEmpfänger solcher Entscheidungen, das Publikum, hat dann wieder dasRecht, persönlich betroffen zu reagieren, und hat in den Publikumsrollenbegrenzt wirksame Ausdrucksmöglichkeiten dafür. Auf diese Weise ist esmöglich, Informationen nacheinander unter verschiedenartigen, teils

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persönlichen, teils unpersönlichen Entscheidungsprämissen zu bearbeitenund so widerspruchsvolle Bedürfnisse des politischen Systemsabwechselnd zu befriedigen. Der Zusammenhang von Rollenrekrutierungund politischer Unterstützung kann dann in den Publikumsrollenselbstverständlich sein – jedermann formuliert seine Unterstützung inseinen politischen Rollen –, er muß in der Politik durch Koordination vonAttraktivität und Rollenbesetzung hergestellt werden, und er muß in derVerwaltung nach Möglichkeit gelöst werden, damit diese, ohne aufUnterstützung zu achten, möglichst sachgerecht arbeiten kann.

Ist dieser Gedankengang schon recht komplex – er berücksichtigt dieTrennung von Rekrutierung und politischer Unterstützung in ihremevolutionären Aspekt und in ihrer Verteilung in der differenzierten Strukturdes politischen Systems –, so kommt als weiteres noch hinzu, daß dieBesetzung der politisch-administrativen Rollen als Inputleistung desPublikums für die Erhaltung des politischen Systems begriffen werden muß.Am Anfang dieses Kapitels haben wir bereits festgehalten, daß dasPublikum seinen Beitrag nicht allein durch Formulierung vonKonsensbedingungen in den Publikumsrollen erbringt, sondern darüberhinaus personelle Kapazitäten bereitstellen muß, damit im politischenSystem überhaupt gehandelt werden kann. Dieses Erfordernis reicht weiter,als man ihm auf den ersten Blick ansieht. Es umschließt nicht nur einenbestimmten Ausbildungsstand sowie die Einrichtungen, die ihn garantieren.Zunächst einmal muß ausreichende Freiheit von vordringlichen oder garzwingend notwendigen Beschäftigungen etwa in der Familie oder für dieBefriedigung elementarer wirtschaftlicher Bedürfnisse sichergestellt sein,damit überhaupt genug Menschen genug Zeit für Politik und Verwaltunghaben. Weiter muß es möglich sein, diese Menschen für scheinbarunproduktive Arbeit freizustellen. Das Publikum muß lernen, daß dieÜbernahme politisch-administrativer Rollen sozial distanziert, daß sie dienormalen Bindungen des Zusammenlebens unterbricht und daß in politischeMacht oder bürokratische Ämter nicht über jeweils partikulare, familiäreoder freundschaftliche Verpflichtungen, über Dankesschuld oder Gleichheitder Gesinnung und des Welterlebens eingegriffen werden kann. Es gehörtalso die Bereitschaft dazu, »seine Söhne herzugeben«.[15] Schließlichmüssen diejenigen Einstellungen, die eine Mobilität der Rollen und

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Karrieren für den einzelnen erträglich machen, gelernt werden undverbreitet sein.[16] Diese Überlegungen leiten zurück zu dem, was wir im 4.und im 7. Kapitel unter dem Gesichtspunkt von gesellschaftsstrukturellenVoraussetzungen der Ausdifferenzierung eines politischen Systems behandelthaben. Und in der Tat ist denn auch die allgemeinste und wesentlichsteVoraussetzung der Rekrutierung politisch-administrativer Sonderrollen ausdem Publikum, daß die Gesellschaft gelernt hat, in einer funktionaldifferenzierten Ordnung zu leben.

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27. Kapitel

Öffentliche Meinung

Das politische System einer stark differenzierten Gesellschaft wird auf derEbene der Rollen und Programme ausdifferenziert und gewinnt dadurchseine besondere Struktur. Dieser Vorgang und seine Folgeprobleme habenwir in den bisherigen Erörterungen in den Vordergrund gerückt. Nicht alleFunktionserfordernisse und Bestandsbedingungen lassen sich jedoch aufdieser Sinnebene fixieren, nicht alle Probleme lassen sich durchRollenbildung und durch Abschwächung der Folgeprobleme einerbestimmten Rollenbildung lösen; schließlich ist die Rollenbildung nur einevon vielen Möglichkeiten, Sinn und Verhaltenserwartungen zu kombinieren.Der Kommunikationsprozeß, durch den soziale Systeme Komplexitätreduzieren, braucht sehr viel mehr Orientierung, als Rollen allein zu gebenvermögen. Das Thema der öffentlichen Meinung, auf das wir jetzt stoßen,und erst recht die Theorie der Macht, zu der wir mit diesem Kapitelüberleiten,[*] lassen sich mit Hilfe des Rollenbegriffs allein nicht meistern.

Der Begriff der öffentlichen Meinung bezeichnet heute keinen eindeutigdefinierbaren, einhellig anerkannten Sachverhalt mehr. Die ältere liberaleKonzeption der politischen Öffentlichkeit als Medium der Aufklärung undder kritischen Kontrolle staatlichen Handelns durch Private findet kaumnoch Anhänger.[1] So viel Aktivität und so viel gemeinsam besesseneVernunft kann im Publikum nicht vorausgesetzt werden, als daß von deröffentlichen Meinung Resultate, also organähnliches Handeln, erwartetwerden könnte. Will man den Gedanken der Öffentlichkeit als einerkritischen Instanz festhalten, muß man sie sich durch Organisation bzw.durch Organisationen strukturiert vorstellen;[2] denn nicht die unstrukturierteÖffentlichkeit, sondern nur Systeme können unter der Bedingung hoherKomplexität sinnvolle Kritik und wirkliche Aufklärung leisten.[3] DieseAuffassung läuft indes Gefahr, das Phänomen der öffentlichen Meinunggegenüber organisierter Informationsverarbeitung nicht mehr abgrenzen zukönnen. Dazu würde man sich erst entschließen dürfen, wenn sichergestellt

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wäre, daß es tatsächlich keine andere Art von Öffentlichkeit und keineandere Funktion der öffentlichen Meinung gibt als die eines kritischenResonanzbodens für politisch-administratives Handeln.

Ebenso problematisch ist die entgegengesetzte Tendenz zu einerAusdehnung des Begriffs auf alle gruppenpsychologisch beeinflußtenAnsichten und Einstellungen oder doch jedenfalls auf die, welche von denPolitikern und den Staatsorganen beachtet werden.[4] Ohne diese letzteEinschränkung verliert der Begriff jede Kontur, da alle Ansichten undEinstellungen sozial mitbestimmt sind; durch die Einschränkung wird aberdie öffentliche Meinung zu einem bloßen Moment politisch-administrativerInformationsverarbeitung, und es bleibt offen, weshalb sie überhauptbeachtet wird.

Angesichts solcher Kontroversen ist kaum zu erwarten, daß eineBeschäftigung mit dem Gegenstand öffentliche Meinung, mit der Geschichtedieses Begriffs oder mit den Methoden und Ergebnissen derMeinungsforschung für sich allein weiterführen und eine brauchbareKonzeption abwerfen wird. Eine Präzisierung ist nur mit Hilfe einesgrundbegrifflichen Bezugsrahmens möglich, der Theorie und Begriffefestlegt, mit denen der Begriff der öffentlichen Meinung definiert und sie inihrer Funktion geklärt werden kann. Zugleich ist es ein Prüfstein fürTheorieversuche allgemeinerer Art, ob sie eine Möglichkeit enthalten, demgerecht zu werden, was man als Sachverhalt hinter dem traditionellenBegriff der öffentlichen Meinung vermuten muß.

Geht man vom Grundgedanken einer funktional-strukturellen Theorie dessozialen und speziell des politischen Systems aus, liegt es nahe, dieöffentliche Meinung nicht als ein Aggregat abfragbarer Eigenschafteneinzelner Personen, also ontisch-qualitativ zu bestimmen, sondern sie vonihrer Funktion für den zwischenmenschlichen Kommunikationsprozeß her zubegreifen. Zwischenmenschliche Kommunikation ist letztlich immereinfaches menschliches Verhalten, nämlich Übermittlung sinnhafter Zeichen,und daher in ihrem Potential für Komplexität begrenzt. Alle ausgeklügeltenTechniken der Vorbereitung, der technischen Erleichterung und derVervielfältigung des Übermittlungsvorganges helfen nicht darüber hinweg,daß in einer begrenzten Zeitspanne stets nur wenige Zeichen ausdrücklichmitgeteilt und zum Gegenstand gemeinsam-bewußten Erlebens gemacht

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werden können. Die Frage ist daher: Wie kommt es zur Selektion dieserwenigen Zeichen aus der Fülle der möglichen Zeichen undZeichenkombinationen, die die Sprache bereithält?

Auf diese Frage braucht und kann es nicht nur eine Antwort geben.Zweifellos spielen Persönlichkeitsstrukturen und innerpsychischeMechanismen ihrer Erhaltung und Verteidigung eine wichtige Rolle, die wirim Rahmen einer soziologischen Untersuchung nicht berücksichtigen können.Ebenso sicher ist, daß die Sozialordnung an der Vorselektion eines engerenSchatzes möglicher Themen beteiligt ist. Es kann nicht alleininnerpsychischen Prozessen und, sozial gesehen, dem Zufall überlassenbleiben, ob mehreren Menschen dieselben Themen in den Sinn kommen. UmKommunikationsbeziehungen eine Zeitlang fortsetzen zu können – und das istVoraussetzung jeder komplexeren Sinnübermittlung –, muß mindestens überdie Wahl und die laufende Variation des Themas eine Verständigung erreichtwerden, und dazu muß auch ein Mindestmaß von Konsens in den Ansichtenherrschen. Dieser Konsens über akzeptierbare Themen und Ansichten kannnicht in der Situation erst geschaffen werden; er muß jedenfalls inrudimentärer Form vorausgesetzt werden können, damit Kommunikationbeginnen kann, und läßt sich dann durch Kommunikation testen, verengenoder erweitern, auf riskante oder intimere Themen ausdehnen in dem Maße,als man sich kennenlernt.[5]

Wie jede soziale Erwartung können auch solche Themen derKommunikation institutionalisiert werden. Über den rein faktischenKonsens hinaus führt die Institutionalisierung dazu, daß der Konsens ohnenähere Prüfung, vor allem ohne Kenntnis der persönlichen Eigenarten desPartners, als normal erwartet werden kann und daß nicht nur dieThemenwahl und Ansicht, sondern auch die Erwartung des Konsenses sozialgedeckt werden. Wer im Rahmen solcher Themen und Ansichten bleibt, kannsicher sein, sich nicht falsch verhalten zu haben, selbst wenn der eine oderandere ihm widerspricht. Wer anderer Meinung ist, hat eine Vermutunggegen sich. Er muß zumindest die Initiative ergreifen, seine Ansichtausdrücklich und in verständlicher Ausführlichkeit darstellen undgegebenenfalls begründen, während es für die institutionalisierten Themenund Ansichten gerade bezeichnend ist, daß sie nicht ausgearbeitet undbegründet zu werden brauchen, sondern vorausgesetzt werden können.[6]

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Damit hängt zusammen, daß das Abweichen persönlich zugerechnet wirdund verantwortet werden muß, also zu einer Selbstdarstellung und einemEngagement zwingt, während, wer mit dem Strom schwimmt, nicht weiterauffällt. Nicht selten verhindert schon diese Verteilung der Initiative,Begründungslast und persönlichen Sichtbarkeit die Mitteilung unerwarteterSinngehalte. Ein solcher Vorstoß setzt jedenfalls einen besonderenMotivdruck voraus. Außerdem ist die Institutionalisierung geeigneterThemen und möglicher Ansichten sehr oft mit einer Normierung verbundenin dem Sinne, daß entsprechende Kommunikationen auch zugemutet werdenund dieses Zumuten auch bei widersprechendem Verhalten fortgesetzt wird.Wer abweicht, sieht sich dann nicht nur durch Lastenverteilungbenachteiligt, sondern hat außerdem Sanktionen zu gewärtigen: Er wirdabgelehnt, lächerlich gemacht, verachtet, nicht mehr angehört.

Solche Themeninstitutionalisierung darf nicht im Sinne der älterenInstitutionenlehre lediglich als äußerer, gesellschaftlicher, bestenfallsinnerlich einverseelter Verhaltenszwang, als »Druck der öffentlichenMeinung« gesehen werden. Das Ausmaß, in dem solcheInstitutionalisierungen mit Sanktionen bewehrt sind und sich als Motivaufdrängen, ist durchaus variabel. Im Grunde ist es gerade für dieöffentliche Meinung im Sinne der liberalen Theorie und auch im Sinne derheutigen freiheitlich-demokratischen Konzeption kennzeichnend, daß siekeineswegs uniforme Meinung zu sein braucht, sondern gerade auch dem,der sich gegen den Strom kristallisieren will, gute Chancen bietet, wenn ernur irgendeinen Halt finden kann.[7] Die Funktion vonThemeninstitutionalisierungen und das Ausmaß, in dem diese Funktionerfüllt wird, können jedenfalls nicht allein und nicht unmittelbar am Gradder Konformität von Themenwahlen und Ansichten abgelesen werden. DieThemeninstitutionalisierung dient der Reduktion von Komplexität. Sieerlaubt es, davon auszugehen, daß die Themenwahl und ihre Prämissendurch Konsens gedeckt sind. Sie ist deshalb nötig, weil jedeKommunikation zur Sicherung ihrer Selektivität konsentierte Prämissenvoraussetzen muß und selbst Abweichungen nur mitgeteilt werden können ineiner intersubjektiv konstituierten Welt von Dingen, Ereignissen, Themen,Symbolen, Werten, die im übrigen unangetastet bleibt. Dabei korreliert derBegriff der Prämisse mit dem der Institutionalisierung: Weil nicht alles

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zugleich Thema werden kann, sondern jede Themenwahl Prämissen hat, dienicht mitthematisiert werden, kann auch nicht aller Konsens, der als Modusvivendi nötig ist, auf einmal problematisiert und durch Kommunikationfestgestellt werden, sondern muß durch Institutionalisierung abgedecktwerden. Weder hindert der Gebrauch als Prämisse die Thematisierung einesGedankens im nächsten Moment, noch verhindert der Charakter einerInstitution, daß die Konsensfrage ausdrücklich gestellt wird. Aber jedesolche Wendung setzt als Medium ihres Vollzugs ihrerseits Prämissen undInstitutionalisierungen voraus, und immer kostet sie Zeit und zwingt alsozum Verzicht auf andere Kommunikationen.

In dieser Funktion, die Ordnungsleistung der Sprache zu verdichten,Konsenschancen zu strukturieren, Komplexität zu reduzieren, sindThemeninstitutionalisierungen ein universelles Phänomen menschlichenZusammenlebens; sie werden notwendig, sobald das Zusammenleben nichtmehr allein durch Natur, sondern darüber hinaus auch durch Sprachebestimmt wird.

Allerdings werden die Institutionen, ja die Sprache selbst,[8] zunächstnaturgleich aufgefaßt, am Seienden als Natur der Sache erlebt und fürwahrheitsfähig gehalten, so daß der Konsens nicht als Konventionproblematisch wird, sondern als richtiges Erleben. Schon im antikenDenken wird indes ein besonderer konsensproblematischer Bereich desbloßen Meinens ausgesondert, in dem durch öffentlichen Dialog diegemeinsamen Prämissen expliziert und Übereinstimmungen erst erarbeitetwerden müssen. Zum Meinen gehört, daß die Möglichkeit andererMeinungen mitbewußt ist, ernst genommen wird, aber doch für sich alleinnicht Grund genug ist, Themen und Ansichten aufzugeben. Eine vernünftigeVerständigung darüber, daß eine bestimmte Meinung besser sei als eineandere, wird für möglich gehalten und Möglichkeit zwar nicht mehr durchdas Sein des gemeinten Gegenstandes, wohl aber durch die Naturbestimmter menschlicher Fähigkeiten begründet. Der Besitz dieserFähigkeiten gilt als Bedingung der Zulassung zur Gesellschaft und zuröffentlichen Diskussion politischer Angelegenheiten.

Natürlich hatte politische Herrschaft sich nie allein oder primär aufDiskussion gründen lassen, weil ja die moralische Bereitschaft, sich derVernunft zu stellen und zu fügen, nicht unterstellt werden konnte. Im Laufe

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der Neuzeit verschärfen und vertiefen sich gesellschaftliche Konflikte,zunächst religiöser, dann wirtschaftlicher und sozialer Art. Damit werdendie Konsenschancen über die theoretischen Spielereien der antiken Skepsishinaus in einer Weise in Frage gestellt, die die Einheit der Gesellschaftbedroht und damit zu einem politischen Problem wird. Um diese Konfliktewenn nicht lösen, so doch in tolerierbaren Grenzen halten zu können, wirddas politische System aus der Gesellschaft ausdifferenziert und in seinerLeistungsfähigkeit zu ungewohnter Komplexität und Autonomie gesteigert.Weil aber das politische System gesellschaftliche Konflikte absorbierensoll, kann es sich um so weniger auf gesellschaftliche Konsenschancenverlassen. Die Moral und die Vernunft der Gesellschaft können nicht mehrratio status sein.

Durch diesen Vorgang der Ausdifferenzierung wird das Problem derLegitimität und der Kontrolle der Herrschaft in neuer Weise akut. Es kannaber nicht durch öffentliche Meinung gelöst werden. Dieser Versuch derliberalen Staats- und Gesellschaftslehre, die öffentliche Meinung in einemneuen Sinne als höchste Macht und als letzte Instanz zu behaupten, durch dieder Staat vernünftig wird, kann in dieser differenzierten Gesellschaft nurnoch Ideologie sein – nämlich eine gedankliche Konstruktion, mit derenHilfe bestimmte Interessen des Bürgertums generalisiert und gegen dieherrschenden Schichten durchgesetzt werden, die dann aber an dem Versuch,sie gegen die unteren Schichten zu verteidigen, zerbricht.

Untersucht man das Scheitern dieser liberalen Theorie genauer, dann zeigtsich, daß sie in allen drei Dimensionen, sachlich, zeitlich und sozial, diegesellschaftlich gegebenen Kommunikationschancen überschätzt (undentsprechend die Notwendigkeit der Institutionalisierung und Organisationunterschätzt) hatte. Der Irrtum beruhte auf einer Fehleinschätzung desProblems der Komplexität. Korrigiert man ihn, erhält man dieAusgangspunkte für eine soziologisch brauchbare Theorie der Funktion undFunktionsweisen öffentlicher Meinung.

Sachlich wurde die öffentliche Meinung überfordert durch die Erwartungvon Entscheidungen oder entscheidungsähnlichen Kommunikationen. Siesollte der Politik Resultate abklärender Kommunikationsprozesseübermitteln, Instruktionen erteilen können; zumindest sollten besondereKommunikationsrollen mit repräsentativer Funktion in der Lage sein, die

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öffentliche Meinung zu bestimmten Fragen als so und nicht andersmitzuteilen, nachdem sich deren Träger, die Abgeordneten, die Zeitungenusw., entsprechend unterrichtet hatten. Dabei wurden die Grenzenthematischer Fixierbarkeit von Konsens verkannt.[9] Eine Sozialordnungbenötigt stets mehr Konsens, als sie auf Themen bringen und inverantwortlichen Äußerungen, die den einzelnen binden, manifest machenkann. Konsens hat eine operative Funktion bereits als thematisch nicht genaufixierter Horizont kommunikativen Verhaltens, als Annahme einesVorverständigtseins über die meisten Themen, und steuert dadurch dieAuswahl geeigneter, naheliegender Kommunikationsinhalte, ohne daß dieBeteiligten das Risiko einer ernsthaften Prüfung ihrer Übereinstimmung unddas Risiko persönlich bindender Positionsnahme eingehen.

Je stärker die Sozialordnung sich differenziert, um so notwendiger wirdes, die Konsensfrage in allen grundsätzlicheren Themen und besonders inden Wertprämissen und persönlichen Präferenzen in der Schwebe zu lassenund mit flüchtigen, pragmatischen Übereinstimmungen auszukommen. Einoperativer Konsens genügt, wird in einigen Themen bestimmt und imübrigen als fiktive Handlungsgrundlage benutzt, bezüglich deren man sichstillschweigend einig ist, daß sie besser nicht auf die Probe gestellt wird.Öffentliche Meinung besteht mithin zu einem wesentlichen Teil aus nurimplikativ benutzten Sinngehalten, aus Kommunikationshorizonten, die nichtThema einer Kommunikation oder gar formuliertes Entscheidungsprogrammwerden können, ohne daß die Alternative von Konsens oder Dissens mitunnötiger und vielleicht verhängnisvoller Schärfe gestellt und entschiedenwerden muß. Demgemäß bleibt die öffentliche Meinung anonym; sie wirdnicht persönlich individualisiert, geschweige denn auf bestimmte elementareKontakte von Angesicht zu Angesicht festgelegt. Und zwar ist solcheIndividualisierung weder beabsichtigt, noch kann sie verlangt werden. DieInstitutionalisierung dieser personellen und situationsmäßigenUnbestimmtheit gehört zur Institutionalisierung der öffentlichen Meinung mitdazu: Das Belassen in der Anonymität ist legitim.

Den gemeinsamen Horizont des Erlebens, Husserls »Lebenswelt«,thematisch auszudiskutieren und festzulegen wäre denn auch einaussichtsloses Unterfangen; er erfordert einen eigenen Stil konsensuellerBestätigung, etwa durch Dahingestelltseinlassen, durch den freundlichen Ton

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oder durch die taktvolle Achtung der Sphäre des anderen. Vor diesemHorizont werden dann mögliche Gegenstände für thematischen Konsensoder Dissens identifiziert und in Bewegung gesetzt. Der Wechsel vonThemen und Meinungen der öffentlichen Meinung wird als ein geordneterWechsel möglich vor einem Hintergrund, der auf andere Weise konstituiertist, und er kann zur wechselnden Befriedigung aller in Bewegung gehaltenwerden, wenn jeder darauf verzichtet, dem anderen mit hausgemachtenWahrheiten zu Leibe zu rücken.

Hieraus ergibt sich schon, daß auch das zeitliche Festhalten vonMeinungen der öffentlichen Meinung ein Problem sein muß. Die liberaleTheorie hatte der öffentlichen Meinung gute Gründe zugetraut, hatte ihrunbeständiges Fluktuieren zwar erkannt und dem fortschrittlichen Entdeckenimmer neuer Gesichtspunkte zugeschrieben, hatte aber im Grunde dasProblem nicht lösen können, wie aus diesem schillernden Prozeß desunaufhörlichen Wandels feste Form zu gewinnen sei. Erst recht fehlt einVerständnis der Funktion gerade dieses Fluktuierens. Alles Invariantsetzenvon Sinn als Wahrheit, als begründete Meinung, als Norm oder Wert, an demman festhalten soll, ist eine intentionale Leistung, die Aufmerksamkeit undMotivation erfordert und entsprechende Kräfte festlegt in einer Weise, die ineiner veränderlichen, mobilen Umwelt sehr rasch inopportun werden kann.Soll die öffentliche Meinung in einer differenzierten, hochgradigkontaktbeweglichen Gesellschaft ihre Funktion der Vorselektion möglicherThemen erfüllen, darf sie nicht zu festliegenden Wahrheiten oder Wertengerinnen. Solche Gesichtspunkte voraussetzend, muß sie ihre Themenvariieren können.

Veränderlichkeit bedeutet keineswegs Chaos oder Desorientierung. DieAlternative Bestand oder Wandel stellt sich nie in absoluter Form. Dieöffentliche Meinung mobiler Gesellschaften findet Zwischenlösungen, vorallem dadurch, daß sie politischen Themen eine begrenzte Lebenserwartungverleiht.[10] Einigung Europas, Neugründung von Satellitenstaaten oder vonUniversitäten, Naturparks, Wiedervereinigung Deutschlands, Entgiftung derAbgase, Reform des Finanzausgleichs, Sicherheit im Automobil,Bildungsplanung, Mitbestimmung, Polio-Schutzimpfung – das sind Themen,die eine mehr oder weniger lange, typische Lebensgeschichte haben. Siemüssen erfunden werden, vegetieren oft lange dahin, bis sie die Kraft für

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eine politische Karriere gesammelt haben und der rechte Moment dafürgekommen ist. In diesem Stadium können sie von den Machthabern nochkontrolliert, abgewiesen oder umdirigiert werden. Dann erreichen sie raschden Kulminationspunkt höchster Überzeugungskraft, in dem sie mancheWiderstände überrennen, gegen Bedenken immun sind und inVerwaltungsprogrammen untergebracht werden müssen. Ihre Gegner müssensich jetzt mit einer Verzögerungstaktik begnügen; denn als Thema ist dasThema nicht mehr zu unterdrücken. Einige Zeit danach werden die erstenErmüdungserscheinungen sichtbar. Man kann und man muß sich distanzierterzum Thema äußern und seine Probleme in die Darstellung mit einbeziehen.Bald darauf verlieren sie ihre werbende Kraft und versteinern zu Symbolen,denen in Reden der schuldige Respekt erwiesen wird, oder sie welkendahin und verschwinden aus der Diskussion. Abgestorbene Themen sindtoter als ungeborene, weil ihre Geschichte ihre Erneuerung blockiert. Habensie ihr Problem nicht gelöst, muß es als neues Thema wiedergeborenwerden.

Eine begrenzte Zahl solcher Themen, in mehr oder weniger langen Wellensich überlagernd, strukturiert die jeweilige politische Diskussion. SinnvolleKommunikationschancen ergeben sich aus dem jeweiligenEntwicklungsstand eines Themas. Neuerungen, besonders symbolprägende,verbale Neuerungen, werden hoch prämiert. Wem sie gelingen, der kanneine Weile auf seinem Thema reitend Karriere machen. Andererseits ist seinRisiko beträchtlich, besonders wenn er sein Thema zu früh entdeckt – zufrüh für eine Karriere des Themas oder zu früh für eine eigene Karriere.Eine andere Sache ist es, geborene Themen zu erkennen und sich alsFörderer dessen hervorzutun, was von selbst läuft. Nicht selten winden dieFörderer den Entdeckern das Thema aus der Hand. Wiederum andereKommunikationen dienen dazu, einem »sicheren« Thema die Sanktion hoherZustimmung und Bestätigung und damit Breitenwirkung zu geben – was mehroder weniger rechtzeitig und damit mehr oder weniger verdienstvollerfolgen kann. »Auch General Müller für die Freigabe der Pille«, wird danngemeldet. Hat sich das Thema mit Hilfe solcher Autorisierungendurchgesetzt, kann es auch von denen, die jedes Risiko scheuen, gefahrloszitiert und dazu benutzt werden, zeremonielle Anlässe auszustaffieren oderGesprächspausen zu füllen. Dabei kann es passieren, daß ein Redner den

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Absprung nicht rechtzeitig findet und über schon tote Themen weiterredet,sich selbst damit als einen von gestern darstellend, der sich nicht auf demlaufenden hält. Wer mit dem Thema identifiziert war, muß jetzt selbstScheinlösungen akzeptieren, wer das Problem selbst lösen will, muß nacheinem neuen Thema Ausschau halten, das er seinem Problem vorspannenkann.

Da in jedem Zeitpunkt eine Vielzahl von Themen am Leben und inverschiedenen Phasen ihrer Karriere angelangt ist, gibt es für alle Arten vonpolitischer Begabung im Publikum und in der hauptberuflichen Politik, fürEntdecker, Förderer, Autorisierer und Nachbeter, ständig Beschäftigung. Siekönnen je nach Begabung, persönlicher Präferenz und je nachdem, was siezu gewinnen oder zu verlieren haben, verschiedene Rollen wählen. Imübrigen lassen sich durch genaue Beobachtung der Themageschichte, undnur so, auch die Stellen entdecken, wo man es wagen kann, gegen den Stromzu schwimmen und damit aufzufallen oder vielleicht gar in den entstehendenStrudeln ein neues Thema zu starten. Bei alldem muß auf sinnvolleRollenkombinationen und vor allem auf Statusangemessenheit geachtetwerden: Junge Nachbeter qualifizieren sich nicht für große Karrieren;Staatspräsidenten sollten nicht ins Gelände gehen, um neue Themen zuentdecken. Gemeinsames Gebot für alle Politiker ist außerdem, sichhinsichtlich der Themen, über die sie reden, auf dem laufenden zu halten,damit sie nicht als Entdecker eines Themas auftreten, das seinen Zenit schonüberschritten hat, oder ein Thema als bekannt oder gesichert voraussetzen,das noch gar nicht eingeführt ist; insofern unterliegen sie alle deröffentlichen Meinung. Gemeinsames Schicksal aller Politiker ist ferner, daßsie sich nicht mit einzelnen Themen exklusiv identifizieren können, ohne daßdas Schicksal des Themas ihr eigenes wird; und daß sie in dem Maße, alssie sich auf phasenspezifische Rollen des Entdeckers, Förderers usw.spezialisieren, ihre Themen um so rascher wechseln müssen.

Mit einer solchen Mobilisierung der öffentlichen Meinung werden, wieschon gesagt, keineswegs chaotische Verhältnisse geschaffen, aber diesachliche Komplexität der Themen wird durch die zeitliche Komplexität derThemenlagen gleichsam vervielfältigt. Nicht nur den Sinn, sondern auchGeschichte und aktuellen Stand eines Themas muß man kennen, um agierenzu können. Entsprechend steigen die Anforderungen an Orientierung. Man

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kann nicht mehr auf der Grundlage richtig gebildeter Meinungen, sondernnur noch aufgrund laufender Informierung adäquat handeln. Nicht nurumfassende, auch laufende Informierung kann in gemeingesellschaftlichenRollen, etwa einer solchen des »Staatsbürgers«, nicht mehr erreicht werden,und daher gibt es, von wenigen allgemein verbreiteten und relativ zeitfestenÜberzeugungen abgesehen, keine gesamtgesellschaftlich, für alle Rollen deseinzelnen relevante öffentliche Meinung mehr, die das politische Systemkritisch reflektieren könnte. Insofern ist auch in sozialer Hinsicht, imHinblick auf den Träger der öffentlichen Meinung, eine Korrektur derliberalen Theorie notwendig. Die öffentliche Meinung wird von derTendenz zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft erfaßt und inihrem politischen Sektor mit dem politischen System ausdifferenziert. Dasheißt nicht, daß jetzt nur noch hauptberufliche Politiker die öffentlicheMeinung erleben können, nicht einmal, daß sie allein sie machen. Zumpolitischen System gehören auch die Publikumsrollen, und immer wiederkommt es vor, daß Privatpersonen Liebhaberthemen kreieren und in diePolitik hineintragen können – die »Bildungsplanung« verdankt HelmuthBecker, die »Naturparke« verdanken dem Hamburger Kaufmann Töpferentscheidende Impulse und politische Resonanz. Und erst recht gelingt esmanchen Interessenverbänden, Themen so aufzublasen, daß sie politischnicht mehr ignoriert werden können. Doch immer vollziehen sich solcheThemenschöpfung und Themenentwicklung im Bereich spezifisch politischerKommunikation – und nicht etwa an der Börse, im Hörsaal oder in derKirche. Themenwahl und Themenbehandlung setzen, mit anderen Worten,den engeren Horizont des politischen Systems voraus, sofern die Themenpolitischen Charakter annehmen sollen. Letztlich geht es dabei um diePolitisierung von Problemen, und die dazu nötigen Kenntnisse undGeschicklichkeiten können in der nötigen Verdichtung nur im Kontextspezifisch politischer Kommunikation erworben werden.

Demnach können wir eine Reihe von Merkmalen politischer öffentlicherMeinung festhalten, die in der liberalen Staats- und Gesellschaftslehreunbeachtet geblieben waren, nämlich: sachliche Trennung von Horizont undThemen mit je verschiedener Konsensproblematik, Mobilisierung derThemen und Spezifizierung der Themen nach Maßgabe der Erfordernisseund Bedingungen des rollenmäßig ausdifferenzierten politischen

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Kommunikationssystems. Auf diese Weise kann, wie es scheint, dasPotential der öffentlichen Meinung für Komplexität gesteigert und demangepaßt werden, was in einer funktional differenzierten Gesellschafterforderlich ist. Die Themeninstitutionalisierung wird leistungsfähiger.Trotz Vervielfältigung der Möglichkeiten, politische Probleme zu bilden,kann sie Kommunikationschancen noch strukturieren und zu erwartbarenkonsensfähigen Verhaltensmustern verdichten, wenn die öffentliche Meinungentsprechend umstrukturiert wird – wenn sie von allgemeingültigen Gründenund Wahrheiten auf Probleme und Interessen umgestellt, auf mobile Themenbezogen und aufs politische System spezialisiert wird.

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Anhang

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Editorische Notiz

Als Niklas Luhmann noch in Bielefeld lehrte, konnte man sich jederzeit anseine Sekretärin wenden, um sich den hier vorgelegten Text auszuleihen.Den soziologisch belastbaren Studenten, von denen Luhmann damalsumgeben war, und so auch dem Herausgeber dieses Bandes, mußte mandergleichen nicht zweimal sagen. Das Buch, das hier zum ersten Malveröffentlicht wird, hatte also auch zuvor schon einige Leser gefunden.Ihnen wird die hier vorgelegte Publikation wenig Neues sagen – mit einerdann allerdings sehr informativen Ausnahme, auf die ich weiter unten nochzu sprechen komme.Aber auch dem soziologischen Fachpublikum sowie Teilen der breiterenÖffentlichkeit werden einige Thesen dieses Buches bereits bekannt sein, undgerade die tragenden unter ihnen findet man ja in anderen Publikationen desAutors schon formuliert. Seit seinen soziologischen Anfängen in densechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in denen auch dieser Textentstanden ist, hat Luhmann sich mit Fragen der politischen Soziologieimmer wieder befaßt.[1] Aber während sich die Begriffe und Argumente inden Jahrzehnten danach mehrfach verschoben haben, hat er an seinen beidenZentralthesen über die Struktur der modernen Politik, dieinnergesellschaftliche Ausdifferenzierung ihres Systems und dessen interneDifferenzierung nach Politik und Verwaltung betreffend, unbeirrtfestgehalten. Die späteren Umbauten der soziologischen Systemtheoriehaben insofern nur den unmittelbaren Kontext geändert, in dem Luhmannspolitische Soziologie steht, nicht aber ihre Hauptaussagen, nicht den Textselbst.Bei soviel Treue des Theoretikers zu sich selbst stellt sich die Frage,welche Leser man diesem Buch wünschen soll?Verglichen mit dem bereits edierten Nachlaßband Die Politik derGesellschaft (Frankfurt/M. 2000), der das Urteil des späten Luhmannkodifiziert, repräsentiert der hier vorgelegte Text nicht nur den frühestenVersuch einer systematischen Behandlung des Themas, sondern auch densachthematisch reichhaltigsten. Er hat so viel Neues zu bieten – über denMauerbau zum Beispiel oder über die strukturelle Entfremdung zwischen

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der Verwaltung und ihrem Publikum, die sich nicht einfach in »Bürgernähe«auflösen läßt, über das zweifelhafte Vergnügen der Spitzenpolitiker, nichtnur als Rollenträger, sondern als komplette Person überzeugen zu müssen,über den Marxismus als Ideologie der ehemals sozialistisch regiertenLänder und über die bürokratische Einheitspartei, die ihn interpretiert –,daß das Buch auch die Luhmann-Kenner unter den Lesern nicht langweilenwird.Den Nichtkennern aber kommt es weiter entgegen als jeder andere Text, zudem man raten könnte, wenn es um einen Zugang zur politischen Soziologiegeht. Von den großen Monographien Luhmanns läßt sich das Buch amehesten mit der Rechtssoziologie (Reinbek 1972) vergleichen, die wenigeJahre später entstand. In beiden Fällen hat man es mit einer Schrift zu tun,die zweierlei zugleich sein will: Lehrbuch einer Spezialsoziologie undAufbau zu einer systematischen Theorie ihrer Gegenstände; und hier wiedort ist diese doppelte Absicht der Lesbarkeit und Transparenz des Ganzensehr gut bekommen. Wer Luhmanns Theorie des politischen Systems dermodernen Gesellschaft für unzugänglich hält, der sollte sein Urteil andiesem Band überprüfen.In Gesprächen mit Luhmann war zu erfahren, daß der Text gegen Mitte dersechziger Jahre geschrieben, aber seinerzeit nicht veröffentlicht wurde.Nach den Gründen dafür habe ich damals nicht gefragt, aber einer von ihnenkönnte sein, daß ein Kapitel zur soziologischen Theorie der Macht, mit demdas Buch offenbar enden sollte, nicht nur unpubliziert, sondern anscheinendauch ungeschrieben blieb. Eine erste Sichtung des Nachlasses hat zwareinen zuvor unbekannten Teil des Manuskripts zutage gefördert, der dieDifferenzierung der politischen Publikumsrollen behandelt, aber von der imText selbst angekündigten Machttheorie fehlt nach wie vor jede Spur. Vonder Werkgeschichte her darf man vermuten, daß die allgemeine Theorie derKommunikationsmedien,[2] die in späteren Publikationen Luhmanns denbegrifflichen Kontext für seine Machttheorie bildet,[3] ihm damals einerseitsnoch nicht zur Verfügung stand, andererseits aber bereits vermißt wurde.Wenn dem Leser nun ein soziologisches Buch über Politik zugemutet wird,in dem von politischer Macht nicht die Rede ist, auch nicht von ihrensymbiotischen Grundlagen in physischer Gewalt, dann liegt das also nichtan einer Machtfremdheit der Systemtheorie, wie man sie Parsons einst

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nachsagte, sondern an den bekannten Schwierigkeiten des Autors, diePublikationspläne mit dem raschen Entwicklungstempo seiner eigenenTheorie zu koordinieren.Nicht der Machtbegriff, sondern der Rollenbegriff trägt die hier vorgelegteKonzeption – und zwar so weit, daß es sogar die noch verbliebenenAnhänger dieses Begriffs wundern wird. Das gilt insbesondere fürLuhmanns Thesen über jene Differenzierung der politischenPublikumsrollen, die ihm den klassischen Einheitsbegriff des Volkswillensersetzt, den eine empirische Wissenschaft mangels empirischer Referenznicht verwenden kann, und zwar auch nicht, wie Luhmann festhält, in dergegenüber den Idealvorstellungen schon deutlich reduzierten Version einesMehrheitswillens.Nach der ursprünglichen Konzeption sollte diese Soziologie des politischenPublikums den dritten Teil des Buches bilden, also noch vor den Teilen überVerwaltung und über Parteipolitik stehen. Später hat Luhmann entschieden,sie diesen beiden Teilen nachzuordnen. Das ist aus zwei Gründen sinnvoll:zum einen, weil die innere Differenzierung der Publikumsrollen derjenigennach Parteipolitik und Verwaltung entspricht, also ohne diese kaum zuverstehen wäre; zum anderen, weil die drei Teilsysteme des politischenSystems nun in der Stufenfolge ihrer Ausdifferenzierung behandelt werden.Zuerst kommt die am stärksten ausdifferenzierte Verwaltung, die keinelegitimen Rücksichten auf eigene andere Rollen des Beamten kennt, dannfolgen die öffentlich sichtbaren Politiker, die als individuelle Personenunter öffentlicher Beobachtung stehen und daher gegebenenfalls auchunpolitisches Handeln, wenn es nämlich vertrauenskritische Implikationenhat, politisch rechtfertigen müssen; und am Schluß stehen die am wenigstenausdifferenzierten Publikumsrollen des Wählers, des Antragstellers, despolitischen Interessenten, der Einfluß auf die Gesetzgebung sucht – Rollen,in denen die Wahrnehmung eigener Interessen so legitim ist, daß man diegleichwohl vorhandenen Vorkehrungen gegen eine Auflösung ins allzuPrivate und Partikulare, die auch in diese Rollen eingebaut sind, nur mittelssoziologischer Analysen aufzeigen kann.Die Anpassung der Selbstzitate des Buchmanuskripts an die geändertePosition jenes Kapitels hatte Luhmann freilich nur teilweise vollzogen; hiermußte der Herausgeber behutsam eingreifen. Weitere Interventionen in den

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Text waren, von den orthographischen hier einmal abgesehen, nichtvonnöten. Zusätzlich zum Text enthält diese Ausgabe ein Sachregister, dasvon mir stammt, sowie die Notizenfolge zu einer Vorlesung über politischeSoziologie, die dem Manuskript beilag. Offenbar als Gedächtnisstütze fürden Vortrag gedacht, mag sie in gleicher Funktion auch den Lesern einesBuches dienen, an dem sie sich mit wenigen Ausnahmen orientiert.Zu danken habe ich gleichermaßen Veronika Luhmann-Schröder, bei der dieRechte an dem Text liegen, und Eva Gilmer, die das Projekt für den Verlagbetreut hat.

Bielefeld, im März 2010André Kieserling

323

a)

b)

c)

Notizen zur Vorlesung Politische Soziologie

VorbemerkungenStoffülle macht ein selektives Prinzip notwendig. Charakter und Absicht derVorlesung. Gewinn- und Verlustrechnung. Schwerpunkt liegt nicht

in einer Interpretation der besonderen Institutionen und politischenProzesse der Bundesrepublik, also nicht in einer regionalenSelektion des Stoffes. Diese Auswahl wäre im Fache Sozialkunde zutreffen.

Nicht in einer dogmengeschichtlichen Aufarbeitung destraditionellen Gedankengutes der politischen Theorie.Primärorientierung in dieser Richtung bei Autoren wie Hans Maier,Wilhelm Hennis, C. J. Friedrich, Gottfried Salomon-Delatour(Moderne Staatslehren 1965)

Nicht in einem Referat der heutigen Schwerpunkte der Forschung.Dafür etwa Max Gustav Lange, Politische Soziologie 1961. Diesdeshalb nicht, weil die heutige Schwerpunktbildung relativzufälligen Charakter hat

Statt dessen: Versuch der Darstellung einer Theorie des politischen Systemsunter evolutionären, funktionalen und strukturellen Gesichtspunkten.

Nutzen: Eine gewisse Konsistenz des theoretischen Ansatzes und derArgumentationsweise. Vermittlung eines Zugangs zu den Besonderheiten derBundesrepublik oder anderer pol. Systeme, zur Tradition und zu dengegenwärtigen Forschungsschwerpunkten. Kein Ersatz für Lektüre aufdiesen Gebieten, vielmehr Anleitung zu sinnvoller Auswahl undVerarbeitung von Lesestoff. Bewußter und sichtbarer Zusammenhang spez.mit allg. SoziologieNachteil: hoher Abstraktionsgrad. Gleichwohl auch für Anfänger geeignet.Fragemöglichkeiten in der Pausenächstes Semester Übung.

324

1)2)

3)

4)

3. Kap. Soziale Komplexität.

Zuvor: 1) soziol. Perspektive und 2) SystemtheorieDefinition: Mehrheit freier Subjekte (Ich) mit je anderen WeltperspektivenFragestellung in dieser Radikalität erst im 20. Jahrh. Damit sind dieDenkvoraussetzungen der klassischen pol. Theorie gesprengt.Klass. Theorie identifiziert Pol. und Ges. Grund dafür ein engerer Begriffder sozialen Komplexität.animal rationale, zweckmäßig handelnd. Zweifache Abhängigkeit in derBedürfnisbefriedigung: Angewiesenheit und Bedrohung indigentia/metus;pax et iustitia tranquillitas. Politik ist die Lösung dieses Problems. Bereitsbeachtliche Komplexität und Unsicherheit erfaßtGrundlage: Handlungstheorie, nicht Systemtheorie. Keine Radikalisierungzur sozialen Kontingenz der Welt, die Wahrheit und Sinn überhaupt in Fragestellt. Beides im 20. Jahrh.Diese gedankl. Entwicklung sprengt die Gleichsetzung von Ges. und Pol.;Pol. System kann jetzt nur als Teilsystem der G. begriffen werden und mußals solches zum Problem der Komplexität in Verbindung gesetzt werden.Aber dieses Bezugsproblem scheint verlorengegangen zu sein.

4. Kap. Funktion und Stellung des pol. Systems.

Wesen des Politischen umstrittenMacht – aber es fehlt eine Theorie der MachtWiederbelebung von Zweckformeln: Gerechtigkeit FriedenGemeinwohlFreund/Feindschema. Braucht die Politik so starkeVereinfachungen?Risiko des Handelns im Unvorhersehbaren, Irrationalität

Als Wesensaussagen problematisch. Stets aber ist die Funktion derReduktion von Komplexität im Spiel. Darauf abstellen und zugleichAnschluß an die Tradition wiedergewinnen. Damit auch die ewigeKonkurrenz der Theorien aufgehoben, die im Grunde nur Alternativen derReduktion von Komplexität aufweisen.

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Engere Definition: Lösung offener Probleme durch bindendeEntscheidungen.

Erläuterungen:

Reduktion nicht wie ein Organismus für sich selbst, sondern für eineUmwelt. (Ablehnung der Organismus-Analogien)bindend heißt: faktisch als verbindlich akzeptiert aus welchenGründen immer. Keine spezifischen Legitimitätsprämissen in dieTheorie einbauenProblemlösung: welche Probleme politisiert werden, bleibtebenfalls offen. Beispiel: Depolitisierung der konfessionellenProbleme

Daß diese Funktion durch ein Teilsystem der Ges. erfüllt wird, zwingt uns,mit zwei Systemreferenzen zu rechnen: Ges. will ihre offenen Problemegelöst haben als Bedingung ihres Fortbestehens. Das Pol. System will seinebindenden Entscheidungen anbringen und unterstützt sehen als Bedingungseines Fortbestehens. Beides ist nicht dasselbe. Problem strukturellerKongruenz bzw. Diskongruenz in allen differenzierten Ordnungen

5. Kapitel Politik in Ges. und anderen Sozialsystemen

h. M. identifiziert Politik und Staat. Fordert mindestens mittelbarenStaatsbezug. Strukturelle Def. immer problematisch, weil sie StrukturenzementiertSoziologie kann unterscheiden zwischen Ges. und anderen Sozials. Soz.nicht Ges.wissenschaft, sondern Theorie des Sozialsystems. AlleSozialsysteme müssen Komplexität reduzieren, bei einiger Komplexität desSystems immer auch: durch Entscheidungen. Originäre Politik in fast allenSystemen. Vereinspolitik. Kirchenpolitik: Minderheiten als Mehrheiten,Protokolle überarbeiten. Besonders in WirtschaftsunternehmenEntscheidungspolitik größten Stils. So gesehen Zusammenfassung mitStaatspolitik qua Politik nicht ganz abwegig.Trotzdem Beschränkung der Vorlesung auf pol. S. der Ges., weil hier amdeutlichsten als System konsolidiert, also am sichtbarsten. In

326

a)

b)

1)2)3)

Wirtschaftsunternehmen verquickt mit Eigentumsinteressen usw. AlsoGesellschaft als Paradefall. Kein Ausschließlichkeitsanspruch

II. TeilDas politische System der Ges.

6. Kap. Vertikale Ausdifferenzierung des pol. Systems: Herrschaft

Zur EvolutionstheorieAusgangspunkt: Familien und Stämme. Gesellschaft wird auf der Ebene desVerwandtschaftssystems konstituiertLogik und Entwicklungsgesetzlichkeit reiner Verwandtschaftssysteme genügtden Daseinsanforderungen nicht – weder bei kleinen Horden noch beigroßen Stämmen.Entscheidungsbedarf in Stämmen ohne fest institutionalisierte pol.Herrschaft nur zu decken auf Grund andersartig entstandenerRangunterschiede. Keine Spezifikation des Politischen möglich.Pol. Herrschaft entsteht aus verschiedenen Ursachen zunächst noch durchVerwandtschaft legitimiert. Primat einer FamilieDorf als apoikia oikias Pol 1252bSchließlich Barriere weiterer Entwicklung.Anlässe können verschieden sein: Wanderungen, Kriege, Bau vonBewässerungssystemen.Abstraktere Stabilisierung der Herrschaft als politisch, auf religiöser undwirtschaftlicher Grundlage

religiöse Legitimation unentbehrlich. Religion als fortschrittlichesElement. Verantwortung nach unten unvorstellbar!wirtschaftlich: Haus des Fürsten mit umfassenderVerteilungsfunktion, soweit die Einheiten nicht autark sind. KeinMarkt

gedanklicher Träger dieser Leistung: das Hierarchiemodell Bildzwangoben/unten vereint

eine Rollenunterscheidungein PrestigegefälleAufgabenteilung

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4)5)6)

7)

1)

2)

1)

Weisungsbefugnis (also Asymmetrie)Situationsunabhängige Dauerzahlreiche Unterstützungen durch Statussymbolik, besondereHofsprache (Java)unterschiedliche Freiheiten im Verhältnis zu Religion und Recht.

Zusammenhang hätte primitiveren Stämmen nicht eingeleuchtet. Jetztzwingend institutionalisiert.definitiver Entwicklungsfortschritt.Gesellschaften mit dieser Struktur sind überlegen. Struktur bleibt auch beikriegerischen Überlagerungen erhaltensystemtheoretische Analyse dieses Erfolges:

Mehrstufigkeit der Reduktion: Spezielle Rollen werden generelleingerichtet und unterstützt, vorweg und ohne Rücksicht aufEinzelentscheidungen. Zeitgewinn im Entscheidungsprozeßermöglicht eine zeitlich variable Umwelt. Doppelstufigkeitermöglicht Entscheidungen, die in einem Akte niemals hättenmotiviert werden können. Vorteile der UmwegigkeitUnbestimmtheit der Struktur: daß, nicht was, entschieden wird:Zentrale für Unvorhersehbares. Sachlich komplexer Exkurs:Soziologische Parameter bei der Bonner Koalitionsbildung keinZweifel: ein Entscheidungsvorgang, der nicht determiniert war,anders hätte ausfallen können, also politisch zugerechnet undsanktioniert werden muß.

Dennoch: Frage nach soziologischen Variablen sinnvoll

hohe Publizität der internen Vorgänge erfreulich. Die Schau istmißlungen, die Widersprüche sichtbar. Man sollte aus dem Haderund den Rivalitäten keinen Vorwurf machen, sondern eine»gesellschaftsfähige« Form dafür suchen. Frage, ob das Publikumdurch eine neue Art Komplexität überfordert wird und sich denParteien zuwendet, die eine Identität, welche auch immer,darstellen können.

328

2)

3)

Trotz aller Publizität für soziologische Analyse unzureichendeempirische Information. Beschränkung auf sehr allg. Bemerkungen

zentrale Variable: unbestimmte Komplexität der politischenSituation, konkret: die Unvorhersehbarkeit der Reaktion desWählers, unvermeidlich. Medium der Politik. Man kann dasentweder als Freiheit der Definition von Erfolgschancenverstehen oder als Bedarf für Voraussicht, Berechnung,Sicherheit, Planung. Letzteres hat vorgeherrscht. Führt zu einerAufblähung der Symptome

1) Landtagswahlen 2) Springer-Presse 3) vermuteterMaterialismus als allg. und drastischer Nenner

Das führt zu einer Überbewertung, zu einem potenzierten Effekt,der von dem, der diese Symptome kontrolliert, mit einkalkuliertwird, neue, schnellere Einflußwege kommen einem Bedürfnis derPolitik entgegen

Damit zusammenhängend: geringe Lernfähigkeit der Politik: keinewiederholbaren Situationen, kein eindeutiges Feedback.Außerdem wirkt in gleicher Richtung die Bindung des politischenDarstellens (vielleicht nicht des Wollens) an die Ideologie desganzen Staates. Obwohl sie Parteien sind, müssen die pol.Gruppen ihre Aspiration auf das Ganze richten. Obwohl sielegitime Macht erst aufbauen, also leisten sollen, müssen sie sotun, als ob sie schon legitim sind. So kommt es zu demfragwürdigen Programm der Integration der Partei in den Staat.Dahinter steckt ein unzulängliches Verständnis des Eigenrechtsder politischen Prozesse, des Parteihaften, Oppositionellen, des»Noch Nicht« als Funktion, des noch nicht Legitimen, noch nichtEntscheidungsberechtigten. Das ist noch nicht institutionalisiert.Es fehlt sowohl das öffentliche Verständnis als auch dasgesellschaftliche Prestige dafür.In dieser Situation ist es, soziologisch gesehen, das Normale, daßdie SPD als Oppositionspartei versagt hat, und es ist verständlich,

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4)

5)

daß sie dieses Versagen in der Opposition durch Mitregierenkompensieren will. Es wäre eine außergewöhnliche Leistunggewesen, wenn sie den gesellschaftlichen Platz und dasgesellschaftliche Prestige, sich selbst durch die Art, wie sie ihreRolle konzipierte, erst geschaffen hätte. Man fühlt sich erinnert andie langjährige Opposition der Tories unter Bolingbroke im 18.Jahrhundert.

