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BERICHTE Der Beitrag der Sportgeschichte zur politischen Bewugtseinsbildung Jahrestagung der Sektion Sportgeschichte der dvs yore 14. bis 16. Juni 1990 in Berlin Die Jahrestagung der Sektion Sportgeschich- te der dvs stand 1990 in Berlin unter beson- deren Vorzeichen. Das Thema war zwar schon lange festgelegt worden und sollte -- unter dem allerdings etwas ungliicklichen und migverst~indlichen Begriff ,Bewugt- seinsbildung" -- den Sporthistorikern hel- fen, den Blick etwas yon den verstaubten Quellen weg und mehr auf die politische Praxis des Sports zu lenken. Unter einer v61- lig verS.nderten gesamtpolitischen Lage und ganz anders als erwartet konnte diese Ab- sicht nun in Berlin umgesetzt werden. Die revolution~iren Ereignisse in der DDR am Ende des letzten Jahres batten dazu gefiihrt, dag nicht der geplante fachwissenschaftliche Zweck der Tagung im Mittelpunkt des Inter- esses stand, sondern Begegnung und Ausein- andersetzung mit den fiihrenden Sporthisto- rikern und -ideologen aus der DDR, die erst- mals, sogar mit eigenen Referaten, auf einer Tagung der dvs auftraten. Ein anschauliche- res Beispiel fiir die Verdeutlichung der poli- tischen Rolle und Reichweite yon Geschich- te und Sportgeschichte -- dies war ja die ur- spriingliche Absicht der Tagung -- h~itte sich der Sektionsvorstand eigentlich gar nicht wiinschen k6nnen. Dieser Bericht wird sich deshalb auch nur mit dieser Seite der Tagung befassen; die im engeren Sinn fachhistori- schen Aspekte kommen nicht zur Sprache Die Veranstaltung sprengte bei weitem den bis dato eher famili~iren Rahmen und Cha- rakter von Sporthistoriker-Treffen. Das In- teresse war so grog, dat~l~ingstnicht alle Teil- nehmer in der Willi-Weyer-Akademie unter- gebracht werden konnten und sogar zahlrei- chen interessierten Kollegen/innen abgesagt werden mugte. Schon im Vorfeld war die Spannung grog: Gel~inge es, eine ehrliche und offene Aussprache zuwege zu bringen, ohne die Tagung zum Tribunal zu machen? Gel~inge es, die gewiinschte Auseinanderset- zung so zu fiihren, dag sie zugleich auch die geistige Grundlage fiir eine zukiinftige ge- meinsame Arbeit aller Sporthistoriker in Deutschland abgeben k6nnte? Angesichts der Geschichte der Sportge- schichte in Deutschland war dies nicht selbstverst~indlich. Der Kalte Krieg hatte auch auf dem Felde der Sportgeschichte stattgefunden, und die hSA~lich-polemischen Attacken einiger anwesender DDR-Kollegen aus den 50er und 60er Jahren gegen den ,biirgerlichen Sport" und dessen Vertreter (unter ihnen auch die ebenfalls anwesenden Hajo BER~rr, Horst 15BEV.riOmST und Ommo GRuvE)waren noch nicht vergessen. Beide Seiten hatten sich denn auch gut ,geriistet", um diese erste gemeinsame Ver- anstaltung zu einem Erfolg werden zu las- sen. Geschickte Regie und moderate Moderation waren wichtige Voraussetzung daf~ir. Das Vorstandstrio mit Manfred LXtar~R, Hans Joachim TEICm~Rund Giselher SerrzER hat- te sich die Sache so gedacht, da~ der neue dvs-Vorsitzende Elk F~r¢~ mit seinem Ein- leitungsreferat .Zur Bedeutung der ,Dialog- wissenschaften' im Rahmen der Sportwis- senschaft" einen allgemeinen, eher philoso- phisch-wissenschaftstheoretischen Hinter- grund der Diskussion aufbauen sollt~ Aus- gehend von Sokrates, brach Fv.aN~ nicht nur eine Lanze fiir die darbenden Geistes- wissenschaften, insbesondere innerhalb der Sportwissenschaft, sondern begrtindete auch eindrucksvoll, daft es gerade heute keine AI- 344

Der Beitrag der Sportgeschichte zur politischen Bewußtseinsbildung

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B E R I C H T E

Der Beitrag der Sportgeschichte zur politischen Bewugtseinsbildung

Jahrestagung der Sektion Sportgeschichte der dvs yore 14. bis 16. Juni 1990 in Berlin