Bürokratisierung der Parteien als Medien für persönlichenAufstieg und Erfolg. Aufstieg kein biologischer Vorgang, sondernKampf, der so strukturiert ist, daß in ihm sich bestimmtepolitische Fähigkeiten bewähren. Dabei werden Ressourcengeschaffen, die politisch benötigt werden, – eine im ganzen alsosinnvolle Einrichtung.Zugleich scheint sie jedoch ein langfristiges politisches Taktierenzu erschweren. Wo der Zugang zur Macht möglich ist, kann denMitgliedern, die Erfolg hatten, das Abwarten nicht mehrzugemutet werden (die anderen müssen beschwichtigt werden).

Proporzsystem Ungewiß ob. Was würde es bedeutenÜberflutung der Grenze zwischen Legislative und Exekutive. Mitden und durch die Parlamentssitze werden in entsprechender ZahlVerwaltungsposten gewonnen. Der politische Kampf wirdletztlich um diese geführt. Er gipfelt in Positionen mitandersartigen Entscheidungsverfahren. Kein Mehrheitsprinzip.Notwendigkeit der Rücksicht auf wechselnde Abhängigkeiten.Kompromißbereitschaft.

7. Kapitel: Horizontale Ausdifferenzierung des politischen Systems:Funktionale Spezifizierung

Frühformen der Herrschaft, noch keine Spezifikation politischer Funktion,vertikale und horizontale Ausdiff. hätten niemals zugleich erreicht werdenkönnen.Notwendigkeit der Stabilisierung durch Statuskongruenz

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a)b)c)

a)b)c)d)

Der Familie müssen erhebliche politische Funktionen verbleiben. Paterfamilias. Herrschaft zu wenig leistungsfähig. Dörfer autark. Deshalb auchkeine politische Rolle des Publikums.Weitere Leistungssteigerung nur durch Entlastung, weitereAusdifferenzierung und funktionale Spezifikation von Entscheidungsrollen.Bildung eines politischen Systems hauptberuflicher Arbeit. Trennung vonanderen Rollen. Verlust der sozialen Kontrolle, die in der notwendigenRücksicht auf eigene andere Rollen lag. Implizite muß durch explizite,interne durch externe Kontrolle ersetzt werden.Problem der Stabilität frühbürokratischer Reiche mit relativ autonomerPolitik, aber noch traditionaler Rechtfertigung. (Eisenstadt)Frage nach den gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen solcherStabilisierung: Die anderen Teilbereiche der Gesellschaft müssen denErfordernissen funktionaler Differenzierung angepaßt werden

1) Leistungssteigerungen in anderen Bereichen, so daß Überschüsse dasind, über die ohne strukturelle Komplikationen verfügt werden kann.

Wirtschaft – Liquidität, abschöpfbares KapitalFamilie – diffuse Zuneigung verträglich mit fluktuierender UmweltReligion – Verinnerlichung des Glaubens an letzte Sinndeutungen mitEntlastung von Erklärungsfunktionen

insgesamt muß es mehr Freiheiten geben i. S. v. Freiheiten, sich zuengagieren und beeinflussen zu lassen

2) Anwachsen von Unabhängigkeiten und Abhängigkeiten zugleich,Notwendigkeit, Kommunikationsleistung zu steigern, nämlich überSprache hinaus durch

FachsprachenOrganisation des KommunikationsprozessesVervielfältigung durch MassenmedienSteigerung der Effektsicherheit: Problem der Kombination vonEffektsicherheit und Freiheit zwingt zur Generalisierung allgemeinerMedien der Kommunikation: Legitime Macht, Geld, Liebe

3) Änderung der Form der Rollenverbindung von personalen zusachlichen Rollenkombinationen. Notwendigkeit der Abstraktion von

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Kriterien der Rollenwahl und -erwartbarkeit. Ferner Rollentrennungenund Indifferenzen. Irrelevanz der Abstammung, Religion, Vermögenslageetc. von Beamten und Politikern. Selektion von Personen für Rollen wirdein Problem, das hohe Mobilität erfordert. Arbeitsmarkt,Ausbildungswesen

4) Mehrgipfelige Statusordnung tritt an die Stelle einer einheitlichenSozialhierarchie. Vielzahl von Aufstiegswegen. Rangverhältnisse werdenunvorhersehbar, auffällige Statussymbolik. Indifferenz gegen Rang,Ungediente an der Staatsspitze. Professoren beim Friseur. Informal-freundlicher Ton. Rang verliert seine alte Funktion der Absorption vonKomplexität, gibt keine innere Sicherheit mehr

5) Spezifizierung der Kontakte. Unpersönlichkeit. Vertagung expressiverBedürfnisse. Zivilisierung des Verhaltens ist möglich, da Frieden undVersorgung sichergestellt sind. Neue Balance, auf einer Ebene: größereKomplexität. Psychische Belastbarkeit für Konflikte. Wartefähigkeit auchdes politischen Publikums als Bedingung für seine Rollenfähigkeit

Geschichtliche Verwirklichung in Europa einmalig. VertikaleAusdifferenzierung führt zu noch relativ geringer Komplexität, daher ofterreicht und unabhängig voneinander. Horizontale Ausdifferenzierung wegenihrer vielfältigen Voraussetzungen nur einmal gelungen, dann aber immensüberlegen und weltvorbildlich.

8. Kapitel: begleitende Interpretationen

Grundsätzliches: Wissenssoziologie-Diskussion bleibt offen. KeineKausalhypothese. Denken der Vergangenheit als Antwort auf Probleme derSozialstruktur.

Beschränkung auf vorsoziologische Interpretationen, bis hin zumradikalen Bruch mit der praktischen Philosophie am Anfang des19. Jh. Bis dahin Anschein dogmatischer Kontinuität trotz allerDiskussion. Änderungen nicht leicht aufspürbar. Staatsvertrag undNaturrecht sind antike, Repräsentation, Legitimität, Souveränitätmittelalterliche Begriffe. Teleologische Handlungsauslegung

332

1)

2)

3)

bleibt, Gesellschaftsbegriff, polis, civitas, societas civilis. Manmuß eine gewisse Empfindlichkeit für unterschwelligeÄnderungen, Änderungen der latenten Bezugsproblemeentwickeln. Und dazu kann die soziologische Analyse helfen

Begriff der politisch verfaßten Gesellschaft:Antike: bezogen auf die vertikale Ausdifferenzierung derHerrschaft.Dabei wird die vorgefundene Hierarchie als Despotie begriffen,und politeia dagegengesetzt mit variablenVerfassungsmöglichkeiten und als Raum für Freiheit, Gleichheitund Vernunft. Neuzeit nach den konfessionellen Bürgerkriegen.Das Problem des Begriffs ist nicht mehr die vertikale, sondern diehorizontale Ausdifferenzierung, die Souveränität des nur nochpolitischen Staates. Familie wird noch erörtert, Haus/Herrschaftals juristisches Problem. Aber die große Theorie ist fasziniertdurch die Tatsache, daß die Gesellschaft dieses gefährlichungesicherte Instrument rein pol. Herrschaft braucht

Veränderung der StaatsvertragslehrenMittelalter: nur Herrschaftsverträge zwischen vorausgesetztenPartnern.Jetzt: Rückgreifen auf den antiken Gedanken einesGesellschaftsvertrags Richard Hooker, Johannes Althusius, undKombination beider Gedanken. Pactum unionis – Pause(Pufendorfs »decretum« über die Verfassungsform) – pactumsubjectionis.Doppelvertragstheorie wird h. M. Erstes Symptom einer Trennungvon Staat und Gesellschaft im Sinne einer Trennung von Ges. undpol. System nach Maßgabe verschiedener RechtsgrundlagenSehr bezeichnend ist: daß die monistischen Positionen nunradikale Positionen werden. Hobbes nimmt dem Volk, Rousseaudem Herrscher alle Rechte, indem sie an einem Gesellschafts-und Staatsvertrag festhalten. Setzt sich nicht durch.

Staat als Mechanismus, Maschine

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4)

5)

6)

7)

Modell für die Begrenzung der Macht durch zweckrationaleVernunft, Maschine als positiv besetztes Symbol. WederSeelenlosigkeit und Unansprechbarkeit des Herrschers, noch garso etwas wie »totale Herrschaft« gemeint. Neutralisierung auf dasZweckmäßige und Funktionell-Notwendige nach dem politisch-religiösen Irrweg des vergangenen Jahrhunderts.

Theorie der StaatsräsonAutonomie der politischen Ethik als Erhaltungs- undVerstärkungstechnik. Abstreifen der universellen Ethik alslandläufige Moral kompensiert durch: hohes Risiko, kompliziertesKalkül, einsehbare (freilich noch nicht öffentliche, sonderngerade geheime) Vernunftverwendung.Verschiebung der Reduktionsleistung von außen nach innen, vonnaturhaft vorausgesetzter Reduktion zu intern geleisteter

Naturrecht-VernunftrechtDer Mensch nicht mehr durch externe ethische Reduktion, sondernzwar noch naturhaft, aber nur durch die Natur seiner Vernunftgebunden. Gleichverteilungsthese führt zur Öffentlichkeit alsMedium.

GewaltenteilungReaktion auf den Verlust des Naturrechts; Versuch, Bremsen zuziehen. Verlust des Vertrauens in die Bindungen der Spitze.Ersetzung durch explizite Innenbindungen, also Verschiebung vonaußen nach innen.Ein antihierarchisches Prinzip ohne Verzicht aufEntscheidungsfähigkeit. Aber woher werden dieEinteilungsgesichtspunkte gewonnen, – aus welcher Sachlogik?Reine »government«-Theorie

Subjektive RechteRekonstruktion der externen Bindungen als subj. R. Was ist daranneu?Das alte Recht war selbstverständlich auf Handlungszwecke

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8)

9)

zugeschnitten und darin lag immer Berechtigung und Verpflichtungzugleich. jus hat diesen Doppelsinn. Erst in der Neuzeituminterpretiert in abstrakten Anspruch. Keine harmonischeSelbstbindung des Rechts. Sogar Freiheit – Bindungslosigkeit –wird ein Recht. Gegenzug Pufendorfs. Enteignungsschutz ohneNachweis einer naturrechtlichen Grundlage

Spezialisierung des Rechts auf KonditionalprogrammeVerfall der Lehre von den Staatszwecken. Präzisierung scheitert.Staat als Selbstzweck. Jur. Positivismus. ErfolgloseWiederbelebung bei JellinekDer Schluß vom Zweck auf das Mittel verliert seine juristischeRelevanz

RepräsentationMittelalter: festliche Darstellung der (nicht sichtbaren) sozialenEinheiten in corpore et membris. Vertretung einzelner Rechte undInteressen unter den Bedingungen der Darstellung des Ganzen.Neuzeit: Hohe Variabilität der Staatsentscheidungen,Positivierung des Rechts: das setzt den Repräsentationsvorgangunter zusätzliche Anforderungen. Mitarbeit qualifizierter Kräfte ander Vorbereitung von Entscheidungen. Problem derGeneralisierung erkannt, seine Lösung postuliert. klass. DokumentJ. St. Mill, On Represent. Heute: Träger des pol. Prozesses.imper. Mandat entfällt. Nur dem Gewissen verpflichtet, – oderden Prozessen der Informationsverdichtung, die sich an dessenStelle setzen

Keine kohärente Theorie. Aber die pol. Soziologie vermag denZusammenhang all dieser und vieler anderer Dogmen und Konzeptionen(Souveränität, Staatsdienermoral, Gleichheitsprinzip etc.) zu verdeutlichen.

9. Kapitel Legitimität

BegriffsgeschichteMittelalter: Abwehr von Usurpation und Tyrannis. Prinzipien: Ermächtigung

335

1)

a)

b)

2)

durch den vorigen Herrscher, Konsens des Volkes. Restauration:Wiederherstellung alter Herrschaftsrechte: juristische Ausweitung:Abfangen der Problematik reiner Positivität. L. heißt faktisch verbreiteteÜberzeugung von der Geltung des pos. Rechts.Pol. Wissenschaft und Soziologie sind nicht darüber hinausgekommen.Einziger Fortschritt: Ersetzung des legitimierenden Wertes durch denfaktischen Glauben an sie. Verwischung des Unterschiedes vonEntscheidungsgeltung und Prinzipiengeltung.Damit hängt zusammen, daß man in der Frage Macht oder Konsens alsHerrschaftsgrundlage nicht weiterkommtBeispiel Max Weber: tradit., charism. legal-rationale Legitimit. Betonungdes Monopols phys. Gewaltanwendung und der Legitimität.

Ausweitung durch die Soziologie in zwei Richtungen:L. als Beispiel für sachliche Generalisierung vonVerhaltenserwartungen, anknüpfend an allgemeine Typen derSinnverbindung des Handelns durch:Personen– charismatische, aber auch image-manipulierte L.Rollen– Hinnehmen von Kompetenzen der staatl. Bürokratie– Anerkennung weil richtig gesetzt.Werte– pol. Ideologie. Gemeint sind allg. anerkannte,integrierende Werte,nicht ausgewertete Werte.

Fragen der Trennbarkeit und Verbindbarkeit dieser Ebenen.unterschiedliche Variabilität.Beispiel:personal ermöglichte VerfassungsreformenBlockierung durch IdeologienÜbertragbarkeit des LegitimierungserfolgsBeispiel wie oben und: Veralltäglichung des Charismas

Soziale GeneralisierungSowohl Zwang als auch vorausgesetzter Konsens sind knapp. Bloße

336

1)

Kombination in einem Entweder-Oder nicht ausreichend. Es mußmöglich werden, diese Mittel zu überziehen und auf Grund der bloßenMöglichkeit ihres Einsatzes zu handeln. Das geschieht durchInstitutionalisierung der Verbindlichkeit als Symbol, das»weitergegeben« werden kann.Der Akzeptierende kann für sein akzeptierendes Handeln auf Konsensrechnen und ist insoweit von persönlicher Verantwortung entlastet. Erbraucht überhaupt keine pers. Motive zu beschaffen und darzustellen.Beispiele:VerkehrsregelungEntwicklungsländer mit Gegeninstitutionen pers. ArtDDR-Grenzen

10. Kapitel: Politik und Verwaltung

Institutioneller Anblick: GewaltenteilungPol. Wissenschaft würde das Verhältnis der Staatsorgane untersuchen,zwar faktisch orientiert, aber an Institutionen gebunden. Soz. Zweifel,ob diese institutionelle Diff. die wesentliche funktionaleDifferenzierung des politischen Systems ausdrückt.Alle Prozesse der Herstellung bindender Entscheidungen sindhochgradig bürokratisiert, kontin. Personal, regelorientierte Arbeit,feste KompetenzenAuch Parlamente … Beispiel: Frage an Minister V.Daneben, und zeitlich davor, gibt es jedoch ein Feld politischerProzesse, in denen das erörtert wird, was Chancen haben kann, tragbarist .....Verw. und Politik, das ist die eigentliche funktionale Differenzierung.Verw. als Government begriffenErst innerhalb dieser Diff. innerhalb der Verwaltung ist dieGewaltenteilung organisierbar unter dem Gesichtspunkt einer Diff.bürokratischer EntscheidungskompetenzenSinn: Stufen der Abschwächung leg. politischen Einflusses auf dieVerwaltung .....Folge: Verschiebbarkeit von Problemen aus der Politik in die

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2)a)

b)

1)

2)

Verwaltung je nach Krisenlage und Leistungsfähigkeit der Pol.Hypertrophie der Justizstaatlichkeit?

Sinn der Trennung von Politik und Verwaltungtraditionelle Darstellungen: Zweck/Mittel-Schema undHierarchie.Kritik in der amerik. Diskussion Pol. Wiss.–Public Admin. ohnerechtes Ersatzangebot.Problem des Postulats einer homogenen Ausrichtung von PuVideales Staatsbild oder praktische demokr. KontrolleWas polit. sinnvoll ist, darf verwaltungsmäßig nicht falsch seinund umgekehrt.Daran hätte die Kritik anzusetzenEin weiterer Punkt: zu geringe Komplexität der Denkmodelle.Hierarchie: zu geringes Kommunikationspotential der Spitze.Zweckschema: zu geringes Wertberücksichtigungspotential desZweckesSteigerung der Komplexität des politischen Systems alsAusgangspunkt für ein Umdenken:Positivierung des Rechts und der Zwecksetzung =Selbsterarbeitung von Entscheidungsprämissen. Ganz neue Artvon Variabilität erzwingt ein Doppeltes:

intensivere Rationalisierung der Verwaltung als fachlicheArbeit an Entscheidungenintensivere Arbeit an der Sicherstellung der politischenUnterstützung für diese variablen Entscheidungsgrundlagen

Beides verschiedene Funktionen, die mit je einem verschiedenenStil von Rationalität erfüllt werden müssenFunktional-spezifische Differenzierung des pol. Systems alsReaktion auf eine zunehmende Differenzierung der Gesellschaft(Diese Reaktion ist also nicht nur in der Differenzierung vonRessorts für Wirtschaft, Kultur, Recht etc. zu erblicken)Gegenbeispiel: EntwicklungsländerLegitimität – FortsetzungWiederholung: klass. Theorie: Prinzipienglauben, aufzuteilen inWerte, Programme, Rollen und Personen

338

1)

2)

I.1)

Wesentlich: daß der Legitimierungsprozeß auf allen oder dochmehreren Sinnebenen stattfinden kann.sozialer Prozeß, in der klass. Theorie ebenfalls unanalysiert.Zwei Faktoren: Zwang und Konsens, in irgendeiner Mischung.Aber: beides sind knappe Ressourcen. Ihre Addition reicht nicht.Was benötigt wird, und was auch leicht zu beobachten ist, ist einAkzeptieren von Entscheidungen als verbindlich, das keinebesonderen Motive erfordert. Fragloses Akzeptieren.Voraussetzung großer Bürokratien und reibungsloserEntscheidungsrationalität.Busschaffner IsraelWie ist das Gegenteil – glattes Abnehmen der Entscheidungen –möglich?

Antizipieren der Zwangsanwendung als Gewohnheit.Orientierung an MöglichkeitenEntlastung von persönlicher Verantwortung für dasAkzeptieren, »verbindliche Entscheidung« muß alsverkehrsfähiges Symbol weitergegeben werden können wieGeld. Einengung meiner Alternativen muß Einengung derAlternativen anderer sein, wie entsprechend beim Geld dieAusweitung weitergegeben werden kann. Legitime Machtmuß als flüssig institutionalisiert sein.Beispiel: Durchfahrtsverbot am Waldrandunfreiwilliges Experiment größten Stils: Schließung derGrenzen der DDR. Ansteigen des Staatsbewußtseins, auchbei Gegnern. Offene Grenze machte alles Verbleiben zu einerpersönlichen, jederzeit widerrufbaren Entscheidung. Jetztkann das Akzeptieren in vollem Umfang als unvermeidlichdargestellt werden.

11. Kapitel: Analytisches Modell des pol. Systems

Sinn und Grenzen des Modells.ein soziologisches Modell. Soziales System. Nicht unbedingt denIntentionen des Handelnden entsprechend. Latenz. Widerspruch

339

2)

3)

II.

III.

historisch relativ. Gesellschaft mit ausdifferenziertem pol.System. In diesem Rahmen aber alle pol. Systeme erfassend.Deshalb: nicht Strukturen determinierend (z. B. Formenbürokratischer Organisation, Parteientypen etc.)Keine Stabilitätsgarantie, kein Rezept, kein Ideal. Vielmehr nurein Versuch, eine Ordnung des Verhaltens unter der Bedingunghoher Komplexität darzustellen, die schwierig, aber möglich ist,und die die zu lösenden Probleme verkleinert, so daß man, inTheorie und Praxis, etwas genauer erkennen kann, worauf esankommt.

Ebene der AusdifferenzierungHandlungssystem! sinnhafte Zusammenordnung. Aber welche Ebeneder Sinngeneralisierung?Personen, Rollen, Programme, WerteDie Ebene der Rollen ist gemeintPersonelle Ausdifferenzierung unmöglich. Niemand nur Beamter.Ebenso Werte nicht voll differenzierbar wegen integrativer Funktion(es gibt aber Ressortwerte, Verwaltungswerte, Fehlerlosigkeit), Rollenund Programme sind Träger der Systemkomplexität. Grade derAusdifferenzierung in einem System / Verwaltung/Pol/Publ.

Systemvergleich unter dem Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung. Eineerste Nutzanwendung des ModellsFrage des Wieweit und Frage der Sinnebene zu unterscheiden.Beispielesozialistische Staaten mit ideologischer Zentralisierung betonenEinheit der Werte und Spitzenprogramme. Daher auf dieser Ebenekeine Ausdifferenzierung, was auch eine Rollendiff. erschwert, z. B.Trennung von Politik und Verwaltung, Politik und Publikum, Publikumund Gesellschaftwestliche Demokratien: sehr ausgeprägte Rollendifferenzierung mitAusnahme weniger Werte.Problematik der Entwicklungsländer: Geringe Ausdifferenzierungselbst von Rollen (z. B. Wohlfahrtsparteien) gegenüber derGesellschaft, daher auch geringe Trennbarkeit im politischen System.

340

IV.1)

2)

3)

4)

V.

1)

2)

Rein pol. Rollen können wechseln (Politiker–Bürokratie–Armee),starke Männer mit pers. Regimes usw.Deshalb auch Neigung zur Übernahme des sozialistischenOrdnungstyps (aber ohne Ideologie), weil dieser geringereAusdifferenzierung voraussetzt.

Allgemeine ErläuterungDie Achsen differenzieren 1) Pol./Verw. und 2)hauptberuflich/nebenberuflich.Zusammenhang von Innendifferenzierung und Umweltdifferenzierung.Innendiff. nur möglich, wenn enspr. Umweltdiff. genügendAnhaltspunkte findet. Sozialstrukturelle Voraussetzungen!Bei dieser Gelegenheit: RekrutierungUmweltdifferenzierung: vollextern und durch PersönlichkeitenverflochtenNotwendigkeit weiterer Aufgliederungen der UmweltUnterschiedliche Art der Innendifferenzierungen und derAußendifferenzierungen: Im ersten Fall Zusammenhang durchkomplementäre Rollen, im letzteren durch personale Rollenidentitäten.Sehr wichtig für die Frage der grenzerhaltenden Mechanismen

KommunikationskreislaufVom statischen zum dynamischen, vom strukturellen zumprozeßmäßigen Aspekt:Hauptgedanke des Modells: Einflußkreislauf.System dient der Reduktion von Komplexität durchInformationsverarbeitung, wobei ein Teil für die anderenEntscheidungsprämissen setzt.ErläuterungDies ist ideale Demokratie, Idealdarstellung der D.Faktisch ist eine einseitige Kommunikationsrichtung nichtinstitutionalisierbar.Dauerhafter Einfluß kann nur in Form von Interaktionen geübt werden.Es muß daher einen gegenläufigen K.-Fluß geben: Wahlpropaganda,Gesetzgebungsberatung, Sachverhalts- und Interessendarstellung.Im Publikum: gegenläufige Reflektion

341

3)

VI.

Keine Aufhebung des Kreislaufs, keine Neutralisierung. Es bleibt beimDominieren einer Richtung, aber nur im Symbolischen wird dieDominanz durchgesetzt.Symbolik der dominanten Kommunikationsrichtung. Trotzdemerhebliche praktische Bedeutung – nicht nur »schöner Schein«dominante Kommunikation ist stilbestimmend für das Grenzverhältnis.Die gegenläufige Kommunikation muß sich nach ihr richten. Stilzwangfür das Publikum: Formulare; für die Verwaltung: Politisierung ihrerSpitze; für die Politik: dem Publikum nach dem Munde reden.In der einen Richtung läuft die Kommunikation natürlich, in deranderen muß sie gepumpt werdenVorteil des Modells: Es zeigt, daß die Grenzprobleme Ausdruck einund desselben Grundproblems sind.Zeitliche Betrachtungsweise.Reduktion von Komplexität ist tägliches Geschehen.Kommunikationskreislauf braucht zuviel Zeit. Auch deshalb müssensich an allen Innengrenzen kürzere, also schnellereKommunikationskreise bilden.Andernfalls würde das System nur sehr wenige Themen bearbeitenkönnen und außerdem die Geduld aller Beteiligten überfordern.Andererseits sichert die Systemstruktur die dominanteKommunikationsrichtung als die langfristig wirksame: Das System mußso viel Zeit haben, daß der dominante Kreislauf überhaupt zur Geltungkommt, daß umweghaftes Handeln überhaupt sinnvoll ist. Es muß alsoeine beständige Struktur haben

Umweltlage und Autonomie der TeilsystemeDas Modell zeigt die Teilsysteme in verschiedenen Lagen. Wechsel derSystemreferenz. Unterschiedliche Relevanz, unterschiedliche Nähe undFerne anderer Rollen und BereicheDas ist Voraussetzung einer funktionalen Spezifikation – jedes hat seineeigene Aufgabe und ist darin unersetzbar.Weitere Voraussetzung: ein Mindestmaß an Autonomie für diespezifische Funktion. Keine eindeutige Determination (entgegen derSymbolik der dominanten Kommunikationsrichtung. Autonomie variiertmit Ausdifferenzierung und Komplexität

342

I.

II.

1)

2)

Verwaltung mehr als Politik und diese mehr als PublikumsrollenBedingungen hoher Autonomiesozial:Mehrheit von Umweltenzeitlich:Auseinanderziehen von Input und Output.sachlich:Trennung mehrerer SinnebenenBeispiele:Publikum trennt Politik und VerwaltungVerwaltung: Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaftlichkeit und Einfluß derPolitik

Nicht vollständig durchführbar. Wo nicht, ist ein Problem undAutonomiemangel zu vermuten.

III. TeilVerwaltung

12. (=13.) Kapitel: Funktion und Ausdifferenzierung der Verwaltung

Funktion: Anfertigung von möglichst konsistenten Entscheidungen nachMaßgabe politisch gesetzter Entscheidungsprämissen, d. h. unter derBedingung schon reduzierter KomplexitätProbleme der Konsistenz zurückzustellenhier: strukturelle Bedingungen, unter denen diese Funktion erfülltwerden kannWebers Idealtypus der BürokratieWeber heute – empirische Prüfung?Einzelzüge:

Zusammenhang von Legitimitätstyp und Herrschaftsstab – als eineArt Rückbeziehung auf die pol. WeltHierarchische Organisation mit Vorgesetztenernennung von oben.Problem der Spitze? keine »absolute Macht« denkbar, Macht nurdurch Umweltfunktion und Umweltunterstützung der Spitze

343

3)

4)

5)6)7)

III.

1)

3

2)

3)

erreichbarOrientierung unabhängig von der Person, feststehenden Regelnund Kompetenzen. Lernbarkeit der richtigen SachbearbeitungTrennung von Arbeitsplatz und Familie, von Arbeitsmitteln undEigentumGeldgehalt mit garantierter VersorgungBerufsmäßige Spezialisierung und lebenslange BeschäftigungLaufbahnmäßiger Aufstieg und relativ hohes, in der Karrieresteigerungsfähiges gesellschaftliches Prestige.

Deutung der Systemtheorie (Staat 1964)Die Begründung für das Webersche Modell steht noch aus und mußnachgeliefert werden.These: Das Modell besteht aus zwei Komponenten: Strukturvorgabe durchdie Politik und Rollentrennung gegenüber der Gesellschaft

Strukturvorgabe durch die Politik bezieht sich im Grunde auf Vorgabeschon reduzierter Komplexität in Form von Entscheidungsprämissen

Formen: Organisation (Stellen, Kompetenzen), Personen undProgramme, in gewissen Grenzen austauschbar. Insb. Konstitutioneiner Hierarchie (Kontrastmodell: Doppelführungstheorie)Einsetzung von Personen (pol. Patronage?)Information über politisch mögliche ProgrammeAlle drei hängen zusammen in einem Verhältnis unterschiedlicherVariabilität

Rollentrennung steckt in den Gesichtspunkten 3-7, erläutern insb.UnpersönlichkeitSystem soll indifferent sein gegen Person als Garant für Erwartungenund Umweltbeziehungen. Sonst müßte jeder Personalwechsel allesändern. Gegner müssen zusammenarbeiten usw.Indifferenz heißt strukturelle Reduktion der Komplexität. Wenn dasnicht funktioniert, steigt die Problematik ins Ungemessene, und dasheißt: daß die Fähigkeit zur Bearbeitung sachlicher Komplexitätzurückgeht.Praktisch natürlich nie voll zu verwirklichen: informale Organisationusw.Zusammenhang von Strukturvorgabe und Rollentrennung

344

4)

I.

a)

b)

Strukturvorgabe macht Indifferenz erst möglich, und umgekehrt dientdiese Indifferenz dazu, den Primat dieser einen Grenze der Verwaltungzu stützenZwei Konsequenzen herauszuheben:Sicherheitsproblem: entsteht durch Abbrechen diffuserRollenbeziehungen und kann gelöst werden durch:Landbesitz – früher unumgänglich, Problem der FeudalisierungArbeitsmarkt – veranlaßt zu Rücksichten, mindestens auf künftigeRollen

14. Kapitel: Rationalität und Opportunität

Steigerung der KommunikationsleistungAlle Sozialsysteme dienen der Reduktion von Komplexität durchKommunikation. Sie fixieren konsensfähige Sinngegenstände, steuerndurch kommunikative Prozesse die Aufmerksamkeit. Medium dieserLeistung ist Sprache.Sinnbildung wäre so ein unendlicher Prozeß und auf Zufallangewiesen. Daher sind zusätzliche Mechanismen nötig, die innerhalbbegrenzter Zeit zu Sinnfixierungen führen. Das politische System isteines von ihnen.Verwaltung kann sich mithin nicht allein auf Sprache verlassen. Waskommt hinzu?Macht!? Das ist keine Erklärung, sondern eine Umformulierung desProblems.Klassische Organisationslehre sah Organisation als eine Folge derMacht (des Herrschers, des Eigt.). Richtig ist die umgekehrte Ansicht:Macht entsteht durch Organisation, nämlich dadurch, daß sichergestelltist, daß eine einzelne Kommunikation Komplexität reduziert.Wie kommt das zustande:

Von diffusem Vorverständigtsein zu präzisen (d.h. entschiedenen)VerhaltensprämissenPräzisierung des Verhaltens selbst auf Informationsübermittlungim Gegensatz zu elementaren Kontakten. Entlastung vonMotivationsaufgaben

345

c)

a)

b)

c)d)

II.

a)b)

Errichtung eines Kompetenzsystems für bindende Entscheidung.Pauschalunterwerfung.

Dysf. Folgen

Geringe Chancen für Selbstdarstellung (immerhin: hoheSichtbarkeit im internen Milieu)Schmalspurigkeit der Verständigungsgrundlage – Problem derNeuerung und der InitiativeKommunikationshindernisseFachsprache–Umweltanpassung

EntscheidungsprogrammeProgrammiertes Entscheiden Voraussetzung der Steigerung derKommunikationsleistung. Programmbegriff erläutern. Programmierungbesteht in der Fixierung von EntscheidungsprämissenInput/Output-Modell läßt zwei Typen zu:

Zweckprogramme knüpfen an bestimmte Wirkungen an. Modifikationdurch Nebenbedingungen. Konsistenzprüfung durchWirtschaftlichkeitsrechnung

Konditionalprogramme knüpfen an auslösende Bedingungen an.Konsistenzprüfung durch juristische Begriffsarbeit und Abstimmungvon erlangbaren Informationen, Programmauslegung undFolgenvorherschau.faktische Kombinationen. Problem der relativen Schwerpunktbildung.Korrelation mit anderen Variablen des politischen Systems

Idealisierung und Wirklichkeit.Symbolik der dominanten Kommunikationsrichtung läßt nur einzigrichtige Ergebnisse zu, nämlich

im Zweckprogramm: optimale Wirtschaftlichkeitim Konditionalprogramm: strikte Gesetzmäßigkeit

logische Analyse der Programmstrukturen in den dafür zuständigenFachwissenschaften und soziologische Beobachtung des faktischenEntscheidungsverhaltens zeigen die Undurchführbarkeit dieses Ideals

346

5.

a)

Rechtsgarantien – Problem der politischen Abhängigkeit des Rechts:Verfassungsschutz, pol. Neutralisierung

Diese Typen steigern zugleich die Ausdifferenzierung

Rollenidentifikation – prägend für den VerwaltungsstilProblem des Rollenkerns, der verschiedenes Verhaltenzusammenordnen kann:RangrollenGesinnungsrollenZweckrollenMitgliedschaftsrollenAuch dies ein Schema der Steigerung gesellschaftlicherAusdifferenzierung.

13. Kapitel: Autonomie

Autonomie heißt: Entscheidung über die eigenenEntscheidungsprämissen

Allgemeine Autonomiebedingungen: sozial, zeitlich, sachlich

sozial: geringe Autonomie der klassischen Bürokratien, vor allemwegen Verflechtung mit Landbesitz: Anlehnung an Herrscher oder anführende, landbesitzende Gesellschaftsschichten oder Selbstbedienungeiner aufsteigenden Schicht (Ministerialen, später:Kolonialverwaltungen)Eisenstadt, The Political Systems of Empires.

heute ist Autonomie in hohem Maße allein schon durch dieKomplexität gewährleistet.Aufstieg im System mit Lernzeiten und Sozialisierungszeiten. Problemder politischen Patronage:

Versorgungspatronage, gefährdet die Autonomie nicht, aberBelastung durch Unfähigkeit. Verständnis fürVersorgungsprobleme einer hauptberuflichen Politik

347

b)

c)

a)

b)c)

Einflußpatronage: Schwächung des hierarchischen Aufbaus,ermöglicht aber dem gewandten Mann komplexere TaktikenParteibuchkarriere des ohnehin im Aufstieg Befindlichen

zeitlich: Macht, ebenso wie Kapital, ist ein Kommunikationsmedium,das Zeit gewährt. Das System braucht Zeit zur Arbeit. Ist bürokratischeLangsamkeit etwas Pathologisches?Zeit hängt mit allen Rationalisierungsmaßnahmen eng zusammen

Arbeitsteilung und Arbeitsverteilung unabhängig von Fluktuierender Umwelt nach DurchschnittserwartungenRationalität des stapelweisen ArbeitensZeitdruck verzerrt die Wertordnung, ruiniert die Ideologie,Vordringlichkeit des Befristeten

Zeitknappheit führt zu Systemzeiten und damit zuSynchronisierungsschwierigkeiten mit der Umwelt. Macht über dieTermine wird zur Macht über die Sache selbst; dadurch wird nunzweierlei interessant:Organisation als Verteilung von Informationen, Macht und MotivenUmwelt als Quelle externer Motivation.

Notwendige logische Sprünge und Ermessensspielräume, Einfallstorfür unkontrollierte gesellschaftliche Wertungen, schichten- odergruppenspezifische MotiveBeispiel: Kriegsteilnahme als StrafmilderungsgrundFabrikant Wochenendhaus wegen bes. Verdienste um die industr.Entwicklung des KreisesWoher sollen die Selektionsgesichtspunkte genommen werden?Andererseits ist nicht zu verkennen, daß es auch nichtprogrammierteund doch systeminterne, rollenimmanente Motive gibt. Leichtigkeit derBegründung, Verwendbarkeit eingeübter Floskeln, Fehlersicherheit,geringere Informationslast, Anerkennung durch Vorgesetzte undKollegen etc.Ferner: lokales, mit dem Arbeitsplatz verbundenes Erfahrungswissen:bekannte GeräuscheDies ist ein Zwischenreich zwischen programmierter Rationalität und

348

III.

1)2)

1)

2)

unkontrolliertem gesellschaftlichem Einfluß, praktisch von großerBedeutung. Die Programme haben Überlaufeffekte, unbeabsichtigte,zum Teil dysfunktionale Folgen. Aber all das gehört noch zurAutonomie der Verwaltung, zu einer Art eingerichteter Vernünftigkeitder kleinen Behelfe und Problemlösungen.

Programmatik und OpportunismusRückkehr zu grundsätzlicher Betrachtungsweise.dem Opportunismus der kleinen Schliche ist eine grundsätzlichereRechtfertigung nachzuschicken. Und darüber hinaus der Fragenachzugehen, ob nicht die Programmierung überhaupt ihre Grenzenfinden muß am Bedarf für OpportunismusOpportunistisch ist ein Verhalten, das sich an wechselnden PräferenzenorientiertAllgemein hängt der Bedarf für Opportunismus von zwei Faktoren ab

von der Komplexität des Systemsvon den Vorleistungen der Politik

Wenn die Komplexität steigt, muß die Leistungsfähigkeit der Politikentsprechend wachsen – oder die Verwaltung wird opportunistischProgrammkonsistenz und Opportunismus sind widerspruchsvolleStrukturerfordernisse, die beide funktional sinnvoll sind. Man darfnicht, wie es Juristen oder Ökonomen liegen würde, das eine aufGrund des anderen verdammen.

Es gibt Strategien, die den Konflikt abschwächen, insb.Anerkennung des Status quo als Basis aller opportunistischenStrategien (der dann unmerklich langsam entwertet wird). KeineUmverteilungen, sondern nur kleine Verbesserungen, Steuerungder Aufwärtsbewegungen und ZuwachsquotenMaßnahmen zur Erhaltung künftiger Opportunität alsprogrammierbare Ziele: Macht, Geld, Ansehen, Public Relations,halten das Handeln und die künftigen Präferenzen offen undsichern sie doch

Steuerung des opportunistischen Verhaltens durch Außenkontakte:vom Publikum her durch Interessenverbände, von der Politik her durchpolitische Patronage

349

IV.

I.

II.

Macht und Geld als Kommunikationsprinzipien.

IV. TeilPolitik

… Kapitel: Funktion und Umweltlage der Politik

Robert Moffat (1824) über afr. Häuptling: morgens Lederfellezusammennähend, nachmittags betrunken.Heute Politik eine Art hauptberufliche Arbeit und ein Teil deslaufenden Staatslebens.Zweitens ist bemerkenswert, daß es eine Politik gibt neben dem in derBürokratie ablaufenden Entscheidungsvorgang.Träger dieser Politik sind die ParteienPolitik in diesem von Regierung, Verwaltung usw. unterschiedenenSinne wird erst in diesem Jahrhundert Gegenstand wissenschaftlicherBemühungOstrogorski und Michels Bryce bringen die Forschung in Gang mit demProblem der undemokratischen Struktur.Duverger, Die politischen Parteien, als der weitestgetriebene Versucheiner theoretischen Klassifizierung. USAHier keine isolierte Betrachtung, die von der Struktur ausginge,sondern eine funktionale Analyse: Welches Problem ist in diesemTeilsystem des politischen Systems zu lösen.Diese relative Unterbelichtung der Politik durch die Wissenschaft istkein Zufall, sondern hängt mit der Entwicklungsgeschichte des pol.Systems zusammenDas, was in der Politik geleistet wird, wurde in älteren Systemen garnicht in diesem Umfange zur Disposition gestellt, sondern alsunpolitisch garantiert, sodann als institutionell garantiert hingenommen.Religiöses Fundament, Krone als pol. Inst. Was es an Politik gab,spielte sich in der »Gesellschaft« ab.Demgegenüber haben sich durch Steigerung der Komplexität, derAusdifferenzierung und der Autonomie des pol. Systems grundlegendeVeränderungen ergeben

350

a)

b)

a)

b)

III.a)

Mobilisierung der Entscheidungsprogramme. (Positivität) Pol.Konsens muß jetzt für variable Themen gesucht werden, fürprogrammbildende EntscheidungenMobilisierung der politischen Unterstützung durch bes.Publikumsrollen

In beiden Fällen müssen fraglose Gegebenheiten durch Entscheidungenersetzt werden, von denen man weiß, daß sie auch anders ausfallenkönnten.Beide Mobilisierungen bedingen sich wechselseitig

im 19. Jahrhundert: Positivierung des Rechts und Ausdehnung desWahlrechts auf alle Schichtenin Entwicklungsländern: Positivierung der Entwicklungsplanungund entspr. Fluktuieren der pol. Unterstützung.

Die Stabilität des politischen Systems muß jetzt in ganz neuer Weiseauf variable Grundlagen gebaut werden, muß mit dem Problem fertigwerden, daß alles anders sein könnte. Das kann nur geschehen, indemman daraus ein Problem macht und einen Gegenstand laufender,organisierter Beschäftigung. Politik wird ein System im System, dasdie Variationsmöglichkeiten in Publikum und Verwaltung alsGrenzprobleme behandeln kann.Dazu kommt: daß beide Grenzen keineswegs gleichsinnig variieren.Durch nichts ist garantiert, daß die Wünsche des Publikums sich imRahmen der Programmierungsmöglichkeiten halten oder daß dieimmanente Selbstverbesserung der Verwaltung politisch gefällt.Die Koordination beider Bewegungen muß ständig geleistet werden.Sonst Gefahr politischer Katastrophen einer Art, die es früher nichtgab.Diese Leistung muß außerhalb der Verwaltung erbracht werden, weiles ja gerade um deren Mobilität geht. Keine Rückkehr zu einheitlichenSozialhierarchien möglich, auch im sozialistischen Lager nicht.

Bedingungen der Lösung dieses Problems sindorganisierte politische Parteien, die als ständige Org. denWechsel von Personen, Programmen, Loyalitäten und Taktikenüberdauern. Universelle Erscheinung. Parteiensystem eine zweiteFrage

351

b)1)2)

a)

b)

IV.

Einschaltung in die Variation der Grenzbedingungpolitische Planung und Stellenbesetzung in der VerwaltungBeeinflussung des Publikums, nämlich

strukturell durch Schaffung besondererPublikumsrollen, in denen Forderungen undUnterstützung ausgedrückt werden könnenverhaltensmäßig durch ständige politische »Betreuung«

Dadurch kann, ohne daß die Politik ihre Umwelt voll beherrscht, derEinfluß an der einen Grenze im Sinne der anderen benutzt werden undumgekehrt, wobei die Führung wechseln kann.Steigerungsfähigkeit dieser Beziehung: Mehr Programmerfolg, mehrUnterstützung. Intensivierung der Koordination = Machtsteigerung derPolitik

Interpretation dieser Problemkonstellation mit Hilfe des Unterschiedesvon instrumentellen und expressiven Variablen. Herkunft, Problematikin der Gruppentheorie, Parsons’ Verallgemeinerung, Beziehung auf dieZeit.Dies nun sehr wesentlich:Politisches System als Kommunikationskreislauf verbraucht viel Zeit,orientiert sich an Fernwirkungen.Wenn die Politik sich im Sinne dieses Kreislaufs orientiert und zurVerwaltung blickt, muß sie instrumental oder zweckorientiert denken.Aber nicht alle Bedürfnisse sind vertagbar, und Vertagungen erzeugensekundäre Bedürfnisse: Sicherheit, Vertrauen. Diese müssen durchexpressives politisches Handeln befriedigt werden. Daraus ergebensich widerspruchsvolle Anforderungen. Symbolische Prozesse derDarstellung der PolitikSmend: IntegrationslehreLasswell: Psychopathologie der Politik; EdelmanAnalyse der politischen Sprache. Figur »etwas als etwas«

Rüstungsausgaben – Sicherung des FriedensPatronage – demokratische FührungRationierungen und Kontingentierungen – nationaleUnabhängigkeitSubventionen – Strukturverbesserungen

352

V.

1)

2)

a)b)

c)

Ferner: Differenzierung verschiedener Zuhörerkreise: öffentlicheSprache und interne Sprache

Das alles sind Techniken, in zwei verschiedenen Zeithorizontenzugleich zu agieren: gegenwärtige Sicherheit für eine ferne undunsichere oder doch für den einzelnen nicht in sein Lebeneinbeziehbare Zukunft zu schaffen.

Parteiensysteme unterscheiden sich sehr wesentlich durch den Stil, indem sie diese Aufgabe lösen: Ideologie oder politischer Kampf alsprimäres IdentifikationsmittelFrage: wie komplex und offen und variabel kann eine Zukunft gehaltenwerden, ohne daß ihre Absicherung in der Gegenwart abreißt.

Rückgang auf Ausgangsanalyse: Doppelseitige Variabilität bedeutetunbestimmte Komplexität. Politisch ist alles möglich. Die Funktion derPolitik besteht in der Reduktion dieser unbestimmten Komplexität aufentscheidungsfähige Ausmaße, auf Strukturen mit begrenztenMöglichkeiten, in denen Entscheidungen überhaupt erst auf Konsistenzgeprüft werden können.Wie diese Leistung erbracht wird, das ist das Problem, an dem dieeinzelnen Parteiensysteme sich scheiden, das funktionaleBezugsproblem, das uns ermöglichen wird, sie zu vergleichen.Vorerst noch einige gemeinsame Bemerkungen: (nach allg. Theorie)

Unbestimmte Komplexität heißt: geringe Rollendifferenzierung.Deshalb Parteien, die nicht in einem Verhältnis funktionaler,sondern segmentierender Differenzierung zueinander stehen.Kampf um die letzte Macht ist ein gleichmachendes Prinzip.Unbestimmte Komplexität heißt relativ geringe gesellschaftlicheAusdifferenzierung: geringerer Ausdifferenzierungsgrad als in derVerwaltung, z. B.

stärkeres Gewicht der indiv. Persönlichkeitstärkerer Einfluß kultureller Werthaltungen, allgemeinerkonsensbildender Faktoren, z. B. heute Wissenschaft.starke Verflechtungen mit Interessenverbänden.

353

VI.

1)

2)

3)

4)

A

Rückblick auf traditionale Kategorien, insb. Theorie derRepräsentation. Vergleichsweise einfache Darstellung: Durchsetzungdes Volkswillens gegenüber einem eigensüchtigen oder phlegmatischenHerrscher.Bestenfalls Probleme der Machtverteilung zwischen Volk undHerrscher unter Voraussetzung konstanter MachtsummenTheoretischer Bezugsrahmen scheint mir grundsätzlichrevisionsbedürftig zu sein und die Soziologie dazu in der Lage, dieseRevision durchzuführen. Das ist der innere Grund für denAbstraktionsgrad meiner Darstellung.

… Parteisysteme

I.Vergleichende Analyse von Parteiensystemen: zweiMöglichkeiten: strukturell und funktionalstrukturell: Gefahr vorschneller Fixierung von Formen undWerten; funktional: Gefahr zu großer Abstraktion (letztlich nur imRahmen theoretischer Gesamtkonstruktionen lösbar)Bezugsproblem: politische Komplexität enger gefaßt: Problemder Legitimität, der Beschaffung von EntscheidungsunterlagenZu vermuten, daß es mehrere, funktional äquivalenteMöglichkeiten der Problemlösung gibt. Vergleichohne vorweg eingebaute Präferenz für die eine oder die andere(ähnlich die »Programmtypen« der Verwaltung)Im groben Überblick erscheinen zwei Grundformen:Mehrparteiensysteme: Reduktion der Komplexität durch Kampfder Parteien; Einparteiensysteme: Reduktion der Komplexitätdurch eine Ideologie, für die Legitimität beansprucht wird. BeideTypen nehmen ergänzend die Reduktionsformen des Gegentypsauf.

II Mehrparteiensysteme

Zunächst allgemeine Charakterisierung ohne Rücksicht auf Untertypenund Varianten

354

1)

a)b)c)

d)

2)

3)

4)

a)b)

c)5)

Grundverfassung; eine Mehrzahl von Parteien, die um den Zugangzur legitimen Macht konkurrieren. Im Teilsystem Politik bedeutetdas:

keine feste und gemeinsame Wertrangordnungkeine einheitliche Führungsorganisationkeine Garantie der Entscheidbarkeit aller Konflikte. All daszusammengenommen Zeichen hoher Komplexität, und wirwissen: Funktionsgerechtheitgleichwohl Systemcharakter mit wechselseitigerAbhängigkeit, die durch eine Art von Knappheitaufoktroyiert ist

das systembildende Prinzip ist mithin die Knappheit des Zugangszu den Stellen mit legitimen Entscheidungskompetenzen. DasVerhältnis der Parteien ein Kampf um Stellen, um quantifizierbareErfolge, der wie ein Nullsummenspiel rationalisiert werden kann.Problem der MachtsummenkonstanzEindeutigkeit von Gewinn und Verlust erleichtert dieMachtübergabe. Beispiel: Kennedys WahlsiegProblem des Machtwechsels als Routinevorgang im Staatslebenlösbar. Die Lösung dieses Problems ist gleichsam verquickt mitder Form, in der Komplexität abgearbeitet wird, und wirddadurch zum Sinnbestandteil der laufenden Arbeit.Reflexivität der MachtFormalziel des Wahlgewinns ermöglicht eine Umkehrung vonZweck/Mittel-Relationen gegenüber dem normalengesellschaftlichen Empfinden …Pervertierung der Moral bedeutet Reflexivität des Wertens,ermöglicht, auch über letzte Entscheidungsprämissen zuentscheiden. Nachteile

Verfremdungseffekt: Ressentiments gegenüber der PolitikDarstellungsprobleme: Differenzierung vonZuschauerkreisen und SprachenProblem der Entgleisungen, Indiskretionen, Skandale

Trotz Summenkonstanz und Zielformalisierung ist die Komplexitätimmer noch enorm.

355

6)

a)

b)c)

B

1)

Weitere Reduktion durch Orientierung an »Symptomen« desmutmaßlichen WählerwillensNachwahlen, Regionalwahlen, Interessenverbandsmitteilungen,Zeitungskampagnen, Meinungsumfragen usw.Daraus ergeben sich Machtchancen derjenigen, die die Symptomekontrollieren. »Ausdruckswert« der Stimmabgabe, Pressemacht,Problematik der Meinungsforschung als Umgehung desRepräsentationsprozesses.Politische Neutralisierungen: Es muß in einem auf Kampfberuhenden System Strukturen und Symbole geben, die demKampf entzogen sind.Rudimente einer Ideologie zu deren Rechtfertigung nötigNeutralisierungen auf drei EbenenWerte unproblematisch, weil abstrakt: Niemand gegen Frieden …Normen: Grundrechte, Rechtssetzungsverfahren, GewaltenteilungSicherungsinstrument der VerfassungRollen: schwierig, denn welche Einflüsse setzen sich an dieStelle der Politik. Drei Typen

Justiz: Neutralisierung heisst nur Kanalisierung des pol.EinflussesRechnungshöfe: ohne EntscheidungsgewaltZentralbanken: kompensierbare Entscheidungen

Sonderformen

Zweiparteiensystem: Ursachen? Wahlsystem?Jede Partei muß fähig und normalerweise in der Lage sein, allein dieRegierung zu vertreten.Breites Angebot aller Werte, Entideologisierung, Mäßigung, steigendeBedeutung parteiinterner Entscheidungsprozesse, insofern nichtunähnlich dem Einparteiensystem.Hier führt Konkurrenz nicht zur Differenzierung, sondern zurAngleichungMachtablösung ohne Rückgängigmachen der Errungenschaften(Beispiel: Großbritannien)Politischer Kampf mehr kurzfristig und taktisch, wenig echte

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2)

III.

1)

2)

Alternativen zur Wahl stellend. Leistungsfähigere Parteiorg.! Einesolide Mehrheit genügt. Keine Maximierung von Stimmzahlen nötig.Gewisse Möglichkeiten des NeinsagensVielparteiensystemePolitische Komplexität anders verteilt, und deshalb bewähren sichandere Mechanismen ihrer ReduktionKoalitionsbildung normalDaher weder eindeutige Aufträge zur Regierung noch eindeutigeZurechnungen der Verantwortung möglichWähler braucht daher andere, nichtrationale Entscheidungshilfen.Zeichen besonderer »Nähe« einer Partei zu seinen Interessen oderWerten.Entsprechend müssen die Parteien sich in den Augen des Wählersdifferenzieren. Es genügt nicht, daß sie sich als jeweilige Regierungs-bzw. Oppositionspartei unterscheiden.Teilnahme an der Macht verschleißt die Überzeugungskraft. starkesFluktuieren, Chancen für kleine neue Parteien (vgl. Niederlande)Sonderform der Proporzsysteme

Einparteiensysteme

A.Prototyp: Parteisystem, das die Reduktion der Komplexität durcheine Ideologie vollzieht und um der Einheit der Ideologie nur einePartei zulassen kann (oder umgekehrt).Ideologie/= Gesamtkonstruktion des gesellschaftlich relevantenHandelnsPrinzip der Widerspruchsfreiheit im Sinne der Unverträglichkeitentgegengesetzter Auslegungentypischer Ausweg: Auflösung aller Widersprüche durch dieZeitdimensionAnspruch, daß alle Komplexität bestimmte oder dochbestimmbare Komplexität sei. Geschlossenheit der WeltsichtIm Unterschied zu alten, invarianten Glaubensordnungen ist fürIdeologien ein funktionaler Bezug auf das Handeln wesentlich.Entdeckung einer latenten Funktionalität, Übergang zur manifesten

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3)

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5)a)

b)c)

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a)b)

B.1)

Funktionalität im Prinzip der Parteilichkeit. Das ermöglicht einReflexivwerden des Wertens. Werte werden bewertet im Hinblickdarauf, welche Handlungen sie rechtfertigen können.Prinzip der dialektischen Einheit von Theorie und Praxis einPrinzip der unendlichen Komplexität.Interpretierende Organisation, die ParteiEinschränkungen dieser Reflexivität (analog zu politischenNeutralisierungen) hier durch Ideologiekomponenten: denMaterialismus.Verbleibende hohe Komplexität und Unsicherheit werdenreduziert durch eine Organisation, die Konsenschancenstrukturiert. Bezeichnend ist ein hohes Maß der Integration vonideologischer Darbietung und Machtstruktur. Auslegungsfragenwerden zu Machtfragen. Phrasenzimmern, Parolenausgeben, beimWort Nehmen, Worte als Zeichen für HaltungenDysfunktionale Folgen:

Wie in jedem Großbetrieb: Schwierigkeiten derWeiterleitung unangenehmer Wahrheiten, innerhalb undaußerhalb der ParteiProblem der politischen SensibilitätProblem des Machtwechsels: natürliches Ableben dauert zulange. Tötung verschärft den Machtkampf.Problem des Reflexivwerdens der MachtstrukturProblem der Lernfähigkeit und des Hineindiskutierens vonNeuerungen in die Ideologie

Konsistenzpostulat auf gesamtgesellschaftlicher Ebene bedeutetrelativ geringe Differenzierungsfähigkeit, mindestens in denWerten und den Programmen

geringe Trennung von Politik und VerwaltungGrenzen der Trennung von politischem System und Umwelt;Vorstrukturierung aller möglichen politischen Probleme nötigwegen garantierter Entscheidbarkeit; begrenzter Pluralismus,zugeschnitten auf die Bearbeitung wirtschaftlicher Probleme

Varianten:hegemoniale Parteien

358

2)3)

1)

2)3)

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dominierende Parteien (Indien, Israel, Mexiko)Besondere Lage der Entwicklungsländer, gekennzeichnet durchnoch geringere Ausdifferenzierung

V. Teil:Publikum

Vorbemerkung zur LiteraturAlte Themenstellung: Verhältnis von Staat und Gesellschaft heute nicht mehrbrauchbarAber bisher durch keine annähernd adäquate soziologische Theorie despolitischen Publikums ersetztErinnerung an das ModellEs fehlt Forschung über VerwaltungspublikumEs fehlt auch an einer begrifflich durchgearbeiteten soziologischen Theorieder Kontaktrollen gegenüber politischen Prozessen.Freilich: Großes Sondergebiet der Wahlforschung.Überblick:Robert Lane, Political Life, 1959Nils Diederich, Empirische Wahlforschung, 1965

Charakteristisch ist eine eher sozialpsychologische Fragestellung: WelcheVariablen beeinflussen die Entscheidung des einzelnen Wählers, zumBeispiel

variiert die Wahlteilnahme mit Alter, Geschlecht, sozialer Schicht,Beruf, Land oder Stadt, Religion.Steigt die Wahlbeteiligung bei wirtschaftlichen Krisen?Wie setzt sich die Gruppe derjenigen zusammen, die die Parteiwechseln (floating voters)Richtet sich der Wähler mehr nach Programmen oder mehr nachPersönlichkeiten, aufgegliedert nach Arten von WählernWie entscheiden sich Wähler, die Bezugsgruppen angehören, dietypisch verschieden wählen (cross pressures)Welche Persönlichkeiten wählen wie: Politische Beteiligung alsLösung innerpsychischer Probleme

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1)

2)

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I)

All das ist soziologisch keineswegs uninteressant und wartet geradezu aufeine stärker theoretisch durchdachte Erfassung

Einige Beispiele für solche Möglichkeit:cross-pressuresIn einer differenzierten Gesellschaft ist typisch eine Überdeterminationdes Wählers zu erwarten. Das bedeutet Freiheit. Das freigesetzteIndividuum als Puffer zwischen politischem System und Gesellschaftermöglicht eine gewisse Indifferenz des politischen Systems gegenspezifische Ereignisse, z.B. gegen WirtschaftskrisenZugleich Notwendigkeit, das Fluktuieren politischer Unterstützung vompol. System her zu steuernVersäulung: gehören die Wähler der politischen Parteien zugleich alssolche anderen Gruppierungen der Gesellschaft an oder nicht.Verschärfung des Konflikts durch Versäulung so gefährlich, daß daspolitische System dann nicht durch Kampf integriert werden kannOpinion Leaders: Zweistufigkeit des Prozesses derInformationsübermittlung. Das politische System muß in derGesellschaft eine Struktur voraussetzen: Einige mit besonderemInteresse, die Information aufnehmen und anderen so nahestehen, daßsie diese beeinflussen können.Diese Struktur wird vom politischen System selbst nicht geleistet.Anders die Kader

… Kapitel: Ausdifferenzierung und Innendifferenzierung vonPublikumsrollen

Problem der Ausdifferenzierung (nochmals erläutern) wird kaumgestellt und nicht behandelt.Staatsvertragslehren lösen das Problem durch eine Unterscheidung vonvorher und nachherTheorie der Trennung von Staat und Gesellschaft muß das Kunststückfertigbringen, gerade die Privatleute zum Publikum zu erklären (wennsie Eigentümer sind und lesen können)Problem wird auf der Ebene der konkreten Menschen diskutiert, nicht

360

II)

III)

auf der Ebene der Rollendaraus ergaben sich die Befürchtungen gegen eine Ausdehnung desWahlrechts sowie die theoretischen Paradoxien der Trennung von Staatund Gesellschaft.Diese unzureichende Begrifflichkeit war nicht nur ein Vorurteil; siehatte ihre Gründe in der Sache selbstVon allen Teilbereichen des politischen Systems sind diePublikumsrollen am wenigsten ausdifferenziertDer Bürger kann, ja soll die Motive seines Handelns im pol.-adm.Zusammenhang seinen »anderen Rollen« entnehmen. PersonaleRollenkombination ist hier legitim – im Unterschied zu den anderenGrenzen des pol. Systems.Außerdem bilden die Publikumsrollen kein einheitliches System fürsich in dem Sinne, daß bei der Ausübung der einen auf die anderenRücksicht genommen werden müßte.Damit hängt zusammen, daß die Sonderstellung dieser Publikumsrollenim politischen System überhaupt erst mit Hilfe von statistischenMethoden entdeckt werden konnteTrotzdem kommt es durch eine genauere Durcharbeitung undRollendifferenzierung in Politik und Verwaltung gleichsam von selbstzu entspr. Korrespondenzrollen. Man kann sich eben als Bürger nichtbeliebig verhalten, wenn man etwas erreichen will. Man mußkomplementäre Rollen einnehmen, und diese Rollen treten dadurchhervor, daß sie nicht als Anhängsel anderer Rollen begriffen werdenkönnenDas bedeutet: Gesellschaftliche Unterschiede, Tendenzen, Ereignissewerden nicht automatisch ins politische System hinein verlängert. Esmuß ein Übersetzungsprozeß stattfinden.Diese Grenze wird garantiert durch zwei scheinbar entgegengesetztePrinzipien: das Prinzip der Gleichheit und das der individuellenFreiheit.Gleichheit bedeutet, daß lediglich das relevant wird, was impolitischen System einen sinnvollen Grund findet, von anderengesellschaftlichen Unterschieden muß abgesehen werden. Es kommtbei einer Baugenehmigung nicht auf die Konfession an, bei Erteilung

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IV)

I

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3)

1)

2)

eines Führerscheins nicht auf das Vermögen. Auch bei der politischenWahl zählt jede Stimme gleichIndividuelle Freiheit heißt, daß niemand »als jemand«, also wegeneiner bestimmten anderen Rolle Rechte und Pflichten hat, sondern daßseine Persönlichkeit als »unbestimmter Mittler dazwischengeschaltetwird. Gesellschaftl. Strukturen setzen sich nicht als solche in daspolitische System hinein fort, sondern nur in gebrochener Form,gebrochen durch psychische Vermittlung.Und das bedeutet, daß vermutlich nicht alle auf dasselbe Ereignisgleich reagieren werden. Allenfalls Tendenzen: Als Adjubei vom Papstempfangen wurde, trauten sich auch die Frauen der Kommunisten,kommunistisch zu wählenFolge der Ausdifferenzierung: Der einzelne kann aus seinen anderenRollen zwar Entscheidungshilfen gewinnen, wird aber nicht durch siedeterminiert. Das pol. System setzt geordnete Gesellschaft voraus(Redukt. d. K.), macht sich aber nicht von ihr abhängig.

… Kapitel: Politische Publikumsrollen

Problembereich der klassischen Theorie der Repräsentation.Repräsentation: Darstellung des Volkswillens durch die Volksvertreterin einem relativ einfachen Entscheidungsvorgang. Diese Theorie

akzeptiert die Symbolik der dominanten Kommunikationsrichtungals Theoriebewertet den Repräsentationsprozeß nach dem Maße, in dem ihmsolche Sinnübertragung gelingtfragt infolgedessen nach den Chancen für individuellespol.Handeln

und muss in alldem grenzenlos enttäuscht werden

Zwei Einschränkungen sind in der Diskussion sichtbar:Begrenzung der Adäquität der Repräsentation im Interesseregierungsfähiger MehrheitenEinsicht in unvermeidliche Apathie des Wählers als Faktum

Neuerdings kommt die Beobachtung des Scheiterns derRepräsentativverfassungen in den Entwicklungsländern hinzu.

362

1)2)

1)2)

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II.

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Nach alldem ist es undenkbar, daß die Stabilität eines politischenSystems abhängen kann von

dem Gelingen eines solchen Sinnübertragungsvorgangsdem Gegebensein echter, motivkräftiger Chancen für privatespolitisches Handeln.

Solche Chancen können »dem privaten Bürger« (ohne weitereQualifikation) nicht gegeben sein.

minimale Auswirkung politischer Wahlminimale Auswirkung einer Parteimitgliedschaft oderehrenamtlicher Mitwirkung in Parteien (es sei denn imkommunalen Leben)sehr geringe und zu stark spezialisierte Chancen überInteressenverbändenicht besser die Möglichkeiten der Einwirkung auf Massenmedien»Zufälligkeit« der Einwirkung über persönliche Beziehungen zueinem Blutordensträger. Wenn einer in der Anwaltskanzlei vonDufhues gearbeitet hat etc.

In jedem Falle wird effektiver Einfluß ungleich verteilt sein. DiePrinzipien der Gleichheit und der Effektivität schließen sich aus.

Und weiter gilt als typisch: daß jede Art von planmäßigem undgesichertem Einfluß Organisation und Arbeit voraussetzt, also ein mehroder weniger absorbierendes politisches Engagement.

Ist das alles nun zu bedauern? Oder fehlgeleitete Erwartungen,Kriterien?

Die Systemtheorie würde nach den Bedingungen fragen, unter denenpolitische Systeme von hoher Komplexität und hohemInformationsverarbeitungspotential an dieser Stelle – Grenze zwischenPolitik und Publikum – stabilisiert werden können. Bedingungenscheinen nicht im individuellen Handeln, sondern zunächst in derStruktur der Rollendifferenzierung zu liegen

AusdifferenzierungInnendifferenzierung der Publikumsrollen

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1)

a)b)

2)

a)

1)

Ausdifferenzierung bereits behandelt. Mobilität von Ja/Nein-Entscheidungen und Verhinderung invarianter gesellschaftlicherSteuerung durch »unpolitische Ereignisse«. Insofern wichtig

individuelle FreiheitGleichheit (keine besonderen Rechte als Lebensretter)In dieser Perspektive besagt beides das gleiche. Hinweis aufStein Rokkan, Europäisches Archiv für Soziologie 1961

Innendifferenzierung verschiedener Publikumsrollen: Zerlegung inverschiedene Funktionen und funktionale SpezialisierungVielzahl möglicher Rollen: Wähler, Zeitungsleser, opinion leaderStammtischpolitiker, Leserbriefschreiber, Parteimitglieddrei Funktionsgruppen (auf Änderung gegenüber früherer und denamerik. Darstellungen hinweisen)a) Zuschauen, b) Artikulieren von Interessen und Forderungen, c)Unterstützung.

Als Zuschauer wirkt der Bürger in erster Linie disziplinierend(natürlich nur, soweit der Blick reicht; Grad der Publizität variabel).Gewisse Rücksichten werden dem Politiker dadurch aufgezwungen.Angesichts übermäßiger Komplexität ist auch der Zuschauergezwungen, sich an Vereinfachungen zu halten. Symptome derVertrauenswürdigkeit!, kontrolliert wird das eigene Vertrauen.Setzt lückenhafte Information und scharfe Sanktionsmöglichkeit voraus.Insofern rückverbunden mit dem Wahlmechanismus.Vertrauensempfindlichkeit variiert. In Großbritannien bekannt hoch. InDeutschland nicht, selbst Politiker, die ihre Stellung zu Aktenpersönlicher Rache mißbrauchen, können im Amt bleibenVermittlung durch Massenmedien angesichts der großen Distanz nötig.bedeutet zweierlei: Permanenz und Passivität des Zuschauens

Perpetuierung des Zuschauens. Informationsaufnahme wird aufSpezialrollen für hauptberufliche Neugier verlagert und dannverbreitet.Dadurch unabhängig von individueller Motivlage und Zeitplänen.Ob im Vorortszug, in der Tagungspause, durch dieAbendnachrichten oder durch murmelnde Mitteilung deszeitungslesenden Ehegatten – die Funktion des Zuschauens wird

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2)

b)1)

2)

1)

a)

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kontinuierlich und gleichmäßig geübt.Ein gutes Beispiel dafür, daß stärker differenzierteSozialordnungen generalisiertere Formen der Abstimmung vonSituationen, Zeitplänen, Rollenpflichten, Interessen und Motivenbenötigen.Passivität = funktionale Spezifizierung auf die Rolle desZuschauens. Keine Möglichkeit, zurückzufragen, zuwidersprechen und damit den Nachrichtenstrom aufzuhalten.Dafür sind andere Rollen gegeben. Und Rollenwechsel bedeutetFilterung von Absichten. Diese Passivität ist technisch, alsoeinleuchtend gesichert; nicht durch Verbote.Ohne Zweifel Absaugen mancher kritischer Impulse. LaufendeBerieselung mit aufregenden Neuigkeiten fesselt und schläfert ein,Notstände im Abonnement und billigt Abhilfen (umgekehrt:Ermahnungs- und Verlautbarungspresse des Ostens so langweilig,daß sie dadurch schon wieder interessant wird).

Aktive Rollen differenziert inRollen für Interessenartikulation und Forderung.Interessent mit Verstärkungsmöglichkeit durch VerbandsaktivitätRollen für politische Unterstützung mit Verstärkungsmöglichkeitdurch Parteiaktivität, opinion leadership etc.

Differenzierung wird dadurch bewirkt, daß die Wahl wegen ihrer starkgeneralisierten Themen keine Möglichkeit zur Interessenmitteilung gibtund umgekehrt alle Interessenmitteilung adressiert werden muß anPersonen, die gewählt sind oder gewählt werden wollen.Sinn der Trennung:

dem Bürger wird ein doppelter Weg politischer Wirksamkeitgegeben

rechtlich gesicherter Einfluß ohne Effekt für bestimmteInteressenInteressenförderung ohne Erfolgsanspruch, also aufVerhandlung und Vermittlung angewiesen.

Verhinderung eines unmittelbaren Tauschs vonForderungserfüllung gegen Unterstützung.

Das würde heißen, daß das politische System in Abhängigkeit von

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V.

a)b)

1)

2)

1)

2)

wenigen Mächtigen in der Gesellschaft geriete. Differenzierungermöglicht an dieser kritischen Stelle eine gewisse Autonomie derPolitik gegenüber der Gesellschaft. Grenzen solcher Tauschgeschäfte:Parteien können, da von der Verwaltung getrennt, nicht ohne weiteresbestimmte Entscheidungen zusagen; Interessenverbände können, da vonden Wählern getrennt, nicht ohne weiteres Stimmen zusagen.

Trennung heißt nicht, daß jede Verbindung fehlte. Die verschiedenenRollen gehören einem System an, und das heißt: der Wechsel aus einerRolle in die andere ist legitim, sinnvoll und muß mit einkalkuliertwerden.

Differenzierung der Publikumsrollen

Hauptdifferenzierung im Anschluß an Trennung von Politik undVerwaltung: verwaltungsbezogene und politikbezogenePublikumsrollen

interessenspezifisch, aber entscheidungsabhängigoffen in bezug auf Möglichkeiten, aber Generalisierungszwang

Sinn dieser Trennung:

ein Zugleich von Herrschen und Beherrschtwerden in je anderenSituationen zu ermöglichen»Schließung« des Kommunikationskreislaufes in der dominantenRichtung.

Notwendigkeit einer Filterung der Reaktion

sachlich: die Reaktion muß auf politisch mögliche, aussichtsvolleThemen gebracht werden.zeitlich: Politik hat eine andere Terminplanung.Wartefähigkeit vorausgesetzt. Das Dringliche verliert seineDringlichkeit.Sehr frühzeitig kann man nur im Interesse des Gemeinwohlsauftreten.Als Individuum findet man Gehör nur, wenn man seine Wundenvorzeigen kann, also in relativ späten Entwicklungsstadien.

366

1)

2)

Problematik des föderalen Aufbaus:weniger Generalisierung, insb. durch politische Aktivität inlokalen oder regionalen ZentrenAndererseits setzt das Strukturkenntnisse voraus. Man mußwissen, welche Entscheidungen auf welcher Ebene bekämpftwerden müssen.

367

Register

Arbeitsmarkt 167Attraktivität politischer Ämter 424 f.Aufstiegswege 159, 423 f.Ausdifferenzierung 136Autonomie 106 ff., 141 f., 174 ff., 209 f.

Beamter– Landbesitz des 166 f., 421– Mobilität des 167– politische Nebenrollen des 178 f.– rechtliche Sicherstellung des 167

Bedürfnisse 30Bestände/Ereignisse 276Bestandsschutz 234bindende Entscheidung 38 f.Bürokratiemodell 155 Fn., 157 ff., s. Entbürokratisierung

Charisma 336 Fn.

Demokratie 91, 279 f., s. dominierende KommunikationsrichtungDienstideologien 379Dienstleistungsbetriebe 378 ff.dominierende Kommunikationsrichtung 139 ff., 267 ff., 275 f., 365 f., 399Doppelführungstheorie 153

Ehrenamt 385 f.Einflußkreislauf 138 f., s. dominierende KommunikationsrichtungEingriffsverwaltung/Zuteilungsverwaltung 241 ff.Einheit von Theorie und Praxis 310Einparteiensysteme 263, 305 ff., 415

– /Mehrparteiensysteme 323 f.Entbürokratisierung 241 Fn., 378 f.Entfremdung

368

– zwischen Politik und Publikum 292– zwischen Publikum und Verwaltung 384

Entscheidungsprämissen 195 ff.Entwicklungsländer 78 f., 99 Fn., 128 Fn., 129, 134, 155 Fn., 163 Fn., 214,

236 Fn., 286 Fn., 293 Fn., 326, 363, 398 f., 423Evolution 51 ff.expressiv/instrumentell 153 ff., 270 ff.

Familie 65 f., 69 f.Fehlervermeidung 382Föderalismus 373 f.formale Organisation 165 f., 170 ff.Freiheit 358Funktion des politischen Systems 37 ff.funktional-diffus 52 f., 64 ff.funktionale Differenzierung 68 ff., 77 ff., 106funktionale Methode 15funktional-spezifisch 52 f.

gegenwärtige Zukunft 276 ff.Geltung 102 f., 105, 393Generalisierung, Ebenen der 131 f., 145 f., 182 f., 184Gesellschaftstheorie 30Gesetzgebung 110, 394 f.Gesetzgebung/Rechtsanwendung 217 f.Gesinnungsrollen 169Gewaltentrennung 87 f.Gleichheit vor dem Gesetz 356 f.government 88, 190, 253, 353Grenzrollen, Kontaktrollen 140 f., 237Großreiche 420

Handlung, Handlungswissenschaften 12 ff., 20Hausherr 66 f.Herrschaft 51 ff., 58 ff., 64, 65 ff., 79, 102 f., 366 ff.Herstellung/Darstellung 269, 277

369

Hierarchie 60 ff., 65, 152Horizont 440 f.

Ideologie 264, 290, 305 ff., 308 ff.Image 338 f.Indiskretionen 292Individualismus 161, 338inkongruente Perspektive 12Input/Output 144Institutionalisierung 96

– von Themen 436 ff.Interessenabwägung 396Interessenverbände 115, 134 f., 235 ff., 321, 340 ff., 414 Fn.

Klassenjustiz, s. unprogrammierte EinflüsseKleingruppen 273 f.Klienten, s. KundenKnappheit 285 f.Koalitionsbildung 302 f.koinonía politiké 82 ff., s. politische GesellschaftKommunikation 192 ff., 435 f.Komplexität

– der Welt 16 ff., 27 f., 32, 34– soziale 29 ff., 36 f.

Komplexitätsgefälle 334Konditionalprogramme 122 f., 215 ff.Konditionalprogramme/Zweckprogramme 89 f., 109 ff., 210 ff.Konkurrenz 300Konsistenz 208 f.

– der Ideologie 313 f.– des Entscheidens 206 ff.

Kontakte zur Verwaltung 379 ff.Kooptation 384 f.Kostenrechnung 207 f.Kunden 378 ff.

370

Landbesitz 166 f., 421Lebenswelt 196Legitimation 96 ff., 152 ff., 155 Fn., s. VerfahrenLegitimität/Parteilichkeit 280 f.Legitimität/Rationalität 155 Fn.Liebe 70

Macht 194, 260 ff., 308 f.Machtwechsel 296 f., 317Marxismus 305 ff.Massenbewegungen 257, 275 f.Massenmedien 406 f.Mauerbau 104 f.Mehrparteiensysteme 284 ff., 321Meinungsforschung 295 ff.Menschenrechte 89Mikropolitik 45 ff.Mitgliedschaft 165, 170 f.Motive 98multifunktional, s. funktional-diffus

Naturrecht 54, 87Naturzustand 53 f.Neuerungen 314

oben/unten 118 ff., s. HierarchieObrigkeit 366 f.öffentliche Meinung 433 ff.

– Anonymität der 441– gesamtgesellschaftliche Relevanz der 445– liberale Konzeption der 433 f.– Themen der 441 ff.

öffentliche Sichtbarkeit 253 ff.opinion leader 409 f.Opportunismus 226 f., 234 f., 239 ff.Organisation, s. formale Organisation

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Partei 257, 300 f.Parteilichkeit/Legitimität 263, 265Patronage 178 f., 343 f.Person, Personen 74 f., 131 f.personale Rollenkombination 71 ff., 75 f., 342Personalhoheit 171persönliche Beziehungen 162 f.persönliche Verantwortung,

– Entlastung von 97 f.Politik

– Autonomie der 332– Funktion der 253 ff.– Rationalität der 286 ff.

Politik/Verwaltung 115 f., 118 ff., 125 f., 183 f., 281 f.Politik/Verwaltung, im Einparteiensystem 306 f.Politik/Wissenschaft 345 ff.Politik in anderen Sozialsystemen 45 f.Politiker, Privatleben der 339Politikwissenschaft 9 ff., 18politische Gesellschaft 30 f., 81 f.politische Kommunikation

– informale 408 ff., 410 Fn.politische Lernfähigkeit 296, 319 f.politische Mobilisierung 400 ff.politische Neutralisierungen 296 f.politische Persönlichkeiten 335 ff., 418 f., 425 f.politische Planung 214 f., 248politische Sozialisation 423politische Soziologie 9 ff.politische Sprache 269 ff.politische Unterstützung 114, 256 f., 361, 411

– Rollen für 422 f.– /politische Rekrutierung 418 ff., 420

politische Wahl 101, 286 ff.politische Zustimmung 361

372

politisches Handeln 259 f.politisches System

– Ausdifferenzierung des 64 ff., 136 f.– Außengrenzen/Innengrenzen des 137 f.– Autonomie des 106 ff.– Funktion des 35 ff., 43 f.

politisches System/Gesellschaft 33 f.Positivierung

– des Rechts 89 f.– /Positivität des Rechts 108 f.

praktische Philosophie 12 f., 81 f., 84pressure groups, s. InteressenverbändeProgrammierung 208 ff., 232 f.

– Grenzen der 223 f.Proporzsysteme 303, 402 f.Psychische Mechanismen 359 f.public relations 382 ff.Publikumsrollen 353 ff.

– Ausdifferenzierung der 354 ff.– der Politik 357– der Verwaltung 356 f., 376 ff.– Innendifferenzierung der 365 ff.– Juridifizierung der 356 f.– Zuschauer als 404 f.

Quantifikation 220 f.

Rangprinzip 170rationaler Verwaltungspartner 377rationaler Wähler 365, 412Rationalität, formal-legale 155 Fn.Rechtsbegriffe 207 f., 216 f.Rechtsstaat 88 f., 90Reduktion von Komplexität 121 f., 126 f., 272 f.Reduzieren von Forderungen 321Reflexrechte 234

373

Reflexivität des Wertens 310Rekrutierung 416 f.Religion 70 ff.Repräsentation 92 f., 397 f., 399 f., 402 f.Rollen 21, 68, 70, 71 ff., 101, 132, 136, 138, 143 Fn.

– Differenzierung der 73 ff., 160 f., 164 f., 180– Inkompatibilität der 331– Prinzip der Identifikation 168

Sachdimension 145 f.Scherz 196Selbstdarstellung 201Selbstprogrammierung 108 f., 210Sicherheitsproblem 166societas civilis, 82 ff., s. politische GesellschaftSozialdimension 142 f., 174soziale Kontrolle 68, 70sozialer Status 76 f.Sozialhierarchie 337Sprache 72, 192 ff., 304 Fn.Staat, als Maschine 85 f.Staatsräson 86 f.Staatsvertrag 32, 84 f., 354Staatszwecke 31 ff.Stadtstaaten 420Stämme 54 f., s. VerwandtschaftStatus quo 234 f.Statuspyramiden 76 f., 424 f.Stellen 429 f.Stereotype 387 f.Stilzwang 140, 357 f., 377 f.Störungen 242 f.symbolischer Interaktionismus 390Symptome des Wählerwillens 294 f., 335System, analytisches 22Systemdifferenzierung 106 ff.

374

Systemstrukturen 24Systemtheorie 19 ff.Systemtheorie/Faktortheorie 14 ff.

Tausch 101, 412 ff.Termine 370 f.Themen 436Themen, Karriere von 442Tod, Tötung des Machthabers 317 f., 340

überschneidende Umweltsektoren 177 f.Überschüsse, disponible 69 f.Umweltdifferenzierung 142 ff., 174 ff.Unpersönlichkeit 160 f., 201 f., 381 ff.unprogrammierte Einflüsse 217 ff.Unterstützungsrollen/Förderungsrollen 411 ff.

Varietät 111Verfahren 390 ff.Vernunft 439Versäulung 400 ff.Verstehen 11 f.Vertrauen 405 f.Verwaltung 151 ff.

– Außendarstellung der 202 f.– Autonomie der 173 f.– Belastung durch/Begünstigung durch 395– Funktion der 152– negative Bewertung der 387 f.– öffentliche Sichtbarkeit der 254 f.– Rationalität der 205 ff.– Umweltanlehnung der 175 f.– Umweltdifferenzierung der 174 ff.– Umweltlage der 173 f.– Zeitautonomie der 186 ff.– /Dienstleistungsbetriebe 378 ff.

375

– /Personal 185 f.– /Publikum 184 f., 376 ff.

Verwaltungsgerichtsbarkeit 389 f.Verwaltungspublikum 181 f.Verwaltungsrollen 157, s. BeamteVerwandtschaft 58 f., 126, 420Vielparteiensysteme 301 f.Volkswillen 266

Wählerrolle 411Wahlforschung 361wechselnde Präferenzen 226 f.Wechselwähler 361Weltgesellschaft 33 Fn.Werte 227 ff., 297Werte, Reflexivität der 310 ff.Werte/Programme 231 ff.wirtschaftliche Entwicklung 326wirtschaftliche Interessen 295

Zeit, verfügbare 144 f., 186 ff.Zeitdimension 144 f., 186 f.Zentralbanken 298Zivilisierung 77 f.Zurechenbarkeit 198., 202Zuschauen, Zuschauer 404 f.Zwang/Konsens 95 ff.Zweck/Mittel-Vertauschung 288 ff.Zweck/Mittel 118 ff.Zwecke 13 f., 123 f., 170

– Funktion von 228 ff.Zweckprogramme 220 ff.Zweckrollen 168 f., 170Zweiparteiensystem 299 ff.

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1. KapitelFachliche Abgrenzung der soziologischen Perspektive

Siehe dazu etwa Reinhard Bendix/Seymour M. Lipset, Political Sociology: ATrend Report and Bibliography, Current Sociology 6 (1957), S. 79-169; SeymourM. Lipset, Sociology and Political Science: A Bibliographical Note, AmericanSociological Review 29 (1964), S. 730-734; Otto Stammer, Gesellschaft undPolitik, in: Werner Ziegenfuß (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956,S. 730-734; Jean Meynaud, Schwierigkeiten der wissenschaftlichen Politik,Zeitschrift für Politik 6 (1959), S. 97-112 (109 ff.); Hans Peter Schwarz,Probleme der Kooperation von Politikwissenschaft und Soziologie inWestdeutschland, in: Dieter Oberndörfer (Hrsg.), Wissenschaftliche Politik: EineEinführung in Grundfragen ihrer Tradition und Theorie, Freiburg/Br. 1962,S. 297-333; W. G. Runciman, Social Science and Political Theory, Cambridge,1963. Für Peter von Oertzen, Überlegungen zur Stellung der Politik unter denSozialwissenschaften, in: Festschrift Otto Stammer, Köln-Opladen 1965, S. 101-118 (109 f.), liegen die Abgrenzungsschwierigkeiten infolge eines weitgefaßtenBegriffs der Politik mehr zwischen der politischen Wissenschaft und einersoziologischen Theorie der Gesellschaft.Vgl. hierzu Helmut Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie,Düsseldorf-Köln 1959, S. 11.Vgl. namentlich Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts,München-Leipzig 1913.Vgl. René König, Einige grundsätzliche Bemerkungen über die Mikroanalyse inder Betriebssoziologie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie8 (1956), S. 46-64, und Renate Mayntz, Die Organisationssoziologie und ihreBeziehungen zur Organisationslehre, in: Erich Schnaufer/Klaus Agthe (Hrsg.),Organisation, Berlin und Baden-Baden 1961, S. 29-54.Als ein monumentales Zeugnis dieser Tendenz siehe James G. March (Hrsg.),Handbook of Organizations, Chicago (IL) 1965.Hierzu näher: Niklas Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft,Bestandsaufnahme und Entwurf, Köln-Berlin 1966.Siehe etwa Torgny T. Segerstedt, Die Macht des Wortes: Eine Sprachsoziologie,Zürich 1947 (dt. Übers.).Vgl. hierzu verschiedene Studien von Alfred Schütz, gesammelt in: Alfred Schutz,Collected Papers, 3 Bde., Den Haag 1962 und 1966, besonders: Common Senseand Scientific Interpretation of Human Action, zuerst abgedruckt in: Philosophyand Phenomenological Research 14 (1953), S. 1-38.Kenneth Burke, Permanence and Change, New York (NY) 1935, S. 95 ff., nenntals Beispiele für solche »perspective by incongruity« Nietzsches Ausdruck von

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Unfrömmigkeit durch inkongruente Symbole, Spenglers Konfrontierunghistorisch einander fernliegender Kulturen als »gleichzeitig«, Bergsons Technikdes Gebrauchs von Widersprüchen zur Kritik von Abstraktionen, moderne,namentlich literarische Kunstrichtungen, Marx, Darwin, die Psychoanalyse. Mankönnte viele andere Beispiele finden. Die Verbreitung dieses seltsamenPhänomens läßt sich durch die Freude am Schockieren allein kaum erklären; manmuß es als Ausdruck eines gewandelten Erkenntnisinteresses begreifen, für dasnunmehr Bewußtsein, Form und damit Normalität gewonnen werden muß.Vgl. Wilbert E. Moore/Melvin M. Tumin, Some Social Functions of Ignorance,American Sociological Review 14 (1949), S. 787-795; Louis Schneider, TheRole of the Category of Ignorance in Sociological Theory: An ExploratoryStatement, American Sociological Review 27 (1962), S. 492-508.Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Wahrheit und Ideologie, Der Staat 1(1962), S. 431-448.Diese Auffassung vertritt namentlich Talcott Parsons, The Structure of SocialAction, Glencoe (IL) 1937 – ein Werk, das allerdings durch spätereEntwicklungen der soziologischen Systemtheorie heute in mancherlei Hinsichtüberholt ist.Vgl. auch Niklas Luhmann, Funktionale Methode und Systemtheorie, Soziale Welt15 (1964), S. 1-25.Zu denken ist hier besonders an die durch den Biologen Ludwig von Bertalanffyangeregte »allgemeine Systemtheorie«, die sich in dem Jahrbuch »GeneralSystems« der Society for the Advancement of General Systems Theory (seit1956) ihr Sprachrohr geschaffen hat, und ferner an die kybernetischeSystemtheorie.Ob der hier nicht direkt im Blickfeld stehenden Politikwissenschaft geratenwerden kann, sich als »Rekonstruktion« jener traditionellen politischenPhilosophie zu etablieren, bleibt ebenfalls fraglich. Diese Forderung erhebtWilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie: Eine Studie zurRekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied-Berlin 1963. Auch sonsttauchen im Sog geistesgeschichtlicher Forschungsinteressen ähnlicheVorstellungen auf. Siehe z. B. Klaus Hespe, Die Entwicklung der Staatszwecklehrein der deutschen Staatsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, Köln-Berlin1964. Man kann diesen Bemühungen zugeben, daß das verlorengegangeneProblemniveau der traditionellen politischen Philosophie wiedergewonnenwerden muß; aber das kann nicht durch Übernahme ihrer Problemlösungengeschehen, sondern nur durch Reproblematisierung ihrer Denkvoraussetzungen,also insbesondere dadurch, daß die teleologische Handlungsauslegung und die»topische« Methode der Konsensmehrung radikal in Frage gestellt werden.

2. KapitelTheoretischer Bezugsrahmen: Systemtheorie

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Die Verwendung dieses Begriffs »politisches System« ist für eine neuere, vorallem in den Vereinigten Staaten verbreitete Forschungsrichtung bezeichnend, diesowohl von Politologen als auch von Soziologen gefördert wird. Siehe z. B.Francis X. Sutton, Social Theory and Comparative Politics, in: HarryEckstein/David E. Apter (Hrsg.), Comparative Politics, New York-London 1963,S. 67-81; David Easton, An Approach to the Analysis of Political Systems, WorldPolitics 9 (1957), S. 383-400; ders., A Framework for Political Analysis,Englewood Cliffs (NJ) 1965; ders., A Systems Analysis of Political Life, NewYork-London-Sydney 1965; Gabriel A. Almond, Introduction: A FunctionalApproach to Comparative Politics, in: Gabriel A. Almond/James S. Coleman(Hrsg.), The Politics of the Developing Areas, Princeton (NJ) 1960, S. 3-64;ders., A Developmental Approach to Political Systems, World Politics 17 (1965),S. 183-214; Herbert J. Spiro, Comparative Politics: A Comprehensive Approach,The American Political Science Review 56 (1962), S. 577-595; Shmuel N.Eisenstadt, Primitive Political Systems: A Preliminary Comparative Analysis,American Anthropologist 6 (1959), S. 200-220; ders., The Political Systems ofEmpires, London 1963; Stephane Bernard, Esquisse d’une théorie structurelle-fonctionelle du système politique, Revue de l’Institut de Sociologie 36 (1963),S. 569-614, ders., Le conflit franco-marocain 1943-1956, 3 Bde., Bruxelles1963 (insb. Bd. II); Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution: Ein Beitrag zurpolitischen Soziologie, Berlin 1965, S. 14 ff.; Charles B. Robson, Der Begriffdes »politischen Systems«, Kölner Zeitschrift für Soziologie undSozialpsychologie 17 (1965), S. 521-527; H. V. Wiseman, Political Systems:Some Sociological Approaches, London 1966; Talcott Parsons, The PoliticalAspect of Social Structure and Process, in: David Easton (Hrsg.), Varieties ofPolitical Theory, Englewood Cliffs (NJ) 1966, S. 71-112; und für die kommunaleEbene z. B. Norman E. Whitten, Jr., Power Structure and Sociocultural Change inLatin American Communities, Social Forces 43 (1965), S. 320-329.Siehe z. B. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck,Darmstadt 1959, S. 136 ff. (180 f.), mit einem Überblick über die ältereDiskussion, oder die gerade in ihrer Beiläufigkeit typische Bemerkung: »DerStaat ist in erster Linie ein Kollektivum von Personen«, bei Nicolai Hartmann,Das Problem des geistigen Seins, 2. Aufl., Berlin 1949, S. 212. AndereDefinitionsbegriffe wie Körperschaft oder Gemeinwesen ändern an diesem»Bestehen aus Menschen« nichts. Auch der Anstaltsbegriff verschwimmt in derälteren Literatur mit dem des Gemeinwesens. Siehe z. B. Friedrich Julius Stahl,Die Philosophie des Rechts, Bd. II, 2, Nachdruck der 5. Aufl., Darmstadt 1963,S. 131 ff., wo übrigens in der Anm. auf S. 133 auch Verband und Anstaltgleichbedeutend gebraucht werden. Bemerkenswert ist, daß bei Max Weber,Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl., Tübingen 1956, S. 26 ff., sowohl dieDefinition des Staates als Anstaltsbetrieb als auch der Begriff des politischenVerbandes am Menschen vorbeiführen und, wenn man sie in ihre Elemente

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zerlegt, auf dem Handlungsbegriff aufgebaut sind. Mit Recht sieht Parsons daherin diesen berühmten Definitionsketten Ansatzpunkte einer soziologischenSystemtheorie.Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten I § 45, zit. nach: Werke, Bd. III(Philosophische Bibliothek Bd. 42), Leipzig 1870, S. 151.Als eine eindrucksvolle Formulierung siehe das »General Statement« in: TalcottParsons/Edward A. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge(MA) 1951, S. 7. Vgl. auch Talcott Parsons, The Social System, Glencoe (IL)1951, S. 24 ff.Zu Parsons’ Unterscheidung von concrete and analytical systems, in der sich dasSchwergewicht immer stärker zugunsten der letzteren zu entwickeln scheint, vgl.The Structure of Social Action, 2. Aufl., Glencoe (IL) 1949, S. 35, 731 f., oderTalcott Parsons/Neil J. Smelser, Economy and Society, Glencoe (IL) 1956,S. 14 ff. Siehe dazu auch Marion J. Levy, Jr., The Structure of Society, Princeton(NJ) 1952, S. 199 ff.; Harry M. Johnson, Sociology, New York (NY) 1960,S. 56 ff.Vgl. A Framework for Political Analysis, a. a. O., S. 37 ff. Siehe ferner Marion J.Levy, Jr., Modernization and the Structure of Societies: A Setting for InternationalAffairs, 2 Bde., Princeton (NJ) 1966, Bd. I, S. 19 ff., 175 ff.Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge,Husserliana, Bd. I, Den Haag 1950, S. 96 f., über die unvollkommene weil nurpräsumtive Evidenz der Welterfahrung.So z. B. A. D. Hall/E. R. Hagen, Definition of System, General Systems 1 (1956),S. 18-28 (20); Hubert M. Blalock/Ann B. Blalock, Toward a Clarification ofSystem Analysis in the Social Sciences, Philosophy of Science 26 (1959), S. 84-92; Heinz von Foerster, On Self-Organizing Systems and their Environments, in:Marshall C. Yovits/Scott Cameron (Hrsg.), Self-Organizing Systems, New York-Oxford-London 1960, S. 31-48 (36); Alfred Kuhn, The Study of Society: AUnified Approach, Homewood (IL) 1963, S. 48 ff.Siehe als eine besonders typische Formulierung: Talcott Parsons’ Introduction,in: Max Weber, The Theory of Social and Economic Organization, London-Edinburgh-Glasgow 1947, S. 20 f.Besonders scharf von Ralf Dahrendorf, Struktur und Funktion: Talcott Parsonsund die Entwicklung der soziologischen Theorie, Kölner Zeitschrift fürSoziologie und Sozialpsychologie 7 (1955), S. 491-519, und ders., Out ofUtopia: Toward a Reorientation of Sociological Analysis, The American Journalof Sociology 64 (1958), S. 115-127.Theoretisch vor allem dadurch, daß die Dichotomien Struktur/Prozeß undBestand/Wandel getrennt werden, so daß auch der Wandel von Strukturenvorstellbar wird. Siehe insbesondere Talcott Parsons, Some Considerations on theTheory of Social Change, Rural Sociology 26 (1961), S. 219-239, und allgemeinzur Distanzierung von der anfänglichen Konzeption einer strukturell-funktionalen

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Theorie ders., Die jüngsten Entwicklungen in der strukturell-funktionalenTheorie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964),S. 30-49.Vgl. Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 2. Aufl., Glencoe (IL)1957, S. 71 ff., oder Edward C. Banfield, Political Influence, New York (NY)1961.Hierzu Aaron Wildavsky, The Politics of the Budgetary Process, Boston-Toronto1964.Deshalb ist auch der Auffassung von Reinhard Bendix/Seymour M. Lipset,Political Sociology, Current Sociology 6 (1957), S. 79-99, wonach die politischeWissenschaft sich mit den Institutionen, die Macht bilden und verteilen, zubefassen hätte, die politische Soziologie dagegen diese Institutionen voraussetzenmüßte, nicht beizupflichten. Gerade als Teildisziplin der Soziologie kann diepolitische Soziologie nicht in dieser Weise auf die Behandlung vonStrukturproblemen verzichten. Eher könnte schon die genau umgekehrteAuffassung einleuchten.Als wichtigen Ausgangspunkt des amerikanischen Interesses an solchenVergleichen siehe die Formulierungen in: Roy Macridis/Richard Cox, Research inComparative Politics, American Political Science Review 47 (1953), S. 641-675.Siehe ferner Klaus von Beyme, Möglichkeiten und Grenzen der vergleichendenRegierungslehre, Politische Vierteljahresschrift 7 (1966), S. 63-96.

3. KapitelSoziale Komplexität

Vgl. dazu François Bourricaud, Science politique et sociologie: Réflexions d’unsociologue, Revue Française de Science Politique 8 (1958), S. 249-276 (251 ff.);Almond, Introduction, a. a. O. (Anm. 16); Fred W. Riggs, Models in theComparative Study of Public Administration, in: Fred W. Riggs/Edward W.Weidner, Models and Priorities in the Comparative Public Administration,Special Series No. 1, Chicago (IL) 1963, S. 6-43 (14 ff., 21 f.); ferner ErnstFraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, Köln-Opladen 1960, S. 242 f.,oder Karl W. Deutsch, The Nerves of Government: Models of PoliticalCommunication and Control, New York-London 1963, S. 15. Zur Deutung derfunktionalen Methode als vergleichender Methode allgemein: Niklas Luhmann,Funktion und Kausalität, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie14 (1962), S. 617-644. Im übrigen findet aber auch der strukturelle Vergleichimmer wieder Anhänger, weil er eine schärfere Begrenzung der Themenstellungermöglicht. Siehe in diesem Sinne etwa Ferrel Heady, Public Administration: AComparative Perspective, Englewood Cliffs (NJ) 1966, insb. S. 15 f.Bahnbrechend für die Verbreitung dieser Überzeugung war namentlich Husserls

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These von der »intersubjektiven Konstitution der Welt« und sein fragwürdigerVersuch, sie mit einem transzendentalen, »egologischen« Subjektivismus inEinklang zu bringen. Siehe vor allem Edmund Husserl, CartesianischeMeditationen und Pariser Vorträge, Husserliana Bd. I, Den Haag 1950. AlsAbwandlungen dieser These unter Verzicht auf den transzendentalen Primat der»Egologie« vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 6. Aufl., Tübingen 1949,S. 114 ff.; Jean-Paul Sartre, L’être et le néant, 30. Aufl., Paris 1950, S. 273 ff.;Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris 1945, insb.S. 398 ff. Vgl. ferner Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen,München 1928; Max Adler, Das Rätsel der Gesellschaft: Zur erkenntniskritischenGrundlegung der Sozialwissenschaft, Wien 1936; und als kritische Erörterung derHusserlschen Position: Alfred Schütz, Das Problem der transzendentalenIntersubjektivität bei Husserl, Philosophische Rundschau 5 (1957), S. 81-107;Hermann Zeltner, Das Ich und die Anderen: Husserls Beitrag zur Grundlegung derSozialphilosophie, Zeitschrift für Philosophische Forschung 13 (1959), S. 288-315; René Toulemont, L’essence de la société selon Husserl, Paris 1962;Michael Theunissen, Der Andere: Studien zur Sozialanthropologie der Gegenwart,Berlin 1965, S. 15 ff.Zum Bruch mit dieser Auffassung bei Hegel treffend Manfred Riedel, Hegels»bürgerliche Gesellschaft« und das Problem ihres geschichtlichen Ursprungs,Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 48 (1962), S. 539-566. Ausführlicherunten Kap. 8.Es macht dabei keinen wesentlichen Unterschied, ob man in Bedrohtheit undAngewiesenheit das unmittelbar wirkende rationale Motiv für denZusammenschluß der Menschen sieht oder – wie unter dem Einfluß vonAristoteles zumeist – nur die Grundlage für die Annahme eines natürlichenSozialtriebs, der dann die Menschen zusammenführt. Für beide Theorievariantenist im übrigen die Annahme gleichartiger, gemeinsamer Vernunft des Menschenunentbehrliche Prämisse. Mit dieser Annahme verdeckt man sich das radikaleProblem der sozialen Kontingenz der Welt.Siehe Aristoteles, Politik I, 1, 1252 1-9, wo dieser Gedankengang besondersdeutlich dargestellt wird.Vgl. zur »double contingency« aller Interaktion, bei der jeder Partner vom andernabhängt und zugleich jeder anders handeln könnte, Talcott Parsons/Edward A.Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge (MA) 1951, S. 16,und Talcott Parsons, The Social System, Glencoe (IL) 1951, S. 10 f., 36 ff.Parsons sieht in diesem Problem den Grund dafür, daß alle Sozialsysteme einenormative Struktur institutionalisieren müssen, um die »Komplementarität derVerhaltenserwartungen« sicherzustellen. Wie die spätere Entwicklung seinerTheorie des Aktionssystems zeigt, ist diese soziale Kontingenz jedoch nur einesder Systemprobleme neben anderen, wird also nicht mehr als axiomatischerGrundbegriff benutzt.

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In der Theorie rationalen Entscheidens haben vor allem die Spieltheorie und dieauf ihr fußende Organisationstheorie die »rationale Unbestimmtheit« allersozialen Situationen als Grundproblem erkannt. Siehe namentlich John vonNeumann/Oskar Morgenstern, Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten,Würzburg 1961 (dt. Übers.), S. 9 ff.; ferner Jacob Marschack, Towards anEconomic Theory of Organization and Information, in: Robert M. Thrall/Clyde H.Coombs/Robert L. Davis (Hrsg.), Decision Processes, New York-London 1954,S. 187-220; ders., Elements for a Theory of Teams, Management Science 1(1955), S. 127-137; Gérard Gäfgen, Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung:Untersuchungen zur Logik und ökonomischen Bedeutung des rationalenHandelns, Tübingen 1963, insb. S. 176 ff.Auch für Wiseman, Political Systems, a. a. O. (Anm. 16), S. 47, 98 f., ist diebegriffliche Trennung von Staat und Gesellschaft Voraussetzung für dieEntstehung einer politischen Soziologie. Die Konsequenzen dieser Theorie füreine Theorie der Gesellschaft können hier nicht ausgemalt werden. Es taucht zumBeispiel die Frage auf, ob es sinnvoll ist, die Grenzen der Gesellschaft weiterhindurch die Grenzen politischer Systeme zu definieren. In zeitlicher Hinsicht hatsich schon Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreichvon 1789 bis auf unsere Tage, Leipzig 1850, darüber hinweggesetzt und betont,daß eine Gesellschaft verschiedenartige politische Verfassungen überdauernkönne. In räumlicher Hinsicht wird noch heute gemeinhin angenommen, daßStaats- und Gesellschaftsgrenzen zusammenfallen. Typisch für die Unsicherheit indieser Frage Alfred Kuhn, The Study of Society: A Unified Approach, Homewood(IL) 1963, S. 212 f. und 541 ff. Da auch »Kulturen« als Abgrenzungskriterium mitder Ausbreitung der technisch-industriellen Zivilisation versagen, bleibt nur übrig,die Gesellschaft als Weltgesellschaft zu denken und die Vielzahl der politischenSysteme als Haupthindernis des Weltfriedens zu begreifen.Zur Forcierung dieses Problems der Kontingenz der Welt durch dietranszendentale Phänomenologie vgl. auch Hans Blumenberg, Lebenswelt undTechnisierung unter den Aspekten der Phänomenologie, Torino 1963, S. 13 f.,28 f.Siehe dazu Toulemont, a. a. O., mit einem umfassenden Überblick. Vgl. auch ders.,La spécifité du social d’après Husserl, Cahiers internationaux de Sociologie 25(1958), S. 135-151, und die Bedenken bei Zeltner, a. a. O., S. 306.

4. KapitelDie Funktion und Stellung des politischen Systems

Siehe z. B. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl., Tübingen 1956,S. 29, oder ders., Gesammelte politische Schriften, 2. Aufl., Tübingen 1958,S. 493 ff., mit Zuspitzung auf Anwendung physischer Zwangsgewalt in einem

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bestimmten Gebiet; Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S. 23 f.; Harold D.Lasswell, Politics: Who Gets What, When, How, New York (NY) 1936. VladimirO. Key, Jr., Politics, Parties, and Pressure Groups, 3. Aufl., New York (NY) 1953,S. 4 ff. An neueren Autoren etwa Max G. Lange, Politische Soziologie: EineEinführung, Berlin-Frankfurt/M. 1961, S. 9 ff.; Michael Freund, Politik,Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 8, Stuttgart-Tübingen-Göttingen1964, S. 356-371 (356); George E. Gordon Catlin, Systematic Politics: ElementaPolitica et Sociologica, o. O. (University of Toronto Press) 1962, S. 65 f.;Maurice Duverger, Sociologie politique, Paris 1966, S. 13 ff.Bereits Heller, a. a. O., S. 89 f., hatte gegen Weber auf die Notwendigkeitzielsetzenden Handelns hingewiesen (die Weber in abstracto natürlich niemalsbestritten haben würde), und dieses »Argument« wird heute viel wiederholt; siehevon Oertzen, Überlegungen zur Stellung der Politik, a. a. O. (Anm. 1), S. 103, mitweiteren Hinweisen. Primär am Zweckbegriff orientiert sich vor allem diepolitische Soziologie von Parsons. Sie hat den wichtigen theoretischen Vorzug,die Zweckformel auf die gleiche Anwendungsbreite zu bringen wie denMachtbegriff: Beide Kriterien gelten, wenn man sie nicht künstlich einschränkt,für Sozialsysteme jeder Art. Vgl. Talcott Parsons, On the Concept of PoliticalPower, Proceedings of the American Philosophical Society 107 (1963), S. 232-262, und ders., The Political Aspect, a. a. O. (Anm.16). Siehe ähnlicheAuffassungen bei Ossip K. Flechtheim (Hrsg.), Grundlegung der PolitischenWissenschaft, Meisenheim/Glan 1958, S. 70 ff.; William C. Mitchell, TheAmerican Polity: A Social and Cultural Interpretation, New York-London 1962,S. 7 ff. Als neuere Versuche, Zweckformeln als Kriterium des Politischeninhaltlich zu präzisieren, vgl. etwa Ulrich Scheuner, Grundfragen des modernenStaates, Recht, Staat, Wirtschaft 3 (1951), S. 126-165 (135), und ders., DerBereich der Regierung, Festschrift für Rudolf Smend, Göttingen 1952, S. 253-301 (272), oder, von der Systemtheorie aus, Roland J. Pennock, PoliticalDevelopment, Political Systems, and Political Goods, World Politics 18 (1966),S. 415-434.Der Begriff des Politischen, Neuausgabe des Textes von 1932, Berlin 1963.Siehe z. B. die Betonung des »Schöpferischen« der Politik bei Albert Schäffle,Über den wissenschaftlichen Begriff der Politik, Zeitschrift für die gesamteStaatswissenschaft 53 (1897), S. 579-600, verschärft bei Karl Mannheim,Ideologie und Utopie, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1952, S. 95 ff., oder als Beispiel füreine faschistische Äußerung: »L’ attività di governo è attività imprevista è per suastessa natura imprevedibile« (G. D. Ferri, La Funzione di governo e il GranConsiglio des Fascismo, 2 Bde., Roma 1939-1941, Bd. I, S. 79).Dies gilt besonders eindeutig und durchdacht für die politische Soziologie, an derTalcott Parsons arbeitet. Sie bezieht sich auf eines der vier Systemproblemeseiner allgemeinen Theorie des Handlungssystems, das Problem des goalattainment, und behandelt Untersysteme des Sozialsystems, die primär an dieser

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Funktion orientiert sind. Vgl. insb. Parsons, The Political Aspect, a. a. O.(Anm.16).Dieser Unterschied dürfte der wesentliche Grund sein, aus dem Organismus-Analogien in der politischen Soziologie abzulehnen sind. Organismen undorganismusähnliche Sozialsysteme stehen in einer unbestimmt-diffusenBeziehung zu einer übermäßig komplexen Umwelt, deren Komplexität sie alsBedingung ihres Überlebens durch selektive Prozesse der Auswahl relevanterInformationen reduzieren müssen. Politische Systeme setzen dagegen eineUmwelt mit Systemcharakter voraus, erfüllen in dieser Umwelt eine spezifischeFunktion und können deshalb auf eine generalisierte Bereitschaft zurUnterstützung durch ihre Umwelt rechnen. Sie können mithin höhereAnforderungen an ihre Umwelt stellen und sich deshalb intern einevoraussetzungsvollere Ordnung leisten als Organismen.Das betont auch Bernard, Esquisse, a. a. O. (Anm. 16), S. 582.Unter den amerikanischen Autoren hat namentlich Fred Riggs diese Bedeutungeiner sich beide Seiten offenhaltenden System/Umwelt-Theorie für vergleichendeForschungen erkannt. Siehe zum Methodischen Riggs, Models, a. a. O. (Anm. 31),S. 10 f., und sachlich vor allem ders., The Ecology of Public Administration,London 1961.Insofern ist es berechtigt, daß in der soziologischen Theorie des politischenSystems die zentrale politische Funktion vielfach, verkürzend und dramatisierend,als »absorption of demands« wiedergegeben wird. Siehe besonders Shmuel N.Eisenstadt, Bureaucracy and Political Development, in: Joseph LaPalombara(Hrsg.), Bureaucracy and Political Development, Princeton (NJ) 1963, S. 96-119,und dazu LaPalombara, im eben zitierten Band (Anm. 16), S. 28 ff. Vgl. fernerEaston, Framework, a. a. O., S. 112 ff., 199 ff., und Systems Analysis, a. a. O.(Anm. 16), S. 128 ff.Man beachte die Ähnlichkeit dieses Arguments mit dem der naturrechtlichenStaatsvertragslehren. Auch Rousseaus Unterscheidung von volonté générale undvolonté de tous hat in dieser Differenz von Struktur und Prozeß ihr inneres Recht.Der Fortschritt gegenüber diesen Darstellungen liegt vor allem in der Erkenntnis,daß es sich hierbei nicht um historische Geschehnisse, naturrechtliche odervernunftrechtliche Gebote oder substantielle Sachverhaltsunterschiede handelt,sondern lediglich um funktional überlegene Mechanismen möglicherSystembildung.Dieses Erfordernis wird vor allem von Talcott Parsons immer wieder betont.Kritiker, die ihm ein allzu harmonisches Bild der Sozialordnung vorwerfen,übersehen zumeist diese und ähnliche Vorbehalte und vereinfachen sich diekomplizierte Architektur der Parsonsschen Systemtheorie auf ihre Weise. Einegute, allerdings nicht ins Systemtheoretische ausgefeilte Darstellung desProblems findet sich auch bei Norbert Elias, Problems of Involvement andDetachment, The British Journal of Sociology 7 (1956), S. 226-252 (246 ff.).

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Ferner ist auch die Betriebswirtschaftslehre mit dem Problem der»Suboptimierung« auf das gleiche Phänomen gestoßen. Siehe z. B. CharlesHitch/Roland McKean, Sub-optimization in Operations Problems, in: Joseph F.McCloskey/Florence N. Trefethen (Hrsg.), Operations Research for ManagementBd. I, Baltimore (MD) 1954, S. 168-186, oder zu neueren Bemühungen um einemathematische Lösung dieses Problems Yuji Ijiri, Management Goals andAccounting for Control, Amsterdam 1965.Ein ähnlicher Gedanke klingt an einer bemerkenswerten Stelle derOrganisationstheorie von Barnard an: »This simultaneous contribution to twoorganizations by a single act appears to be the critical fact in all complexorganization; that is, the complex is made an organic whole by it« (Chester I.Barnard, The Functions of the Executive, Cambridge (MA) 1938, S. 112).Vgl. z. B. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 6. Neudruck der 3. Aufl.,Darmstadt 1959, S. 13 ff.; Heinrich Triepel, Staatsrecht und Politik, Berlin 1927,S. 11; Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S. 203 ff.; Wilhelm Grewe, ZumBegriff der politischen Partei, Festgabe für Erich Kaufmann, Stuttgart-Köln1950, S. 65-82 (71); Ulrich Scheuner, Der Bereich der Regierung. Festschrift fürRudolf Smend, Göttingen 1952, S. 253-301 (272 f.); Marcel Prélot, La sciencepolitique, Paris 1961; Carl J. Friedrich, Die Politische Wissenschaft, Freiburg-München 1961, S. 6 f. (in bezug auf »government«). Anderer Meinung z. B.Othmar Spann, Kurzgefaßtes System der Gesellschaftslehre, Berlin 1914.

5. KapitelPolitik in der Gesellschaft und in anderen Sozialsystemen

»Akzidentell« sagt Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie, Neuwied1963, S. 16.Vgl. z. B. Parsons/Shils, Toward a General Theory, a. a. O. (Anm. 36), S. 26, mitder Definition: »A society is the type of social system which contains withinitself all the essential prerequisites for its maintenance as a self-subsistentsystem.« Vgl. ferner Talcott Parsons, Societies: Evolutionary and ComparativePerspectives, Englewood Cliffs (NJ) 1966, S. 2, 9 f. Die Problematik dieserspeziellen Definition – sie übersieht, daß auch Gesellschaften, gerade wenn mansie als System definiert, eine Umwelt haben, von der sie abhängig sind – solltenicht dazu führen, die Unterscheidung von Sozialsystem und Gesellschaft alssolche abzulehnen. Eine andere Möglichkeit wäre, die Gesellschaft alsSozialsystem zu definieren, dem die Institutionalisierung letzterReduktionsmechanismen obliegt. So Niklas Luhmann, Gesellschaft, in C. D.Kernig u. a. (Hrsg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft: Einevergleichende Enzyklopädie, Freiburg-Basel-Wien 1968, S. 959-972.Vgl. Tom Burns, Micropolitics: Mechanisms of Institutional Change,

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Administrative Science Quarterly 6 (1961), S. 257-281; ders., Des fins et desmoyens dans la direction des entreprises: Politique intérieure et pathologie del’organisation, Sociologie du Travail 4 (1962), S. 209-229; Aaron Wildavsky, ThePolitics of the Budgetary Process, Boston-Toronto 1964; Norton E. Long, TheAdministrative Organization as a Political System, in: Sidney Mailick/Edward H.Van Ness (Hrsg.), Concepts and Issues in Administrative Behavior, EnglewoodCliffs (NJ) 1962, S. 110-121; siehe auch James M. March, The Business Firm asa Political Coalition, The Journal of Politics 24 (1962), S. 662-678.Die politische Soziologie von Talcott Parsons entgeht, wenn man aufgrund derbisher veröffentlichten Fragmente urteilen darf, diesen Schwierigkeiten dadurch,daß sie mit einem analytischen Systembegriff arbeitet und deshalb nicht daraufachten muß, ob die Beteiligten das Untersystem auch wirklich als System erleben.Unter dieser Voraussetzung kann der Prozeß der Untersystembildung natürlichbeliebig weit verfolgt werden und findet lediglich an den Grenzen deswissenschaftlichen Interesses seine Schranken. Vgl. insb. Parsons, The PoliticalAspect, a. a. O. (Anm. 16).

6. KapitelVertikale Ausdifferenzierung des politischen Systems: Herrschaft

Siehe dazu Kenneth E. Bock, Evolution, Function, and Change, AmericanSociological Review 28 (1963), S. 229-237, und den Überblick bei HeinzHartmann, Stand und Entwicklung der amerikanischen Soziologie, in: ders.(Hrsg.), Moderne amerikanische Soziologie: Neuere Beiträge zur soziologischenTheorie, Stuttgart 1967, S. 2-134 (70 ff.).Vgl. z. B. Talcott Parsons, Introduction to Part Two, in: Talcott Parsons/EdwardShils/Kaspar D. Naegele/Jesse R. Pitts (Hrsg.), Theories of Society, Glencoe (IL)1961, Bd. I, S. 239-264; ders., Some Considerations on the Theory of SocialChange, Rural Sociology 26 (1961), S. 219-239; ders., Societies: Evolutionaryand Comparative Perspectives, Englewood Cliffs (NJ) 1966, S. 22, 24 u. ö.; FredW. Riggs, Agraria and Industria, in: William J. Siffin (Hrsg.), Toward theComparative Study of Public Administration, Bloomington (IN) 1957, S. 23-116,und mit erheblichen Einschränkungen ders., Administrative Development. AnElusive Concept, in: John D. Montgomery/William J. Siffin (Hrsg.), Approachesto Development: Politics, Administration and Change, New York 1966, S. 225-255; David Easton, Political Anthropology, in: Bernard J. Siegel (Hrsg.), BiennialReview of Anthropology 1959, Stanford (CA) 1959, S. 210-262 (insb. 240 ff.);Neil J. Smelser, Social Change in the Industrial Revolution: An Application ofTheory to the Lancashire Cotton Industry 1770-1840, London 1959; Bert F.Hoselitz, Economic Policy and Economic Development, in: Hugh G. J. Aitken(Hrsg.), The State and Economic Growth, New York (NY) 1959, S. 325-352;

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manche Studien in: Joseph LaPalombara (Hrsg.), Bureaucracy and PoliticalDevelopment, Princeton (NJ) 1963, z. B. S. 39 ff., 122 ff., 184; Shmuel N.Eisenstadt, Social Change, Differentiation and Evolution, American SociologicalReview 29 (1964), S. 375-386. Als eine interessante Bestätigung von seiten derKybernetik vgl. auch Magoroh Maruyama, The Second Cybernetics: Deviation-Amplifying Mutual Causal Processes, General Systems 8 (1963), S. 233-241.Vgl. hierzu namentlich W. Ross Ashby, Design for a Brain, 2. Aufl., London 1954,und Herbert A. Simon, The Architecture of Complexity, Proceedings of theAmerican Philosophical Society 106 (1962), S. 467-482. O. J. Harvey/Harold M.Schroder, Cognitive Aspects of Self and Motivation, für psychologische, undHarold M. Schroder/O. J. Harvey, Conceptual Organization and Group Structure,für soziale Systeme, beides in: O. J. Harvey (Hrsg.), Motivation and SocialInteraction: Cognitive Determinants, New York (NY) 1963, S. 95-133 und 134-166. Als eine soziologische Äußerung zum Zusammenhang derSystemkomplexität und der Fähigkeit, Umweltänderungen zu absorbieren, vgl.auch Michael Banton, Roles: An Introduction to the Study of Social Relations,London 1965, S. 45 ff., und für die Politische Wissenschaft z. B. Samuel P.Huntington, Political Development and Political Decay, World Politics 17(1965), S. 386-430 (393 ff.)Sehr prononciert wird diese Auffassung in der Theorie der Entwicklungsländervon Fred W. Riggs, Administration in Developing Countries: The Theory ofPrismatic Society, Boston (MA) 1964, ausgearbeitet. Riggs bildet die Begriffe»fused« bzw. »diffracted societies«, um Anfang und Ende der Entwicklung zubezeichnen. Diese Typen werden als Idealtypen ohne eigene Problematikdargestellt. Dadurch entsteht der Eindruck, den Riggs bei ernsthafter Prüfungsicher nicht bestätigen würde: daß alle soziale Problematik aus einervorübergehenden Mischung beider in den »prismatic societies« resultiert, alsoselbst entwicklungsbedingt ist. Daß daraus eine besonders düstere Beurteilungder Lage der Entwicklungsländer resultiert, ist kein Wunder. Zugleich bezeugtdieser Fall, welche Bedeutung dem begrifflichen Bezugsrahmen einerEvolutionstheorie für die Beurteilung von Systemzuständen in der Entwicklungzukommt. Vgl. dazu auch die von Fred W. Riggs, Administrative Development: AnElusive Concept, in: John D. Montgomery/William J. Siffin (Hrsg.), Approachesto Development: Politics, Administration and Change, New York 1966, S. 225-255, selbst vorgenommene Modifizierung seines Aufsatzes, wo (S. 238 f.) derBegriff des undifferenzierten Systems denn auch zurückgenommen und als»purely heuristic device« gekennzeichnet wird.Wegen dieser für das Überleben der Menschheit notwendigen Familienfunktionenkann deshalb die Gesellschaft als solche nie einfaches System sein. EinfacheSysteme sind nur als Teilsysteme der Gesellschaft bestandsfähig. Das war festeLehrmeinung schon in der alteuropäischen Tradition, die zwar Beziehungenzwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Herrn und Knecht, aber schon nicht

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mehr das Haus und erst recht nicht die politische Gesellschaft als einfacheGesellschaft ansah. Vgl. dazu Manfred Riedel, Zur Topologie des klassisch-politischen und des modern-naturrechtlichen Gesellschaftsbegriffs, Archiv fürRechts- und Sozialphilosophie 51 (1965), S. 291-318 (297 f., 309 f.). Dereindrucksvollste Versuch unserer Tage, Gesellschaft als einfaches System zugründen, der israelische Kibbutz, konnte deshalb auch nur mit erheblicherfinanzieller und politischer Umweltunterstützung und unter Entwurzelung derFamilie als System anlaufen, und er scheitert letztlich daran, daß eine Umwelt, diesolche Unterstützung gewährt, bestimmte Leistungen erwartet, die nur aufgrundeiner differenzierten Innenstruktur des Kibbutz erbracht werden können. Hierzugut Ivan Vallier, Structural Differentiation, Production Imperatives and CommunalNorms: The Kibbutz in Crisis, Social Forces 40 (1962), S. 233-242.Als ein Versuch, solche Substrukturen der Familie zu unterscheiden, vgl. MarionJ. Levy, Jr., The Family Revolution in Modern China, Cambridge (MA) 1949.Das versuchen durchaus konsequent Autoren, die einen analytischenSystembegriff verwenden. Siehe z. B. Shmuel N. Eisenstadt, The PoliticalSystems of Empires, London 1963, S. 5. Der Schluß von der Notwendigkeit derErfüllung politischer Funktionen in allen Gesellschaftssystemen auf dasVorhandensein politischer Teilsysteme ist jedoch fragwürdig wie jeder Schlußvon Funktionen auf Strukturen. Der Begriff des analytischen Systems hat denNachteil, die Fragwürdigkeit dieses Schlusses zu verdecken. Im übrigen ist essehr zweifelhaft, wieweit auf dieser Ebene der Entwicklung überhaupt politischeEntscheidungen getroffen werden müssen. Max Gluckman, Custom and Conflictin Africa, Oxford 1955; ders., Politics, Law and Ritual in Tribal Society, Oxford1965, S. 81 ff.; und Jan van Velsen, The Politics of Kinship: A Study in SocialManipulation Among the Lakeside Tonga of Nyasaland, Manchester 1964, habenzum Beispiel sehr eindrucksvoll gezeigt, daß die Friedensfunktion politischerHerrschaft weitgehend auch durch ein weit auszweigendes, kompliziertverflochtenes Heirats- und Verwandtschaftssystem erfüllt werden kann, das esschwierig macht, für Konflikte Verbündete zu finden, weil es kaum Helfer gibt,die nicht Rollenbeziehungen zur Gegenseite unterhalten müssen.Vgl. den ersten Typus in der Klassifikation politischer Systeme in Afrika beiMeyer Fortes/E. E. Evans-Pritchard (Hrsg.), African Political Systems, Oxford1940, Neudruck London-New York-Toronto 1964, S. 5 f.; für Australien sieheetwa R. Lauriston Sharp, People Without Politics, in: Systems of PoliticalControl and Bureaucracy in Human Societies. Proceedings of the 1958 AnnualSpring Meeting of the American Ethnological Society, Seattle (WA) 1958, S. 1-8.In dieser inhärenten Unbegrenztheit reiner Verwandtschaftssysteme sieht TalcottParsons, Societies: Evolutionary and Comparative Perspectives, EnglewoodCliffs (NJ) 1963, S. 37 f., eine entscheidende Schwäche primitiverGesellschaften, die sich nur auf Verwandtschaft gründen, und ein Hindernis für dieweitere Entwicklung, das durch Stabilisierung einer territorialen Herrschaft

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überwunden werden kann.Insofern hat sich die ältere These, daß Verwandtschaft und territoriale Herrschaftaufeinanderfolgende Prinzipien rechtlich-politischer Ordnung seien (vgl. z. B.Henry S. Maine, Ancient Law, Ausgabe The World Classics, London 1959,S. 93 ff.), nicht bestätigt. Siehe z. B. Robert H. Lowie, The Origin of the State,New York (NY) 1927, oder I. Schapera, Government and Politics in TribalSocieties, London 1956, Neudruck 1963.Als Beispiel für eine solche häuptlingslose Gesellschaft siehe die an der Grenzezwischen Uganda und Kongo lebenden Amba – siehe Edward H. Winter, Bwamba:A Structural-Functional Analysis of a Patrilineal Society, Cambridge o. J., insb.S. 86 f., 102 ff.Das wird besonders deutlich an dem Beispiel der Somali, das I. M. Lewis, APastoral Democracy: A Study of Pastoralism and Politics Among the NorthernSomali of the Horn of Africa, London-New York-Toronto 1961, insb. S. 196 ff.,untersucht. Für andere Fälle siehe Winter, a. a. O., oder Leopold Pospisil,Kapauku Papuan Political Structure, in: Systems of Political Control andBureaucracy in Human Societies, Proceedings of the 1958 Annual SpringMeeting of the American Ethnological Society, Seattle (WA) 1958, S. 9-22.Easton, Political Anthropology, a. a. O. (Anm. 2), S. 237, nennt den politischenAspekt dieser Ordnung contingent political system.Die umfangreiche Diskussion über die »Entstehung des Staates« oder dieExistenz »staatsloser Gesellschaften« hatte dieses Problem vor Augen, hatte esaber mit einer unnötig starren Alternative zu erfassen versucht. Easton, a. a. O.,S. 238 ff., betont mit Recht, daß es angemessener ist, sich die historischeEntwicklung als einen Prozeß zunehmender Differenzierung vorzustellen. ÄhnlichGabriel A. Almond/James S. Coleman (Hrsg.), The Politics of the DevelopingAreas, Princeton (NJ) 1960, S. 3-64.Vgl. z. B. Schapera, a. a. O., S. 126.»The idea that a number of persons should exercise political rights in commonsimply because they happened to live within the same topographical limits wasutterly strange and monstrous to primitive antiquity« (Maine, a. a. O., S. 108).Beispiele hierfür bei John Middleton/David Tait (Hrsg.), Tribes Without Rulers:Studies in African Segmentary Systems, London 1958. Siehe auch Jan van Velsen,The Politics of Kinship: A Study in Social Manipulation Among the LakesideTonga of Nyasaland, Manchester 1964, insb. S. 188 ff.; Lewis, a. a. O., S. 203 ff.Treffend charakterisiert Aristoteles (Politik 1252 17) das Dorf als »Kolonie derHäuser« (apoikía oikías), also als ein aus dem Haus hervorgegangenesSiedlungsgebilde, »dessen Angehörige von manchen auch Milchgenossen, Kinderoder Kindeskinder genannt werden«.Siehe Aidan W. Southall, Alur Society: A Study in Processes and Types ofDomination, Cambridge o. J. (1953), S. 249 f. Aufgenommen und in eine Theorieder Modernisierung übernommen hat dessen Unterscheidung von Pyramiden und

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Hierarchien David Apter, The Political Kingdom in Uganda: A Study inBureaucratic Nationalism, Princeton (NJ) 1961, S. 86 ff., und ders., The Politicsof Modernization, Chicago-London 1965, S. 91 ff. Zum Unterschied zu deneinfacheren Führungsstrukturen archaischer Gesellschaften vgl. ferner MarshallD. Sahlins, Poor Man, Rich Man, Big-Man, Chief: Political Types in Melanesiaand Polynesia, Comparative Studies in Society and History 5 (1962-63), S. 285-303.Dazu am Beispiel amerikanischer Indianerstämme treffend Walter B. Miller, TwoConcepts of Authority, The American Anthropologist 57 (1955), S. 271-289, neugedruckt in: James D. Thompson u. a. (Hrsg.), Comparative Studies inAdministration, Pittsburgh (PA) 1959, S. 93-115.Vgl. hierzu den Begriff der »evolutionary universals« von Talcott Parsons,Evolutionary Universals in Society, American Sociological Review 29 (1964),S. 339-357. Parsons reiht unter die evolutionary universals der menschheitlichenZivilisationsgeschichte ausdrücklich die kulturelle (und das heißt: nicht mehr vonVerwandtschaft abhängige) Legitimation der politischen Herrschaft und derenbürokratische Organisation ein.Diese positive Einschätzung struktureller Unbestimmtheit zeichnet neuereBemühungen um eine stärker umweltbezogene Systemtheorie aus, die sowohl inder Kybernetik als auch in der Organisationswissenschaft an Boden gewinnen.Siehe den Begriff der »requisite variety« bei W. Ross Ashby, An Introduction toCybernetics, London 1956, S. 206 ff.; ferner Wolfgang Wieser, Organismen,Strukturen, Maschinen: Zu einer Lehre vom Organismus, Frankfurt/M. 1959,S. 76 ff.; Stafford Beer, Kybernetik und Management, Frankfurt/M. 1962 (dt.Übers.), und aus der Organisationswissenschaft etwa: Melville Dalton, Men WhoManage, New York-London 1959, insb. S. 243 ff.; Tom Burns/G. M. Stalker, TheManagement of Innovation, London 1961; Victor A. Thompson, Bureaucracy andInnovation, Administrative Science Quarterly 10 (1965), S. 1-20; NiklasLuhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung: Eineverwaltungswissenschaftliche Untersuchung, Berlin 1966, S. 23 f., 52 ff.P. G. Herbst, A Theory of Simple Behavior Systems, Human Relations 14 (1961),S. 71-94, 193-239 (72 bzw. 193), definiert den Unterschied von einfachen undkomplexen Systemen geradezu durch das Fehlen bzw. Vorhandensein solcherKoordinations- und Kontrollzentralen, die nicht unmittelbar für den Output desSystems arbeiten. Uns scheint dies ein sekundäres Kriterium zu sein.

7. KapitelHorizontale Ausdifferenzierung des politischen Systems: FunktionaleSpezifizierung

Auch Talcott Parsons, An Outline of the Social System, in: Talcott

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Parsons/Edward Shils/Kaspar D. Naegele/Jesse R. Pitts (Hrsg.), Theories ofSociety, New York (NY) 1961, Bd. I, S. 30-79 (49), unterscheidet Absonderungeiner Familie und besonderer politischer Verantwortlichkeit von derSpezifizierung der politischen Form.Siehe z. B. Middleton/Tait, Tribes Without Rulers, a. a. O. (Anm. 17), S. 14 f. Zubeachten bleibt jedoch, daß in Gesellschaften, die durch denVerwandtschaftsgedanken geprägt und begrenzt sind, isolierte Rollen schwer zuinstitutionalisieren und dauerhaft zu fixieren sind. Man findet daher weithin auchreligiöse Rollenaspekte durch Abstammung legitimiert, z. B. unter demGesichtspunkt der besonderen Nähe zu den Toten des Stammes oder derVererblichkeit einer magischen Potenz.Bekannt sind die Beispiele aus der Geschichte des chinesischen Reichs. Siehe fürganz andere Fälle E. E. Evans-Pritchard, The Divine Kingship of the Shilluk of theAnglo-Egyptian Sudan, Cambridge 1948, neu gedruckt in ders., Essays in SocialAnthropology, London 1963.Siehe hierzu Riggs, Agraria and Industria, a. a. O. (Anm. 2); Aidan W. Southall,Alur Society: A Study in Processes and Types of Domination, Cambridge o. J.(1953), insb. S. 121 ff.; Charles Drekmeier, Kingship and Community in EarlyIndia, Stanford (CA) 1962, insb. S. 271 ff.Siehe zu den politischen Funktionen in der traditionellen chinesischen Familiez. B. Levy, The Family Revolution, a. a. O. (Anm. 6), S. 159 ff., 232 ff. Ein anderesbekanntes Beispiel ist die souveräne Stellung des pater familias im römischenRecht. Die Entpolitisierung der Familie durch Abbau eindeutigerEntscheidungsstrukturen (z. B. durch »Gleichberechtigung« oder durch einekomplizierte Pädagogik) ist denn auch erst möglich, wenn das politische Systemder Gesellschaft durch funktionale Spezifizierung entsprechend leistungsfähigergeworden ist.Im übrigen sei angemerkt, daß noch heute bei der Definition des Staates durch einMonopol legitimer Gewaltanwendung gemeinhin übersehen wird, daß diesesMonopol an der Familie seine Grenzen findet und die Anwendung physischerGewalt noch als legitim gilt.Hierzu vortrefflich E. A. Kracke, Jr., Civil Service in Early Sung China,Cambridge (MA) 1953, S. 960-1067. Einen Vergleich der chinesischen und derjapanischen Lösung findet man bei Marion J. Levy, Jr., Modernization and theStructure of Societies: A Setting for International Affairs, Princeton (NJ) 1966,Bd. I, S. 115 ff.Vgl. das von Lloyd A. Fallers, Bantu Bureaucracy: A Century of PoliticalEvolution among the Basoga of Uganda, 2. Aufl., Chicago-London 1965, erörterteBeispiel einer afrikanischen Bürokratie. Reiches Material findet sich auch in:Audrey I. Richards (Hrsg.), East African Chiefs: A Study of PoliticalDevelopment in Some Uganda and Tanganyika Tribes, London 1959. Für Indiengibt Reinhard Bendix, Nation-Building and Citizenship: Studies of our Changing

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Social Order, New York-London-Sydney 1964, S. 216 ff., einen Überblick undLiteraturhinweise.Vgl. Shmuel N. Eisenstadt, The Political Systems of Empires, New York-London1963.Eisenstadt, a. a. O., S. 26 u. ö., spricht in diesem Sinne von »free-floatingresources«. Ein wesentlicher Aspekt dieser Verfügbarkeit ist natürlich dieFreistellung von Bindungen, die geburtsmäßig oder verwandtschaftlich (askriptiv)festliegen. Das unterstreicht auch Parsons verschiedentlich – siehe z. B.Introduction to Part Two, a. a. O. (Anm. 2), S. 244 ff., oder ders., SomeConsiderations, a. a. O. (Anm. 2), S. 230 f. Vgl. im übrigen auch Shmuel N.Eisenstadt, Transformations of Social, Political, and Cultural Orders inModernization, American Sociological Review 30 (1965), S. 659-673; Levy,Modernization, a. a. O., Bd. I, S. 33 ff.Siehe die bekannten Ausführungen von Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft,Köln-Berlin 1964, S. 705 ff.; ferner etwa Joseph A. Schumpeter, Die Krise desSteuerstaates, in: ders., Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953, S. 1-71;Seymour M. Lipset, Soziologie der Demokratie, Neuwied-Berlin 1962 (dt.Übers.), S. 42 ff.Vgl. hierzu Talcott Parsons/Robert F. Bales, Familiy, Socialization and InteractionProcess, Glencoe (IL) 1955; Dieter Claessens, Familie und Wertsystem: EineStudie zur »zweiten sozio-kulturellen Geburt« des Menschen, Berlin 1962; PeterL. Berger/Hannsfried Kellner, Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit,Soziale Welt 16 (1965), S. 220-235.Zur bemerkenswerten Stabilität der Familie selbst bei politischen Katastrophenvgl. als empirische Untersuchungen Hilde Thurnwald, GegenwartsproblemeBerliner Familien, Berlin 1948, und Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschenFamilie in der Gegenwart: Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Dortmund 1953.Diese Formulierung nach Drekmeier, Kingship and Community, a. a. O. (Anm.27), S. 289 – einer Untersuchung, die die gemeinte Entwicklung auch sonst amBeispiel Indiens gut verdeutlicht.Zu dessen Bedeutung für die Entstehung der neuzeitlich rationalenGesellschaftsordnung vgl. etwa Otto Brunner, Das Problem einer europäischenSozialgeschichte, Historische Zeitschrift 177 (1954), neu gedruckt in und zitiertnach: ders., Neue Wege der Sozialgeschichte: Vorträge und Aufsätze, Göttingen1956, S. 7-32 (22 ff.).Siehe z. B. Riggs, Agraria and Industria, a. a. O. (Anm. 2), S. 73 ff. Bemerkenswertist im übrigen, daß die gesellschaftlichen Bedingungen stabiler Demokratien, dieLipset, Soziologie der Demokratie, a. a. O., S. 36 ff., unter dem Gesichtspunkt desStandes der wirtschaftlichen Entwicklung zusammenstellt, im wesentlichen diebesondere Kommunikationsdichte in stabil demokratischen Staaten betreffen.Immerhin ist es wohl kein Zufall, daß die Sprache den Druck dieser

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Anforderungen zu spüren bekommt und daß sich seit dem späten Mittelalter,obwohl zunächst aus rein theologischen Motiven, eine theoretischeDifferenzierung von Sein und Sprache durchsetzt. Zuvor hatte man vorherrschendangenommen, daß die Worte Wesensbestandteile der Sache selbst seien, die siebezeichnen, und nicht nur ein »Hauch«. Vgl. die Erörterung dieser Frage inPlatons Kratylos. Erst im späten Mittelalter gibt die nominalistischeDenkrichtung dem Menschen die Freiheit, eine Sache zu nennen, wie er will undwie es zweckmäßig ist.Vgl. zu diesem Punkte namentlich Parsons’ Begriff generalisierterSteuerungssprachen, insb. in: Talcott Parsons, On the Concept of Influence,Public Opinion Quarterly 27 (1963), S. 37-62, und ders., Die jüngstenEntwicklungen in der strukturell-funktionalen Theorie, Kölner Zeitschrift fürSoziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S. 30-49 (37 ff.).Vgl. hierzu Meyer Fortes, The Structure of Unilineal Descent Groups, AmericanAnthropologist 55 (1953), S. 17-41 (36), und als eine grundsätzlichereAusarbeitung dieses Gedankens Siegfried F. Nadel, The Theory of SocialStructure, Glencoe (IL) 1957, S. 68 f. Allerdings darf dieser Ordnungstyp mitinstitutionell starr festgelegten Rollenverbindungen nicht als allgemeingültigangesehen werden. Es gibt auch relativ einfache Gesellschaften, die die Wahl vonZugehörigkeiten institutionalisiert haben. Für ein Beispiel aus dem Bereich derpolitischen Anthropologie vgl. Frederik Barth, Political Leadership Among SwatPathans, London 1959.Levy, Modernization, a. a. O., Bd. I, S. 197, sieht in dieser Problematik komplexerRollendifferenzierung einen Grund für das Syndrom von rationalen (Leistungbetonenden), universalistischen, funktional-spezifischen und gefühlsneutralen,Intimkontakte meidenden Orientierungsrichtungen in zivilisiertenSozialordnungen.Dies ist im übrigen der soziologische Sinn der modernen Gleichheitsideologien,speziell des Rechtsprinzips der Gleichheit vor dem Gesetz. Wenn Gleichheit indiesem Sinne postuliert wird, bedeutet das, daß sie sich von selbst versteht undalle Ungleichheit begründet werden muß. Ungleichheit ist aber nichts weiter, alsdaß in bestimmten Rollenzusammenhängen »andere Rollen« der Beteiligtenberücksichtigt werden – daß jemand von Steuern befreit wird, weil er adligerAbstammung ist, bevorzugt über die Kreuzung gelassen wird, weil er in einerStaatskarosse fährt, eine Wohnung bekommt, weil er kinderreich ist, usw. DasGleichheitsprinzip besagt im Grunde also, daß die Person allein kein sinnvollesPrinzip der Rollenkombination mehr ist, sondern daß jedes Herbeiführen solcherpersonellen Kombinationen einer sachlich-stichhaltigen Begründung bedarf. Vgl.dazu ausführlicher: Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution: Ein Beitrag zurpolitischen Soziologie, Berlin 1965, S. 162 ff.Damit soll keineswegs generell behauptet werden, daß Rollentrennung undIndifferenz des politischen Systems »richtig« und stets zu empfehlen seien. Zur

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Absorption von Forderungen und Widersprüchen im politischen System gehörtmehr als nur gleiche Zugänglichkeit für alle. Es kann deshalb sehr wohl sein, daßeine übermäßige Verknüpfung bestimmter Rollen, etwa Adel oder »Bildung undBesitz«, mit denen des politischen Systems als selektives Prinzip unentbehrlichist, um eine Überflutung mit unlösbaren Konflikten von vornherein zu verhindern.Eine solche Vermarktung ist für alle Rollen berufsmäßiger Arbeitselbstverständlich geworden. Auch Ehepartner werden nicht selten, nachdem derEntschluß zur Ehe gefaßt ist, über marktähnliche Einrichtungen gesucht, obgleichdas Prinzip der Liebe ein solches Verhalten mit besonderenDarstellungsschwierigkeiten belastet. Für den wissenschaftlichen Nachwuchserfüllen die großen wissenschaftlichen Gesellschaften, Tagungen undPublikationsmittel marktähnliche Funktionen.Vgl. hierzu Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation,Berlin 1964, S. 156 ff.Vgl. dazu etwa Fred W. Riggs, The Ecology of Public Administration, London1961, S. 25. Bemerkenswert ist ferner, daß die Untersuchung derVerwaltungssysteme zweier verschieden weit »entwickelter« Länder durchRichard L. Harris/Robert N. Kearney, A Comparative Analysis of theAdministrative Systems of Canada and Ceylon, Administrative Science Quarterly8 (1963), S. 339-360, auf eine sehr viel eindeutigere Statusüberlegenheit derBürokratie in der weniger stark differenzierten Gesellschaft gestoßen ist.Hierzu ausführlich Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation:Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Basel 1939.The Political System of Empires, New York-London 1963.Traditionale Orientierung ist, das kann hier nur angemerkt werden, eine Art,Komplexität zu reduzieren, indem man sie als durch eine gemeinsame Geschichteschon reduziert voraussetzt. Das ist, ebenso wie die funktional äquivalentenVorstellungen einer »Seinssprache« oder eines »Naturrechts« unentbehrlich,solange die Gesellschaft nicht wirkungsvollere Mechanismen der planmäßig-selektiven Reduktion von Komplexität ausbilden und institutionalisieren kann.Vgl. dazu auch Niklas Luhmann, Reflexive Mechanismen, Soziale Welt 17 (1966),S. 1-23.Hierzu gut: Otthein Rammstedt, Sekte und soziale Bewegung: SoziologischeAnalyse der Täufer in Münster (1534/35), Köln-Opladen 1966.Vgl. etwa Roman Schnur, Individualismus und Absolutismus: Zur politischenTheorie vor Thomas Hobbes, Berlin 1963.

8. KapitelBegleitende Interpretationen

Vgl. dazu Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie: Eine Studie zur

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Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied-Berlin 1963. In diesemVersuch einer Rekonstruktion der politischen Wissenschaft siehe bereits obenKap. 1, Anm. 15. Siehe ferner Manfred Riedel, Hegels »bürgerlicheGesellschaft« und das Problem ihres geschichtlichen Ursprungs, Archiv fürRechts- und Sozialphilosophie 48 (1962), S. 539-566, und ders., Zur Topologiedes klassisch-politischen und des modern-naturrechtlichen Gesellschaftsbegriffs,Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 51 (1965), S. 291-318; JürgenHabermas, Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zurSozialphilosophie, in ders., Theorie und Praxis: Sozialphilosophische Studien,Neuwied-Berlin 1963, S. 13-51, der den entscheidenden Bruch jedoch früheransetzt.Siehe z. B. John Locke, Two Treatises of Civil Government II, 7 (zit. nach derAusgabe der Everyman’s Library, London 1953, S. 154 ff.); Samuel Pufendorf, Deiure naturae et gentium libri octo, VII (zit. nach der Ausgabe Frankfurt/M.-Leipzig1744, Bd. II, S. 109 ff.); Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten § 46 (zit. nach derAusgabe der Philosophischen Bibliothek Leipzig 1870, S. 152).Vgl. das eben zitierte Kapitel bei Locke oder Christian Wolff, VernünftigeGedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit demgemeinen Wesen, 4. Aufl., Frankfurt/M.-Leipzig 1736.Ein Beispiel ist die große Kontroverse um die Frage, ob das alleentgegenstehenden Rechte überwindende ius eminens des Fürsten als»dominium« konstruiert werden kann oder nicht. Vgl. Hugo Grotius, De iure belliac pacis libri tres II, 14, § 7 (zit. nach der Ausgabe Amsterdam 1720, S. 416), unddie Bedenken Pufendorfs (a. a. O., VIII,5, § 7, Bd. II, S. 425 ff.) gegen dieVerwendung des Begriffs »dominium« in diesem Zusammenhang. WeitereHinweise bei Georg Meyer, Das Recht der Expropriation, Leipzig 1868,S. 125 ff.; oder bei Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung dernaturrechtlichen Staatstheorien, 5. Aufl., Aalen 1958, S. 295 f.Dazu vgl. auch Friedrich Jonas, Zur Aufgabenstellung der modernen Soziologie,Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 52 (1966), S. 349-375 (363 ff.).Vgl. hierzu als Überblick von Gierke, a. a. O., S. 76 ff.; Georg Jellinek,Allgemeine Staatslehre, 6. Neudruck der 3. Aufl., Darmstadt 1959, S. 201 ff.Of the Laws of Ecclesiastical Polity (zit. nach der Ausgabe der Everyman’sLibrary, London 1954), I, 10, S. 187 ff.Politica methodice digesta, 3. Aufl., Herborn 1614, Neudruck Aalen 1961, insb.das »Schema Political« und die grundlegenden Ausführungen cap. I.Bezeichnend genug ist, daß die monistischen Positionen, die nur einenGesellschaftsvertrag kennen, sich in der neuen, differenzierten Wirklichkeitunversehens radikalisieren, sei es, um dem Volk alle Rechte zu nehmen(Hobbes), sei es, um dem Herrscher alle Rechte zu nehmen (Rousseau). Siefinden weite Aufmerksamkeit, setzen sich aber nicht durch.Siehe als eine einflußreiche Darstellung Pufendorf, a. a. O., Bd. II, S. 127 ff., oder

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ders., De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo, II, 6, §§ 7-9(zit. nach der Ausgabe Cambridge 1735, S. 293 f.). Pufendorf hält zwischen denbeiden Verträgen noch ein die Regierungsform festlegendes »decretum« fürerforderlich.Siehe Carl Schmitt, Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes, in:Dem Gedächtnis an René Descartes, Berlin 1937, Archiv für Rechts- undSozialphilosophie 30 (1937), S. 622-632.Siehe vor allem Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neuerenGeschichte, 2. Aufl., München-Berlin 1925, mit einem allerdings eigentümlichunhistorischen Grundbegriff von Staatsräson. Vgl. ferner Gerhard Ritter, DieDämonie der Macht, 6. Aufl., München 1948.In den manieristischen Staatsräsonlehren, auf die Schnur (a. a. O., S. 50 ff.)besonders eingeht, fehlt freilich dieses kompensierende Moment einsehbarerVernunftregeln. Die Staatsräson heißt dann nur noch so. Doch dieseBetrachtungsweise setzt sich nicht durch. Im übrigen muß das Kalkül geradewegen seiner einsehbaren Rationalität geheim sein. Vernunft bedarf hier nochnicht, wie im 18. Jahrhundert, der Öffentlichkeit als Bestätigung, aber sie istschon in der Dimension der intersubjektiven Geltung und Zugänglichkeitkonzipiert. Auf dieser Grundlage entwickelt sich später aus einer Polemik gegendie arcana imperii die liberale Theorie der öffentlichen Meinung. Dazu vgl. auchCarl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 3.Aufl., Berlin 1961, S. 47 ff., der jedoch den geistesgeschichtlichen Gegensatz undnicht seine Basis in der neuartigen Intersubjektivität der Vernunft betont.Dazu vortrefflich Michel Villey, Les origines de la notion de droit subjective, in:ders., Leçons d’histoire de la Philosophie du Droit, Paris 1957, S. 249-283. ZurBedeutung von Hobbes für diese Wendung siehe Leo Strauss, The PoliticalPhilosophy of Hobbes: Its Basis and its Genesis, 2. Aufl., Chicago (IL) 1952,S. 155 ff., und ders., Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1856, insb. S. 188 f. Alseinen bemerkenswerten Versuch, diese Entwicklung für die Grundrechtsdogmatikrückgängig zu machen, vgl. Peter Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19,Abs. 2 Grundgesetz: Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis derGrundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, Karlsruhe 1962.Siehe besonders Grotius’ wirkungsvolle Polemik gegen die Unterscheidung vonnaturrechtlicher und positivrechtlicher Rechtsbegründung als Kriterium desEnteignungsschutzes, a. a. O., II, 14, § 8; ferner etwa Jacob Andreas Crusius,Tractatus historico-politico-juridici de praeeminenti dominio principis et reipublicae in subditos, eorum bona, ac ius quaesitum, Cap. XIII, 5, in: ders.,Opuscula varia, Münster 1668. Für weitere Einzelheiten siehe Gierke, a. a. O.(1958), S. 268 ff.Auch auf dieser Ebene ebenso wie im Begriff des ius versagt nun die alteMöglichkeit, Befugnis und Schranke in einem zu denken. Vgl. dazu Walter Merk,Der Gedanke des gemeinen Besten in der deutschen Staats- und

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Rechtsentwicklung, Darmstadt 1968, S. 66 ff. Für die Art der Bemühungen umSpezifikation der zulässigen Zweck/Mittel-Beziehungen siehe als Beispiel denwohl letzten Versuch: Nicolaus Thaddäus Gönner, Deutsches Staatsrecht,Landshut 1804, S. 418 f.Siehe hierzu den Überblick bei Klaus Hespe, Zur Entwicklung derStaatszwecklehre in der deutschen Staatsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts,Köln-Berlin 1964.So Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Aufl., Leipzig 1895, Bd. 1,S. 284, Anm. 20.Näher hierzu: Niklas Luhmann, Recht und Automation in der öffentlichenVerwaltung: Eine verwaltungswissenschaftliche Untersuchung, Berlin 1966,S. 35 ff. Als Fortsetzer der alten Lehre begreift sich unter den neueren Autorennamentlich Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 58 f.,260 f., 828 ff.Die juristische Darstellung des Rechtsstaates betont demgegenüber zumeist nurden engeren Gedanken des Schutzes subjektiver Rechte. Sie ist deshalb kaum inder Lage, die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen des Rechtsstaatesmitzuerfassen. Versuche, den älteren Gegensatz von liberalem Rechtsstaat undegalitärer Demokratie durch Aufhellen gemeinsamer Wertprämissen zuüberbauen, wie sie namentlich in der Schweiz unternommen worden sind, könneneine soziologische Analyse der Bedingungen eines stabilen Rechtsstaates nichtersetzen. Vgl. dazu Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie, in: Festgabe fürGiacometti, Zürich 1953; Richard Bäumlin, Die rechtsstaatliche Demokratie.Eine Untersuchung der gegenseitigen Beziehungen von Demokratie undRechtsstaat, Diss., Bern-Zürich 1954. Als allgemeinen Überblick über dasVerhältnis von Politik und Rechtsstaatsgedanken vgl. namentlich Ulrich Scheuner,Begriff und Entwicklung des Rechtsstaats, in: Hans Dombois/Erwin Wilkens,Macht und Recht. Beiträge zur lutherischen Staatslehre der Gegenwart, Berlin1956, S. 76-88, und ders., Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats inDeutschland, in: Festschrift Deutscher Juristentag, Karlsruhe 1960, Bd. II,S. 229-262.Dazu lesenswert Robert A. Dahl, A Preface to Democratic Theory, Chicago (IL)1956.Der Bruch wird in den Kontroversen zwischen Whigs und Tories noch nichtsichtbar; er artikuliert sich erst in der Polemik von Paine gegen Burke. SieheThomas Paine, The Rights of Man, insb. II, 3 (zit. nach der Ausgabe derEveryman’s Library, London 1954, S. 165 ff.). Die klassische Darstellung findetsich bei John Stuart Mill, Considerations on Representative Government (zit.nach der Ausgabe der Everyman’s Library, London 1954, S. 171 ff.). AlsÜberblick über die Gedankenentwicklung vgl. namentlich Philip A. Gibbons, Ideasof Political Representation in Parliament, Oxford 1914, S. 1651-1832. In derdeutschen Staatsrechtslehre verlief die Entwicklung kontinuierlicher, aber auch

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hier gelang es erst dem 19. Jahrhundert, den Gedanken der auf Kollektivvollmachtgegründeten Stellvertretung zu den Akten zu legen. Vgl. dazu die Darstellung des»Allgemeinen konstitutionellen Staatsrechts« bei Robert von Mohl, Geschichteund Literatur der Staatswissenschaften, Bd. I, Erlangen 1855, S. 265 ff., und denÜberblick bei Klaus von Beyme, Repräsentatives und parlamentarischesRegierungssystem. Eine begriffsgeschichtliche Analyse, PolitischeVierteljahresschrift 6 (1965), S. 145-159.Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zueiner Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962, S. 17 ff.Siehe hierzu auch die materialreiche Arbeit von Christoph Müller, Das imperativeund das freie Mandat: Überlegungen zur Lehre von der Repräsentation des Volkes,Leiden 1966.

9. KapitelLegitimität

Vgl. den Überblick über zahlreiche Meinungsvarianten zu diesem Thema bei E. V.Walter, Power and Violence, The American Political Science Review 58 (1964),S. 350-360. Siehe ferner Stephane Bernard, Esquisse d’une théorie structurelle-fonctionelle du système politique, Revue de l’Institut de Sociologie 36 (1963),S. 569-614.Insofern ist es nur bei oberflächlicher Betrachtung paradox, sicher abererläuterungsbedürftig, wenn François Bourricaud, Science politique etsociologie: Réflexions d’un sociologue, Revue Française de Science Politique 8(1958), S. 249-276, das spezifische Wesen der Politik in der Konsensbildungdurch Bereithalten von Erzwingungsmöglichkeiten sieht.Siehe die bekannte Formulierung der »rule of anticipated reactions« bei Carl J.Friedrich, Constitutional Government and Democracy, Boston (MA) 1941,S. 589 ff.Zur Entlastungswirkung von Institutionen vgl. grundsätzlich Arnold Gehlen,Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Bonn 1956,S. 22 ff., 37 ff., und ders., Anthropologische Forschung, Reinbek 1961, S. 70 ff.Vgl. ferner Edward E. Jones/John W. Thibaut, Interaction Goals as Bases ofInference in Interpersonal Perception, in: Renato Tagiuri/Luigi Petrullo (Hrsg.),Person Perception and Interpersonal Behavior, Stanford (CA) 1958, S. 151-178;Edward E. Jones/Keith E. Davis/Kenneth J. Gergen, Role Playing Variations andTheir Informational Value for Person Perception, The Journal of Abnormal andSocial Psychology 63 (1961), S. 302-310; Helen M. Lynd, On Shame and theSearch for Identity, London 1958, S. 186 ff. Zur Abhängigkeit des Prozesseskausaler Zurechnung des Handelns von institutionellen Vorgegebenheiten vgl.Fritz Heider, Social Perception and Phenomenal Causality, Psychological Review

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51 (1944), S. 358-374. Daß der Bedarf für persönliche Motive nur beiproblematischem, institutionell nicht gesichertem Verhalten auftritt, wird vonAnselm Strauss, Mirrors and Masks. The Search for Identity, Glencoe (IL) 1959,S. 45 ff., treffend dargestellt.Elihu Katz/Shmuel N. Eisenstadt, Some Sociological Observations on theResponse of Israeli Organizations to New Immigrants, Administrative ScienceQuarterly 5 (1960), S. 113-133 (125 f.), illustrieren mit diesem Beispiel ihreThese, daß in Entwicklungsländern oder angesichts einer auf Bürokratie nichteingestellten Bevölkerung die Verwaltung sich um die Rollen und Motive derEntscheidungsempfänger kümmern, politische Funktionen, Lehrfunktionen usw.übernehmen muß und unter dem Druck dieser Anforderungen entbürokratisiertwird.In diesem Sinne könnte man die von Parsons und Deutsch explizit formulierte,aber auch sonst weit verbreitete These erweitern, daß politisches Vertrauen undAnerkennungsbereitschaft ein Mindestkapital an »real assets« in Form voneinsetzbarer Zwangsgewalt erfordern, das aber nicht jede einzelne Entscheidungzu decken brauche, sondern mit Hilfe des Legitimationsprozesses weit überzogensein könne. Vgl. Talcott Parsons, On the Concept of Political Power, Proceedingsof the American Philosophical Society 107 (1963), S. 232-262; ders., SomeReflections on the Place of Force in Social Process, in: Harry Eckstein (Hrsg.),Internal War: Problems and Approaches, New York-London 1964, S. 33-70, undKarl W. Deutsch, The Nerves of Government. Models of PoliticalCommunication and Control, New York-London 1963, S. 120 ff. Was fürZwangsgewalt gilt, wird man im gleichen Sinne auch für andere, knappeMotivquellen behaupten können, z. B. für Einsicht oder Treue.Hierzu näher unten, Kap. 22.Siehe die Modellskizze unten, S. 133, und die Erläuterungen dazu.Die vorherrschenden, einander entgegengesetzten Legitimationsprinzipien warenKonsens des Volkes und Ermächtigung durch den vorigen Herrscher. Erst in derNeuzeit kommt die Vorstellung auf, daß Faktizität und Effektivität der Herrschaftjedenfalls auf lange Sicht ein Legitimitätsgrund sein können. Dabei treten in derArgumentation deutlich Vernunfterwägungen an die Stelle von starrenRechtserwägungen.Siehe die rückblickende Darstellung bei Friedrich Brockhaus, DasLegitimitätsprinzip: Eine staatsrechtliche Abhandlung, Leipzig 1868. Brockhausselbst vertritt bereits die positivistische Gleichsetzung von Legitimität undfaktischem Machtbesitz.Siehe z. B. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck,Darmstadt 1959, S. 332 ff. Vgl. ferner den Überblick über die Diskussion beiHans Welzel, An den Grenzen des Rechts. Die Frage nach der Rechtsgeltung,Köln-Opladen 1966.Siehe z. B. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln-Berlin 1964, S. 22 ff.,

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157 ff., und dazu Johannes Winckelmann, Legitimität und Legalität in MaxWebers Herrschaftssoziologie, Tübingen 1952; Guglielmo Ferrero, Macht, Bern1944; Carl J. Friedrich, Die Legitimität in politischer Perspektive, PolitischeVierteljahresschrift 1 (1960), S. 119-132; ders., Man and His Government, NewYork 1963, S. 232 ff.; Seymour M. Lipset, Soziologie der Demokratie, Neuwied-Berlin 1962 (dt. Übers.), S. 70 ff.

10. KapitelAutonomie und interne Differenzierung

Treffende Ausführungen über Zusammenhänge zwischen Systemkomplexität undAutonomie politischer Systeme finden sich bei Samuel P. Huntington, PoliticalDevelopment and Political Decay, World Politics 17 (1965), S. 386-430(393 ff.).Siehe dazu Karl W. Deutsch, The Nerves of Government. Models of PoliticalCommunication and Control, New York-London 1963, passim, z. B. S. 128 ff.Allgemein hierzu und zur Funktion solcher Reflexivität für die Reduktion vonKomplexität vgl. Niklas Luhmann, Reflexive Mechanismen, Soziale Welt 17(1966), S. 1-23.Als nähere Ausarbeitung dieser Unterscheidung und für ihre Anwendung inanderen Untersuchungszusammenhängen vgl. Niklas Luhmann, Lob der Routine,Verwaltungsarchiv 55 (1964), S. 1-33; ders., Öffentlich-rechtliche Entschädigungrechtspolitisch betrachtet, Berlin 1965, S. 29 ff.; ders., Recht und Automation inder öffentlichen Verwaltung: Eine verwaltungswissenschaftliche Untersuchung,Berlin 1966, S. 35 ff. Ähnlich auch Geoffrey Vickers, The Undirected Society:Essays on the Human Implications of Industrialization in Canada, Toronto 1959,S. 60, 63, 98 f.; Torstein Eckhoff/Knut Dahl Jakobsen, Rationality andResponsibility in Administrative and Judicial Decision-Making, Kopenhagen1960; Herbert Hax, Die Koordination von Entscheidungen. Ein Beitrag zurbetriebswirtschaftlichen Organisationslehre, Köln 1965, S. 73 ff.Über das Rechtsdenken, das diese Wendung in Deutschland vollzogen hat,unterrichtet Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Vonden Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichenPositivismus, Berlin 1958.Die Parallelität dieser Problematik bei Konditionalprogrammen und beiZweckprogrammen wird noch nicht gesehen. Für Konditionalprogramme findensich aber in neueren Erörterungen des Problems richterlicher Rechtsfindung guteDarstellungen der Schwierigkeit, die gesetzgebende Funktion aus demursprünglicheren Prozeß richterlichen Entscheidens strukturell und sachlichauszugliedern. Siehe namentlich Josef Esser, Grundsatz und Norm in derrichterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 1956. Für Zweckprogramme

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war vor allem eine Einsicht festzuhalten, die in die neuere betriebswirtschaftlicheLiteratur vordringt, daß nämlich lange Zweck/Mittel-Ketten in sich selbstwiderspruchsvolle Entscheidungsorientierungen erzeugen, sich also nicht vonselbst koordinieren, sondern mehr komplizierte Anforderungen an Koordinationund Kontrolle stellen. Siehe z. B. Yuji Ijiri, Management Goals and Accountingfor Control, Amsterdam 1965.Zum Begriff des »support« in diesem Sinne vgl. z. B. Talcott Parsons, »Voting«and the Equilibrium of the American Political System, in: Eugene Burdick/ArthurJ. Brodbeck (Hrsg.), American Voting Behavior. Glencoe (IL) 1959, S. 80-120;David Easton, A Systems Analysis of Political Life, New York-London-Sydney1965, S. 151 ff.Das wird das in Kap. 12 skizzierte Modell im einzelnen zeigen.

11. KapitelPolitik und Verwaltung

Dies ist übrigens eine der Stellen, wo genaue Parallelen zwischen politischerTheorie und Organisationstheorie (dazu auch Herbert Kaufman, OrganizationTheory and Political Theory, The American Political Science Review 58 [1964],S. 5-14) sich aufdrängen. Die Kongruenz von Zweck/Mittel-Schema undhierarchischer Organisation ist die maßgebende Prämisse der klassischenOrganisationslehre. Siehe z. B. Walter Schramm, Die betrieblichen Funktionenund ihre Organisation, Berlin-Leipzig 1936, S. 41; Fritz Nordsieck,Betriebsorganisation. Lehre und Technik. Textband, Stuttgart 1961, Sp. 34 ff.;Josef A. Litterer, The Analysis of Organizations, New York-London-Sydney 1965,S. 246 ff.Eine Zusammenstellung der wesentlichen Argumente findet sich bei NiklasLuhmann, Zweck – Herrschaft – System. Grundbegriffe und Prämissen MaxWebers, Der Staat 3 (1964), S. 129-158 (133 ff.).Vgl. dazu Herbert Kaufman, Emerging Conflicts in the Doctrines of PublicAdministration, The American Political Science Review 50 (1956), S. 1057-1073; Martin Landau, The Concept of Decision-Making in the »Field« of PublicAdministration, in: Sidney Mailick/Edward H. Van Ness (Hrsg.), Concepts andIssues in Administrative Behavior, Englewood Cliffs (NJ) 1962, S. 1-28. Alseinflußreiche Kritiken der Abgrenzung durch das Zweck/Mittel-Schema, die inden 40er Jahren eine stärkere Hinwendung zu Führungs- undEntscheidungstheorien ausgelöst hatten, vgl. Herbert A. Simon, DasVerwaltungshandeln. Eine Untersuchung der Entscheidungsvorgänge in Behördenund privaten Unternehmen, Stuttgart 1955 (dt. Übers.); und ders., RecentAdvances in Organization Theory, in: Research Frontiers in Politics andGovernment, Brookings Lectures 1955, Washington D. C. 1955, S. 23-44;

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Dwight Waldo, The Administrative State. A Study of the Political Theory ofAmerican Public Administration, New York (NY) 1948; Paul H. Appleby, Policyand Administration, o. O. (Univ. of Alabama Press) 1948. – Andererseits lebt dasschon so oft niedergeboxte Abgrenzungsschema mangels anderer Vorschlägeimmer wieder auf; neuerdings etwa bei Ferrel Heady, Public Administration: AComparative Perspective, Englewood Cliffs (NJ) 1966, S. 2.Aus der unübersehbaren Literatur vgl. etwa Heinrich Mechler, Führungskräftebrauchen Entlastung, Stuttgart 1956; Eugen Schmalenbach, ÜberDienststellengliederung im Großbetrieb, Köln-Opladen 1959, S. 18, 75 ff.;Ernest Dale, Planning and Developing the Company Structure, New York (NY)1952, 6. Druck 1959, S. 83 ff.; John M. Pfiffner/Frank P. Sherwood,Administrative Organization, Englewood Cliffs (NJ) 1960, S. 153, 170 ff.Kritisch zur Problemstellung namentlich Alex Bavelas, Communication andOrganization, in: George P. Schultz/Thomas L. Whisler (Hrsg.), ManagementOrganization and the Computer, Glencoe (IL) 1960, S. 119-130.Hierzu näher Niklas Luhmann, Lob der Routine, Verwaltungsarchiv 55 (1964),S. 1-33 (22 ff.), und ders., Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin1964, S. 97 ff. Vgl. ferner Victor A. Thompson, Modern Organization, New York(NY) 1961, S. 64, 75 ff., 84.Das Vordringen dieses horizontal-kooperativen Arbeitsstils wird häufig notiert.Vgl. statt anderer Hans Paul Bahrdt, Industriebürokratie, Stuttgart 1958, oderMichel Crozier, Le phénomène bureaucratique, Paris 1963 (z. B. S. 32 f., 114 ff.,142 ff.). Thomas Ellwein, Einführung in die Regierungs- und Verwaltungslehre,Stuttgart 1966, S. 155 f.Ein Beispiel dafür ist das unentwegte Klagen über »unsachliche«, »politischmotivierte« Eingriffe in die Verwaltung. Solche Klagen werden von Juristen undvon Rationalisierungsfachleuten formuliert und sind aus ihrer Perspektiveverständlich. Über ihre Berechtigung kann jedoch nicht in dieser Perspektiveentschieden werden.Diesen Gedanken entwickelt in mehr deskriptiven Analysen auch RudolfWildenmann, Macht und Konsens als Problem der Innen- und Außenpolitik,Frankfurt/M.-Bonn 1963, insb. S. 173 ff.Vgl. hierzu namentlich M. G. Smith, On Segmentary Lineage Systems, TheJournal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 86(1956), S. 39-80.Dieser Zusammenhang von Gesellschaftsdifferenzierung undInnendifferenzierung des politischen Systems nach Politik und Verwaltung istnamentlich in neueren Forschungen über Entwicklungsländer bewußt geworden.Vgl. etwa Shmuel N. Eisenstadt, Bureaucracy and Bureaucratization, CurrentSociology 7 (1958), S. 99-164 (110 ff.), und ders., Problems of EmergingBureaucracies in Developing Areas and New States, in: Bert F. Hoselitz/WilbertE. Moore, Industrialization and Society, o. O. (UNESCO-Mouton) 1963, S. 159-

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174; Lucian W. Pye, The Political Context of National Development, in: IrvingSwerdlow (Hrsg.), Development Administration. Concepts and Problems,Syracuse (NY) 1963, S. 25-43; Joseph LaPalombara (Hrsg.), Bureaucracy andPolitical Development, Princeton (NJ) 1963 (z. B. S. 41 f., 123); Fred W. Riggs,Administrative Development: An Elusive Concept, in: John D.Montgomery/William J. Siffin (Hrsg.), Approaches to Development: Politics,Administration and Change, New York 1966, S. 225-255.

12. KapitelAnalytisches Modell des politischen Systems

Siehe dazu Alfred Diamant, Bureaucracy in Developmental Movement Regimes:A Bureaucratic Model for Developing Societes, Occasional Paper derComparative Administration Group der American Society for PublicAdministration (Oct. 1964).Diese Unterscheidung verschiedener Ebenen der Generalisierung desSystembezugs von Handlungen entspricht in ihrem äußeren Aufbau, wenn auchnicht in ihrem inneren Ordnungsprinzip, in ihrer theoretischen Reichweite und inder Anordnung der Stufen, dem Parsonsschen Gedanken der »hierarchy ofcontrol«, in der Parsons roles, collectivities, norms und values unterscheidet.Vgl. die Darstellung bei Talcott Parsons, Durkheim’s Contribution to the Theoryof Integration of Social Systems, in: Kurt H. Wolff (Hrsg.), Emile Durkheim1858-1917, Columbus (OH) 1960, S. 118-153 (122 ff.), und dems., An Outlineof the Social Systems, in: Talcott Parsons/Edward Shils/Kaspar D. Naegele/JesseR. Pitts, Theories for Society, New York (NY) 1961, Bd. I, S. 30-79 (41 ff.), oderdems., Die jüngsten Entwicklungen in der strukturell-funktionalen Theorie,Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S. 30-49(36 f.). Siehe auch den etwas abweichenden Aufbau nach situational facilities,mobilization into organized roles, norms und values bei Neil J. Smelser, Theoryof Collective Behavior, New York (NY) 1963, S. 32 ff.Trotzdem bleibt die Frage, welche Menschen welche Rolle übernehmen, auch fürstark differenzierte Systeme von Bedeutung. Wir werden ihr im 26. Kapitel unterdem Gesichtspunkt der Rekrutierung für politisch-administrative Rollen wiederbegegnen.Das heißt, auf die Funktion der Rechtfertigung von Handlungen zugeschnitten.Hierzu näher Niklas Luhmann, Wahrheit und Ideologie, Der Staat 1 (1962),S. 431-448.Dieser Gedanke, daß Systeme ihre Umwelt nach Maßgabe eigenerSelektionskriterien »subjektiv« sehen, um die erfaßbare Komplexität den eigenenDatenverarbeitungsfähigkeiten anzupassen, ist in der neueren Organisations- undEntscheidungstheorie verschiedentlich formuliert worden. Siehe z. B. Kenneth E.

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Boulding, The Image. Knowledge in Life and Society, Ann Arbor (MI) 1956;James G. March/Herbert A. Simon, Organizations, New York-London 1958,S. 151 f.; William J. Gore, Administrative Decision-Making. A Heuristic Model,New York-London-Sydney 1964, passim, z. B. S. 67; C. West Churchman/W.Shelly/Glenn L. Bryan (Hrsg.), Human Judgments and Optimality, New York-London-Sydney 1964, S. 45-53. Vgl. ferner Alfred Schutz, Equality and theMeaning Structure of the Social World, in: Lyman Bryson u. a. (Hrsg.), Aspects ofHuman Equality. Fifteenth Symposium of the Conference on Science, Philosophyand Religion, New York (NY) 1956, S. 33-78, neu gedruckt in: Alfred Schutz,Collected Papers, Bd. II, Den Haag 1964, S. 226-273.Hierdurch bestätigen wir die oben, S. 117, vertretene Ansicht, daß ein Modell desdifferenzierten Systems zwar undifferenzierte Zustände mit darstellen kann, nichtaber das Umgekehrte gilt.Diese Wechselseitigkeit bringt, allerdings im Zusammenhang einer sehr vielgrundsätzlicheren Analyse des Prozesses der Konstitution von Sinn und Identität,der Meadsche Begriff des role-taking zum Ausdruck. Vgl. namentlich George H.Mead, Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist,Chicago (IL) 1934, passim, insb. S. 254 f.; ders., The Philosophy of the Act,Chicago (IL) 1938, passim, insb. S. 544 ff., 610 f. Siehe ferner Ralph H. Turner,Role-Taking: Process versus Conformity, in: Arnold M. Rose (Hrsg.), HumanBehavior and Social Processes: An Interactionist Approach, Boston (MA) 1962,S. 20-40. In der Organisationssoziologie ebenso wie in der politischenSoziologie finden sich bisher kaum Ansätze zu einer Aufnahme dieses Gedankens.Eine Ausnahme: Murray Edelman, The Symbolic Uses of Politics, Urbana (IL)1964.Zur symbolischen Funktion dieses Dominierens näher unten Kap. 19. KritischeBemerkungen zu den Rudimenten einer Hierarchiekonzeption mit delegierterMacht, die in diesem Modell noch erkennbar sind, finden sich z. B. bei ErnestBarker, Reflections on Government, London 1942, S. 42 ff.Zu diesem vielbeklagten Phänomen vgl. statt anderer: Fritz Morstein Marx, TheHigher Civil Service as an Action Group in Western Political Development, in:Joseph LaPalombara (Hrsg.), Bureaucracy and Political Development, Princeton(NJ) 1963, S. 62-95 (85), und ders., Das Dilemma des Verwaltungsmannes,Berlin 1965, passim.Auch hierzu vgl. die eben zitierten Schriften von Morstein Marx. Fernernamentlich Roman Schnur, Strategie und Taktik bei Verwaltungsreformen, Baden-Baden 1966.Vgl. Kap. 10.Besonders in der Bürokratiesoziologie und in der allgemeinenOrganisationswissenschaft ist der Gesichtspunkt betont worden, daßUmweltdifferenzierung eine Bedingung der Erhaltung zweckspezifischer Systemesei. Siehe z. B. Franz Eulenburg, Das Geheimnis der Organisation, Berlin 1952,

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S. 44 ff.; Shmuel N. Eisenstadt, Bureaucracy and Bureaucratization, CurrentSociology 7 (1958), S. 99-164 (110 ff.); Warren G. Bennis, Towards a »Truly«Scientific Management: The Concept of Organization Health, General Systems 7(1962), S. 269-282; Gore, a. a. O., S. 22 f.; Niklas Luhmann, Funktionen undFolgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 132 ff. Darüber hinaus findet manin der Betriebswirtschaftslehre, und zwar als Kern dieser Wissenschaft, dieAusarbeitung rationaler Strategien des Verhaltens einer Unternehmung in einernach Märkten differenzierten Umwelt. Siehe z. B. die Skizzen bei MartinLohmann, Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, 3. Aufl., Tübingen 1959,S. 23; oder bei Sherrill Clelland, A Short Essay on a Managerial Theory of theFirm, in: Kenneth E. Boulding/W. Allen Spivey (Hrsg.), Linear Programming andthe Theory of the Firm, New York (NY) 1960, S. 202-216 (203 bzw. 205). Auchhier liegt deutlich, wenn auch zumeist unausgesprochen, die Auffassung zugrunde,daß die Differenzierung der Umwelt in verschiedene Märkte Voraussetzung derEntscheidungsautonomie der Unternehmung ist.Zur Verdeutlichung sei nochmals auf eine wesentliche Verschiebung unseresModells gegenüber den Vorstellungen des täglichen Lebens hingewiesen. Diepersönlichen Interessen und »anderen Rollen« des Verwaltungspersonals liegenaußerhalb des politischen Systems, die politisch-administrativen Rollen desPublikums dagegen innerhalb des politischen Systems und erst die persönlichenInteressen und »anderen Rollen« der Publikumsangehörigen außerhalb. Daß dieAuffassung, die unserem Modell zugrunde liegt, die richtigere ist, zeigt sichdaran, daß die Verwaltung keine Hemmungen hat, Kommunikationen ausPublikumsrollen anzunehmen und sinngemäß zu bearbeiten, daß dagegendeutliche und wirksame Schwellen eingebaut sind, wenn es darum geht, denpersönlichen Interessen der Verwaltungsangehörigen in der Verwaltung selbstNachdruck und Relevanz zu geben.Das Input/Output-Modell genießt in der neueren Organisationswissenschaftgroßes Ansehen vor allem unter dem Gesichtspunkt, daß es den Einsatz komplexorganisierter Kausalprozesse im System ermöglicht. Daß es sich dabei um eineStruktur handelt, die voraussetzt, daß das System Zeit hat, wird alsselbstverständlich angesehen und verhältnismäßig selten betont. Deshalb fehlt esauch an einer Theorie, die dieses Modell in eine umfassendere Konzeptioneinordnen könnte. Siehe z. B. Karl W. Deutsch, On Communication Models in theSocial Sciences, The Public Opinion Quarterly 16 (1952), S. 356-380; John B.Knox, The Sociology of Industrial Relations, New York (NY) 1955, S. 144 ff.;Talcott Parsons/Neil J. Smelser, Economy and Society, Glencoe (IL) 1956; ChrisArgyris, Personality and Organization, New York (NY) 1957, insb. S. 248 ff.;Ralph M. Stogdill, Individual Behavior and Group Achievement, New York (NY)1959, S. 13 f., 196 ff., 278 ff.; Stanford L. Optner, Systems Analysis for BusinessManagement, Englewood Cliffs (NJ) 1960; Gabriel A. Almond, Introduction. AFunctional Approach to Comparative Politics, in: Gabriel A. Almond/James S.

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Coleman (Hrsg.), The Politics of the Developing Areas, Princeton (NJ) 1960,S. 3-64; P. G. Herbst, A Theory of Simple Behavior Systems, Human Relations 14(1961), S. 71-94, 193-239, und ders., Autonomous Group Functioning: AnExploration in Behaviour Theory and Measurement, London 1962, insb.S. 141 ff.; A. K. Rice, The Enterprise and its Environment. A System Theory ofManagement Organization, London 1963, insb. S. 16 ff., 198 ff.; Bertram M.Gross, What are your Organization’s Objectives? A General Systems Approach toPlanning, Human Relations 18 (1965), S. 195-216, und, weniger prononciert, dasHauptwerk desselben Verfassers: The Managing of Organizations. TheAdministrative Struggle, 2 Bde., New York-London 1964; David Easton, AFramework for Political Analysis, Englewood Cliffs (NJ) 1965, und ders., ASystems Analysis of Political Life, New York-London-Sydney 1965. Zumeistwird dabei unterstellt, daß dieses Modell allgemeine Gültigkeit besitzt.Demgegenüber weist Fred Riggs, Administration in Developing Countries. TheTheory of Prismatic Society, Boston (MA) 1964, S. 195 f., mit Recht darauf hin,daß das Modell seine Hauptbedeutung für funktional differenzierteGesellschaften besitze.Für Wirtschaftsunternehmen wird dieses Zeiterfordernis durch das Gebot derLiquidität repräsentiert, setzt also den Geldmechanismus voraus. Liquidität istdie Möglichkeit, Konsumentscheidungen mit unbestimmtem Inhalt zu vertagenund trotzdem sicherzustellen. Nur liquide Unternehmen können Input und Outputtrennen und dadurch einen Gewinn erwirtschaften. In politischen Systemen hat derBesitz legitimer Macht eine analoge Funktion.Die Grundzüge dieses Gedankens hat Talcott Parsons in seiner Theorie des»double interchange« zwischen den Subsystemen sozialer Systeme eingefangen.Parsons bezieht diesen Gedanken allerdings nicht ausschließlich auf das Problemder sachlichen Sinngeneralisierung, sondern verbindet ihn mit dem derUmweltdifferenzierung. Vgl. die Darstellung bei Parsons/Smelser, a. a. O.,S. 70 ff., oder bei Talcott Parsons, General Theory in Sociology, in: Robert K.Merton/Leonard Broom/Leonard S. Cottrell, Jr. (Hrsg.), Sociology Today. NewYork (NY) 1959, S. 3-38 (16 ff.).Vgl. dazu besonders Talcott Parsons, »Voting« and the Equilibrium of theAmerican Political System, in: Eugene Burdick/Arthur J. Brodbeck (Hrsg.),American Voting Behavior, Glencoe (IL) 1959, S. 80-120.Diese Erwartung deckt sich mit der Rolle, die Helmut Schelsky, Ortsbestimmungder deutschen Soziologie, Düsseldorf-Köln 1959, S. 93 ff., aus grundsätzlicherenErwägungen einer »transzendentalen Theorie der Gesellschaft« zuweisen möchte.

13. KapitelFunktion und Ausdifferenzierung des Verwaltungssystems

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So auch Reinhard Bendix, Nation-Building and Citizenship: Studies of ourChanging Social Order, New York-London-Sydney 1964, S. 106, im Anschluß anMax Weber.An deren Kritik im 11. Kapitel darf hier erinnert werden.Vgl. als Ausgangspunkt Robert F. Bales, Interaction Process Analysis: A Methodfor the Study of Small Groups, Cambridge (MA) 1951; ferner z. B. Robert F.Bales/Philip Slater, Role Differentiation in Small Decision-Making Groups, in:Talcott Parsons/Robert F. Bales (Hrsg.), Familiy, Socialization and InteractionProcess, Glencoe (IL) 1955, S. 259-306; Philip E. Slater, Role Differentiation inSmall Groups, American Sociological Review 20 (1959), S. 300-310; VirgilWilliams, Leadership Types, Role Differentiation, and System Problems, SocialForces 43 (1965), S. 380-389; Amitai Etzioni, Dual Leadership in ComplexOrganizations, American Sociological Review 30 (1965), S. 688-698. Alsreferierenden Überblick siehe z. B. John W. Thibaut/Harold H. Kelley, The SocialPsychology of Groups, New York (NY) 1959, S. 278 ff., oder René König, Dieinformellen Gruppen im Industriebetrieb, in: Erich Schnaufer/Klaus Agthe(Hrsg.), Organisation, Berlin und Baden-Baden 1961, S. 55-118 (112 ff.).Talcott Parsons nutzt diese Dichotomie von expressiv und instrumental nebendem Innen/Außen-Schema der Systemtheorie zur Definition seiner vierSystemprobleme. Siehe z. B. die Darstellung in: Talcott Parsons, General Theoryin Sociology, in: Robert K. Merton/Leonard Broom/Leonard S. Cottrell, Jr.(Hrsg.), Sociology Today, New York (NY) 1959, S. 3-38 (5 ff.).Daß dies nie in vollem Umfange gelingen kann, weil die Motivationskraft formaleingesetzter Führung ihre Grenzen hat, ist allerdings sicher. Es war diese Einsicht,die dazu angeregt hatte, auch im Rahmen formal organisierter Sozialsysteme, z. B.in Industriebetrieben, Beispiele für formal/informale Doppelführung zu suchen.In diesen Fällen hat jedoch die informale Führung des Beliebtesten der Gruppenur einen begrenzten Entfaltungsspielraum, und eine Konfliktentscheidungsregelzugunsten des formal eingesetzten Leistungsführers ist mitinstitutionalisiert.Siehe auch den berechtigten Hinweis von Friedrich Weltz, Vorgesetzte zwischenManagement und Arbeitern, Stuttgart 1964, S. 32, »daß die gegenwärtigenhierarchischen Autoritätsverhältnisse im Industriebetrieb nicht durch dieinnerbetrieblichen, sondern durch die außerbetrieblichen Erfordernisse gestütztwerden«.Insofern stößt man auch im grundbegrifflichen Bezugsrahmen der Systemtheorieauf jenen Zusammenhang der Prinzipien der Herrschaftslegitimation undVerwaltungsrationalität, den Max Weber seiner Verwaltungssoziologie zugrundegelegt hat. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl., Tübingen 1956,setzt allerdings neben die traditionale und die charismatische (also unbeständige)Herrschaftslegitimation die rationale oder legale Legitimation der Herrschaft mitbürokratischem Verwaltungsstab, also letztlich die Legitimation der Verwaltungdurch sich selbst und die Prinzipien ihrer Leistung. Die Bedeutung politischer

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Prozesse wird, so aufgeschlossen sich Weber sonst für sie erwiesen hat, indiesem Zusammenhang verkannt. Demgegenüber ist zu betonen, daß formal-legale Rationalität keine sozial beständige Quelle der Motivation und derLegitimation sein kann, weil ihr Prinzip der Beliebigkeit überkomplex und ohneGrenzen ist. Die Grundlage bürokratisch durchorganisierter Herrschaft muß auchhier in verwaltungsexternen Leistungen gesucht werden, und zwar in denpolitischen Prozessen, die jene organisatorischen, personellen undprogrammatischen Prämissen fixieren, von denen die Verwaltung ausgeht. Geradewenn die Verwaltung auf spezifische Leistungen hin rationalisiert werden soll,kann sie nicht durch sich selbst legitimiert werden, sondern bedarf um so mehreiner Entlastung durch externe Prozesse des Aufbaus legitimer Macht. Derhistorische Prozeß, der die traditionalen Herrschaftsformen auflöst, führt nichtzu einer stärkeren Verschmelzung von Legitimität und Rationalität, sonderngerade umgekehrt zu einer stärkeren Differenzierung beider, so daß Legitimitätund Rationalität je für sich in dafür spezifisch geeigneten Prozessen geleistetwerden können.Diese Unterscheidung entspricht dem oben (Kapitel 6 und 7) erörtertenUnterschied von vertikaler und horizontaler Ausdifferenzierung.Siehe als Ausarbeitung dieses Gedankens Fred W. Riggs, Bureaucrats andPolitical Development: A Paradoxical View, in: Joseph LaPalombara (Hrsg.),Bureaucracy and Political Development, Princeton (NJ) 1963, S. 120-167(158 ff.). Riggs sieht die spezifischen Schwierigkeiten der Entwicklungsländerunter anderem darin begründet, daß die externe Legitimation der Herrschaft durchdie traditionale Religion nicht mehr und die durch reine Politik noch nichtfunktioniert, so daß die Spitze der Verwaltungshierarchie zum Gefangenen ihrereigenen Bürokratie wird. Vgl. dazu auch die vom Legitimationsproblemausgehende Darstellung der politischen Verhältnisse des Iran bei Leonard Binder,Iran: Political Development in a Changing Society, Berkeley-Los Angeles 1962.Näheres über Probleme der Spitzenorganisation stellen wir zurück bis zurBehandlung des Problems der Gewaltenteilung (s. Kap. 14).Dies gegen Albert Schäffle, Über den wissenschaftlichen Begriff der Politik,Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 53 (1897), S. 579-600, der seinenBegriff der Politik auf einen Gegensatz zum laufenden Staatsleben gründenwollte.Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O. (Anm. 6), S. 551 ff. Ankritischen Auseinandersetzungen siehe z. B. Carl J. Friedrich, Some Observationson Weber’s Analysis of Bureaucracy, in: Robert K. Merton/Ailsa P. Gray/BarbaraHockey/Hanan C. Selvin (Hrsg.), Reader in Bureaucracy, Glencoe (IL) 1952,S. 27-33; Philip Selznick, An Approach to a Theory of Bureaucracy, AmericanSociological Review 8 (1943), S. 47-54; Alvin W. Gouldner, Patterns ofIndustrial Bureaucracy, Glencoe (IL) 1954; Peter M. Blau, Bureaucracy inModern Society, New York 1956; Roy G. Francis/Robert C. Stone, Service and

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Procedure in Bureaucracy, Minneapolis (MN) 1956; Morroe Berger, BureaucracyEast and West, Administrative Science Quarterly 1 (1957), S. 518-529; ders.,Bureaucracy and Society in Modern Egypt: A Study of the Higher Civil Service,Princeton (NJ) 1957; Shmuel N. Eisenstadt, Bureaucracy and Bureaucratization,Current Sociology 7 (1958), S. 99-164; Stanley H. Udy, The Organization ofWork, New Haven (CT) 1959; ders., Technical and Institutional Factors inProduction Organization: A Preliminary Model, The American Journal ofSociology 67 (1961), S. 247-254; ders., Administrative Rationality, SocialSetting, and Organizational Development, The American Journal of Sociology 68(1962), S. 299-308; Arthur L. Stinchcombe, Bureaucratic and CraftAdministration of Production: A Comparative Study, Administrative ScienceQuarterly 4 (1959), S. 168-187; Eugene Litwak, Models of Bureaucracy WhichPermit Conflict, The American Journal of Sociology 67 (1961), S. 177-184;Alfred Diamant, The Bureaucratic Model: Max Weber, Rejected, Rediscovered,Reformed, in: Ferrel Heady/Sibyl L. Stokes (Hrsg.), Papers in ComparativePublic Administration, Ann Arbor (MI) 1962, S. 59-96; Richard H. Hall,Intraorganizational Structural Variation: Application of the Bureaucratic Model,Administrative Science Quarterly 7 (1962), S. 295-308; ders., The Concept ofBureaucracy: An Empirical Assessment, The American Journal of Sociology 69(1963), S. 32-40; William Delany, Patrimonial and Bureaucratic Administration,Administrative Science Quarterly 7 (1963), S. 458-501; Heinz Hartmann,Bürokratische und voluntaristische Dimensionen im organisierten Sozialgebilde,Jahrbuch für Sozialwissenschaft 15 (1964), S. 115-127. In manchen dieserUntersuchungen wird versucht, die universelle Geltung dieses Modells anempirischem Material zu überprüfen, und dabei der Sinn dieser idealtypischenKonstruktion verkannt.Vgl. im einzelnen Niklas Luhmann, Zweck – Herrschaft – System: Grundbegriffeund Prämissen Max Webers, Der Staat 3 (1964), S. 129-158.Auch Reinhard Bendix, Nation-Building and Citizenship: Studies of our ChangingSocial Order, New York-London-Sydney 1964, S. 115, betont diese beidenkritischen Variablen: »One refers to the nature of the authority exercised over anadministrative staff, the other to the organizational conditioning and insulation ofthat staff which affects its implementation of commands.«Diese Unabhängigkeit des Statussystems setzt eine Mehrheit von gesellschaftlichanerkannten Statuspyramiden voraus, siehe dazu auch S. 423. Sie ist nichterreichbar, wenn das politische System die einzige Statusordnung derGesellschaft darstellt, und auch nicht, wenn die politisch-administrativeStatusordnung in der Gesellschaft nicht anerkannt wird. Im letzteren Fall wird, wiedas Beispiel der indischen Bediensteten in der britisch-indischenKolonialverwaltung zeigt, der öffentliche Dienst nur als Mittel des Aufstiegs ineine neue, in diesem Fall vor allem auf Landbesitz gegründeteGesellschaftsschicht benutzt. Siehe dazu Bernard S. Cohn, The Initial British

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Impact on India: A Case Study of the Benares Region, The Journal of AsianStudies 19 (1960), S. 418-431.Dies gilt natürlich dann nicht, wenn das Proporzsystem dazu dient, Sprecher dereinzelnen Gruppen in das Verwaltungssystem zu rekrutieren, von denen dann eineVertretung je ihrer Gruppe erwartet wird.Dieses Merkmal der Unpersönlichkeit organisierten Handelns war in einembedauernden, wenn nicht vorwurfsvollen Sinne vor allem in den 20er Jahrenherausgestellt worden. Siehe statt anderer Theodor Geiger, Zur Soziologie derIndustriearbeit und des Betriebs, Die Arbeit 6 (1929), S. 673-689, 766-781(768 ff.); Goetz Briefs, Betriebsführung und Betriebsleben in der Industrie,Stuttgart 1934, insb. S. 26 ff.; Franz Eulenburg, Das Geheimnis der Organisation,Berlin 1852, S. 78 ff. Auch heute wird es noch genannt, im allgemeinen herrschtaber der Eindruck vor, daß es sich um eine weiter auflösungsbedürftige,erklärungsbedürftige Variable handle, zumal man, wie bei allen Negativbegriffen,in sehr verschiedenem Sinne von Unpersönlichkeit sprechen kann.Dazu gut Hansjürgen Daheim, Die Sozialstruktur eines Bürobetriebes: EineEinzelfallstudie, Diss. Köln 1957, S. 143 ff., 280 ff. Vgl. auch Robert K. Merton,Social Theory and Social Structure, 2. Aufl., Glencoe (IL) 1957, S. 204 f.; PeterM. Blau, The Dynamics of Bureaucracy, Chicago (IL) 1955, S. 68 ff.In modernen Bürokratien kann man sich zum Beispiel eine Reihenfolgeunpersönlicher, allgemein zugänglicher Ämter als eine individuelle Karrierevorstellen, in deren Verlauf der einzelne nicht nur er selbst bleibt, sonderndadurch, daß er anderen vorgezogen wird, sein Selbst erst eigentlich verwirklicht.Siehe dazu die hohe Einschätzung der Bedeutung des Karriereprinzips für dieModernisierung der Gesellschaft bei David E. Apter, The Politics ofModernization, Chicago-London 1965, insb. S. 152 ff. In der Bürokratie desälteren Siam war dagegen die Person mit dem Amt so stark verschmolzen, daß derAmtsträger bei einer Beförderung seinen Namen, also seine Identität, wechselnmußte, um sich aus den zugleich persönlichen und formalen Loyalitäten seinesfrüheren Amtes zu lösen.Diese »dysfunktionale Folge« der Unpersönlichkeit wird oft beklagt. Siehe fürtypische Äußerungen etwa Peter M. Blau, Bureaucracy in Modern Society, NewYork (NY) 1956, S. 33; Chris Argyris, Personality and Organization: The Conflictbetween System and the Individual, New York (NY) 1957, S. 62 f.; Marshall E.Dimock, Administrative Vitality, New York (NY) 1959, S. 184; JosephBensman/Bernard Rosenberg, The Meaning of Work in Bureaucratic Society, in:Maurice R. Stein/Arthur J. Vidich/David M. White (Hrsg.), Identity and Anxiety,Glencoe (IL) 1960, S. 181-197 (184 f.); Gertrude Jaeger/Philip Selznick, ANormative Theory of Culture, American Sociological Review 29 (1964), S. 653-669 (658 f.). Dahinter steht die Annahme einer bestimmten psychologischenBedürfnisstruktur des Menschen, daß er nämlich nur durch gefühlsmäßigeIdentifikation mit Aspekten seiner Umwelt in der Lage sei, eine »echte«

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Persönlichkeit zu entwickeln. Diese Hypothese muß jedoch überprüft werden. Soweckt z. B. das Experiment von Kenneth J. Gergen, The Effects of InteractionGoals and Personalistic Feedback on the Presentation of Self, Journal ofPersonality and Social Psychology 1 (1965), S. 413-424, Zweifel, ob einepersönliche Atmosphäre für eine Bestätigung der Selbstdarstellung wirklichwesentlich ist.An Zeugnissen dafür fehlt es nicht. Siehe etwa Harold E. Dale, The Higher CivilService of Great Britain, London 1941, S. 141 ff., 187 f. u.ö.; Harold L. Wilensky,Intellectuals in Labor Unions: Organizational Pressures on Professional Roles,Glencoe (IL) 1956, insb. S. 61 ff.; Luicio Mendieta y Núñez, Sociologia de laBurocracia, Mexico 1961, S. 48 f.; Joseph Bensman/Artur Vidich, Power Cliquesin Bureaucratic Society, Social Research 29 (1962), S. 467-474; Fritz MorsteinMarx, Control and Responsibility in Administration: Comparative Aspects, in:Ferrel Heady/Sibyl L. Stokes (Hrsg.), Papers in Comparative PublicAdministration, Ann Arbor (MI) 1962, S. 145-171 (165 ff.); Norton E. Long,Administrative Communication, in: Sidney Mailick/Edward H. Van Ness (Hrsg.),Concepts and Issues in Administrative Behavior, Englewood Cliffs (NJ) 1962,S. 137-149 (144); David Braybrooke, The Mystery of Executive Success Re-examined, Administrative Science Quarterly 8 (1964), S. 533-560 (545, 546);Robert L. Kahn/Donald M. Wolfe/Robert P. Quinn/Diedrich J. Snoek,Organizational Stress: Studies in Role Conflict and Ambiguity, New York-London-Sydney 1964, S. 201 f.; Joseph S. Berliner, Factory and Manager in theUSSR, Cambridge (MA) 1957, S. 182 u.ö.Im allgemeinen wird wohl zu Recht angenommen, daß die Ausdifferenzierung inIndustrieländern sehr viel weiter fortgeschritten ist als in Entwicklungsländern.Siehe z. B. den Vergleich von Banken in Mexiko bzw. den Vereinigten Staaten beiLouis A. Zurcher, Jr./Arnold Meadow/Susan Lee Zurcher, Value Orientation, RoleConflict, and Alienation From Work: A Cross-Cultural Study, AmericanSociological Review 30 (1965), S. 539-548, die diese Annahme bestätigen. Siehefür weitere Beispiele aus Entwicklungsländern Morroe Berger, Bureaucracy andSociety in Modern Egypt: A Study of the Higher Civil Service, Princeton (NJ)1957, insb. S. 114 ff.; Guy H. Fox/Charles A. Joiner, Perceptions of theVietnamese Public Administration System, Administrative Science Quarterly 8(1964), S. 443-481. Andererseits besteht kein Zweifel, daß auch inIndustrieländern, in denen bürokratische Verwaltung mit all ihren Erfordernissenfeste Institution geworden ist, die unpersönliche Orientierung an Grenzen desSinnvollen und psychisch Möglichen stößt. Siehe als Zeugnisse für durchaus nichtunbeachtliche und als legitim empfundene Reste personaler Orientierung etwaFrancis/Stone, Service and Procedure, a. a. O. (Anm.11), S. 105 ff. und dieLiteraturhinweise S. 142 ff.; Günter Hartfiel/Lutz Sedatis/Dieter Claessens,Beamte und Angestellte in der Verwaltungspyramide: Organisationssoziologischeund verwaltungsrechtliche Untersuchungen über das Entscheidungshandeln in der

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Kommunalverwaltung, Berlin 1964, S. 112 ff.; Friedrich Weltz, Vorgesetztezwischen Management und Arbeitern, Stuttgart 1964, insb. S. 46 ff. Vgl. hierzuauch Narsi Patel/Jiri Kolaga, Personal-Impersonal Dimension in OrganizationalBehavior: A Variation of the Weberian Model, International Journal ofComparative Sociology 5 (1964), S. 73-77, mit der Hypothese, daß eine vomSystem geforderte unpersönliche Haltung durch die Person immer ins Personale,eine geforderte personale Haltung dagegen ins Unpersönliche korrigiert werde.Zu diesem Ergebnis kommt in bezug auf Organisationen im allgemeinen auchUdy, Administrative Rationality, a. a. O. (Anm. 11). Ähnlich W. Richard Scott,Theory of Organizations, in: Robert E. L. Faris (Hrsg.), Handbook of ModernSociology, Chicago 1964, S. 485-529 (500 f.). Als Gegenbeispiel interessant dieDarstellung der Entwicklung einer Organisation zu einer Gesellschaft durch eineRollenvervielfältigung, die es unmöglich machte, die organisatorisch notwendigeRollentrennung aufrechtzuerhalten, bei Sigmund Diamond, From Organization toSociety: Virginia in the Seventeenth Century, The American Journal of Sociology63 (1958), S. 457-475.Wir lassen hier offen, wieweit Max Weber mit seiner Konzeption des sozialenHandelns und seiner sinnhaften Orientierung bereits einer allgemeinen Theoriedes Handlungssystems nahegekommen war – eine Frage, die Talcott Parsons, TheStructure of Social Action, Glencoe (IL) 1937, untersucht hat. In WebersDarstellung des Idealtypus der Bürokratie ist eine solche Systemtheorie nichtdeutlich genug enthalten, so daß die folgenden Ausführungen sich nicht mehr aufMax Weber stützen können.Dieser Begriff der formalen Organisation ist im einzelnen dargestellt in: NiklasLuhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964.Die historischen Gründe für diese Entwicklung – im Unterschied etwa zuramerikanischen – können hier nicht im einzelnen aufgezeigt werden. Vor allemwar bedeutsam, daß in Deutschland die fortschrittlich-liberalen politischen Kräftejener Zeit im Beamten den Wahrer des Rechts – und nicht etwa den möglichenBedrücker des Volkes – sahen und ihn deshalb gegen die Launen des Monarchenzu schützen suchten. Wie dem auch sei – die Funktion der Institution hat dieMotive überlebt, die sie geschaffen hatten.Nur in einer solchen Ordnung hat es Sinn, mit Herbert A. Simon, On the Conceptof Organizational Goal, Administrative Science Quarterly 9 (1964), S. 1-22 (13),Rolle und Entscheidungsprogramm gleichzusetzen.Eine entsprechende Einsicht formuliert auch Thomas Ellwein, Einführung in dieRegierungs- und Verwaltungslehre, Stuttgart 1966, S. 201.

14. KapitelUmweltlage und Autonomie des Verwaltungssystems

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Einen kursorischen Überblick über das politische System im ganzen enthieltbereits die Skizze des analytischen Modells im 12. Kapitel.Siehe den Überblick bei Shmuel N. Eisenstadt, The Political Systems of Empires,New York-London 1963, S. 273 ff., mit weiteren Literaturhinweisen. Zurtheoretischen Konzeption vgl. auch den Vorschlag von Peter M. Blau/W. RichardScott, Formal Organizations: A Comparative Approach, San Francisco (CA) 1962,S. 42 ff., Organisationstypen nach dem Kriterium des Hauptnutznießers zuunterscheiden.Dies gilt vor allem dort, wo die politischen Prozesse durch einMehrparteiensystem strukturiert und dadurch die Vorläufigkeit undUnverbindlichkeit rein politischer Aktionen besonders deutlich erkennbar sind.Einparteiensysteme trennen Politik und Verwaltung sehr viel weniger scharf,besonders wenn eine übergreifende Ideologie es ihnen verbietet, die Verwaltungals politisch neutral zu verstehen. Besonders lebhaft diskutiert wurde diese Frageder Neutralität der Verwaltung in der Weimarer Republik, wobei die Hoffnungeine Rolle spielte, in der Neutralität des Beamten den Staat retten zu können.Siehe z. B. Hans Nawiasky, Die Stellung des Berufsbeamten im parlamentarischenStaat, München 1925; Arnold Köttgen, Das deutsche Berufsbeamtentum und dieparlamentarische Demokratie, Berlin-Leipzig 1928; Carl Schmitt, Das Problemder innenpolitischen Neutralität des Staates, in: ders., VerfassungsrechtlicheAufsätze aus den Jahren 1924-1954: Materialien zu einer Verfassungslehre,Berlin 1958, S. 41-59. Siehe ferner die mehr deskriptive Darstellung der heutigenProbleme bei Rudolf Wildenmann, Macht und Konsens als Problem der Innen-und Außenpolitik, Frankfurt/M.-Bonn 1963, S. 146 ff. Über diese Diskussionhinausgehend, berücksichtigt Fritz Morstein Marx auch die angelsächsischenErfahrungen in: Berufsbeamtentum in England, Zeitschrift für die gesamteStaatswissenschaft 89 (1930), S. 449-496; ders., Amerikanische Verwaltung:Hauptgesichtspunkte und Probleme, Berlin 1963; ders., The Higher Civil Serviceas an Action Group in Western Political Development, in: Joseph LaPalombara(Hrsg.), Bureaucracy and Political Development, Princeton (NJ) 1963, S. 62-95.Einen Vergleich der amerikanischen und der deutschen Auffassung findet man beiErnst Fraenkel, Freiheit und politisches Betätigungsrecht der Beamten inDeutschland und den USA, in: Veritas, Iustitia, Libertas, Berlin 1953, S. 60-90,und bei Bendix, Nation-Building and Citizenship, a. a. O. (Anm. 13), S. 116 ff.So z. B. Charles M. Wiltse, The Representative Function of Bureaucracy, TheAmerican Political Science Review 35 (1941), S. 510-516; Norton E. Long,Bureaucracy and Constitutionalism, The American Political Science Review 46(1952), S. 808-818; John M. Pfiffner/Robert V. Presthus, Public Administration,3. Aufl., New York 1953, S. 530 ff.Diese beiden Grenzprobleme zu unterscheiden ist namentlich im Hinblick auf diepolitische Stellenbesetzung wichtig, wie gleich zu zeigen sein wird.Siehe zu diesem Thema grundsätzlich Theodor Eschenburg, Ämterpatronage,

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Stuttgart 1961; ferner Wildenmann, a. a. O., S. 146 ff.; Heinz J. Varain, Parteienund Verbände: Eine Studie über ihren Aufbau, ihre Verflechtung und ihr Wirken inSchleswig-Holstein 1945-1958, Köln-Opladen 1964; Peter G. Richards,Patronage in the British Gorvernment, London 1963, mit einem sehr weitgefaßten Patronagebegriff; und als neuere empirisch fundierte, aber nur einensehr begrenzten Ausschnitt erfassende amerikanische Untersuchungen Frank F.Sorauf, State Patronage in a Rural County, The American Political ScienceReview 50 (1956), S. 1046-1056; Daniel P. Moynihan/James Q. Wilson,Patronage in New York State 1955-1959, The American Political Science Review58 (1964), S. 286-301. Eine zuverlässige empirische Grundlage für dieBeurteilung der Tragweite politischer Patronage fehlt begreiflicherweise überall.Es wäre schon schwierig genug, die Fälle zu erfassen, in denen politische Motivebei der Wahl eines Bewerbers den Ausschlag gegeben haben. Dann wäre aber nochzwischen Versorgungspatronage und Herrschaftspatronage (Eschenburg, a. a. O.)zu unterscheiden, wobei die erstere die Verwaltung möglicherweise durchschlecht qualifiziertes Personal, die letztere sie durch politische Nebenrollenihrer Beamten belastet. Weiter müßte beachtet werden, daß manche als politischeVerbindungsleute in die Verwaltung gesetzten Beamten sich dort unter demEindruck ihrer neuen Umwelt entpolitisieren, daß also bei weitem nicht allePatronagefälle Problemfälle werden und daß umgekehrt politische Nebenrollenauch ohne Patronage entstehen können – so wenn ein aktiver und ehrgeizigerBeamter politische Verbindungen sucht, um seinen Einflußbereich auszuweiten.Im ganzen scheinen namentlich die reichen amerikanischen Erfahrungen zuzeigen, daß Patronage kein sehr brauchbares politisches Führungsinstrumentvermittelt, weil so lockere, auf Dankbarkeit oder Loyalität gegründeteBeziehungen sich nicht weiterreichen und zentralisieren lassen. Andererseitsbegründet Patronage zweifellos ein »Kapital« persönlicher Beziehungen zwischenPolitik und Verwaltung, das gegen die Wechselfälle des politischen Lebens relativimmun ist und von der Regierungspartei sozusagen in die Oppositionmitgenommen werden kann, das sich also der Beeinflussung durch denMechanismus der politischen Wahl entzieht.Ellwein, Einführung in die Regierungs- und Verwaltungslehre, a. a. O. (Anm. 27),S. 84 ff., 122 f., unterscheidet z. B. Bereiche der Verwaltung nach größerer Nähebzw. Ferne zur Politik. Entsprechend gibt es auch Zonen abnehmender Nähe zumPublikum sowie Bereiche, die personalpolitisch heikler sind als andere.Zum Begriff und zur Problematik solcher Grenzstellen siehe allgemein NiklasLuhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 220 ff.Außer der dort angegebenen Literatur jetzt auch Robert L. Kahn/Donald M.Wolfe/Robert P. Quinn/Diedrich J. Snoek (Hrsg.), Organizational Stress: Studiesin Role Conflict and Ambiguity, New York-London-Sydney 1964, S. 99 ff.Für die Rechtsbindung ist dies in vollzivilisierten Gesellschaftsordnungen inhohem Maße selbstverständlich geworden, so daß Politiker sich offene oder

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aufdeckbare Rechtsbrüche politisch nicht leisten können. Für die politischeNeutralisierung im Bereich der Wirtschaftlichkeitsrechnung gilt dies ingeringerem Masse. Vgl. dazu Ellwein, a. a. O., S. 89 ff. u. 115, oder NiklasLuhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung: Eineverwaltungswissenschaftliche Untersuchung, Berlin 1966, S. 116 ff.Daß diese Kontinuität durchaus nicht selbstverständlich ist, sondern alszivilisatorische Errungenschaft gewertet werden muß, lehrt ein Rückblick in dieAnfänge des positiven Rechts. Zunächst war es die natürliche Auffassung, daßRechtsregeln, Verträge usw., die durch Entscheidung eines politischenMachtträgers zustande gekommen waren, seinen Nachfolger nicht banden,sondern bestätigt oder erneuert werden mußten. Ein typisches Beispiel dafür istdie laufende Erneuerung des Edikts der römischen Prätoren vor seiner Fixierungdurch Hadrian.Vgl. Kap. 13.Das deutsche Verwaltungsrecht reflektiert diese Differenz im Begriff des»besonderen Gewaltverhältnisses« und unterscheidet streng zwischenVerwaltungsakten, die in die Rechtsstellung des Bediensteten eingreifen, alsoumweltwirksam und damit anfechtbar sind, und solchen, die das nicht tun, sondernnur die Rolle gestalten, die der Bedienstete generell übernommen hat. Siehe z. B.Klaus Obermayer, Verwaltungsakt und innerdienstlicher Rechtsakt, Stuttgart-München-Hannover 1956; Winfried Brohm, Verwaltungsvorschriften undbesonderes Gewaltverhältnis, Die öffentliche Verwaltung 17 (1964), S. 238-251;Heinrich Malz, Das Beamtenverhältnis als besonderes Gewaltverhältnis,Zeitschrift für Beamtenrecht 12 (1964), S. 97-102.Vgl. hierzu die Bedeutung der Zeitvariable in der kybernetischen Systemtheorievon W. Ross Ashby, Design for a Brain, 2. Aufl., London 1954, insb. S. 135 f.,144, 177, 184.Gute Bemerkungen zum allgemeinen Zusammenhang von Interdependenz undTempo als Zivilisationserscheinung finden sich bei Norbert Elias, Über denProzeß der Zivilisation. Soziologische und psychogenetische Untersuchungen,Basel 1939, Bd. II, S. 337 f. Vgl. auch die Erörterung des Zusammenhanges vonRollenspezifikation und Zeitknappheit bei Wilbert E. Moore, Man, Time, andSociety, New York-London 1963.Unter dem Gesichtspunkt der Langsamkeit der Bürokratie ist dieseProblemlösung seit langem ein Merkmal mehr oder weniger kritischerBeschreibungen des typischen bürokratischen Verhaltens. Vgl. z. B. RobertDoucet, La Bureaucratie et les Bureaucrates, Journal des Economistes 78 (1919),S. 209-227 (210); Fritz Morstein Marx, Freiheit und Bürokratie: Zur Natur desAmtsschimmels, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 42 (1956), S. 351-382 (356 ff., 361 f.); Lucio Mendieta y Nuñez, Sociologia de la Bureaucracia,Mexico 1961, insb. S. 46 f.; Robert Dubin, Business Behavior BehaviorallyViewed, in: Chris Argyris u. a., Social Science Approaches to Business Behavior,

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Homewood (IL) 1962, S. 11-55 (30 ff.). Bei Michael Fellner, Grundfragen desVerwaltungsverfahrens, in: Helmut R. Külz/Richard Neumann (Hrsg.),Staatsbürger und Staatsgewalt, Karlsruhe 1963, Bd. II, S. 345-363 (350 f.), findensich interessante Hinweise auf Versuche, das Problem durch Dienstanweisungwegzudekretieren: Schnelligkeit sei mit Gründlichkeit zu verbinden!Auch die Verwaltungsautomation hat in vielen Fällen zu einem Gewinn anSystemzeit geführt, der sich nicht unmittelbar in der Form einer früherenErledigung von Einzelfällen auszahlen läßt, sondern darin besteht, daß proZeiteinheit mehr Fälle mit gleichem oder mit weniger Personal bearbeitet werdenkönnen.Damit soll die Bedeutung des Geldmechanismus für die Verwaltung in anderenHinsichten nicht geleugnet oder verkleinert werden. Im Grundsatz soll aber dieVerwaltung sich nicht durch Kapitalbildung, sondern allein durch Machtbildungvom Zeitfluß begrenzt unabhängig machen, ein Grundsatz, der zum Beispiel durchdas Prinzip der Jährlichkeit des Haushaltes geschützt und mit den Angriffen aufdieses Prinzip neuerdings gefährdet wird. Diese Frage steht in engemZusammenhang mit dem Unterschied von Befehlsverwaltungen undZuteilungsverwaltungen und wird daher im 17. Kapitel nochmals aufgegriffenwerden.So ist denn auch der Zeitpunkt des Entscheidens ein Reservat für Tauschgeschäfteund Kompromisse aller Art, für entgegenkommende ebenso wie für bewußtschädigende und »strafende« Strategien von Verwaltungsangehörigen – eineZuflucht für die Bedürfnisse, Gefälligkeiten zu erweisen oder Verärgerungenabzureagieren, die sich in der Sache selbst bei eingehender Programmierung desEntscheidens nicht mehr auswirken können. Über umfangreichen Gebrauch dieserFreiheit berichtet Mendieta y Nuñez, a. a. O. (Anm. 42), S. 127 f., ausLateinamerika. Vgl. auch Fritz Morstein Marx, Das Dilemma desVerwaltungsmannes, Berlin 1965, S. 158 f.Als eine der besten neueren Darstellungen siehe Bernard Gournay, Un groupedirigeant de la société française: Les Grands Fonctionnaires, Revue Française deScience Politique 14 (1964), S. 215-242 (231 ff.). Vgl. ferner Reinhard Bendix,Bureaucracy and the Problem of Power, Public Administration Review 5 (1945),S. 194-209, neu gedruckt in: Robert K. Merton/Ailsa P. Gray/BarbaraHockey/Hanan C. Selvin (Hrsg.), Reader in Bureaucracy, Glencoe (IL) 1952,S. 114-135.Dagegen bereits Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 26 f.Dieser Teil des Buches blieb offenbar ungeschrieben. Anm. d. Hrsg.So die bekannte Formulierung Humboldts. Siehe vor allem Wilhelm vonHumboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihrenEinfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechtes, in: Werke, hrsg.von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. III, Darmstadt 1963, S. 368 ff., insb.433 f.

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15. KapitelKommunikationspotential

Die klassische Erörterung dieser Sprachkonzeption findet man, schon als Theorieund daher bezweifelbar, in Platons Kratylos.Besonders gut kann diese Vielfalt der Funktionen sprachlich-kommunikativenVerhaltens im Familienleben beobachtet werden. Im übrigen bieten archaischeSozialordnungen gute Beispiele für ein noch nicht auf Informationsübermittlungspezialisiertes sprachliches Verhalten. Vgl. dazu Bronislaw Malinowski, TheProblem of Meaning in Primitive Languages, in: C. K. Ogden/I. A. Richards, TheMeaning of Meaning, 5. Druck der 10. Aufl., London 1960, S. 296-336.In der neueren amerikanischen Organisationsforschung findet man sehr häufigmehr implizit als explizit eine Tendenz, Machtprobleme inKommunikationsprobleme aufzulösen, ohne daß das theoretische Verhältnisbeider hinreichend geklärt wäre. So entsteht zuweilen der Eindruck, daß alleProbleme durch viel freundliches Reden und durch richtiges Verstehen gelöstwerden könnten oder daß zumindest aller Machtanwendung ein solcher Versuchvorhergehen sollte. Durch die Forderung, die Machttheorie aus der Theorie derOrganisation des Kommunikationsprozesses abzuleiten, sind solche Folgerungennicht ohne weiteres gedeckt.So bereits Chester I. Barnard, The Functions of the Executive, Cambridge (MA)1938, S. 104 ff., mit Ausführungen, die für die moderne Organisationstheoriewegweisend geworden sind.Vgl. als Überblick über einige Forschungsansätze und für LiteraturhinweiseNiklas Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft: Bestandsaufnahme undEntwurf, Köln-Berlin 1966, S. 47 ff. Behindert wird die weitere Entwicklung vorallem durch zwei Vorurteile: Der Entscheidungsbegriff wird weithin noch auf eineReduktionsleistung psychischer Systeme bezogen (z. B. als »Willensakt« desIndividuums gesehen) und nicht soziologisch als Prozeß eines sozialen Systemsgefaßt (etwa als gemeinsame Absorption von Komplexität durch Kommunikationvon Entscheidungsprämissen für den anderen). Die Theorie der Arbeitsteilung istweithin noch am Sachen herstellenden Handeln (also an der industriellenProduktion) orientiert, die ein relativ einfaches Aneinanderstücken von Teilenerlaubt, und nicht an gemeinsamer Informationsverarbeitung, die mit sichüberschneidenden Aufmerksamkeitsbereichen zu rechnen hat und solcheÜberschneidungen entweder sinnvoll nutzen oder, um das knappe Potential fürAufmerksamkeit zu sparen, eliminieren muß.Auf Prämissen dieser Art hat namentlich Alfred Schütz aufmerksam gemacht undsie als »Lebenswelt« zu klären versucht. Siehe Alfred Schutz, Collected Papers, 3Bde., Den Haag 1962-1966.Sehr aufschlußreiche Experimente in dieser Richtung hat Harold Garfinkelunternommen, siehe: A Conception of, and Experiments with, »Trust« as a

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Condition of Stable Concerted Actions, in: O. J. Harvey (Hrsg.), Motivation andSocial Interaction: Cognitive Determinants, New York 1963, S. 187-238, undders., Studies of the Routine Grounds of Everyday Activities, Social Problems 11(1964), S. 225-250.In der phänomenologischen Literatur wird diese Latenz vielfach auch als»Anonymität« des mitfungierenden Alter ego beschrieben. Das heißt: DerErlebende ist sich der sozialen Konstitution seiner Lebenswelt und der darinsteckenden Komplexität anderer Möglichkeiten nicht bewußt. Siehe z. B. AlfredSchütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Wien 1932, S. 220 ff.Eine vielerörterte Form solcher Bestätigung ist der Scherz; vgl. Niklas Luhmann,Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 341 ff. Danebengibt es rein sprachliche Mittel, z. B. die Tönung einer Aussage durch wertgeladeneAdjektive, die nur beiläufig benutzt werden, ohne daß auf das Adjektiv als solchesgeantwortet wird.Vgl. z. B. Herbert A. Simon, Administrative Decision-Making, PublicAdministration Review 25 (1965), S. 31-37 (34 ff.).Auch hier wäre anzumerken, daß die »erwartete Arbeitsleistung« nicht mit dervollen sozialen Wirklichkeit gleichgesetzt werden darf, sondern nur diePrimärorientierung des Systems angibt. Daß neben der formalen informale, nebender direkten und verantwortlichen auch indirekte und maskierte Kommunikationstattfindet und daß solche »gegenstrukturellen« Erscheinungen notwendig sindund positive Funktionen erfüllen, wird heute allgemein anerkannt. Vgl. Luhmann,Funktionen und Folgen formaler Organisation, a. a. O. (Anm. 57), insb. S. 190 ff.,363 ff.Siehe den Begriff der »erforderlichen Bestimmtheit« bei Jürgen Pietzsch, DieInformation in der industriellen Unternehmung: Grundzüge einerOrganisationstheorie für elektronische Datenverarbeitung, Köln-Opladen 1964,S. 41, der genau dieses Postulat bezeichnet.Man muß also Kommunikationen, die Kompetenzen zu bindender Entscheidung inAnspruch nehmen, unterscheiden von solchen, die das nicht tun. Vgl. auch dieUnterscheidung von »Kompetenzsystem« und »Kommunikationssystem« beiHorst Albach, Organisation, betriebliche, in: Handwörterbuch derSozialwissenschaften, Bd. 8, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1964, S. 111-117.Dagegen scheint es mir nicht möglich zu sein, Entscheidungsprozesse,Informationsfluß und Kommunikationsfluß begrifflich und empirisch zu trennen,so wie Horst Albach es in seiner Studie: Entscheidungsprozesse undInformationsfluß in der Unternehmensorganisation, in: Erich Schnaufer/KlausAgthe (Hrsg.), Organisation, Berlin und Baden-Baden 1961, S. 355-402,vorschlägt.Diese Auffassung der Systemstrukturen als Widersprüche und Konflikterezipierend, umformend, verkleinernd und weiterleitend breitet sich in derallgemeinen soziologischen Systemtheorie und besonders in der

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Organisationssoziologie aus. Vgl. etwa Gideon Sjoberg, Contradictory FunctionalRequirements and Social Systems, The Journal of Conflict Resolution 4 (1960),S. 198-208; Neil J. Smelser, Theory of Collective Behavior, New York (NY)1963, S. 67 ff. u. ö.; Peter M. Blau/W. Richard Scott, Formal Organizations: AComparative Approach, San Francisco (CA) 1962, insb. die ZusammenfassungS. 242 ff.; Alvin N. Bertrand, The Stress/Strain Element of Social Systems: AMicro Theory of Conflict and Change, Social Forces 42 (1963), S. 1-9; Robert L.Kahn/Donald M. Wolfe/Robert P. Quinn/Diedrich J. Snoek, Organizational Stress:Studies in Role Conflict and Ambiguity, New York-London-Sydney 1964, insb.die Zusammenfassung S. 392 ff. Siehe ferner William J. Gore, AdministrativeDecision-Making: A Heuristic Model, New York-London-Sydney 1964, S. 38 ff.,zum Begriff eines besonderen »tension network«, das der Bearbeitung undLösung solcher Spannungen dient.Ein in der Organisationswissenschaft vielerörtertes Thema. Siehe statt andererLee O. Thayser, Administrative Communication, Homewood (IL) 1961, insb.S. 143 ff.So auch James G. March/Herbert A. Simon, Organizations, New York-London1958, S. 164 f., die darin einen Vorgang der »Unsicherheitsabsorption« durchsoziale Systeme sehen.

16. KapitelRationalität der Verwaltungsentscheidung

Siehe die Darstellung und Kritik von Bemühungen um eine geschlossene undumfassende Axiomatik des rationalen Handelns bei Patrick Suppes, ThePhilosophical Relevance of Decision Theory, The Journal of Philosophy 58(1961), S. 605-614. Daraus ist bereits von anderen Autoren die Folgerunggezogen worden, die wir hier für eine soziologische Analyse übernehmen, daßnämlich die Kriterien der Rationalität auf Systeme bzw. Systemumwelten zurelativieren seien. Siehe Maynard W. Shelly/Glenn L. Bryan, Judgments and theLanguage of Decision, in: dies. (Hrsg.), Human Judgments and Optimality, NewYork-London-Sydney 1964, S. 4-36 (15).Vgl. hierzu auch: Hans Peter Dreitzel, Rationales Handeln und politischeOrientierung: Zur Soziologie des politischen Verhaltens in der wissenschaftlichenZivilisation, Soziale Welt 16 (1965), S. 1-26; Niklas Luhmann, Recht undAutomation in der öffentlichen Verwaltung: Eine verwaltungswissenschaftlicheUntersuchung, Berlin 1966, insb. S. 134 ff.Auch Carl J. Friedrich, Man and His Government: An Empirical Theory ofPolitics, New York (NY) 1963, S. 471 f., sieht in der Konsistenz desEntscheidens (in einem nicht näher definierten Sinne) einen Wesenszug derBürokratie.

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Die im vorigen Kapitel behandelte selektive Wirkung vonKommunikationserleichterungen macht sich auch hier bemerkbar. Einenähnlichen Tatbestand der Verdrängung unprogrammierter durch programmierteArbeit bezeichnen March/Simon, Organizations, a. a. O. (Anm. 64), S. 185, als»Gresham’s law of planning«.Das Grundprinzip der klassischen Organisationslehre, der Gedanke einerKongruenz von Stellenhierarchie und Zweck/Mittel-Schema, findet in dieserOrdnungsnotwendigkeit eine gewisse Bestätigung. In der neuerenOrganisationstheorie betont vor allem Simon die Parallelität vonOrganisationsaufbau und Programmaufbau. Vgl. z. B. March/Simon, a. a. O.,S. 150 ff. Zu Entscheidungshierarchien im besonderen vgl. auch Herbert A.Simon, The Architecture of Complexity, Proceedings of the AmericanPhilosophical Society 106 (1962), S. 467-482, und Gérard Gäfgen, Theorie derwirtschaftlichen Entscheidung: Untersuchungen zur Logik und ökonomischenBedeutung des rationalen Handelns, Tübingen 1963, S. 212 ff. u. 311 ff.Zum Beispiel ist die obenerwähnte Konzeption von Entscheidungshierarchien derzweckrational denkenden wirtschaftswissenschaftlichen Entscheidungsspracheentnommen und im Bereich der juristisch-exegetischen Entscheidungsfindung nursehr begrenzt (nämlich nur im Sinne von Rechtsquellenhierarchien) brauchbar. Imübrigen gibt es für die Klassifikation juristischer Begriffe nur sehr wenigeAnsätze zu hierarchischer Ordnung (z. B. Bürgerliches Recht, Schuldrecht,Vertragsrecht, Kaufrecht, Recht der Mängelrüge).Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlicher Niklas Luhmann, Lob der Routine,Verwaltungsarchiv 55 (1964), S. 1-33; ders., Recht und Automation in deröffentlichen Verwaltung, a. a. O. (Anm. 66), S. 35 ff. Eine ähnlicheUnterscheidung findet sich bei Herbert Hax, Die Koordination vonEntscheidungen: Ein Beitrag zur betriebswissenschaftlichen Organisationslehre,Köln 1965, S. 73 ff.Überwiegend nimmt man jedenfalls an, daß kein Staatshandeln ohne jeden Bezugauf Zwecke stattfindet und umgekehrt keines ohne jede rechtliche Relevanz, alsoohne jeden Bezug auf konditionale Programme. Die alte Lehre vom »rechtsfreienRaum« des Staatshandelns, einem Reservat reinen Zweckhandelns, ist heuteaufgegeben worden. Vgl. statt anderer Erich Becker, Verwaltung undVerwaltungsrechtsprechung, Veröffentlichungen der Vereinigung der DeutschenStaatsrechtslehrer 14 (1956), S. 96-135.Dieser Primat zeigt sich zum Beispiel daran, daß der Planzweck als solcherRechtscharakter hat.Daß auch in den Bürokratien des Westens solche Tendenzen zur Verplanung derZukunft und einer entsprechenden Zeitkonzeption wirksam werden, und zwar ohneglaubwürdige politische Absicherung, zeigt überzeugend Hartwig Bülck,Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht in nationaler undübernationaler Sicht, in: Staat und Wirtschaft im nationalen und übernationalen

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Recht, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Berlin 1964, S. 15-42 (31 ff.).Dies zeigt sich z. B. daran, daß Rechtsbrüche auch durch sehr überzeugendeWirtschaftlichkeitsrechnung nicht gerechtfertigt werden können.Vor allem zwingt die zunehmende Automatisierung der Verwaltungsentscheidungzur konditionalen Programmierung auch dort, wo es nicht um Rechtsanwendunggeht, und in Einzelheiten, die die Rechtsnormen selbst offenlassen, weil andersdie Maschinen nicht eindeutig instruiert werden können.Hierzu näher Luhmann, Recht und Automation, a. a. O. (Anm. 66), S. 35 ff. mitweiteren Hinweisen.Das wird nicht nur in der Rechtssoziologie, sondern auch in der Rechtstheorieheute weithin anerkannt. Siehe statt anderer Josef Esser, Grundsatz und Norm inder richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 1956.Deshalb sehen manche Autoren sich genötigt, den problematischen Begriff des»Input aus dem Inneren des Systems« zu bilden. Vgl. David Easton, A SystemsAnalysis of Political Life, New York-London-Sydney 1965, S. 55 f., oder GabrielA. Almond, A Developmental Approach to Political Systems, World Politics 17(1965), S. 183-214 (194).Die oft empfohlene »teleologische« oder »funktionale« Auslegungsmethodemeint im Grunde diese Konkretisierung durch das Gegenprinzip, unterlegt esaber, um es zu legitimieren und in die Entscheidungsbegründung aufnehmen zukönnen, zu Unrecht der Norm selbst, deren Abstraktion gerade auf einerIndifferenz gegen Wirkungen beruht.Die Untersuchung der gesellschaftlichen Herkunft und Mobilität desJuristenstandes, die sich mit den geläufigen Methoden empirischer Erhebungbewerkstelligen läßt, ist natürlich kein Ersatz für eine Untersuchung desEinflusses dieser Faktoren auf das Ergebnis des Entscheidungsprozesses.Dahrendorfs Thesen über die Rolle und den Einfluß des Juristen sind daher mitVorbehalten aufzunehmen. Siehe Ralf Dahrendorf, Deutsche Richter: Ein Beitragzur Soziologie der Oberschicht, in: ders., Gesellschaft und Freiheit: Zursoziologischen Analyse der Gegenwart, München 1962, S. 176-196, und ders.,Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 260 ff.Vgl. näher Niklas Luhmann, Kann die Verwaltung wirtschaftlich handeln?,Verwaltungsarchiv 51 (1960), S. 97-115; Torstein Eckhoff/Knut Dahl Jacobson,Rationality and Responsibility in Administrative and Judicial Decision-Making,Kopenhagen 1960. Obgleich dieser Sachverhalt bei einigem Einblick in dieProbleme der Optimierungsrechnung nicht bestritten werden kann, findet manimmer wieder Versuche, Superlativdefinitionen der Wirtschaftlichkeit deröffentlichen Verwaltung als Postulat nahezubringen. Siehe z. B. LudwigMühlhaupt, Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit in der Gemeinwirtschaft und dieProblematik ihrer Messung, Finanzarchiv NF 8 (1941), S. 94-114; KonradMellerowicz, Wirtschaftlichkeit in der öffentlichen Verwaltung, in: DieWirtschaftlichkeit in der öffentlichen Verwaltung, Berlin 1953, S. 125-148; Hans

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Winckelmann, Wirtschaftlichkeit der öffentlichen Verwaltung, Zeitschrift fürhandelswissenschaftliche Forschung 8 (1956), S. 557-573, und ders., in:Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 11 (1959), S. 385-392. Vgl. fernerdie vorsichtig abwägende Stellungnahme von Pius Bischofsberger, Durchsetzungund Fortbildung der betriebswirtschaftlichen Erkenntnisse in der öffentlichenVerwaltung: Ein Beitrag zur Verwaltungslehre, Zürich-St. Gallen 1964, insb.S. 23 ff., 35 f., und Adolf Hüttl, Wirtschaftlichkeit, in: Franz Morstein Marx(Hrsg.), Verwaltung: Eine einführende Darstellung, Berlin 1965, S. 282-296,sowie als guten Überblick über amerikanische Rechnungsmethoden Martin S.Feldstein, Cost-Benefit-Analysis and Investment in the Public Sector, PublicAdministration 42 (1954), S. 351-372.Dieses Ergebnis wirft ein kritisches Licht auf die oft vertretene Meinung, dieAutonomie und Neutralität der Verwaltung gegenüber der Politik sei auf einesachlich zwingende Logik des Entscheidens zurückzuführen, der gegenüber sichpolitische Eingriffe als »unsachlich« erwiesen. Wäre ihre Logik zwingend, könntedie Verwaltung durch die Politik präzise gesteuert werden; dann hätte und brauchtesie keine Autonomie. Vielmehr geht es gerade um die Institutionalisierung einesBereichs sachlicher Unlogik, einer Unlogik in kleinen, kontrollierbaren Schritten,die, obwohl sie nicht wertfrei vollzogen werden können, doch dem politischenKampf entzogen und anderen Regeln der Verständigung unterstellt werden.Besondere Erfahrungen, die auch in der Wissenschaft stark beachtet worden sind,liegen zum Beispiel in den amerikanischen Wasserhaushaltsplanungen vor. Sieheaußer Feldstein, a. a. O., z. B. Roland McKean, Efficiency in Government ThroughSystem Analysis with Emphasis on Water Resources Development: TheEconomics of Project Evaluation, 2. Druck, Cambridge (MA) 1961; Arthur Maassu. a., Design of Water-Resource Systems: New Techniques for RelatingEconomic Objectives, Engineering Analysis and Governmental Planning,Cambridge (MA) 1962.Simon spricht im Hinblick darauf von »viable« oder »satisfying decisions« imGegensatz zu »optimizing decisions«. Vgl. Herbert A. Simon, Models of Man,Social and Rational: Mathematical Essays on Rational Human Behavior in aSocial Setting, New York-London 1957.Diese Einsicht beginnt auch in die wirtschaftswissenschaftliche Theorie derUnternehmung vorzudringen, seitdem man weiß, daß der Markt nicht soeindeutige Entscheidungsgrundlagen liefert, wie die klassische ökonomischeTheorie angenommen hatte. Hierauf beruht die Forderung Simons und anderer, dieInterdependenz von Organisation und Entscheidung zu erforschen. Für dieAuswirkung der Machtlage siehe etwa Carl Kaysen, The Corporation: How MuchPower? What Scope?, in: Edward S. Mason (Hrsg.), The Corporation in ModernSociety, Cambridge (MA) 1959, S. 85-105, und für persönlich oder sozialbedingte Motive Oliver E. Williamson, The Economics of DiscretionaryBehavior: Managerial Objectives in a Theory of the Firm, Englewood Cliffs (NJ)

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1964; Johannes Bidlingmaier, Unternehmerziele und Unternehmerstrategien,Wiesbaden 1964; Adolf Moxter, Präferenzstruktur und Aktivitätsfunktion desUnternehmers, Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung 16 (1964), S. 6-35.Auf diesen Unterschied hat meines Wissens als erster Parsons in einerAuseinandersetzung mit Max Weber hingewiesen. Siehe seine Einleitung zu: MaxWeber. The Theory of Social and Economic Organization, New York-London1947, Neudruck 1964, S. 58 ff. (Anm. 4). Seitdem gibt es zum Gegensatz vonlokal gebundenem Rollenwissen und professionellem Sachverstand in Amerikaeine umfangreiche Literatur. Als Beispiel für den theoretischen Ansatz in derRollenanalyse siehe Alvin W. Gouldner, Cosmopolitans and Locals: Toward anAnalysis of Latent Social Roles, Administrative Science Quarterly 2 (1957-58),S. 281-306, 444-480.Darüber Niklas Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft:Bestandsaufnahme und Entwurf, Köln-Berlin 1966.Darüber Klaus von der Groeben/Roman Schnur/Frido Wagener, Über dieNotwendigkeit einer neuen Verwaltungswissenschaft, Baden-Baden 1966.Auf das sehr buntscheckige Bild, das Ausbildung und Wissensverwendung in deramerikanischen Verwaltung bieten, kann hier nicht näher eingegangen werden. Dasbesondere Lehrfach Public Administration und seine Fachgesellschaft, dieAmerican Society for Public Administration, haben hier wesentlich zu einerverwaltungsspezifischen Professionalisierung mit einem eigenen berufsethischenVerhaltenskodex der Objektivität, Unbestechlichkeit und politischen Neutralitätbeigetragen, aber sie erfassen nur einen relativ geringen Teil des gesamten,akademisch vorgebildeten Verwaltungspersonals. Vgl. als Einführung FritzMorstein Marx, Amerikanische Verwaltung: Hauptgesichtspunkte und Probleme,Berlin 1963. In Frankreich hat die 1945 gegründete École Nationaled’Administration dem sozialen und beruflichen Zusammenhalt derSpitzenbeamten wesentliche Impulse gegeben, hat aber die Gemeinsamkeit einerfachlich-wissenschaftlichen Orientierung nicht in gleichem Maße fördernkönnen.Diese Bedeutung der Gemeinsamkeit professioneller Orientierung und Kontrollemuß natürlich unterschieden werden von dem Rollenschutz, den dieBerufsverbände als Interessenverbände dem Spezialisten in der Verwaltunggewähren. Vgl. dazu Victor A. Thompson, Modern Organization, New York (NY)1961, S. 110 ff.

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17. KapitelProgrammatik und Opportunismus

Man findet in der neueren Organisationswissenschaft bereits eine ansehnlicheZahl von Analysen, welche im Gegensatz zu den herrschenden mit »transitiven«Wertkriterien rechnenden Entscheidungstheorien die Rationalität desopportunistischen Verhaltens (wenngleich nicht immer unter diesem begrifflichenTitel) herausarbeiten. Siehe z. B. Chester I. Barnard, The Functions of theExecutive, Cambridge (MA) 1938, S. 200 ff.; Herbert A. Simon/Donald W.Smithburg/Victor A. Thompson, Public Administration, New York (NY) 1950,S. 122, 389 ff.; James G. March/Herbert Simon, Organizations, New York-London 1958, S. 109 f.; Melville Dalton, Men Who Manage, New York-London1959; Charles E. Lindblom, The Science of »Muddling Through«, PublicAdministration Review 19 (1959), S. 79-88; ders., The Intelligence ofDemocracy: Decision-Making Through Mutual Adjustment, New York-London1965; Aaron Wildavsky, The Politics of the Budgetary Process, Boston-Toronto1964; Fritz Morstein Marx, Das Dilemma des Verwaltungsmannes, Berlin 1965,insb. S. 184 ff.Siehe besonders grundsätzlich David Braybrooke/Charles E. Lindblom, A Strategyof Decision: Policy Evaluation as a Social Process, New York-London 1963. Inbezug auf Wirtschaftsunternehmen widmen Richard M. Cyert/James G. March, ABehavioral Theory of the Firm, Englewood Cliffs (NJ) 1963, S. 35 f., 118, dieser»sequential attention to goals« besondere Überlegungen. Vgl. auch dieAusführungen bei A. K. Rice, The Enterprise and its Environment: A SystemTheory of Management Organization, London 1963, S. 13 f., 188 ff., darüber, daßes Organisationen gibt, die »multiple tasks with fluctuating priority« erfüllenmüssen. In der deutschen Betriebswirtschaftslehre gibt Gutenbergs»Engpaßregel« der betrieblichen Planung ein ähnliches Prinzip an, wonach jeweilsder »Minimumsektor« dominiert; vgl. Erich Gutenberg, Grundlagen derBetriebswirtschaftslehre, Bd. I, 10. Aufl., Berlin 1965, S. 162 ff. Für dieöffentliche Verwaltung fehlen solche Überlegungen vielleicht nur deshalb, weildas Prinzip der widerspruchsvollen und wechselnden Präferenzen hier mit allerSelbstverständlichkeit praktiziert wird.Dieses Gebot der praktischen Vernunft läßt sich bis in die Grundrechtsdogmatikhinein verfolgen. Wenn man Grundrechte als Werte versteht, muß man derenAbsolutheit durch Abwägungsformeln relativieren. Dafür sucht die neuereDogmatik Formeln – etwa die von einer »immanenten Schranke« allerGrundrechte in einem Güterabwägungsprinzip –, die den Widerspruch und dieNotwendigkeit opportunistischer Entscheidungsweisen wenigstens nicht offenzutage treten lassen. Vgl. z. B. Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht: ZurBindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und derErforderlichkeit, Köln 1961, und besonders Peter Häberle, Die

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Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz: Zugleich ein Beitrag zuminstitutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vomGesetzesvorbehalt, Karlsruhe 1962.Eine klassische Erörterung dieser und der folgenden Einsichten findet sich beiGunnar Myrdal, Das Zweck-Mittel-Denken in der Nationalökonomie, Zeitschriftfür Nationalökonomie 4 (1933), S. 305-329, neu gedruckt in: ders., DasWertproblem in der Sozialwissenschaft, Hannover 1965 (dt. Übers.), S. 213-233.Myrdal formuliert seine Thesen allerdings nur im Hinblick auf dieWertfreiheitsdebatte. Er beschränkt sich deshalb darauf, die Wertprämissen (unddamit die Voraussetzung politischer Entscheidung) in aller zweckrationalenKalkulation nachzuweisen. Der Versuch einer Theorie des opportunistischenWechselns von Wertorientierungen liegt außerhalb seiner Intention. Überhaupthält die Theorie der wirtschaftlich-rationalen Entscheidung durchweg amTransitivitätsprinzip wie an einer Art mathematischem Naturrecht fest, und einInteresse an der Rationalität eines künftigen Wertewechsels, der diese Prämisseallein erträglich machen könnte, beginnt gerade erst zu erwachen. Siehe TjallingC. Koopmans, On Flexibility of Future Preference, in: Maynard W. Shelly/GlennL. Bryan (Hrsg.), Human Judgments and Optimality, New York-London-Sydney1964, S. 243-254.Eine Anwendung dieses Gedankens auf die öffentliche Verwaltung findet sich beiHerbert A. Simon/Donald W. Smithburg/Victor A. Thompson, PublicAdministration, New York 1950, S. 488 ff. – nicht zufällig bei Autoren, die auchdem Problem des bestandsnotwendigen Opportunismus ihr besonderesAugenmerk schenken (siehe z. B. ebd., S. 389 ff.).Diesen Irrtum pflegt auch die durchaus vorherrschende Behandlung der Konflikteinfolge zu enger Identifikation mit Unterzwecken und Mitteln als einespsychologischen oder sozialpsychologischen Phänomens. Siehe statt anderer C.West Chuchman, Prediction and Optimal Decision: Philosophical Issues of aScience of Values, Englewood Cliffs (NJ) 1961, S. 309 ff. Die Unabhängigkeitsolcher Konflikte von personalen Motivationsstrukturen betont mit RechtHerbert A. Simon, On the Concept of Organizational Goals, AdministrativeScience Quarterly 9 (1964), S. 1-22 (16 f.).Zum gleichen Ergebnis kommt die Theorie der wirtschaftlich-rationalenEntscheidung, sobald sie anerkennt, daß die Zerlegung eines Zweckes in Mittel,die als Unterzwecke der Selektion weiterer Mittel dienen, ein Verfahren ist, dasmit Notwendigkeit widerspruchsvolle Orientierungen erzeugt. Siehe dazu YujiIjiri, Management Goals and Accounting for Control, Amsterdam 1965, als einenVersuch, solche Widersprüche mit mathematischen Methoden unter Kontrolle,das heißt im Rahmen erträglicher Inkonsistenz, zu halten.Und für diesen Fall ist denn auch der Widerspruch von Programmatik undOpportunismus am deutlichsten geklärt worden. Gewinnmaximierung undLiquidität sind divergierende Ziele, ein Widerspruch, der in der klassischen

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Betriebswirtschaftslehre durch das Postulat unbegrenzter Kreditfähigkeit deswirtschaftlich rational kalkulierenden Unternehmens nur unzulänglich überbrücktwerden konnte und heute zunehmende Aufmerksamkeit findet. Siehe statt andererHorst Albach, Investition und Liquidität, Wiesbaden 1962.In der neueren organisationssoziologischen Literatur besteht eine Tendenz, diesenGegensatz zu einer grundsätzlichen Diskrepanz von Zweckmodellen undSystemmodellen (bzw. Effektivitätsmodellen und Bestandserhaltungsmodellen)zuzuspitzen. Siehe z. B. Alvin W. Gouldner, Organizational Analysis, in: Robert K.Merton/Leonard Broom/Leonard S. Cottrell, Jr. (Hrsg.), Sociology Today, NewYork (NY) 1959, S. 400-428, oder Amitai Etzioni, Two Approaches toOrganizational Analysis: A Critique and a Suggestion, Administrative ScienceQuarterly 5 (1960), S. 257-278.Diese Unterscheidung gehört in den Zusammenhang einer allgemeinen Typologievon Formen der sachlich-sinnhaften Verbindung des Handelns zu Systemen durchPersonen, Rollen, Programme und Werte, auf die wir bereits oben, Kap. 12,zurückgegriffen haben.Deshalb haben wir oben, Kap. 10, die These vertreten, daß Abhängigkeiten undUnabhängigkeiten nur zusammen wachsen können, weil eine Vermehrung derInterdependenzen durch eine Vermehrung von Trennfunktionen kompensiertwerden muß.Siehe statt anderer: Otto Bachof, Reflexwirkungen und subjektive Rechte imöffentlichen Recht, in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, München 1955,S. 287-307.Die deutsche Rechtsprechung, die diesen Sachverhalt in ihrer täglichen Fallpraxisbeobachten konnte, hat daher in den letzten Jahrzehnten zu einer langsamen, aberbeharrlichen Ausweitung des Begriffs des subjektiven Rechts geführt, die denBewegungsspielraum der Gesetzgebung und die Manövriermasse der Politikzunehmend einengt und die Politik dazu zwingt, sich die Folgeschäden neuerProgramme in Form von Kosten des Eingriffs in bestehende Rechtebewußtzumachen.Diesen Gedanken hat Lindblom zu einer rationalen Strategie des »disjointedincrementalism« ausgearbeitet. Siehe z. B. Robert A. Dahl/Charles E. Lindblom,Politics, Economics and Welfare, New York (NY) 1953, Neudruck New York-Evanston-London 1963, S. 82 ff.; Charles E. Lindblom, Policy Analysis, TheAmerican Economic Review 48 (1958), S. 298-312; Albert O.Hirschmann/Charles E. Lindblom, Economic Development, Research andDevelopment, Policy Making: Some Converging Views, Behavioral Science 7(1962), S. 211-222; David Braybrooke/Charles E. Lindblom, A Strategy ofDecision: Policy Evaluation as a Social Process, New York-London 1963.Die politische Unterentwicklung der Entwicklungsländer liegt auch in diesemPunkte offen zutage. Zwar fehlt es ihnen zumeist nicht an Gruppen, diepolitischen Einfluß suchen oder in die Verwaltung eingreifen, wohl aber an

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solchen, die frei und planmäßig gebildet sind, um spezifische Interessen undWerte zu fördern. In der Spezifikation liegen die entscheidende Differenz und derEntwicklungsfortschritt. Denn dadurch schließen die Interessenverbände sich vonder Konkurrenz um politische Führung aus und stabilisieren zugleich einenpermanent Geltung beanspruchenden Gesichtspunkt, den sie unabhängig vonPersonen jeder Politik und jeder Verwaltung gegenüber vertreten. Außerdemermöglicht nur Spezifikation der Ziele freien und beweglichen Zusammenschluß,so wie sie umgekehrt die Institutionalisierung der Vereinigungsfreiheit zurVoraussetzung hat. Siehe dazu Joseph LaPalombara, The Utility and Limitations ofInterest Group Theory in Non-American Field Situations, Journal of Politics 22(1960), S. 29-49; Fred W. Riggs, Administration in Developing Countries: TheTheory of Prismatic Society, Boston (MA) 1964, S. 164 ff.; Leonard Binder, Iran:Political Development in a Changing Society, Berkeley-Los Angeles 1962,S. 177 ff. Die erste größere Monographie zu diesem Thema, Myron Weiner, ThePolitics of Scarcity: Public Pressure and Political Response in India, Chicago(IL) 1962, macht deutlich, wie sehr die weitere Entwicklung solcherInteressengruppen davon abhängen wird, daß Politik und Verwaltung genügendAnsatzpunkte zum Verhandeln über spezifische Interessen bilden, also genügendopportunistisch orientiert sind. Daß im übrigen auch in Europa die freieVereinigung um spezifische Interessen sich nur langsam und erst mit derIndustrialisierung endgültig durchgesetzt hat, zeigt ein Rückblick in dieGeschichte der Vereinigungsfreiheit. Dazu jetzt Friedrich Müller, Korporationund Assoziation: Eine Problemgeschichte der Vereinigungsfreiheit im DeutschenVormärz, Berlin 1965.Insofern gilt eine treffende Einsicht, die Jonas für Interessen formuliert, mitgleichem Recht für Werte: »Wer heute behauptet, neben den Interessen nochandere verborgene Qualitäten zu vertreten, verurteilt sich dazu, außerhalb derGemeinschaft zu stehen, die wohl die Vertretung von Interessen, aber nicht dievon Wahrheiten akzeptiert.« (Friedrich Jonas, Sozialphilosophie der industriellenArbeitswelt, Stuttgart 1960, S. 136-37.) Werte sind ebensowenig wahrheitsfähigwie Interessen.Im amerikanischen Schrifttum findet man nicht selten Formulierungen, die denEindruck erwecken, als ob die gesamte Verwaltungsbürokratie ein Organ derInteressenverbände sei, siehe z. B. Charles M. Wiltse, The RepresentativeFunction of Bureaucracy, The American Political Science Review 35 (1941),S. 510-516.Gute Beobachtungen dieser Infiltration der Interessen in die Verwaltung findetman zum Beispiel bei John M. Gaus/Leon O. Wolcott, Public Administration andthe US Department of Agriculture, Chicago (IL) 1940; Reinhard Bendix, HigherCivil Servants in American Society: A Study of the Social Origin, the Careers, andthe Power-Position of Higher Federal Administrators, Boulder (CO) 1949,S. 95 ff.; Philip Selznick, TVA and the Grass Roots, Berkeley-Los Angeles 1949;

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Vladimir O. Key, Jr., Politics, Parties and Pressure Groups, 3. Aufl., New York(NY) 1953, S. 721 ff.; Avery Leiserson, Interest Groups in Administration, in:Fritz Morstein Marx (Hrsg.), Elements of Public Administration, 2. Aufl.,Englewood Cliffs (NJ) 1959; Henry W. Ehrmann, French Bureaucracy andOrganized Interests, Administrative Science Quarterly 5 (1961), S. 534-555;Harry Eckstein, Pressure Group Politics: The Case of the British MedicalAssociation, London 1960; Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände,Stuttgart 1955; Fritz Morstein Marx, Einführung in die Bürokratie, Neuwied1959, S. 165 ff.; Wilhelm Hennis, Verfassungsordnung und Verbandseinfluß,Politische Vierteljahresschrift 2 (1961), S. 23-35; Rudolf Wildenmann, Machtund Konsens als Problem der Innen- und Außenpolitik, Frankfurt/M.-Bonn 1963,S. 170 ff.; Otto Stammer u. a., Verbände und Gesetzgebung: Die Einflußnahme derVerbände auf die Gestaltung des Personalvertretungsgesetzes, Köln-Opladen1965.Besonders erhellend für die geschilderte Kontrastierung siehe Wallace Sayre,Bureaucracies: Some Contrasts in Systems, Indian Journal of PublicAdministration 10 (1964) S. 219-229, mit einem Vergleich des amerikanischenund des britischen Verwaltungssystems.Eine gewisse Entbürokratisierung der Verwaltung und vor allem eine Schwächungihres hierarchischen Aufbaus gilt auch sonst als notwendiges Korrelat einerübermäßig komplexen Umwelt. Für rasches zeitliches Fluktuieren haben z. B.Arthur L. Stinchcombe, Bureaucratic and Craft Administration of Production: AComparative Study, Administrative Science Quarterly 4 (1959), S. 168-187, undTom Burns/G. M. Stalker, The Management of Innovation, London 1961, diesenSachverhalt festgestellt; für fachliche Komplexität finden sich ähnlicheEinsichten bei Viktor A. Thompson, Modern Organization, New Vork (NY) 1961,in der These, daß Spezialistentum und hierarchische Orientierung einanderwidersprechen. Die hier dargestellte Auffassung, daß Wertkomplexität derUmwelt einen Opportunismus von unten in die Verwaltung hineinbringe, ergänztdiese These im Hinblick auf einen weiteren Aspekt der Umweltkomplexität. Mankann daher allgemein festhalten, daß übermäßige Komplexität der Umwelt diehierarchisch-bürokratische Struktur der Verwaltung gefährdet oder, umgekehrtformuliert, daß diese Struktur ein erhebliches Maß an Reduktion der Komplexitätdurch politische Prozesse voraussetzt.Vgl. namentlich Ernst Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart-Berlin 1938; Hans Huber, Recht, Staat und Gesellschaft, Bern 1954; WolfgangLepsien, Prinzipien der Leistungsverwaltung, Diss. Münster 1961; Peter Badura,Die Daseinsvorsorge als Verwaltungszweck der Leistungsverwaltung und dersoziale Rechtsstaat, Die öffentliche Verwaltung 19 (1966), S. 624-633.Vgl. dazu Carl Hermann Ule (Hrsg.), Die Entwicklung des öffentlichen Dienstes,Köln 1961.Das gilt unabhängig davon, ob der Schaden als einklagbarer Rechtsverlust

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erscheint, also ersetzt werden muß, oder nicht. Vermutlich führt aber wachsendeInterdependenz auch zu immer feinerer Ausarbeitung subjektiver Rechte unddamit zum Anwachsen der Ansprüche auslösenden Eingriffsfolgen. An dieserÜberlegung habe ich Vorschläge zur Reform des Rechts der öffentlich-rechtlichen Entschädigung orientiert. Siehe Niklas Luhmann, Öffentlich-rechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet, Berlin 1965, insb. S. 18 ff.Insofern hat sich die subventionistisch handelnde wohlfahrtsstaatlicheMassendemokratie nicht als Gegensatz, sondern als Konsequenz aus der liberalenStaatsauffassung entwickelt: Die Allgemeinheit der Belastungen und dieSpezifikation der Wohltaten werden in gleicher Weise durch die zunehmendengesellschaftlichen Interdependenzen erzwungen.An dem Unterschied dieser beiden Konsistenzprobleme orientiert auch GeoffreyVickers, The Art of Judgment: A Study of Policy Making, London 1965,S. 207 ff., seine Unterscheidung von allocative und integrative decisions.Dieser Gedanke findet sich zugespitzt zu einem grundsätzlichen Gegensatz von»coercion« und »information« bei David E. Apter, The Politics of Modernization,Chicago-London 1965.Vgl. die Darstellung und Kritik eines entsprechenden »Experimentes« imamerikanischen Landwirtschaftsdepartment bei Aaron Wildavsky/ArthurHammond, Comprehensive Versus Incremental Budgeting in the Department ofAgriculture, Administrative Science Quarterly 10 (1965), S. 321-346.In die opportunistischen Strategien und Taktiken der Ressorts bei der Festsetzungder Haushaltsansätze gibt einen guten Einblick Aaron Wildavsky, The Politics ofthe Budgetary Process, Boston-Toronto 1964. Siehe auch Thomas Ellwein,Einführung in die Regierungs- und Verwaltungslehre, Stuttgart 1966, S. 150 ff., zuden Grenzen dieses konkurrierenden Entscheidungsprozesses.Siehe den Überblick über solche Verflechtungen bei Horst Goltz, Mitwirkungparlamentarischer Ausschüsse beim Haushaltsvollzug, Die öffentliche Verwaltung18 (1965), S. 605-616.Zum Begriff solcher strukturell bedingten »organizational dilemmas« vgl. PeterM. Blau/W. Richard Scott, Formal Organizations: A Comparative Approach, SanFrancisco (CA) 1962, insb. S. 222, 242 ff.

18. KapitelFunktion der Politik

Vor allem seit Moisei Ostrogorski, La démocratie et l’organisation des partispolitiques, 2 Bde., Paris 1903. Die deutsche »Allgemeine Staatslehre« rezipiertdiesen neuen Stoff nur widerwillig. Jellinek ordnet ihn z. B. derGesellschaftslehre zu und merkt an: »Das Parteileben, wie alles Leben, zeigtallerdings so viele wunderliche, unberechenbare Elemente, daß vieles an ihm

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wissenschaftlicher Behandlung vom höheren Standpunkt aus überhaupt spottet.«(Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck, Darmstadt 1959,S. 114, Anm. 1.) Jene Zuordnung zur Gesellschaft findet sich selbst noch in derneuesten »Allgemeinen Staatslehre« – bei Herbert Krüger, AllgemeineStaatslehre, Stuttgart 1964, S. 371 ff.Eine Folge dieser wissenschaftsgeschichtlichen Situation sind gewisseterminologische Schwierigkeiten, nämlich daß wir das Wort politisch weder beider Bezeichnung des Gesamtsystems noch bei der Bezeichnung des jetzt zubehandelnden Teilbereichs entbehren können. Der Ausdruck »politisches System«soll daher für das Gesamtsystem reserviert werden, während für das Teilsystemdes Politischen im engeren Sinne Begriffe wie »Politik« oder »politischeProzesse« zur Verfügung stehen. Diese unschöne Doppeldeutigkeit ließe sich nurdurch eine ebenfalls mißverständliche Weiterverwendung des Staatsbegriffsvermeiden.Vgl. hierzu die Ausführungen von Neil J. Smelser, Theory of Collective Behavior,New York (NY) 1963, S. 180 ff., über strukturelle Bedingungen politischer»crazes«. Smelser gibt folgende Bedingungen an: (1) a highly differentiatedpolitical structure; (2) an institutionalized »political rationality«, wherebydecisions are relatively unencumbered by non-political considerations; (3) thepossibility of commuting and withdrawing political support; (4) a generalizedmedium of exchange – in this case power – which can be exchanged, bargainedwith and stored (i. e. promised for future delivery).Die klassischen Theorien liberaler und demokratischer Staatsformen, die ansolche Probleme anknüpfen, sind daher hoffnungslos inadäquat. Das hat auchRobert A. Dahl, A Preface to Democratic Theory, Chicago (IL) 1956, in Formeiner scharfsinnigen Kritik ihrer Prämissen gezeigt.Diese Aussage darf nicht so verstanden werden, als ob Politik die einzige Quelleder Legitimität sei, also alle relevanten Ursachen rein politisch seien. Nachunserer allgemeinen Analyse des Legitimitätsbegriffs (s. oben, Kap. 9) kann eineso radikale These nicht vertreten werden. Die Politik kann vielmehr nur denSpielraum ausfüllen, der ihr durch andere gesellschaftliche Faktoren gelassenwird – ein Spielraum, der freilich in funktional differenzierten Gesellschaftensehr groß zu sein pflegt.François Bourricaud, Esquisse d’une théorie de l’autorité, Paris 1961, S. 7.Unter dem Gesichtspunkt einer zeremoniellen Veranstaltung analysiert dieseSymbolik Murray Edelman, The Symbolic Uses of Politics, Urbana (IL) 1964.Man vergleiche damit Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, neugedruckt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin1955, S. 119-225, der ähnliche Phänomene unter dem Gesichtspunkt einerKonstitution geistiger Wirklichkeiten beschreibt.

19. Kapitel

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Umweltlage, Sprache und Eigenständigkeit der Politik

Siehe dazu Raymond A. Bauer/Ithiel de Sola Pool/Lewis Anthony Dexter (Hrsg.),American Business and Public Policy: The Politics of Foreign Trade, New York(NY) 1963, S. 415 ff.Vgl. Harold D. Lasswell/Nathan Leites u. a., Language of Politics: Studies inQuantitative Semantics, Cambridge (MA) 1949. Siehe ferner die Analyse derpolitischen Sprache bei Edelman, a. a. O. (Anm. 7), S. 114 ff. Edelman siehtjedoch die Funktion der politischen Sprache in einer Koordination des Erlebensvon »mass audiences« und »pressure groups«, nicht in einer Vermittlung zwischenPublikum und Verwaltung.In ähnlichem Sinne unterscheidet Seymour M. Lipset, Soziologie derDemokratie, Neuwied-Berlin 1962 (dt. Übers.), S. 70 ff., zwischen derFunktionsfähigkeit und Legitimität politischer Institutionen. Ebenso ThomasEllwein, Einführung in die Regierungs- und Verwaltungslehre, Stuttgart 1966,S. 171.Einige Literaturhinweise: Robert F. Bales, Interaction Process Analysis: AMethod for the Study of Small Groups, Cambridge (MA) 1951; TalcottParsons/Robert F. Bales/Edward A. Shils, Working Papers in the Theory ofAction, Glencoe (IL) 1953; Talcott Parsons/Robert F. Bales, Family, Socializationand Interaction Process, Glencoe (IL) 1955; Philip E. Slater, Role Differentiationin Small Groups, American Sociological Review 20 (1959), S. 300-310; John W.Thibaut/Harold H. Kelley, The Social Psychology of Groups, New York (NY)1959, S. 278 ff.; Philip M. Marcus, Expressive and Instrumental Groups, TheAmerican Journal of Sociology 66 (1960), S. 54-59; Amitai Etzioni, AComparative Analysis of Complex Organizations: On Power, Involvement, andTheir Correlates, New York (NY) 1961, S. 91 f. u.ö.; ders., Dual Leadership inComplex Organizations, Americal Sociological Review 30 (1965), S. 688-698.Vgl. ferner die von Durkheim entlehnte Unterscheidung von instrumentellen undkonsumatorischen Problemvariablen, mit deren Hilfe Parsons dieSystemprobleme seiner Theorie des Aktionssystems konstruiert – so z. B. TalcottParsons, General Theory in Sociology, in: Robert K. Merton/LeonardBroom/Leonard S. Cottrell, Jr. (Hrsg.), Sociology Today, New York (NY) 1959,S. 3-58 (5 ff.).So im Prinzip auch Parsons. Vgl. z. B. The Point of View of the Author, in: MaxBlack (Hrsg.), The Social Theories of Talcott Parsons, Englewood Cliffs (NJ)1961, S. 311-363 (324).Einen ähnlichen Aspekt der Unterscheidung konsumatorischer undinstrumenteller Werte scheint Apter im Auge zu haben, wenn er auf dieTrennbarkeit von Zwecken und Mitteln bei instrumenteller Orientierung abstellt.Vgl. David E. Apter, The Political Kingdom in Uganda: A Study in BureaucraticNationalism, Princeton (NJ) 1961, S. 85, und ders., The Politics of

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Modernization, Chicago-London 1965, S. 85.Eine gute Darstellung dieses Dilemmas aus dem Bereich derOrganisationssoziologie findet sich bei Charles Perrow, Organizational Prestige:Some Functions and Dysfunctions, The American Journal of Sociology 66(1961), S. 335-341. Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life,2. Aufl., Garden City (NY) 1959, S. 33, spricht von einem allgemeinen »dilemmaof expression versus action«. Beobachtungen in diesem Sinne finden sich auchbei Peter M. Blau, The Dynamics of Bureaucracy, 2. Aufl., Chicago (IL) 1963,S. 155 f.; Peter B. Clark/James Q. Wilson, Incentive Systems: A Theory ofOrganization, Administrative Science Quarterly 6 (1961), S. 129-166 (144);Albert K. Cohen, The Sociology of the Deviant Act: Anomie Theory and Beyond,American Sociological Review 30 (1965), S. 5-14 (12 f.).Das ist die Auffassung der Kleingruppenforschung, die die Befriedigung dersozio-emotionalen Bedürfnisse der Gruppenmitglieder als ein internes Problemder Gruppen ansieht. Dabei wird stillschweigend vorausgesetzt, daß eine Gruppeaus Personen mitsamt ihren konkreten persönlichen Bedürfnissen besteht undnicht nur aus Rollen – eine Auffassung, die in der soziologischen Systemtheorieseit längerem als unhaltbar erkannt und aufgegeben worden ist. Geht man zurTheorie des Rollensystems über, wird es unausweichlich, auch die Befriedigungjedenfalls eines Teils der sozio-emotionalen Bedürfnisse der Mitglieder als einexternes, umweltbezogenes Problem der Gruppe anzusehen. Die Differenzierunginstrumenteller und expressiver Variablen erscheint dann als eineumweltbezogene funktionale Differenzierung, die zu einer strukturellenDifferenzierung von Kommunikationsweisen oder sogar von Rollen führen kann,wenn die Umwelt, zum Beispiel durch die Unterscheidung von Mitgliedern undNichtmitgliedern, dafür Anhaltspunkte bietet.Etwas Ähnliches meint David Easton, A Systems Analysis of Political Life, NewYork-London-Sydney 1965, mit seiner Unterscheidung von specific und diffusesupport.Das betont auch Robert E. Lane, The Decline of Politics and Ideology in aKnowledgeable Society, American Sociological Review 31 (1966), S. 649-662(655 f.).Vgl. Else Frenkel-Brunswik, Intolerance of Ambiguity as an Emotional andPerceptual Personality Variable, Journal of Personality 18 (1949), S. 108-143;Peter R. Hofstätter, Einführung in die Sozialpsychologie, 2. Aufl., Stuttgart 1959,S. 160 ff. Auch in der organisationssoziologischen Literatur wird derProblemcharakter ambivalenter Situationen zunehmend beachtet, zum Beispielvon Melville Dalton, Men Who Manage, New York-London 1959, insb. S. 243 ff.,unter dem Gesichtspunkt von Führungsqualitäten; von Michel Crozier, Lephénomène bureaucratique, Paris 1963, unter dem Gesichtspunkt der Macht; vonRobert L. Kahn/Donald M. Wolfe/Robert P. Quinn/Diedrich J. Snoek,Organizational Stress: Studies in Role Conflict and Ambiguity, New York-

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London-Sydney 1964, unter dem Gesichtspunkt einer allgemeinenstrukturbedingten Verhaltensbelastung.Zur »reduction of ambiguity« durch kollektives Verhalten siehe Neil J. Smelser,Theory of Collective Behavior, New York (NY) 1963, S. 81 ff., und für einbesonderes Beispiel Otthein Rammstedt, Sekte und soziale Bewegung:Soziologische Analyse der Täufer in Münster (1545/35), Köln-Opladen 1966.Hierzu einige treffende Bemerkungen bei George H. Mead, The Philosophy ofthe Act, Chicago (IL) 1938, S. 175.Ein angemessenes Verständnis dieses Problems setzt eine Theorie der Zeit alsReduktion von Komplexität voraus, die hier nicht dargestellt werden kann.Jedenfalls verstellt man sich den Zugang zu diesem Problem, wenn man mit dervorherrschenden Auffassung Strukturen und Prozesse einander entgegensetzt wieobjektiv Feststehendes und objektiv Fließendes, denn zwischen diesen beidenObjektivationen fällt das Wesen der Zeit hindurch. Statt dessen muß zwischenBeständen und Ereignissen unterschieden werden. Bestände werden identifiziertdurch das Dauern der Gegenwart unabhängig vom Wechsel der Zeitpunkte. Siesind stets und nur gegenwärtig und in diesem Sinne sicher. Ereignisse haben ihrPrinzip der Identität in einem Zeitpunkt, an dem sie feststehen, unabhängig davon,daß das Voranschreiten der Gegenwart Zukunft zur Vergangenheit werden läßt.Erst durch die Widersprüchlichkeit dieser Identifikation, deren jede dieVeränderlichkeit der anderen voraussetzt, entsteht der Eindruck, als ob die Zeitfließe. Die Zeit aber ist das Sichereignen der Bestände. Bei dem im Textbehandelten Problem geht es darum, den gegenwärtig gesicherten Beständen eineForm zu geben, die ein Höchstmaß an Unbestimmtheit, Offenheit, alsoKomplexität von Ereignissen erträglich erscheinen läßt. Auf diese Weise wird dieKomplexität gesteigert, die der »Fluß der Zeit« reduziert.Maurice Duverger betont in einer Diskussionsbemerkung (in: Léo Hamon/AlbertMabileau [Hrsg.], La personalisation du pouvoir, Paris 1964, S. 442 f.), »qu’il doity avoir dans un pays deux circuits de confiance, un circuit médial et un circuit oùles gens aient l’impression d’être proches du plan gouvernemental«.Von »Führungswechsel« der Funktionen sprechen wir im Anschluß an ArnoldGehlen, Der Mensch, 6. Aufl., Bonn 1958, S. 360 f., der die relativeUnabhängigkeit des menschlichen Handlungsvermögens von spezifischenAntrieben und spezifischen Umwelten darauf zurückführt, daß Sehen, Greifen,Hören usw. einander alternierend führen können.Vgl. Kap. 10.

20. KapitelRationalität der Politik

Das geschieht jedoch oft. Siehe z. B. Brian Barry, Political Argument, London

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1965, S. 3 ff., der Begriff und Beispiele für Konsistenz der ökonomischenTheorie entnimmt und dann abschwächt. Eine ausführliche und überzeugendeKritik solcher Konsistenzrationalität im Bereich der Politik findet sich beiCharles E. Lindblom, The Intelligence of Democracy: Decision-Making ThroughMutual Adjustment, New York-London 1965.Es nimmt deshalb nicht wunder, daß die Abgrenzung von Politik und Verwaltungnach dem Zweck/Mittel-Schema in engem Zusammenhang steht mit derAuffassung, die Politik sei »schöpferisches«, irrationales Handeln. Vgl. dieHinweise oben Kap. 4, Anm. 43.Praktisch können allerdings auch Einparteiensysteme auf das Reduktionsmitteldes Kampfes nicht verzichten. Sie fühlen sich ständig herausgefordert und inKämpfe verwickelt. Und wenn sie sich nach der Vernichtung des»Klassenfeindes«, des »plutokratischen« oder »imperialistischen« Gegnersinnenpolitisch Feinde nicht mehr vorstellen können, macht sie das außenpolitischum so gefährlicher.Anhand eines anderen Anschauungsbereichs entwickeln Eugene Litwak/Lydia F.Hilton, Interorganizational Analysis: A Hypothesis on Co-ordination Agencies,Administrative Science Quarterly 6 (1962), S. 395-420, ein Modell fürZwischensystembeziehungen, das den oben skizzierten Merkmalen nahekommt.Außerdem ist natürlich zu bedenken, daß ein solches Parteiensystem eineVerwaltung voraussetzt, welche die Wahlen organisiert und durchführt und derenpolitische Neutralität wenigstens in diesem Funktionszusammenhang keinemZweifel unterliegt. Beide Voraussetzungen, die Institutionalisierung derErfolgskriterien und die Einrichtung einer parteipolitisch neutralen Verwaltung,zu verwirklichen bereitet manchen Entwicklungsländern große Schwierigkeiten.Zu den besonderen Schwierigkeiten der Veranstaltung von Wahlen inEntwicklungsländern vgl. Jacques J. Maquet/Marcel d’Hertefelt, Elections ensociété féodale: Une étude sur l’introduction du vote populaire au Ruanda-Urundi,Brüssel 1959; W. J. M. Mackenzie/Kenneth Robinson (Hrsg.), Five Elections inAfrica, Oxford 1960; T. E. Smith, Elections in Developing Countries: A Study ofElectoral Procedure Used in Tropical Africa, South-East Asia and the BritishCaribbean, London 1960 – in allen Fällen noch auf Erfahrungen derKolonialverwaltungen beruhend. Die aktuellen Probleme in den amerikanischenSüdstaaten sind ein weiteres Beispiel. Vgl. ferner Cornelius O’Leary, TheElimination of Corrupt Practices in British Elections 1868-1911, Oxford 1962.In diesem Fall liegt mithin eine künstliche Institutionalisierung einer konstantenMachtsumme vor, eine Verhaltensbedingung, welche die klassische politischeTheorie mehr oder weniger deutlich als naturgegeben unterstellt hatte. Wirkommen auf dieses Problem im Rahmen der Machttheorie [Dieser Teil desBuches blieb ungeschrieben. Anm. d. Hrsg.] ausführlicher zurück.Die Bedeutung dieser Eindeutigkeit der Entscheidung wird besondersherausgestellt von Talcott Parsons, The Political Aspect of Social Structure and

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Process, in: David Easton (Hrsg.), Varieties of Political Theory, Englewood Cliffs(NJ) 1966, S. 71-112 (83 ff.).Den sehr knappen Wahlsieg Kennedys bei den amerikanischenPräsidentschaftswahlen 1960 hat die verlierende republikanische Partei denn auchhingenommen, obwohl sie gute Chancen sah, die Wahlpraktiken und Ergebnisse ineinzelnen Staaten anzufechten. Aber eine solche Anfechtung, die zu langfristigerpolitischer Verunsicherung geführt hätte, wäre, obwohl legal möglich, ein Verstoßgegen die Regeln des Spiels gewesen und unterblieb daher.Daß weitere Bedingungen, nämlich die politische Neutralisierung gewisserRahmenbedingungen und Symbole, hinzukommen müssen, um dieseVerharmlosung des Machtwechsels dauerhaft zu sichern, werden wir weiter untenerörtern. Durch die Logik dieses Parteiensystems allein kann natürlich nichtausgeschlossen werden, daß Parteien sich nach den Spielregeln um den Erwerbder Macht bemühen, um dann mit Hilfe der erworbenen Macht die Spielregeln zuändern.Hierauf hat vor allem Joseph H. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus undDemokratie, Bern 1946 (dt. Übers.), S. 427 ff., hingewiesen. Davon ausgehendversucht Anthony Downs, An Economic Theory of Democracy, New York 1957,mit den Denkmitteln der klassischen ökonomischen Theorie Thesen überrationale politische Kalkulation auszuarbeiten.Hierauf sind die Schwierigkeiten der gesellschaftlichen Institutionalisierungprivatwirtschaftlichen Erwerbsstrebens zurückzuführen, die uns bei einemRückblick in das späte Mittelalter oder bei einem Vergleich mitEntwicklungsländern bewußt werden. Es versteht sich keineswegs von selbst, daßdie Gesellschaft diese besondere Moral des Gewinnstrebens in einem ihrerSektoren akzeptiert und unterstützt. Vgl. hierzu allgemein Georg Simmel,Philosophie des Geldes, 3. Aufl., München-Leipzig 1920, insb. S. 229 ff. Vgl.ferner Kenneth Burke, A Grammar of Motives, Neudruck Cleveland-New York1962, S. 91 ff.Siehe z. B. Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens, Neudruck der 2.Aufl., Stuttgart o.J. (1957), insb. S. 348; Robert K. Merton, BureaucraticStructure and Personality, Social Forces 18 (1940), S. 561-568, neu gedruckt in:ders., Social Theory and Social Structure, 2. Aufl., Glencoe (IL) 1957, S. 195-206; R. M. MacIver, Social Causation, Boston (MA) 1942, S. 320 f.; Peter M.Blau, Bureaucracy in Modern Society, New York (NY) 1956, S. 93 ff.; Davis L.Sills, The Volunteers, Glencoe (IL) 1957, S. 64 ff.; Peter Heintz, Einführung indie soziologische Theorie, Stuttgart 1962, S. 172; Johann Jürgen Rohde,Soziologie des Krankenhauses: Zur Einführung in die Soziologie der Medizin,Stuttgart 1962, S. 179 ff.Das verkennen die Versuche, das amateurhafte Element und damit dieallgemeine gesellschaftliche Moral gegenüber der Herrschaft professionellerPolitiker wieder zur Geltung zu bringen – eine Tendenz, die namentlich von James

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Bryce, The American Commonwealth, 2. Aufl., New York (NY) 1910, mitnachhaltiger Auswirkung vertreten wurde.Vgl. hierzu Herbert A. Simon, Das Verwaltungshandeln: Eine Untersuchung derEntscheidungsvorgänge in Behörden und privaten Unternehmen, Stuttgart 1955(dt. Übers.), insb. S. 3 f., und die berechtigte Kritik von Herbert J. Storing, TheScience of Administration: Herbert A. Simon, in: H. J. Storing (Hrsg.), Essays onthe Scientific Study of Politics, New York (NY) 1962, S. 63-150 (73 ff.), welchedie Unumgänglichkeit eines Zuschusses von Werturteilen unterstreicht. Nebender Unvermeidlichkeit von Werturteilen besteht ein zweiter Grund fürUnselbständigkeit des reinen Programmierens darin, daß Programme höhererStufen längere Zeitdauer haben müßten, weil sie ja mehrereUmprogrammierungen untergeordneter überdauern müssen; sie müssen also allejene Wertabstraktionen ausklammern, die ins Spezielle führen, weil diese, wie wirin der Theorie des Opportunismus gesehen haben, einen raschen Wechsel derOrientierungen voraussetzen. Die damit ausfallende Instruktion muß durch Politikoder durch Verwaltungsopportunismus nachgeliefert werden.Dazu näher unten, S. 305 ff.Vgl. dazu im einzelnen das vorige Kapitel.Geoffrey Vickers, The Undirected Society: Essays on the Human Implications ofIndustrialization in Canada, Toronto 1959, S. 127, spricht im Hinblick darauf voneinem »right to create wants«, das in der Hierarchie menschlicher Freiheitsrechtebesser nicht allzu hoch eingestuft werden sollte.Ein Übermaß an politisch unabwehrbaren Forderungen läßt sich in vielenEntwicklungsländern beobachten, ebenso wie in weit entwickeltenMehrparteiendemokratien. Nur zum Teil läßt dieses Problem sich durchTechniken wie schleichende Inflation oder andere Formen der Befriedigung mitScheinerfolgen zurückdämmen. Als theoretische Versionen dieser Problematiksiehe den Begriff des »input overload« bei David Easton, A Systems Analysis ofPolitical Life, New York-London-Sydney 1965, S. 57 ff., oder den Hinweis aufSanktionszirkel, die bei »power deflation« aus dem Fehlen legitimerAbweisungsmöglichkeiten entstehen können, bei Talcott Parsons, SomeReflections on the Place of Force in Social Process, in: Harry Eckstein (Hrsg.),Internal War: Problems and Approaches, New York-London 1964, S. 33-70(61 ff.).Hierzu gut Reinhard Bendix, Higher Civil Servants in American Society: A Studyof the Social Origins, the Careers, and the Power-Position of Higher FederalAdministrators, Boulder (CO) 1949, S. 95 ff.Vgl. unten, S. 305 ff.In der Organisations- und Entscheidungstheorie ist heute im Prinzip anerkannt,daß die Kosten der Informationsbeschaffung und -verarbeitung mit in dieKalkulation einbezogen werden müssen. Sie wachsen typisch mit denAnforderungen an die Rationalität. Daher wird es zumeist irrational sein, höchste

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Rationalität aufgrund vollständiger und sicherer Informationen anzustreben, undumgekehrt treten Strategien der Absorption von Ungewißheit, die man früher fürirrational gehalten hätte, damit in ein günstigeres Licht. Das hier behandeltePhänomen der symptomatischen Orientierung gewinnt dadurch eine Bedeutung,die weit über den Bereich der Politik hinausreicht.Daß diese Vermutung auf schwachen Füßen stehen kann, zeigen amerikanischeund britische Untersuchungen, siehe z. B. Paul F. Lazarsfeld/BernardBerelson/Hazel Gaudet, The People’s Choice, New York 1948; Wilbur Schramm(Hrsg.), The Process and Effects of Mass Communication, Urbana (IL) 1954;Joseph T. Klapper, The Effects of Mass Communication, Glencoe (IL) 1960; D.Trenaman/J. McQuail, Television and the Political Image, London 1961.Vgl. dazu C. Ramney, Do the Polls Serve Democracy?, in: Bernard R.Berelson/Morris Janowitz (Hrsg.), Reader in Public Opinion and Communication,Glencoe (IL) 1950; Wilhelm Hennis, Meinungsforschung und repräsentativeDemokratie, Tübingen 1957; R. Fröhner, Trägt die Meinungsforschung zurEntdemokratisierung bei?, Publizistik 3 (1958), S. 157-164; Ulrich Lohmar,Innerparteiliche Demokratie: Eine Untersuchung der Verfassungswirklichkeitpolitischer Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1963,S. 102 ff.; Gerhard Schmidtchen, Die befragte Nation: Über den Einfluß derMeinungsforschung auf die Politik, 2. Aufl., Frankfurt/M.-Hamburg 1965,S. 273 ff.In dem Maße, als solche Neutralisierungen gelingen, kann man zwischen Kampfim System und Kampf gegen das System (unter Einbeziehung ebendieserNeutralisierungen) unterscheiden. Siehe z. B. Maurice Duverger, SociologiePolitique, Paris 1966, S. 283 ff.Vgl. dazu bereits oben, S. 173 ff.Dieser wichtige Fall der politischen Neutralisierung von Zentralbanken ist in derstaatsrechtlichen, politologischen und soziologischen Forschung bisher imVergleich zum traditionellen Beispiel der Justiz viel zuwenig beachtet worden.Vgl. jedoch den wichtigen Beitrag von Hans Joachim Arndt, Politik undSachverstand im Kreditwährungswesen: Die verfassungsrechtlichen Gewalten unddie Funktion von Zentralbanken, Berlin 1963. Die konjunkturbremsendeKreditrestriktionspolitik der Deutschen Bundesbank ab 1965 macht mitsamtihren politischen Konsequenzen jedoch deutlich, welche Probleme hier entstehenkönnen. Bedenken gegen eine autonome Zentralbankpolitik, die politisch wederverantwortet werden kann noch braucht, spitzen sich besonders dann zu, wenn dieBeweglichkeit der Haushalts- und Finanzpolitik dadurch so stark eingeschränktwerden würde, daß die Verantwortung für den Gesamteffekt, zum Beispiel für denGeldwert oder das Ausmaß an erträglicher Inflation, für die Richtung öffentlicherInvestitionen oder für Vollbeschäftigung nicht mehr bei politisch kontrollierbarenStellen läge und damit auch der Steuerung durch politische Wahlen entzogen wäre.Die Ursache der Entstehung solcher Zweiparteiensysteme kann hier nicht

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angemessen abgehandelt werden. Nirgends sind sie unmittelbar durch Gesetzeingeführt worden. Das Mehrheitswahlrecht spielt nach verbreiteter Überzeugungeine große Rolle. Siehe als engagierten Verfechter dieser Erkenntnis F. A.Hermens, Demokratie oder Anarchie? Untersuchung über die Verhältniswahl,Frankfurt/M. 1951, oder Maurice Duverger, Die politischen Parteien, Tübingen1959 (dt. Übers.). Die sorgfältige empirische Untersuchung von RudolfWildenmann/Werner Kaltefleiter/Uwe Schleth, Auswirkungen von Wahlsystemenauf das Parteien- und Regierungssystem der Bundesrepublik, in: Erwin K.Scheuch/Rudolf Wildenmann (Hrsg.), Zur Soziologie der Wahl, Sonderheft 9 derKölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln-Opladen 1965,S. 74-112, scheint diese mehr deduktiv oder impressionistisch gewonneneAnnahme im wesentlichen zu stützen. Andererseits mehren sich jedoch dieStimmen, die eine primäre oder gar ausschlaggebende Determination durch dasWahlrecht bestreiten. Vgl. G. E. Lavau, Partis politiques et réalités sociales:Contribution à une étude réaliste des partis politiques, Paris 1953; PeterCampbell, French Electoral Systems and Elections 1789-1957, London 1958,S. 30 ff., oder Colin Leys, Models, Theories, and the Theory of Political Parties,Political Studies 7 (1959), neu gedruckt in: Harry Eckstein/David E. Apter(Hrsg.), Comparative Politics: A Reader, New York-London 1963, S. 305-315. Esgibt nämlich Beispiele dafür, daß auch das MehrheitswahlrechtMehrparteiensysteme hervorgebracht hat (Niederlande 1880-1918; vgl. dazu diegleichsam entschuldigenden Erklärungen bei Georg Geismann, PolitischeStruktur und Regierungssystem in den Niederlanden, Frankfurt/M.-Bonn 1964,S. 129 ff.), und ferner zeigen die Erfahrungen der Bundesrepublik nach 1949, daßTendenzen zum Zweiparteiensystem auch bei einem Verhältniswahlrecht wirksamwerden können, das nur leicht in Richtung auf das Mehrheitswahlrecht modifiziertist.Siehe für das amerikanische Beispiel Elmer E. Schattschneider, PartyGovernment, New York (NY) 1942, S. 85 ff., im Rahmen einer auch sonstausgezeichneten Darstellung des Zweiparteiensystems; ferner etwa Vladimir O.Key, Jr., Politics, Parties, and Pressure Groups, 3. Aufl., New York 1953,S. 231 ff. Daß auf selektive, differenzierende Ideologien verzichtet wird, heißtnatürlich nicht, daß politisches Handeln überhaupt ideologiefrei wird. Das oftbehauptete »Ende des Zeitalters der Ideologien« ist vielleicht nur ein Zeichendafür, daß gemeinsame ideologische Bindungen wieder selbstverständlichgeworden sind.Diese Notwendigkeit hat zum Beispiel in Großbritannien zu einerbemerkenswerten Annäherung der Ziele und Programme der konservativen Parteiund der Arbeiterpartei geführt.Gemessen an der Bedeutung dieser Frage ist die Literatur über parteiinterneEntscheidungsprozesse immer noch spärlich gesät. Vor allem fehlt eineAnwendung neuer organisationssoziologischer und organisationstheoretischer

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Erkenntnisse auf diesem Gebiet, während das empirische Wissen langsamzunimmt. Vgl. insb. R. T. McKenzie, Politische Parteien in England: DieMachtverteilung in der Konservativen und in der Labourpartei, Köln-Opladen1961 (dt. Übers.); Lohmar, Innerparteiliche Demokratie, a. a. O. (Anm. 47).Vgl. hierzu Anthony Downs, An Economic Theory of Democracy, New York (NY)1957, insb. S. 98 f.Dazu näher unten, S. 398 ff.Einen guten Einblick in diese Zusammenhänge vermittelt Gerhard Lehmbruch,Proporzdemokratie: Politisches System und politische Kultur in der Schweiz undÖsterreich, Tübingen 1967. Siehe auch René Marcic, Die Koalitionsdemokratie:Das österreichische Modell im Lichte der Wiener rechtstheoretischen Schule,Karlsruhe 1966. Zur Diskussion und Ablehnung dieses Gedankens in Schwedenvgl. Dankwart A. Rustow, The Politics of Compromise: A Study of Parties andCabinet Government in Sweden, Princeton (NJ) 1955, S. 219 ff. RustowsDarstellung des politischen Systems in Schweden macht überdies deutlich, daßhohe Kompromißbereitschaft auch auf andere Weise als durchInstitutionalisierung von Proporzregelungen zustande kommen kann.Siehe Marcic, a. a. O., S. 44 ff.Die systemtheoretischen Grundlagen einer solchen Reduktion durch zweiunvergleichbare Schritte können hier nicht dargestellt werden. Es sei jedochdarauf hingewiesen, daß die Leistungen der Sprache auf einer ähnlichenDifferenzierung zwischen Konstitution eines allgemeinen Schatzes vonBedeutungen und seiner Anwendung im konkreten Ausdruckshandeln beruht. Einweiteres Beispiel wäre der auf dem Geldmechanismus beruhende Markt.Vgl. dazu Reinhard Bendix, Herrschaft und Industriearbeit: Untersuchungen überLiberalismus und Autokratie in der Geschichte der Industrialisierung,Frankfurt/M. 1960 (dt. Übers.), S. 453 ff., der den Zusammenhang zwischenEinheit der Ideologie und Autoritätsstruktur der Partei besonders betont. Es istnatürlich müßig, darüber zu debattieren, ob die Autorität um der Ideologie willenoder die Ideologie um der Autorität willen in Anspruch genommen wird.Entscheidend ist, daß Stabilität nur durch einen Prozeß wechselseitiger Stärkungbeider Faktoren erreicht werden kann.Vgl. hierzu und zum Folgenden u. a. John A. Armstrong, The Soviet BureaucraticElite: A Case Study of the Ukrainian Apparatus, New York (NY) 1959; Carl Beck,Party Control and Bureaucratization in Czechoslovakia, Journal of Politics 23(1961), S. 279-294.Noch schärfer wird zum Teil formuliert, daß die Partei eine simultaneMaximierung widerspruchsvoller Ziele verlange. Siehe z. B. Andrew G. Frank, TheOrganization of Economic Activity in the Soviet Union, WeltwirtschaftlichesArchiv 78 (1957), S. 104-156; ders., Goal Ambiguity and Conflicting Standards:An Approach to the Study of Organization, Human Organization 17 (1958-59),S. 8-13; Reinhard Bendix, Nation-Building and Citizenship: Studies of Our

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Changing Social Order, New York-London-Sydney 1964, S. 169 ff.Vgl. z. B. David Granick, Management of the Industrial Firm in the USSR, NewYork (NY) 1954; Joseph S. Berliner, Factory and Manager in the USSR,Cambridge (MA) 1957; János Kornai, Overcentralization in EconomicAdministration: A Critical Analysis Based on Experience in Hungarian LightIndustry, London 1959, insb. S. 117 ff. In dem Maße, als illegale Strategien zurErfolgsbedingung werden, treten schwerwiegende Nachteile ein. Die Leistunghängt dann von informalen, persönlichen Beziehungen ab. Jeder Personalwechselzerbricht ihre Grundlagen. Das Verwaltungssystem kann in diesenLeistungsbereichen dann nur relativ geringe Komplexität erreichen.Viele Belege dafür bei Hannelore Hamel, Das sowjetische Herrschaftsprinzip desdemokratischen Zentralismus in der Wirtschaftsordnung Mitteldeutschlands,Berlin 1966.Eine Zusammenstellung und Analyse älterer sowjetischer Maiparolen findet manbei Harold D. Lasswell/Nathan Leites u. a., Language of Politics, Cambridge(MA) 1949, S. 233 ff. Vgl. auch Ernst Otto Maetzke, Die Parteisprache in derSowjetzone (Eine gruppensprachliche Untersuchung), Vierteljahrshefte fürZeitgeschichte 1 (1953), S. 339-346. Soziologisch interessant ist diedurchgehend unterstellte Einheit von Wort und Einstellung, die sowohl naivgeglaubt als auch zynisch fingiert werden kann und in beiden Fällen zurStabilisierung des politischen Systems beiträgt, da es auf Einstellungen in derPolitik nicht ankommt, wenn die Kommunikationen vollständig kontrolliertwerden können.Dolf Sternberger, Grund und Abgrund der Macht, Frankfurt/M. 1962.»The universal ideology justifies each successive party line in absolute terms«,konstatiert Bendix, a. a. O. (Anm. 62), S. 174.Vgl. hierzu namentlich Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative: Vonder Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein, München 1960 (dt. Übers.),insb. S. 24 ff.Um so bezeichnender ist die Rückverankerung dieser Doktrin in demGrundprinzip aller Dialektik, daß Wahrheit immer konkret (und deshalb nurpraxisbezogen möglich) sei. Der Begriff des Konkreten suggeriert hierunendliche Komplexität und reduzierte Komplexität zugleich und verdeckt damitdurch seine innere Ambivalenz das Problem. Siehe für die typischeArgumentationsweise das Lehrbuch Grundlagen der marxistischen Philosophie, 3.Aufl., Berlin 1961 (dt. Übers.), S. 661 f.So hatte Kant es zwar nicht gemeint, als er die traditionellen Begriffe für dasBestimmbare und die Bestimmung (Materie und Form) in »Reflexionsbegriffe«verwandelte; er wollte damit nur den Bezug auf die transzendentale Erkenntnisartausdrücken (siehe Kritik der reinen Vernunft, B 316 ff.). Aber die Abhebungdieser Begriffe von der unmittelbar gegebenen Realität ist Voraussetzung für ihreideologische Verwendung. Diese Verwendung ihrerseits macht es dann

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erforderlich, für den Vorgang der Bestimmung des Bestimmbaren andereTheoriebegriffe zu suchen, die der ontologischen Metaphysik nicht mehrverpflichtet sind. Wir begreifen deshalb die Bestimmung des Bestimmbaren nichtals Formung von Materie, sondern als Reduktion von Komplexität.Mit Recht lehnen Marxisten es ab, ihre Ideologie als Dogma charakterisiert zusehen. Sie wollen sich von Dogmatikern unterschieden wissen, die sich imBesitze sicherer Formeln für alle Gelegenheiten wähnen. Aber mit einer verbalenund begrifflichen Zurückweisung allein ist das Problem natürlich nicht gelöst.Karl W. Deutsch, Cracks in the Monolith: Possibilities and Patterns ofDisintegration in Totalitarian Systems, in: Carl J. Friedrich (Hrsg.), Totalitarism:Proceedings of a Conference Held at the American Academy of Arts andSciences, Cambridge (MA) 1954, S. 308-333, neu gedruckt in: Eckstein/Apter,a. a. O. (Anm. 51), S. 497-508 (498), spricht in bezug darauf von »theembarrassment of previous commitments«.Vgl. Kolakowski, a. a. O. (Anm. 68), S. 7 ff.Vgl. dazu Zbigniew Brzezinski, The Soviet Political System: Transformation orDegeneration?, Problems of Communism 15 (1966), Heft 1, S. 1-15, insb.S. 12 f.Die beginnende Rezeption der empirischen Soziologie durch den dialektischenMaterialismus ist ein Musterbeispiel dafür. Die Legitimation der soziologischenForschung scheint unter der Voraussetzung möglich zu sein, daß sie sich nur mitempirischen, konkreten, speziellen Verhältnisssen befasse, welche dieallgemeinen Gesetze des historischen Materialismus nicht widerlegen, sondernnur in einzelnen Varianten bestätigen können. Siehe dazu Gábor Kiss, Gibt es eine»marxistische« Soziologie?, Köln-Opladen 1966, insb. S. 21 ff. Die politischeWissenschaft hat es naturgemäß sehr viel schwerer, sich zu etablieren, da sie eskaum vermeiden kann, Gesamturteile über das politische System zu fällen bzw.sich mit Themen zu befassen, die solche Gesamturteile implizieren. Ein weiteresBeispiel, die Rezeption der Kybernetik, erörtert Karlheinz Messelken, Zur Rollevon Semiotik und Kybernetik in der marxistischen Philosophie: Einewissenssoziologische Fallstudie, Soziale Welt 16 (1965), S. 289-308.Das gilt z. B. für die Dezentralisierungswelle, welche die Wirtschaftsorganisationder sozialistischen Staaten seit einigen Jahren erfaßt. Auf der AchseZentralisierung/Dezentralisierung kann man sich ideologisch unverbindlich hinund her bewegen und durch diese Bewegung etwa auftretenden FolgeproblemenRechnung tragen, weil natürlich nie bestritten werden kann, daß sowohlZentralisierung als auch Dezentralisierung notwendig sind. Eben deshalb reduziertman die Diskussion auf bloße »Sprichwörter« (im Sinne von Herbert A. Simon,The Proverbs of Administration, Public Administration Review 6 [1946], S. 53-67), das heißt auf Organisationsprinzipien, die stets ihr Gegenteil mit postulierenmüssen. Vgl. dazu auch Hamel, Das sowjetische Herrschaftsprinzip, a. a. O. (Anm.64), eine Untersuchung, die allerdings durch eine naiv vorausgesetzte

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Machtsummenkonstanzprämisse entwertet wird und den Grundgedanken desdemokratischen Zentralismus verkennt: daß Einfluß von oben nach unten undEinfluß von unten nach oben gleichzeitig gesteigert werden können.Vgl. dazu für das Gebiet des Rechts Otto Kirchheimer, Die Rechtspflege und derBegriff der Gesetzlichkeit in der DDR, Archiv des öffentlichen Rechts 85(1960), S. 1-65.Eine vergleichbare »Umfunktionierung« der Öffentlichkeit in der westlichenDemokratie ist die zentrale These von Jürgen Habermas, Strukturwandel derÖffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft,Neuwied 1962 (vgl. insb. S. 215 ff.).Auch in Mehrparteiensystemen scheint die innerparteilicheInformationsübermittlung von unten nach oben schlecht zu funktionieren, und dieParteiführung verläßt sich bei der Ermittlung der öffentlichen Meinung eher aufMeinungsforschungsinstitute als auf die eigenen Mitglieder. Siehe dazu RenateMayntz, Lokale Parteigruppen in der kleinen Gemeinde, Zeitschrift für Politik 2(1955), S. 59 ff.; Lohmar, Innerparteiliche Demokratie, a. a. O. (Anm.47),S. 40 ff., 54, 102 ff.Als Erörterung des Nachfolgeproblems bei Todesfällen vgl. John H. Herz, TheProblems of Successorship in Dictatorial Régimes: A Study in Comparative Lawand Institutions, The Journal of Politics 14 (1952), S. 19-40. Vgl. ferner Carl J.Friedrich, Man and His Government: An Empirical Theory of Politics, New York(NY) 1963, S. 502 ff., mit besonderer Betonung der Bedeutung gefestigterParteien für die Lösung dieses Problems sowie das Heft 1 des Journal ofInternational Affairs 18 (1964) über »Statesmen and Succession« inverschiedenen Staaten.Ähnliches gilt für den Führungswechsel in Parteien der Mehrparteiensysteme, derjedoch, da er die Machtmittel der Verwaltung nicht unmittelbar tangiert, weitweniger problematisch ist. Vgl. dazu Lohmar, Innerparteiliche Demokratie, a. a. O.(Anm. 47), S. 85 f.Vgl. Brzezinski, The Soviet Political System, a. a.O. (Anm. 74), der die Lösungdieses Problems zu jenen rechnet, die über Transformation oder Degenerationdes Systems entscheiden. Siehe ferner die Detailanalysen bei Myron Rush,Political Succession in the USSR, New York-London 1965, und bei Howard R.Swearer (Hrsg.), The Politics of Succession in the USSR: Materials onKhrushev’s Rise to Leadership, Boston 1964.Nicht selten wird deshalb das Wesen des Ideologischen gerade in der falschenPrätention auf Wissenschaftlichkeit gesehen. Vgl. statt anderer Theodor Geiger,Ideologie und Wahrheit: Eine soziologische Kritik des Denkens, Stuttgart-Wien1953.Diese Empfindlichkeit wird zu einem Gefahrenpunkt besonders dann, wenn diewissenschaftlich-technische Intelligenz sich in der Verwaltungsbürokratieverschanzt, wenn also die rollenmäßige Trennung von Partei und

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Verwaltungsbürokratie zugleich Politik und wissenschaftlich-technischeIntelligenz trennt. Eine solche Trennung kann die Politik sich nicht leisten, dennin dem Maße, als eine Wohlstandsgesellschaft sich davon überzeugt, daß ihrWohlleben von Wissenschaft und Technik abhängt, werden Besitz undDirigierbarkeit jener Intelligenz ein Legitimationsfaktor ersten Ranges. DiePartei ist dann darauf angewiesen, hinreichend ausgewiesene Intellektuelle in ihreeigenen Reihen zu rekrutieren, was immer das für die Konsistenz der Ideologieund die hierarchische Lenkbarkeit der Partei für Folgen haben mag.Daß eine funktional-strukturelle Trennung von politischen Funktionären undwissenschaftlich-technischer Intelligenz verhängnisvoll wäre, berechtigt indeskaum zu Untergangsprophezeiungen, wie Michel Garder, Die Agonie desSowjetsystems, Frankfurt/M. 1966 (dt. Übers.), sie vorlegt.Vgl. oben, Kap. 4.Bedenken dagegen, daß das »right to create wants« in der Hierarchie derFreiheitsrechte westlicher Gesellschaften zu hoch eingestuft wird, finden sich beiGeoffrey Vickers, The Undirected Society: Essays on the Human Implications ofIndustrialization in Canada, Toronto 1959, S. 138 ff.Wenn das nicht gelingt, besteht auch die Möglichkeit, eine kontroverseideologische Diskussion zwar zuzulassen, sie aber als politisch folgenlos zuinstitutionalisieren. Die Rolle der katholischen Kirche im gegenwärtigen Polenist ein Beispiel dafür.Erstaunlicherweise stellt auch die in der amerikanischen politischenWissenschaft vorherrschende Auffassung die Funktion des politischen Systemsals Verteilung knapper Güter dar, ohne zu erkennen, wie sehr sie damit den Sinnder Problemoffenheit des Mehrparteiensystems untergräbt. Siehe statt andererDavid Easton, A Framework for Political Analysis, Englewood Cliffs (NJ) 1965,S. 50, oder Marion J. Levy, Jr., Modernization and the Structure of Societies: ASetting for International Affairs, Princeton (NJ) 1966, Bd. I, S. 290 ff., Bd. II,S. 346 ff. Wenn es aber in der Politik wirklich nur noch um die Verteilungverteilbarer Werte geht, dürfte dafür ein Einparteiensystem genügen. Im übrigenlassen die Erfahrungen mit dem, was in Mehrparteiensystemen an politischenProblemen produziert und bearbeitet wird, durchaus die Deutung zu, daß es in derTat nur noch wirtschaftliche Probleme gibt – oder daß auch inMehrparteiensystemen ein (unideologischer) perzeptiver Filter eingebaut ist, derdie Transformation aller Probleme auf einen gemeinsamen wirtschaftlichenNenner begünstigt. Die Bestimmung der Politik als »allocation of values« istdeskriptiv schwer zu widerlegen. Aber daß die gleiche Definition auch auf dieWirtschaft zutrifft, sollte nachdenklich stimmen.Siehe z. B. Jerzy J. Wiatr, Elements of the Pluralism in the Polish PoliticalSystem, The Polish Sociological Bulletin (1966), S. 19-26; Brzezinski, TheSoviet Political System, a. a. O. (Anm. 74), S. 9 ff.; Morton Schwartz,Czechoslovakia: Toward One-Party Pluralism? Problems of Communism 16

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(1967), S. 21-27. Als eine Einzelfallstudie, die sich um ein Aufdeckenkonfliktreicher interner Entscheidungsprozesse in angeblich ideologisch-geeinten Systemen bemüht, siehe Sidney I. Ploss, Conflict and Decision-Makingin Soviet Russia: A Case Study of Agricultural Policy 1953-1963, Princeton (NJ)1965.Daß dieses Problem ausreichender politischer Sensibilität gerade inEinparteiensystemen auftritt, deren Führer leicht in Isolierung geraten, betontauch Maurice Duverger, Die politischen Parteien, Tübingen 1959 (dt. Übers.),S. 269 f. Vgl. auch L. Vincent Padgett, Mexico’s One-Party System: A Re-Evaluation, American Political Science Review 51 (1957), S. 995-1008.Vgl. dazu Bendix, Herrschaft und Industriearbeit, a. a. O. (Anm. 60), S. 511 ff.Prognosen dieser Art finden sich in mehr oder minder düsterer Ausmalung häufig– siehe z. B. Brzezinski, a. a. O. (Anm. 74), S. 13 ff.In diesem Sinne unterscheidet Ruth Schachter, Single-Party Systems in WestAfrica, The American Political Science Review 55 (1961), S. 294-307, zwischenmass parties und patron parties. Ebenso Martin L. Kilson, Authoritarian andSingle-Party Tendencies in African Politics, World Politics 15 (1963), S. 262-294, dort S. 268 ff. auch über die Deformierungen der marxistischen Ideologie inAfrika. Als umfangreiche Sammelbände vgl. ferner Gwendolen M. Carter (Hrsg.),African One-Party Systems, Ithaca (NY) 1962, und James S. Coleman/Carl G.Rosberg, Jr., (Hrsg.), Political Parties and National Integration in Tropical Africa,Berkeley-Los Angeles 1964.Das gilt nicht nur für Häuptlingsparteien, die an die vorhandenen Statusordnungenanknüpfen, sondern auch für Massenparteien, die Funktionen der Vorsorge für dieverschiedenartigen Lebensbedürfnisse ihrer Mitglieder übernehmen. ZurVerschiedenartigkeit solcher Parteiaktivitäten vgl. z. B. Thomas Hodgkin, AfricanPolitical Parties: An Introductory Guide, Harmondsworth 1961, S. 141 ff.Damit nicht zu verwechseln sind Mehrparteiensysteme mit dominierendenParteien, die keine Einheitsideologie verwalten und auch funktional dem Typusdes Mehrparteiensystems zuzurechnen sind. Vgl. dazu Duverger, Die politischenParteien, a. a. O. (Anm. 90), S. 316 ff. Beispiele dafür bieten etwa Indien mit derbesonderen, seit den Wahlen von 1967 allerdings erschütterten Position derKongreßpartei, Israels Arbeiterpartei (Mapai) oder Mexikos Revolutionspartei(PRI). Im Unterschied zu ideologisch zentralisierten Systemen ist in diesenFällen den anderen Parteien der Zugang zur legitimen Macht nicht ausdrücklichversperrt. Es finden zum Beispiel echte politische Wahlen statt und nicht nur»Wahlen« einer Einheitsliste. Die Stellung der herrschenden Partei wird auchnicht ideologisch gerechtfertigt, aber sie ist faktisch so gefestigt, daß eineÄnderung der Machtlage nicht erwartet werden kann und die anderen Parteiendeshalb faktisch auf die Funktion von pressure groups besonderer Artzurückgeschnitten werden.Für andere Versuche einer vergleichenden Typologie politischer Parteien siehe

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namentlich Duverger, Die politischen Parteien, a. a. O., und Sigmund Neumann(Hrsg.), Modern Political Parties: Approaches to Comparative Politics, Chicago(IL) 1956.Gegen die Typologie von Duverger, a. a. O., ist vor allem eingewandt worden, daßsie diesen Kontext unberücksichtigt läßt und die Parteien wie umweltloseSysteme in modellhafter Abstraktion vergleicht. Siehe Lavau, Partis politiques,a. a. O. (Anm. 51).

21. KapitelGrenzen der Ausdifferenzierung

Vor allem die ersten großen Untersuchungen der Parteibürokratien am Anfangdieses Jahrhunderts durch Ostrogowsky, Bryce und Michels hatten dieAufmerksamkeit auf den gesellschaftlich nicht repräsentativen Charakter derparteiinternen Entscheidungsprozesse gelenkt. Daraus erwuchs die Forderung, dieMacht der korrupten Professionellen in der Politik zu brechen und Amateure indie Politik zu bringen, von denen man eine Vertretung allgemeiner moralischerGesichtspunkte erwarten konnte, eine Bewegung, die besonders für dieamerikanische Szene bezeichnend war und vor allem von James Bryce, TheAmerican Commonwealth, New York 1910, mit Nachdruck vertreten wurde. EineNachwirkung dieser Kritik findet man noch heute in der großen Verbreitung vonnicht parteilich geordneten Wahlen, namentlich auf kommunaler Ebene, in denVereinigten Staaten. Siehe dazu etwa Eugene C. Lee, The Politics ofNonpartisanship: A Study of California City Elections, Berkeley-Los Angeles1960.Das bedeutet unter anderem, daß die Politik über drastischere Formen derReduktion von Komplexität muß verfügen können als die Verwaltung, daß sie zumBeispiel das Freund/Feind-Schema als Mittel der Reduktion von Komplexitätnicht entbehren kann.Zur Unterscheidung von segmentierender und funktionaler Differenzierung imallgemeinen vgl. etwa Talcott Parsons/Neil J. Smelser, Economy and Society,Glencoe (IL) 1956, S. 255 f.Als einen bemerkenswerten Versuch, Politik aufgrund ihres Prinzips dersegmentierenden Differenzierung der Verwaltung entgegenzusetzen, vgl. G. M.Smith, On Segmentary Lineage Systems, The Journal of the RoyalAnthropological Institute 86 (1956), S. 39-80. Siehe dazu ferner David Easton,Political Anthropology, in: Bernard J. Siegel (Hrsg.), Biennial Review ofAnthropology 1959, Stanford (CA) 1959, S. 210-262 (221 ff.).Vgl. dazu die Unterscheidung von organisierter und nichtorganisierterKomplexität bei Ludwig von Bertalanffy, General System Theory: A CriticalReview, General Systems 7 (1962), S. 1-20 (2).

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Die Bedeutung von Persönlichkeiten für die Politik hat in den letzten Jahrenbegreiflicherweise vor allem französische Soziologen und Politologenbeschäftigt. Siehe z. B. Georges Burdeau, Reflexions sur la personnalisation dupouvoir, Res Publica 5 (1963), S. 125-139, und insb. die Protokolle derEntretiens de Dijon: Léo Hamon/Albert Mabileau (Hrsg.), La personnalisation dupouvoir, Paris 1964, in deren Mittelpunkt die legitimierende Kraft vonpolitischen Persönlichkeiten und die Normalität ihres Auftretens stehen. Wenigerergiebig ist die amerikanische Forschung, die, besonders wenn sie mit reinpsychologischen Kategorien arbeitet (so z. B. Lewis J. Edinger/Kurt Schumacher,Persönlichkeit und politisches Verhalten, Köln-Opladen 1967 [dt. Übers.]), dersozialen Funktion individueller Persönlichkeiten kaum gerecht wird. Vgl. fernerden Sammelband Dwaine Marvick (Hrsg.), Political Decision-Makers, o. O. (NewYork) 1961, und James D. Barber, The Lawmakers: Recruitment and Adaptation toLegislative Life, New Haven-London 1965. Für Entwicklungsländer siehe etwaLucian W. Pye, Politics, Personality and Nation Building: Burma’s Search forIdentity, New Haven-London 1962, insb. S. 244 ff.Max Webers Begriff der charismatischen Persönlichkeit bezeichnet schon einenengeren Fall, bei dem die Ungewöhnlichkeit nicht einfach als Individualität,sondern als übernatürliche Begabung interpretiert und zur Grundlage einesAnspruchs auf Gehorsam gemacht wird. Diese Interpretationen hatten ihren Sinnin Zeiten, in denen Individualismus als solcher noch nicht institutionalisiert warund daher mit Institutionen nicht konkurrieren konnte. Heute brauchen politischePersönlichkeiten kein Charisma; sie können als Individuen durch ihreSelbstdarstellung, ihren Stil, ihre Lebensgeschichte, ihre Weltsicht Vertrauenerwerben und gegebenenfalls dazu beitragen, Vertrauenskrisen im Bereich desInstitutionellen zu überwinden.Vgl. hierzu die Darstellung des unentschiedenen Standes der Forschung beiRobert Lane, Political Life: Why People Get Involved in Politics, Glencoe (IL)1959, S. 24 f., oder bei Vladimir O. Key, Jr., Public Opinion and AmericanDemocracy, New York (NY) 1961, S. 247 ff., 467 f.»M. Eisenhower était un général victorieux, mais Ike s’est enfermé avec beaucoupde soin, et semble-t-il sans beaucoup d’efforts, dans la personnage apaisant dubon père de famille, du retraité scrupuleux, du rotarien sympathique et du fermieramateur apprécié de ses voisins de campagne«, formuliert François Bourricaud,Sur deux mécanismes de personnalisation du pouvoir, in: Léo Hamon/AlbertMabileau (Hrsg.), La personnalisation du pouvoir, Paris 1964, S. 391-419(417 f.). Vgl. hierzu auch Philip E. Converse/Georges Dupeux, De Gaulle andEisenhower: The Public Image of the Victorious General, in: Angus Campell u. a.(Hrsg.), Elections and the Political Order, New York-London-Sydney 1966,S. 292-345.Die einzige Form der Legitimation, die diesen Effekt nicht aufweist, die also miteiner vollen Ausdifferenzierung des politischen Systems vereinbar wäre, ist die

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rational-legale Legitimation (das betont auch Talcott Parsons, The PoliticalAspect of Social Structure and Process, in: David Easton (Hrsg.), Varieties ofPolitical Theory, Englewood Cliffs (NJ) 1966, S. 71-112 [82]); und sie ist schondeshalb zugleich soziologisch die problematischste.Innerparteiliche Demokratie: Eine Untersuchung der Verfassungswirklichkeitpolitischer Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1963, S. 104 f.Eine andersartige Darstellung wäre möglich und notwendig, wenn man dieSystemreferenz der Analysen wechselte und auf die Interessenverbände odereinzelne von ihnen abstellte. In dieser Darstellung würde dann das politischeSystem als eine der Umwelten desjenigen Systems erscheinen, das thematisch imMittelpunkt steht.Vgl. oben, S. 235 ff.Vgl. oben, S. 294 f.Vgl. unten, S. 413 f.Mögen auch die theoretischen Definitionen des »Wesens« oder des »Begriffs«der Partei bzw. des Interessenverbandes schwierig sein und sich überschneiden, inder Praxis bereitet die Unterscheidung keinerlei Sorgen.Vgl. dazu mit reicher Dokumentation Heinz Josef Varein, Parteien und Verbände:Eine Studie über ihren Aufbau, ihre Verflechtung und ihr Wirken in Schleswig-Holstein 1945-1958, Köln-Opladen 1964, insb. S. 183 ff., 277 ff.; für Parteienferner etwa Lohmar, Innerparteiliche Demokratie, a. a. O. (Anm. 47), S. 92 ff.; fürdie Bürokratie auch Theodor Eschenburg, Ämterpatronage, Stuttgart 1961,S. 66 ff.Auch amerikanische Beobachter sind in dieser Hinsicht skeptisch gestimmt:Siehe z. B. das Urteil von Herbert Kaufman, Emerging Conflicts in the Doctrinesof Public Administration, The American Political Science Review 50 (1956),S. 1057-1073 (1068 f.).Vgl. dazu oben, Kap. 15.In einer ausgedehnten Diskussion über wissenschaftliche Beratung im politischenSystem wird dieser Unterschied oft übersehen. So dokumentiert zum BeispielJürgen Habermas seine Ausführungen über: Verwissenschaftlichte Politik undöffentliche Meinung, in: Richard Reich (Hrsg.), Humanität und politischeVerantwortung, Erlenbach-Zürich-Stuttgart 1964, S. 54-73, mit Material, dasnicht der Politik, sondern der Verwaltung entnommen ist.In begrenztem Umfange gibt es natürlich auch das. Man denke etwa an denBereich der Meinungsforschung zu politisch relevanten Fragen.Vgl. dazu die Diskussion des Bergedorfer Gesprächskreises zu Fragen der freienindustriellen Gesellschaft über das Thema »Wissenschaftliche Experten undpolitische Praxis – Das Problem der Zusammenarbeit in der heutigenDemokratie«, Protokolle Nr. 23, Hamburg 1966.

22. Kapitel

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Ausdifferenzierung von Publikumsrollen

Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zueiner Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962, insb. S. 40 ff.Die ziemlich unbedachte Definition des Systembegriffs als eines Gefüges, in demalles von allem abhängt, findet man häufig. Siehe z. B. L. J. Henderson, Pareto’sGeneral Sociology, Cambridge (MA) 1935, S. 114; Chester I. Barnard, TheFunctions of the Executive, Cambridge (MA) 1938, S. 77; Institut fürSozialforschung, Soziologische Exkurse, Frankfurt/M. 1956, S. 22, in bezug aufGesellschaft; Gabriel A. Almond, Introduction: A Functional Approach toComparative Politics, in: Gabriel A. Almond/James S. Coleman (Hrsg.), ThePolitics of the Developing Areas, Princeton (NJ) 1960, S. 3-64; William C.Mitchell, The American Polity: A Social and Cultural Interpretation, New York-London 1962, S. 3 f. Eine solche Auffassung läßt sich allenfalls für ganz einfacheSysteme vertreten. Bemerkenswert ist im übrigen, daß Richard A.Johnson/Fremont E. Kast/James E. Rosenzweig, The Theory and Management ofSystems, New York (NY) 1963, S. 5, diese verbreitete Definition desSystembegriffs dazu verwenden, um den Begriff des Chaos zu definieren –vermutlich mit mehr Recht.Zu dieser Interpretation des Gleichheitssatzes näher Niklas Luhmann,Grundrechte als Institution: Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1965,S. 162 ff.Vgl. oben, S. Kap. 10.Also nicht einmal dort, wo es wohl am nächsten liegt, nämlich im Verhältnis vonWirtschaft und Politik, hat die Wahlforschung allgemeine Korrelationen zwischenBedürfnis und Aktivität feststellen können. Vgl. Robert E. Lane, Political Life:Why People Get Involved in Politics, Glencoe (IL) 1959, S. 104, 173, 329 f.Einige Tendenzen in diesem Sinne hat Lane, a. a. O., S. 119 f., festgestellt.Vgl. dazu besonders Robert E. Lane, Political Personality and Electoral Choice,The American Political Science Review 49 (1955), S. 173-190, für denUnterschied von autoritären und egalitären Persönlichkeiten.Vgl. unten, S. 409 f., mit weiteren HinweisenSiehe hierzu etwa Herbert McClosky/Harold E. Dahlgren, Primary GroupInfluence on Party Loyalty, American Political Science Review 53 (1959),S. 757-776; Lane, Political Life, a. a. O. (Anm. 5), S. 187 ff.; William Erbe, SocialInvolvement and Political Activity: A Replication and Elaboration, AmericanSociological Review 29 (1964), S. 198-215.Ähnliche Überlegungen haben in der Wahlforschung zuweilen zu einer positivenEinschätzung der sogenannten Wechselwähler geführt. Dabei hat allerdingsvielfach noch die Vorstellung mitgewirkt, daß gerade der rationale, gutinformierte Wähler sich sinnvollerweise wechselnd entscheiden müsse. Diestatistischen Untersuchungen bestätigen eine solche Korrelation nicht immer.

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Vgl. z. B. Bernard Berelson/Paul F. Lazarsfeld/William N. McPhee, Voting: AStudy of Opinion-Formation in a Presidential Campaign, Chicago 1954, insb.S. 33 f.; ferner aber auch die mehr in Richtung der klassischen Erwartungliegenden Ergebnisse der Kölner Studie zur Bundestagswahl 1961, referiert beiMax Kaase, Analyse der Wechselwähler in der Bundesrepublik, in: Erwin K.Scheuch/Rudolf Wildenmann (Hrsg.), Zur Soziologie der Wahl, Sonderheft 9 derKölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln-Opladen 1965,S. 113-125; den Überblick über die Diskussion bei Max G. Lange, PolitischeSoziologie: Eine Einführung, Berlin-Frankfurt/M. 1961, S. 122 ff., und diekritische Analyse der bisherigen Forschungsresultate bei H. Daudt, FloatingVoters and the Floating Vote, Leiden 1961. Das »Nichtfestgelegtsein desPublikums« ist ein breiteres Phänomen und bezieht sich auf das Fehlen strukturellzwingender Korrelationen ohne Rücksicht darauf, ob der einzelne daraus dieKonsequenz einer wechselnden Stimmabgabe zieht oder nicht.Zu diesem Begriff der Interessenartikulation vgl. Almond, Introduction, a. a. O.(Anm. 2), S. 33 ff., der darin eine notwendige input function jedes politischenSystems sieht. Vgl. ferner David Easton, A Systems Analysis of Political Life,New York-London-Sydney 1965, S. 35 ff., über input of demands.Vgl. dazu Fred W. Riggs, The Ecology of Public Administration, London 1961,S. 68; Lucian W. Pye, The Political Context of National Development, in: IrvingSwerdlow (Hrsg.), Development Administration: Concepts and Problems,Syracuse (NY) 1963, S. 25-43, insb. 36 f.

23. KapitelInnendifferenzierung der Publikumsrollen

Insofern dürfte die These von Murray Edelman, The Symbolic Uses of Politics,Urbana (IL) 1964, daß es sich um lediglich als Symbole bedeutsameDarstellungen handle, eine berechtigte Skepsis zu weit treiben.Um dies zu vermeiden und Ansatzpunkte für eine Selbstlegitimierung derRebellion im politischen System zu finden, nutzen die Rebellen die hierarchischeDifferenzierung der Herrschaft und wenden sich im Namen des Herrschers gegendessen ungetreu eigensüchtige, das Volk unterdrückende Diener. SolcheBewegungen, die Reinhard Bendix, Nation-Building and Citizenship: Studies ofOur Changing Social Order, New York-London-Sydney 1964, S. 45 ff., imAnschluß an Hobsbawm als »populist legitimism« bezeichnet, müssen als einÜbergangsphänomen gesehen werden, das bereits eine starke vertikaleDifferenzierung des politischen Systems, also eine gewisse Stufe derKomplexität, voraussetzt, aber noch nicht die Trennung von Politik undVerwaltung kennt.Dazu gehört auch der Sachverhalt, den der Leitartikel der Frankfurter

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Allgemeinen Zeitung vom 19. 11. 1966 im Hinblick auf die bayerischeLandtagswahl vom 20. 11. 1966 plakatiert: »In Bayern wird über dieBundesregierung entschieden.« (Es wurde im übrigen nicht.)Vgl. dazu die auf die Vereinigten Staaten und Großbritannien bezogeneDarstellung bei Lane, Political Life, a. a. O. (Anm. 5), S. 318 f. – sie scheint dieseVermutung zu bekräftigen.Peter M. Blau/W. Richard Scott, Formal Organizations: A Comparative Approach,San Francisco 1962, S. 59 ff., zeigen in ihrem Überblick zum Thema »TheOrganization and its Publics«, daß hier auch auf der allgemeineren Ebene derOrganisationssoziologie viele Lücken zu füllen sind.

24. KapitelVerwaltungspublikum

Siehe namentlich Klaus A. Lindemann, Behörde und Bürger: Das Verhältniszwischen Verwaltung und Bevölkerung in einer deutschen Mittelstadt, Darmstadt1952; Morris Janowitz/Neil Wright/William Delany, Public Administration andthe Public: Perspectives Toward Government in a Metropolitan Community, AnnArbor (MI) 1958; G. Silvano Spineti, Le relazioni pubbliche nella pubblicaamministrazione negli enti pubblici e a partecipazione statale, 2. Aufl., Roma1959.Vgl. etwa Herman Finer, Officials and the Public, Public Administration 9 (1931),S. 23-36, und andere Beiträge in diesem Heft; Gabriel A. Almond/Harold D.Lasswell, Aggressive Behavior by Clients Toward Public Relief Administrators,American Political Science Review 28 (1934), S. 634-655; Miguel Siguan, LaAdministración y el público, Revista de Administración pública 41 (1963), S. 9-27; A. Debrie, Comment l’administration peut humaniser son action, La scienza etla tecnica della organizzazione nella pubblica amministrazione 10 (1963), S. 58-64; Hans Hämmerlein, Die Verwaltungsinformation als Mittel derVerwaltungsführung, Die öffentliche Verwaltung 17 (1964), S. 119-126.Vgl. oben, S. 140 f..Siehe die grundsätzliche Erörterung dieses Gesichtspunktes bei Talcott Parsons,Structure and Process in Modern Society, Glencoe (IL) 1960, S. 71 ff. Fürtreffende Beispiele der systeminternen Rückwirkungen dieses Erfordernissessiehe etwa Howard S. Becker, The Professional Dance Musician and hisAudience, The American Journal of Sociology 57 (1951), S. 136-154; Charles E.Bidwell/Rebecca S. Vreeland, College Education and Moral Orientations: AnOrganizational Approach, Administrative Science Quarterly 8 (1963), S. 166-191; Earl Rubington, Organizational Strains and Key Roles, AdministrativeScience Quarterly 9 (1965), S. 350-369.Bei der Beobachtung eines Wandels der Dienstauffassung in amerikanischen

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Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten von reinen Isolierungs- undGewahrsamszielen zu therapeutischen Zwecksetzungen hat man eineanschließende Umstellung von formalen auf informale Organisationsformen mitstärkerer persönlicher Belastung des Personals in vielen Fällen festgestellt. Siehestatt anderer Oskar Grusky, Role Conflict in Organization: A Study of PrisonCamp Officials, Administrative Science Quarterly 3 (1959), S. 452-472; und fürKrankenanstalten William R. Rosengren, Communication, Organization, andConduct in the »Therapeutic Milieu«, Administrative Science Quarterly 9 (1964),S. 70-90.Eine Untersuchung, die diesen Zusammenhang an einem Ausnahmefall besondersdeutlich macht, ist Burton R. Clark, The Open Door College: A Case Study, NewYork-Toronto-London 1960.Dabei tritt natürlich das Problem auf, nach welchen Kriterien diese Selektionausgeübt wird und wieweit das System in der Wahl dieser Kriterien, also aufgenerellerer Ebene, von seiner Umwelt abhängig bleibt.Einige organisationssoziologische Untersuchungen über solche»Dienstideologien« liegen vor. Vgl. etwa Roy G. Francis/Robert C. Stone, Serviceand Procedure in Bureaucracy, Minneapolis (MN) 1956; Burton R. Clark, AdultEducation in Transition: A Study of Institutional Insecurity, University ofCalifornia Publications in Sociology and Social Institutions 1,2 (1956), S. 43-202; Peter Nokes, Purpose and Efficiency in Humane Social Institutions, HumanRelations 13 (1960), S. 141-155; Peter B. Clark/James Q. Wilson, IncentiveSystems: A Theory of Organization, Administrative Science Quarterly 6 (1961),S. 129-166 (148) als Untersuchungen, die zum Teil echte Dienstleistungsbetriebebetreffen. Dienstideologien ermöglichen es, redliches Bemühen, richtigeGesinnung, Eingehen auf die Wünsche anderer anstelle von Erfolgen alsRechtfertigung zu verwenden. Sie breiten sich vor allem dort aus, wo derVerwaltung eindeutige Zweckprogramme und Erfolgskriterien fehlen.Damit ist nicht geleugnet, daß im institutionellen Rahmen der staatlichenExekutive sich Betriebe wie etwa Schulen oder Krankenhäuser ansiedeln können,die primär Dienstleistungen erbringen. Solche Organisationen sind jedoch,funktionell gesehen, nicht Verwaltung.Vgl. aber die Feststellungen von Janowitz u. a., Public Administration, a. a. O.(Anm. 18), S. 15 ff.Die Bemühungen der deutschen Verwaltungsgerichte um eine Verstärkung des»Vertrauensschutzes« beim Widerruf fehlerhafter Verwaltungsakte sind einBeispiel für juristische Folgerungen aus diesem Sachverhalt. Es kann typischnicht mehr erwartet werden, daß der Bürger fehlerhafte Entscheidungen alssolche erkennt. Dem passen sich auch die rechtspolitischen Überlegungen an.Vgl. § 37 des Musterentwurfs eines Verwaltungsverfahrensgesetzes, Köln-Berlin1964, und Franz Becker/Niklas Luhmann, Verwaltungsfehler undVertrauensschutz: Möglichkeiten gesetzlicher Regelung der Rücknehmbarkeit von

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Verwaltungsakten, Berlin 1963.Dies wird anders, sobald Sachwalter wie Advokaten oder Interessenvertreter dieInteressen einer Vielzahl von Bürgern in die Hand nehmen und dann bei dengleichen Sachbearbeitern in immer wieder anderen Angelegenheiten häufigvorsprechen. In solchen Fällen können sich Kontaktsysteme bilden, in denen dieBeteiligten nach dem »Gesetz des Wiedersehens in veränderlichen Macht- undInteressenlagen« handeln und ihr Interesse zu einem Interesse an der Erhaltungder guten Beziehung als solcher sublimieren. Juristen beklagen an dieserverbreiteten Erscheinung vor allem das Ausmanövrieren der rechtsstaatlichenGarantien. Siehe z.B. Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, 8.Aufl., München-Berlin 1961, S. 70; Hans P. Ipsen, Öffentliche SubventionierungPrivater, Berlin-Köln 1956, S. 14 Anm. 23, 16; Claus-Dieter Ehlermann,Wirtschaftslenkung und Entschädigung, Heidelberg 1957, S. 38 f., 50 f., 146 ff.Man muß jedoch auch sehen, daß solche intermediären Kontaktsysteme dieFlüssigkeit des Kontaktes garantieren und den Einfluß beider Seiten aufeinandersteigern können. Vgl. auch E. J. Foley, Officials and the Public, PublicAdministration 9 (1931), S. 15-22; Joseph Bensman/Arthur Vidich, PowerCliques in Bureaucratic Society, Social Research 29 (1962), S- 467-474.Hierzu siehe grundsätzliche Ausführungen bei Harold Garfinkel, Studies of theRoutine Grounds of Everyday Activities, Social Problems 11 (1964), S. 225-250.Vgl. Niklas Luhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung: Eineverwaltungswissenschaftliche Untersuchung, Berlin 1966, S. 75 ff.Besonders ausführlich ist diese Frage in der amerikanischen Literatur erörtertworden. Siehe z. B. James L. McCamy, Government Publicity, Chicago 1939;Zechariah Chafee, Government and Mass Communications, Chicago 1947; DavidB. Truman, The Governmental Process, New York 1951, Neudruck 1962,S. 463 ff.; John M. Pfiffner/Robert V. Presthus, Public Administration, 3. Aufl.,New York 1953, S. 130 ff. Für Großbritannien siehe Marjorie Ogilvy-Webb, TheGovernment Explains: A Study of the Information Services, London 1965.Siehe Hans Hämmerlein, Die Verwaltungsinformation, a. a. O. (Anm. 19); ders.,Public Relations der öffentlichen Verwaltung, Die öffentliche Verwaltung 16(1963), S. 364-371; ders., Verwaltung und Öffentlichkeit, Dortmund o. J.; RomanSchnur, Strategie und Taktik bei Verwaltungsreformen, Baden-Baden 1966,S. 27 f., und vor allem die Monographie von Walter Leisner, Öffentlichkeitsarbeitder Regierung im Rechtsstaat: Dargestellt am Beispiel des Presse- undInformationsamtes der Bundesregierung, Berlin 1966.Solch ein Widerstand der Politiker gegen eine allzu eifrige, allzu reich dotiertePublic-Relations-Pflege der Verwaltung ist denn in Amerika auch vielfach zubeobachten. Vgl. außer der oben angegebenen Literatur auch Herbert A.Simon/Donald W. Smithburg/Victor A. Thompson, Public Administration, NewYork 1950, S. 416 f.; Vladimir O. Key, Jr., Politics, Parties and Pressive Groups,3. Aufl., New York 1953, S. 731 f. Dabei steht in den Vereinigten Staaten die

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Wahrung der Gewaltenteilung im Vordergrund, während in anderen Ländern mehrdiskutiert wird, ob staatliche Informationsdienste die Chancengleichheit derParteien zugunsten der Regierungsparteien verzerren. Siehe z. B. Ogilvy-Webb,a. a. O. (Anm. 32), S. 194, oder Leisner, a. a. O. (Anm. 33), S. 152 ff. Für deutscheVerhältnisse Schnur, a. a. O. (Anm. 33), S. 28 Anm. 26.So Fritz Morstein Marx, Das Dilemma des Verwaltungsmannes, Berlin 1965,S. 157 f.Siehe z. B. Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), neu gedrucktin: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 1955,S. 119-276 (146 f.).Zu diesem Begriff siehe Philip Selznick, Foundations of the Theory ofOrganization, American Sociological Review 13 (1948), S. 25-35 (33 ff.), undders., TVA and the Grass Roots, Berkeley-Los Angeles 1949, insb. S. 13 ff.,259 ff.; James D. Thompson/William J. McEwen, Organizational Goals andEnvironment: Goal-Setting as an Interaction Process, American SociologicalReview 23 (1958), S. 23-31 (27 f.).Siehe Rudolf von Gneist, Selfgovernment, Kommunalverfassung undVerwaltungsgerichte in England, 3. Aufl., Berlin 1871.Eine Darstellung dieser Entwicklung im Spiegel der juristischen Dogmatik bringtjedes Lehrbuch des Verwaltungsrechts. Siehe statt anderer Forsthoff, Lehrbuchdes Verwaltungsrechts, a. a. O. (Anm. 29), S. 320 ff.Auf die Notwendigkeit einer Trennung von Rekrutierung und politischerUnterstützung kommen wir unter grundsätzlichen Gesichtspunkten im 26. Kapitelzurück.Zur deutschen Auffassung siehe etwa Ekkehard Geib, Verwaltungseinheit: Prinzipund Gegentendenzen, in: Fritz Morstein Marx (Hrsg.), Verwaltung: Eineeinführende Darstellung, Berlin 1965, S. 148-162.Vgl. Talcott Parsons, Structure and Process in Modern Society, Glencoe (IL)1960, S. 64, 86 ff.; James L. Price, Governing Boards and OrganizationalEffectiveness, Administrative Science Quarterly 8 (1963), S. 361-378.Siehe etwa den Bericht von L. Vaughn Blankenship, Power Structure andOrganizational Effectiveness, in: Robert V. Presthus, Men at the Top: A Study inCommunity Power, New York 1964, S. 368-404.Siehe die Ausführungen über das Verhältnis von school board und superintendentbei Neal Gross/Ward S. Mason/Alexander W. McEachern, Explorations in RoleAnalysis, New York 1958.Unter psychologischen Aspekten vgl. dazu Theodor W. Adorno/Else Frenkel-Brunswik/Daniel J. Levinson/Nevitt R. Sanford, The Authoritarian Personality,New York 1950, S. 693 ff.; Elliott Jacques, Social Systems as a Defence againstPersecutory and Depressive Anxiety, in: Melanie Klein/Paula Heimann/R. E.Money-Kyrle (Hrsg.), New Directions in Psycho-Analysis, London 1955, S. 478-498 (489 f.).

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Genauere empirische Erhebungen fehlen freilich. Die Ergebnisse von Lindemann,Behörde und Bürger, a. a. O. (Anm. 18), S. 87 ff., wonach die Urteile »gut« und»mittelmäßig« 36% bzw. 38% aller Äußerungen ausmachen und nur 9% dieBehörden definitiv als schlecht beurteilen, könnten Anlaß geben, die Verbreitungeines negativen Stereotyps der Bürokratie in Zweifel zu ziehen. Indes: zu kritisch-überlegter und folgenloser Stellungnahme aufgefordert, mögen manche andersurteilen als impulsiv und pragmatisch.Vgl. etwa Hans Peter Dreitzel, Selbstbild und Gesellschaftsbild:Wissenssoziologische Überlegungen zum Image-Begriff, Europäisches Archiv fürSoziologie 3 (1962), S. 181-228 (insb. S. 195 ff.).Siehe hierzu auch die Feststellungen von Lindemann, a. a. O., S. 96 ff.Dies ist besonders auch der Bürokratieforschung aufgefallen. Vgl. etwa Foley,Officials and the Public, a. a. O. (Anm. 29), S. 17, oder Janowitz u. a., PublicAdministration, a. a. O. (Anm. 18), S. 38 f., 50 ff.So Michel Crozier, Le phénomène bureaucratique, Paris 1963, S. 133 f., 136 (s.auch S. 101 ff.), für betriebsinterne Anpassung. Ähnlich Heinrich Popitz/HansPaul Bahrdt/Ernst August Jueres/Hanno Kesting, Das Gesellschaftsbild desArbeiters, Tübingen 1957, S. 43 ff.; M. Rainer Lepsius, Strukturen undWandlungen im Industriebetrieb, München 1960, S. 54. Für das Verhältnis vonPublikum und Verwaltung zeigt vor allem Sidney J. Levy, The Public Image ofGovernment Agencies, Public Administration Review 23 (1963), S. 25-29, daßein Negativbild der Verwaltung im allgemeinen die praktischen Beziehungenzwischen Publikum und Verwaltung keineswegs zu vergiften braucht. DieBeteiligten finden sich, nachdem sie resigniert haben, unter gemindertenErwartungen zu einem »Dialog in moll« zusammen – so die Glosse von D. M.,Réflexions sur l’impopularité de l’administration, Revue Administrative 16(1963), S. 128-130.Zur Bedeutung des Rechts für die Ausdifferenzierung der Publikumsrolle ausanderen gesellschaftlichen Rollenverpflichtungen vgl. bereits oben, S. 356 f.Die Erhebungen von Günter Hartfield/Lutz Sedatis/Dieter Claessens, Beamte undAngestellte in der Verwaltungspyramide: Organisationssoziologische undverwaltungsrechtliche Untersuchungen über das Entscheidungshandeln in derKommunalverwaltung, Berlin 1964, haben in ihrem begrenztenBeobachtungsbereich die Vermutung einer zunehmenden Verrechtlichung desVerwaltungshandelns bestätigt. Dort S. 104 auch die bemerkenswerteFeststellung, daß die Verwaltungsgerichte »häufig die Funktion einer allgemeinenOrdnungsinstanz für den betreffenden Verwaltungszweig« erhalten haben.Dazu vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungenzu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962.Dazu oben, S. 385 f.Dies gilt um so mehr, als eine starke Forschungsrichtung in derBetriebssoziologie feststellen zu können meint, daß eine Beteiligung am

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Entscheidungsprozeß die Bereitschaft stärke, Änderungen in Organisation undArbeitsweise zu akzeptieren. Siehe z. B. Lester Coch/John R. P. French,Overcoming Resistance to Change, Human Relations 1 (1948), S. 512-532;William F. Whyte u. a., Lohn und Leistung, Köln-Opladen 1958 (dt. Übers.),S. 188 ff., 247, 255 ff.; John R. P. French/Joachim Israel/Dagfinn As, AnExperiment on Participation in a Norwegian Factory, Human Relations 13 (1960),S. 3-19; Rensis Likert, New Patterns of Management, New York-Toronto-London1961, S. 26 ff., insb. 39 ff.; Bernard Bass/Harold J. Leavitt, Some Experiments inPlanning and Operating, Management Science 9 (1963), S. 574-585. Andererseitsfehlt es auch an skeptischen Beurteilungen der bisherigen Ergebnisse nicht. Siehez. B. die Beiträge zu dem Sammelband Conrad M. Arensberg u. a. (Hrsg.),Research in Industrial Human Relations, New York 1957 (z. B. S. 33 f., 111);Leonard Sayles, Behavior of Industrial Work Groups, New York 1958, insb.S. 168 ff.; Chris Argyris, Understanding Organizational Behavior, Homewood (IL)1960, S. 114 f.; Michel Crozier, Le phénomène bureaucratique, Paris 1963,S. 269 ff.; George Strauss, Some Notes on Power-Equalization, in: Harold J.Leavitt (Hrsg.), The Social Science of Organizations: Four Perspectives,Englewood Cliffs (NJ) 1963, S. 39-84 (60 ff.). Einer der auffälligsten Mängeldieser ganzen Diskussion ist ihre primitive Psychologie. Es fehlt der Kontakt mitden neueren Entwicklungen auf dem Gebiete der Persönlichkeitstheorie.Zu denken ist vor allem an den Meadschen Begriff des role-taking, an BurkesAnalyse des sozialen Handlungszusammenhangs als Drama und an die aus beidementwickelte Theorie symbolischer Darstellungen. Siehe namentlich: George H.Mead, Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist,Chicago 1934; ders., The Philosophy of the Act, Chicago 1938; Kenneth Burke, AGrammar of Motives, und ders., A Rhetoric of Motives, in einem Band neuherausgegeben, Cleveland-New York 1962; ferner etwa Erving Goffman, ThePresentation of Self in Everyday Life, 2. Aufl., Garden City (NY) 1959; ArnoldM. Rose, Human Behavior and Social Processes: An Interactionist Approach,Boston 1962; Hugh Dalziel Duncan, Communication and Social Order, New York1962.Daß Rechtsbrüche Anlaß bieten zu einer zeremoniellen Wiederherstellung desRechts, betonte bereits Emile Durkheim, De la division du travail social, 7. Aufl.,Paris 1960, S. 35 ff. (vgl. auch ders., Les règles de la méthode sociologique, 8.Aufl., Paris 1927, S. 80 ff.), und sah darin eine wichtige positive Funktion vonAbweichungen. Siehe auch George H. Mead, The Psychology of Punitive Justice,The American Journal of Sociology 23 (1918), S. 557-602. Dieser Gedanke läßtsich auf Rechtsverfahren im allgemeinen übertragen. Die laufende Sanktifizierungdes Rechts kann auch in Verfahren erfolgen, die nur der Beseitigung vonUngewißheit dienen und keine zuvor erfolgten Rechtsbrüche voraussetzen.In einem allgemeineren Sinne findet dieses Thema der »Absorption vonProtesten« heute zunehmendes Interesse. Vgl. z. B. Clark Kerr/John T.

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Dunlop/Frederick H. Harbison/Charles A. Myers, Industrialism and IndustrialMan: The Problems of Labor and Management in Economic Growth, Cambridge(MA) 1960, insb. S. 194 ff.; Amitai Etzioni, A Comparative Analysis of ComplexOrganizations: On Power, Involvement and Their Correlates, New York 1961,S. 246 ff.; Ruth Leeds, The Absorption of Protest: A Working Paper, in: WilliamW. Cooper/Harold H. Leavitt/Maynard W. Shelly II (Hrsg.), New Perspectives inOrganization Research, New York-London-Sydney 1964, S. 115-135.Dazu näher Luhmann, Recht und Automation, a. a. O. (Anm. 31).

25. KapitelPolitische Publikumsrollen

Zu den Vorläufern und der Ausbildung dieser Theorie der Repräsentation bzw. derRepräsentativverfassungen vgl. oben, S. 92 f. An neueren interpretierenden,modifizierenden und einschränkenden Darstellungen vgl. z. B. Gerhard Leibholz,Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20.Jahrhundert, 2. Aufl., Berlin 1960; Ulrich Scheuner, Das repräsentative Prinzip inder modernen Demokratie, Festschrift für Hans Huber, Bern 1961, S. 223-246;ders., Politische Repräsentation und Interessenvertretung, Die öffentlicheVerwaltung 18 (1965), S. 577-581; Carl J. Friedrich, Man and His Government:An Empirical Theory of Politics, New York (NY) 1963, S. 301 ff.; SiegfriedLandshut, Der politische Begriff der Repräsentation, Hamburger Jahrbuch fürWirtschafts- und Gesellschaftspolitik 9 (1964), S. 175-186; A. H. Birch,Representative and Responsible Government, London 1964; Marek Sobolewski,The Voters’ Political Opinions and Elections: Some Problems of PoliticalRepresentation, Festschrift für Gerhard Leibholz, Tübingen 1966, Bd. II, S. 345-366.Siehe z. B. Seymour M. Lipset, Soziologie der Demokratie, Neuwied 1962 (dt.Übers.), oder Gabriel A. Almond/Sidney Verba, The Civic Culture: PoliticalAttitudes and Democracy in Five Nations, Princeton (NJ) 1963.Die »Revolution der steigenden Erwartungen« und die Verunsicherung derfluktuierenden Bedingungen politischer Unterstützung in manchenEntwicklungsländern ist ein Beispiel für dieses Problem. Mit Recht bezweifeltdaher Samuel P. Huntington, Political Development and Political Decay, WorldPolitics 17 (1965), S. 386-430, daß man die Mobilisierung des politischenPublikums in Entwicklungsländern für sich allein als Index einer(fortschrittlichen) politischen Entwicklung begrüßen könne.In Almonds Theorie des Zusammenhangs von Demokratie und politischer Kulturwird dieses Phänomen im Begriff der »isolative political culture« erfaßt. SieheAlmond/Verba, a. a. O. (Anm. 61).Zu diesem aus der niederländischen Soziologie stammenden Begriff und seiner

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Bedeutung für die Politik vgl. Georg Geismann, Politische Struktur undRegierungssystem in den Niederlanden, Frankfurt/M.-Bonn 1964, S. 85 ff., aufder Grundlage von J. P. Kruijt, Verzuiling, Zaandijk 1959.Dies scheint einer der Gründe zu sein, weshalb das Verhältniswahlrecht in derohnehin zur Versäulung neigenden niederländischen Gesellschaft politischbeträchtliche Schwierigkeiten bereitet. Siehe die Darstellung bei Geismann,a. a. O.Vgl. S. 303 f.Siehe dazu die Empfehlungen von Huntington, a. a. O. (Anm. 62). Zur integrativenFunktion afrikanischer Einparteiensysteme vgl. auch Ruth Schachter, Single-PartySystems in West Africa, The American Political Science Review (1961), S. 294-307, neu gedruckt in: Harry Eckstein/David E. Apter (Hrsg.), ComparativePolitics: A Reader, New York-London 1963, S. 693-705. Diese Integration derGesellschaft durch eine Partei darf natürlich nicht mit der vertikalen Integrationvon Gruppen und Parteien, dem Phänomen der Versäulung, verwechselt werden.Auch Talcott Parsons, »Voting« and the Equilibrium of the American PoliticalSystem, in: Eugene Burdick/Arthur J. Brodbeck (Hrsg,), American VotingBehavior, Glencoe (IL) 1959, S. 80-120 (92 f.), betont: »there is the involvementof voting with the solidary groups in the society in such a way that, though there isa correlation, there is no exact correspondence between political polarization andother bases of differentiation«. Allerdings scheint Parsons hier unter dem Einflußder amerikanischen Wahlforschung das Moment gefühlsmäßig-persönlicherGruppensolidarität in einer differenzierten Gesellschaft zu hoch einzuschätzen.Hätte es diese Bedeutung, könnte sich die Politik kaum von ihm distanzieren; eskäme dann zur Versäulung.Autoren, die sich am Input/Output-Modell orientieren, unterscheiden zumeist nurRollen, die aktive Kommunikationsleistungen beinhalten, nämlich Forderung undUnterstützung. Siehe z. B. David Easton, A Systems Analysis of Political Life,New York-London-Sydney 1965, S. 37 ff.; Gabriel A. Almond, A DevelopmentalApproach to Political Systems, World Politics 17 (1965), S. 183-214; William C.Mitchell, The American Polity: A Social and Cultural Interpretation, New York-London 1962, unter Einschluß eines weiteren Input: »Ressourcen«. Dabei wirddie passive Wirksamkeit des reinen Zuschauens nicht genügend gewürdigt. Imübrigen handelt es sich in all diesen Fällen nicht um einen Input, den dieGesellschaft in das politische System hineingibt, sondern um einen internenVorgang im politischen System, zu dem ja auch die Publikumsrollen gehören.Vgl. dazu S. 294 f.Die gleiche Beobachtung läßt sich übrigens im Verhältnis von Politikern undVerwaltungsbeamten anstellen. Dazu vortrefflich: Aaron Wildavsky, The Politicsof the Budgetary Process, Boston-Toronto 1964.Aufs Ganze gesehen, haben die Massenmedien natürlich nicht nur diese eineFunktion. Wie konkrete Systeme überhaupt, wirken sie multifunktional, und

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gerade das macht ihre Bestandsfestigkeit aus und gibt ihnen die Grundlage für dieErfüllung spezifischer Funktionen. Im politischen System haben sie zum Beispielaußerdem die Funktion, Symptome des Wählerwillens zu fabrizieren. Ferner istnatürlich an unpolitische Funktionen wirtschaftlicher, unterhaltender, kulturellerArt zu denken. Der Schwerpunkt in dieser Funktionengruppierung kann sichverschieben und das Mischungsverhältnis im einzelnen sehr verschiedenaussehen: Die Presse kann ein Geschäft daraus machen, die Skandale der Politikzur Unterhaltung zu publizieren. Sie kann einen vornehmen Ton benutzen, um inbestimmten Schichten politischen Einfluß zu suchen, oder auch die gebildeteKommentierung der politischen Ereignisse als Selbstzweck betreiben. Sie kannals Parteipresse einseitig Wahlpropaganda treiben und dabei ein Mindestmaß anwirtschaftlichen und kulturellen Nebenbedingungen mit erfüllen.Diese Bemerkungen sind natürlich auf die freie Presse der westlichenDemokratien gemünzt. Demgegenüber ist die offizielle Ermahnungs- undVerlautbarungspresse der ideologisch integrierten Systeme so langweilig, daß siedadurch schon wieder interessant wird: Man muß sie sehr aufmerksam zwischenund hinter den Zeilen lesen, um Information zu erhalten.Psychoanalytisch inspirierte Forscher erklären sich diesen Effekt alsErsatzbefriedigung durch symbolische Teilnahme am Drama des politischenProzesses. Siehe z. B. Murray Edelman, The Symbolic Uses of Politics, Urbana(IL) 1964, passim, z. B. S. 9.Hier wie auch sonst muß man sich vor dem Irrtum hüten, alles soziale Verhalten inRollenzusammenhängen zu sehen. Ob Verhaltensweisen zu einer Rollezusammengefaßt und als sozial sinnvoll und beabsichtigt erlebt werden undverantwortet werden müssen oder ob ihr Zusammenhang latent bleibt undignoriert werden kann, ist vielmehr bedingt durch die Struktur des jeweiligenSozialsystems, die eine selektive Verteilung von Aufmerksamkeit undUnaufmerksamkeit und dadurch Integration ermöglicht. Auf diesen Sachverhalt istnamentlich die Organisationssoziologie gestoßen. Siehe z. B. Alvin W. Gouldner,Cosmopolitans and Locals: Toward an Analysis of Latent Social Roles,Administrative Science Quarterly 2 (1957-58), S. 281-306, 444-480.»Opinion leader« ist jemand, der von sich selbst meint, daß er vergleichsweisemehr als andere in politischen Fragen um Rat angegangen wird oder (!) andere inletzter Zeit für seine politischen Ideen zu gewinnen versucht hat. Vgl. dazunamentlich Paul F. Lazarsfeld/Bernard R. Berelson/Hazel Gaudet, The People’sChoice: How the Voter Makes Up His Mind in a Presidential Campaign, 2. Aufl.,New York 1948 (dt. Übers., Wahlen und Wähler: Soziologie des Wahlverhaltens,Neuwied 1964); Elihu Katz/Paul F. Lazarsfeld, Personal Influence: The PartPlayed By People in the Flow of Mass Communication, Glencoe (IL) 1955;Bernard R. Berelson/Paul F. Lazarsfeld/William N. McPhee, Voting: A Study ofOpinion Formation in a Presidential Campaign, Chicago (IL) 1954, insb.S. 109 ff., und dazu Eugene Burdick/Arthur J. Brodbeck (Hrsg.), American Voting

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Behavior, Glencoe (IL) 1959, passim, insb. S. 337 ff.; Everett M. Rogers/David G.Cartano, Methods of Measuring Opinion Leadership, Public Opinion Quarterly 26(1962), S. 435-441. Die methodischen und sachlichen Schwierigkeiten, diedieser Begriff birgt, beruhen weitgehend darauf, daß er keine festumrissene, demBewußtsein eingeprägte soziale Rolle bezeichnet.Siehe dazu Dieter Claessens, Rolle und Verantwortung, Soziale Welt 14 (1963),S. 1-13, neu gedruckt in: ders., Angst, Furcht und gesellschaftlicher Druck undandere Aufsätze, Dortmund 1966, S. 102-115.Daß eine solche funktional diffuse Einflußordnung in einfachen Gesellschaftendominiert und dort Voraussetzung für die Entscheidbarkeit von Problemen ist,haben wir oben, S. 51 ff., gesehen. Der Fall des opinion leaders zeigt, daß auchstark differenzierte, hochkomplexe Sozialordnungen jener einfachenMechanismen der Reduktion von Komplexität nicht ganz entraten können und daßtraditionale, informale, strukturell nicht eindeutig zuzuordnende Prozesse auchhier, wenngleich im Schatten der offiziellen Systembauten, ihre Funktion erfüllen.Diese Ausdifferenzierung haben wir im Rahmen des 10. Kapitels behandelt.Vgl. dazu im einzelnen Anthony Downs, An Economic Theory of Democracy,New York 1957, S. 207 ff., insb. 240 ff.Vgl. speziell zur politischen Aktivität der Verbände Karl-Heinz Diekershoff,Aufsätze zur empirischen Ermittlung von Verbandsmacht und Verbandsaktivitätenwährend des Wahlkampfes, Soziale Welt 16 (1965), S. 319-338, mit weiterenHinweisen.Aus der amerikanischen Praxis wird denn auch berichtet, daß eine Drohung derInteressenverbände mit Sanktionen in der politischen Wahl selten ist, ja als unklugangesehen wird. Vgl. Lester W. Milbrath, Lobbying as a Communication Process,Public Opinion Quarterly 24 (1960), S. 32-53. »When pressure group spokesmenthreaten reprisal at the polls, as one unwisely does now and then, they are usuallypointing an unloaded gun at the legislator«, kommentiert Vladimir O. Key, Jr.,Public Opinion and American Democracy, New York 1961, S. 522.Daß auch in Interessenverbänden sich Verbandsoligarchien bilden, die demeinzelnen die Artikulation seiner Interessen abnehmen, ist eine vielkommentierteErscheinung. Siehe als vortreffliche Untersuchung eines Einzelfalls OliverGarceau, The Political Life of the American Medical Association, Cambridge(MA) 1941. Im übrigen mag es nicht selten vorkommen, daß Interessenten ihreInteressen nach dieser Verarbeitung nicht wiedererkennen. Besonders gutsituierteInteressenten suchen deshalb die Verbandsvermittlung zu umgehen und einendirekten Kontakt mit prominenten Politikern herzustellen. Siehe etwa dieFeststellungen von Floyd Hunter, Top Leadership, U.S.A, Chapel Hill (NC) 1959,S. 149.

26. KapitelRekrutierung

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Vgl. Kap. 10.Als Theorie formaler Organisation, die von diesem Grundgedanken besondererMitgliedschaftsbedingungen ausgeht, vgl. Niklas Luhmann, Funktionen und Folgenformaler Organisation, Berlin 1964.Vgl. etwa H. Goldhamer, Public Opinion and Personality, American Journal ofSociology 55 (1950), S. 346-354. Die Wahlforschung hat in der allgemeinenFrage, ob Personen oder Wahlprogramme stärker motivieren, begreiflicherweisekeine Resultate ergeben, die verallgemeinert werden könnten. Immerhin muß daswechselvolle Schicksal vieler einst zugkräftiger politischer Persönlichkeiten zudenken geben und vor einer Überschätzung des personellen Momentes in derPolitik warnen. Siehe dazu etwa die abgewogene Stellungnahme von Vladimir O.Key, Jr., Public Opinion and American Democracy, New York 1961, S. 466 ff.So auch David Easton, Political Anthropology, in: Bernard J. Siegel (Hrsg.),Biennial Review of Anthropology 1959, Stanford (CA) 1959, S. 210-262(244 f.); Marion J. Levy, Jr., Modernization and the Structure of Societies: ASetting for International Affairs, Princeton 1966, Bd. II, S. 440 ff.; ReinhardBendix, Nation-Building and Citizenship: Studies of Our Changing Social Order,New York-London-Sydney 1964, S. 115 f.Vgl. oben Kap. 10.Samuel P. Huntington, Political Development and Political Decay, World Politics17 (1965), S. 386-430 (402 f.), sieht in diesem Zusammenhang von Komplexitätund Rekrutierungsformen zugleich eine Gewährleistung hoher Autonomiekomplexer Systeme. Zu den besonderen Schwierigkeiten, in Entwicklungsländernpolitische Rollenbildung, Sozialisierung und Rekrutierung aufeinanderabzustimmen, vgl. auch Lucian W. Pye, Politics, Personality, and Nation-Building:Burma’s Search for Identity, New Haven-London 1962.Ein sehr interessantes Beispiel für ein solches Monopol findet man in derBürokratie des älteren Siam. Sie zeichnete sich aus durch relativ hohe Freiheitund Eintritts- und Aufstiegsentscheidungen nach chinesischem Vorbild,ermöglicht durch ein konkurrenzloses Sozialprestige der Vorgesetzten.Andererseits mußte diese Ordnung ihre politische Spitze in der Monarchie alsfraglos gegeben voraussetzen und hatte nur geringe Möglichkeiten, Interessen zuartikulieren und in das soziale Leben verändernd einzugreifen. Sie diente derVerwaltung ihres eigenen Sozialprestiges, das die Personalentscheidungen trug,aber gleichzeitig ihre Ausrichtung an echten Leistungskriterien verhinderte. Siehedazu James N. Mosel, Thai Administrative Behavior, in: William J. Siffin (Hrsg.),Toward the Comparative Study of Public Administration, Bloomington (IN) 1957,S. 278-331; Edgar L. Shor, The Thai Bureaucracy, Administrative ScienceQuarterly 5 (1960), S. 66-86; William J. Siffin, Personnel Processes of the ThaiBureaucracy, in: Ferrel Heady/Sybil L. Stokes (Hrsg.), Papers in ComparativePublic Administration, Ann Arbor (MI) 1962, S. 207-228; Fred Riggs, Thailand:Modernization of a Bureaucratic Polity, Honolulu (HI) 1966.

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Lester G. Seligman, Political Recruitment and Party Structure: A Case Study,American Political Science Review 55 (1961), S. 77-86 (85), erwähnt unter denMechanismen amerikanischer Kandidatenaufstellung bezeichnenderweise auch »aprocess that can be called conscription«.Vgl. dazu auch die Bemerkungen von Michel Crozier, Le phénomènebureaucratique, Paris 1963, S. 384 f., zur Rekrutierungsproblematik derfranzösischen Verwaltung, die sich durch besonders starre Aufstiegsregelungenauszeichnet.Siehe auch die Angaben bei Robert E. Lane, Political Life: Why People GetInvolved in Politics, Glencoe (IL) 1959, S. 207 f. (aufgrund von Hadley Cantril[Hrsg.], Public Opinion 1935-1946, Princeton [NJ] 1951, S. 529, 534), daßamerikanische Eltern politische Karrieren für ihre Kinder nicht in Erwägungziehen; in Deutschland würde man geneigt sein, ähnliche Ergebnisse aufundemokratische Vorurteile gegenüber der Politik zurückzuführen.Einen Überblick über die Handhabung der Verwaltungsrekrutierung ineuropäischen Ländern gibt Brian Chapman, The Profession of Government: ThePublic Service in Europe, London 1959, S. 79 ff.Insofern hatte die klassische Organisationslehre recht, wenn sie forderte, daß diePersonalauslese sich nach den Aufgaben und nicht etwa diese sich nach derPerson zu richten hätten. Vgl. z. B. Frederick W. Taylor, The Principles ofScientific Management, New York-London 1914, S. 7; Lyndall F. Urwick, TheElements of Administration, New York-London o.J. (1943), S. 35 ff. (dt. Übers.:Grundlagen und Methoden der Unternehmensführung, Essen 1961); Edward F. L.Brech, The Principles and Practice of Management, London-New York-Toronto1953, S. 35 f.; Louis A. Allen, Management and Organization, New York-London-Toronto 1958, S. 308 ff. (dt. Übers.: Management und Organisation, Gütersloho.J.). Wenn heute überwiegend die Interdependenz beider Fragen betont wird, sonur, weil es sinnlos ist, Positionen zu schaffen, die nicht adäquat besetzt werdenkönnen. Siehe etwa Chester I. Barnard, The Functions of the Executive,Cambridge (MA) 1938, S. 218; Eugen Schmalenbach, ÜberDienststellengliederung im Großbetriebe, Köln-Opladen 1959, S. 18 ff.; ErnestDale, Planning and Developing the Company Organization Structure, New York1952, S. 50 ff.; Eliot D. Chapple/Leonard R. Sayles, The Measure ofManagement, New York (NY) 1961, S. 98 ff.; Robert Stärkle, Anpassung derOrganisation an den Menschen, Bern 1960; Wilbert E. Moore, The Conduct of theCorporation, New York 1961, S. 39 ff. Damit ist nicht gemeint, daß die Person inihrer individuellen Eigenart eine Funktion im Entscheidungsprozeß erhalten undim Hinblick darauf in Rollen gewählt werden solle.Diesen Zusammenhang von universalistischer Orientierung undEinflußproblematik sieht auch Bendix, Nation-Building and Citizenship, a. a. O.(Anm. 87), S. 129.Die Organisationssoziologie verwendet im allgemeinen einen nicht oder unklar

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definierten Positionsbegriff. Auch der auf vorgegebene Zwecke bezogeneAmtsbegriff der kirchen- und staatsrechtlichen Tradition erfaßt das Prinzip vollerVariabilität nicht. Zu der im Text vertretenen Auffassung näher Luhmann,Funktionen und Folgen formaler Organisation, a. a. O. (Anm. 85), S. 141 ff.Auch in dieser Hinsicht ist die »Rückständigkeit« der Entwicklungsländer eineIllustration für das, was in stärker funktional differenzierten Sozialordnungenerforderlich ist und funktionieren muß, wenn eine gewisse Schwelle derEntwicklung überschritten werden soll. Die Sitten des »natürlichen« sozialenVerkehrs reichen in Entwicklungsländern oft weit in Politik und Verwaltunghinein, so daß es als durchaus normal angesehen wird, von Beamten fürGeschenke Dankbarkeit und für Angehörige Bevorzugung zu erwarten. Eineandere Einstellung würde im Publikum, soweit es nicht »westlich erzogen« ist,auf wenig Verständnis stoßen selbst bei denen, die im Einzelfall nicht profitieren.Dem, was westliche Beobachter inadäquat als Korruption und Nepotismusbezeichnen, liegen starke Institutionen des natürlichen menschlichenZusammenlebens zugrunde, die ein Publikum sich erst abgewöhnen muß, bevor esRekrutierung für politisch-administrative Rollen und politische Unterstützungtrennen kann. Als Belege aus der reichhaltigen Literatur vgl. etwa William D.Reeve, Public Administration in Siam, New York-London 1951, S. 61; Lloyd A.Fallers, Bantu Bureaucracy: A Century of Political Evolution among the Basogaof Uganda, 2. Aufl., Chicago-London 1965; Morroe Berger, Bureaucracy andSociety in Modern Egypt: A Study of the Higher Civil Service, Princeton (NJ)1957, S. 116 f.; Fred W. Riggs, The Ecology of Public Administration, London1961, S. 49, 110, 136 ff. u.ö.; Bert. F. Hoselitz, Levels of Economic Performanceand Bureaucratic Structures, in: Joseph LaPalombara (Hrsg.), Bureaucracy andPolitical Development, Princeton (NJ) 1963, S. 168-198 (191); J. DonaldKingsley, Bureaucracy and Political Development with Particular Reference toNigeria, im eben zitierten Band, S. 301-317 (306); Ralph Braibanti, PublicBureaucracy and Judiciary in Pakistan, im eben zitierten Band, S. 360-440(388 ff.); Louis A Zurcher, Jr./Arnold Meadow/Susan L. Zurcher, ValueOrientation, Role Conflict and Alienation From Work: A Cross-Cultural Study,American Sociological Review 30 (1965), S. 539-548.Hierzu gibt es eine Fülle von Veröffentlichungen. Als Beispiele siehe etwa C.Wright Mills, Menschen im Büro, Köln-Deutz 1955 (dt. Übers.); Norman H.Martin/Anselm L. Strauss, Patterns of Mobility Within Industrial Organizations,The Journal of Business 29 (1956), S. 101-110; Peter M. Blau, Social Mobilityand Interpersonal Relations, American Sociological Review 21 (1956), S. 290-295; Donald E. Super, The Psychology of Careers, New York 1957; RobertPresthus, The Organizational Society: An Analysis and a Theory, New York 1962;Philipp Fellin/Eugene Litwak, Neighborhood Cohesion Under Conditions ofMobility, American Sociological Review 28 (1963), S. 364-376; Fred H.Goldner, Demotion in Industrial Management, American Sociological Review 30

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(1965), S. 714-724; Mark Abrahamson, Cosmopolitanism, Dependence-Identification, and Geographic Mobility, Administrative Science Quarterly 10(1965), S. 98-106.Immerhin kommt auch dies vor: daß der altliberale Begriff festgehalten wird unddemgegenüber nur Veränderungen in den Ausdrucks- und Beeinflussungsmittelnnotiert werden – so z. B. bei Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart1964, S. 437 ff. Die Folge ist natürlich, daß die gegenwärtigen Verhältnisse, darangemessen, schlecht abschneiden. Auch Wilhelm Hennis, Meinungsforschung undrepräsentative Demokratie, Tübingen 1957, möchte im Prinzip den altliberalenBegriff der öffentlichen Meinung wiederherstellen.

27. KapitelÖffentliche Meinung

Die hier angekündigte Machttheorie blieb vermutlich ungeschrieben. Anm. d. Hg.In diesem Sinne glaubt Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, a. a. O.(Anm. 53), den Gedanken einer »kritischen Publizität« beibehalten zu können.Hierzu auch Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Soziale Welt, 18.(1967), S. 97-123.So z. B. Peter R. Hofstätter, Die Psychologie der öffentlichen Meinung, Wien1949; Gerhard Schmidtchen, Die befragte Nation: Über den Einfluß derMeinungsforschung auf die Politik, 2. Aufl., Frankfurt/M.-Hamburg 1965, S. 337;Vladimir O. Key, Jr., Public Opinion and American Democracy, New York 1961,S. 14.Als einen Versuch, solche normalerweise nicht mitkommunizierten Prämissender Kommunikation experimentell zu prüfen, vgl. Harold Garfinkel, Studies of theRoutine Grounds of Everyday Activities, Social Problems 11 (1964), S. 225-250.Insofern ist die altliberale Auffassung, daß öffentliche Meinung stets begründeteMeinung sei, in einem anderen Sinne richtig, nämlich insofern, als sie alsbegründete Meinung behandelt werden kann und deshalb nicht mehr begründet zuwerden braucht.Die ältere Lehre von der öffentlichen Meinung mußte sich wegen ihresunzureichenden, lediglich strukturell konzipierten Institutionenbegriffsantiinstitutionell verstehen, als gegen Tradition, Autorität und festliegende Formgerichtet, und konnte so ihre eigene Funktion, eben eine solche derInstitutionalisierung von Themen, nicht erkennen.Dazu bereits oben, S. 72 f.Den gleichen Fehler begeht übrigens die Meinungsforschung, sofern sie forcierteStellungnahmen abzählt und glaubt, dadurch ein Urteil über das Maß anÜbereinstimmung oder Nichtübereinstimmung unter Menschen gewinnen zukönnen. Vgl. dazu die skeptischen Bemerkungen von Ferdinand Zweig, A Note on

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Public Opinion Research in Social Studies, Kyklos 10 (1957), S. 147-155.Auf die Ermüdbarkeit der öffentlichen Meinung und den daraus folgenden Druckauf Abschluß von Angelegenheiten haben, soweit ich sehe, zuerst Gordon W.Allport/Janet M. Faden, The Psychology of Newspapers: Five Tentative Laws,Public Opinion Quarterly 4 (1940), S. 687-703 (702 f.), hingewiesen. Sie spitzenihre These dahin gehend zu, daß mit der Intensität der beteiligten Gefühlezugleich der Druck auf Abschluß der Angelegenheiten wachse.

Editorische Notiz

Eine knappe Darstellung der begrifflichen Grundlagen bietet der Aufsatz:Soziologie des politischen Systems, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie undSozialpsychologie 20 (1968), S. 705-733.Eine frühe Darstellung findet sich in: Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorieder Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, Frankfurt/M. 1971, S. 342 ff.Erstmals dargestellt in: Macht, Stuttgart 1975.

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Inhaltsverzeichnis

[Informationen zum Buch/Autor] 2[Impressum] 4Inhalt 5I. Teil: Der soziologische Aspekt der Politik 7

1. Kapitel: Fachliche Abgrenzung der soziologischen Perspektive 82. Kapitel: Theoretischer Bezugsrahmen: Systemtheorie 153. Kapitel: Soziale Komplexität 224. Kapitel: Die Funktion und Stellung des politischen Systems 265. Kapitel: Politik in der Gesellschaft und in anderenSozialsystemen 33

II. Teil: Das politische System der Gesellschaft 366. Kapitel: Vertikale Ausdifferenzierung des politischen Systems:Herrschaft 37

7. Kapitel: Horizontale Ausdifferenzierung des politischen Systems:Funktionale Spezifizierung 45

8. Kapitel: Begleitende Interpretationen 579. Kapitel: Legitimität 6610. Kapitel: Autonomie und interne Differenzierung 7411. Kapitel: Politik und Verwaltung 8412. Kapitel: Analytisches Modell des politischen Systems 93

III. Teil: Verwaltung 10713. Kapitel: Funktion und Ausdifferenzierung desVerwaltungssystems 108

14. Kapitel: Umweltlage und Autonomie des Verwaltungssystems 12215. Kapitel: Kommunikationspotential 13516. Kapitel: Rationalität der Verwaltungsentscheidung 14417. Kapitel: Programmatik und Opportunismus 159

IV. Teil: Politik 17518. Kapitel: Funktion der Politik 17619. Kapitel: Umweltlage, Sprache und Eigenständigkeit der Politik 18620. Kapitel: Rationalität der Politik 199

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21. Kapitel: Grenzen der Ausdifferenzierung 232V. Teil: Publikum 247

22. Kapitel: Ausdifferenzierung von Publikumsrollen 24823. Kapitel: Innendifferenzierung der Publikumsrollen 25724. Kapitel: Verwaltungspublikum 26625. Kapitel: Politische Publikumsrollen 28026. Kapitel: Rekrutierung 29427. Kapitel: Öffentliche Meinung 307

Editorische Notiz 320Notizen zur Vorlesung Politische Soziologie 324Register 368Fußnoten 378

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