Die Jahrestagung der Sektion Sportgeschich- te der dvs stand 1990 in Berlin unter beson- deren Vorzeichen. Das Thema war zwar schon lange festgelegt worden und sollte -- unter dem allerdings etwas ungliicklichen und migverst~indlichen Begriff ,Bewugt- seinsbildung" -- den Sporthistorikern hel- fen, den Blick etwas yon den verstaubten Quellen weg und mehr auf die politische Praxis des Sports zu lenken. Unter einer v61- lig verS.nderten gesamtpolitischen Lage und ganz anders als erwartet konnte diese Ab- sicht nun in Berlin umgesetzt werden. Die revolution~iren Ereignisse in der DDR am Ende des letzten Jahres batten dazu gefiihrt, dag nicht der geplante fachwissenschaftliche Zweck der Tagung im Mittelpunkt des Inter- esses stand, sondern Begegnung und Ausein- andersetzung mit den fiihrenden Sporthisto- rikern und -ideologen aus der DDR, die erst- mals, sogar mit eigenen Referaten, auf einer Tagung der dvs auftraten. Ein anschauliche- res Beispiel fiir die Verdeutlichung der poli- tischen Rolle und Reichweite yon Geschich- te und Sportgeschichte -- dies war ja die ur- spriingliche Absicht der Tagung -- h~itte sich der Sektionsvorstand eigentlich gar nicht wiinschen k6nnen. Dieser Bericht wird sich deshalb auch nur mit dieser Seite der Tagung befassen; die im engeren Sinn fachhistori- schen Aspekte kommen nicht zur Sprache Die Veranstaltung sprengte bei weitem den bis dato eher famili~iren Rahmen und Cha- rakter von Sporthistoriker-Treffen. Das In- teresse war so grog, dat~ l~ingst nicht alle Teil- nehmer in der Willi-Weyer-Akademie unter-

gebracht werden konnten und sogar zahlrei- chen interessierten Kollegen/innen abgesagt werden mugte. Schon im Vorfeld war die Spannung grog: Gel~inge es, eine ehrliche und offene Aussprache zuwege zu bringen, ohne die Tagung zum Tribunal zu machen? Gel~inge es, die gewiinschte Auseinanderset- zung so zu fiihren, dag sie zugleich auch die geistige Grundlage fiir eine zukiinftige ge- meinsame Arbeit aller Sporthistoriker in Deutschland abgeben k6nnte? Angesichts der Geschichte der Sportge- schichte in Deutschland war dies nicht selbstverst~indlich. Der Kalte Krieg hatte auch auf dem Felde der Sportgeschichte stattgefunden, und die hSA~lich-polemischen Attacken einiger anwesender DDR-Kollegen aus den 50er und 60er Jahren gegen den ,biirgerlichen Sport" und dessen Vertreter (unter ihnen auch die ebenfalls anwesenden Hajo BER~rr, Horst 15BEV.riOmST und Ommo GRuvE) waren noch nicht vergessen. Beide Seiten hatten sich denn auch gut ,geriistet", um diese erste gemeinsame Ver- anstaltung zu einem Erfolg werden zu las- sen. Geschickte Regie und moderate Moderation waren wichtige Voraussetzung daf~ir. Das Vorstandstrio mit Manfred LXtar~R, Hans Joachim TEICm~R und Giselher SerrzER hat- te sich die Sache so gedacht, da~ der neue dvs-Vorsitzende Elk F~r¢~ mit seinem Ein- leitungsreferat .Zur Bedeutung der ,Dialog- wissenschaften' im Rahmen der Sportwis- senschaft" einen allgemeinen, eher philoso- phisch-wissenschaftstheoretischen Hinter- grund der Diskussion aufbauen sollt~ Aus- gehend von Sokrates, brach Fv.aN~ nicht nur eine Lanze fiir die darbenden Geistes- wissenschaften, insbesondere innerhalb der Sportwissenschaft, sondern begrtindete auch eindrucksvoll, daft es gerade heute keine AI-

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ternative zum Dialog in der -- wissenschaft- lichen - Welt geb~ Das Wort des Vorsitzenden klang noch in den Ohren, als der Dialog von Willi ScmiO- DER aus Jena und Lothar S1tov, mNo aus Ost- Berlin yon DDR-Seite er6ffnet und yon BER- NETT fortgesetzt wurde Dazwischen hatten die Veranstalter aus unerfindlichen Griinden noch ein mif~lungenes und iiberfliissiges Re- ferat (.Perspektiven dialektisch-materialisti- scher Sportgeschichtsschreibung in Deutsch- land") von Claus TIEDEMANN plaziert. SCHR~SDER (yon der Friedrich-Schiller-Uni- veristiit) ist es zu verdanken, dag JmtN und die Phitanthropen in der DDR iiberhaupt sport-historisch thematisiert wurden. Trotz des bornierten Geschichtsverst~indnisses im alten SED-Staat, so SCHR6DER in seinem Vor- trag ,Erbeaneignung und Traditionspflege im DDR-Sport, das allein auf die Bewah- rung und Verkl~irung des sogenannten revo- lution~iren Erbes fixiert gewesen sei, habe ge- rade die Sportgeschichte immer wieder ver- sucht, auch biirgerlich-humanistische Tradi- tionen wachzuhalten. Das Konzept der al- ten, ideologischen und gro~precherischen DDR-(Sport-)Geschichtswissenschaft, die ei- gentlich Geschichtspropaganda gewesen sei, sei gescheitert. Sporthistorische Traditions- pflege miisse sich in Zukunft -- im Gegen- satz zu den gigantischen Erinnerungs-Sport- festen der SED-Ara -- wieder auf kleinere, bescheidenere Formen besinnen und die ver- engte, stark selektive Erbeaneignung iiber- winden. SCHRODERS Kollege S~oRmNc, der mat~geb- lich an der Herausgabe der vierb~indigen (blauen) Geschichte der K6rperkultur betei- ligt war, wich v611ig yon seinem vorbereite- ten Konzept ab und gestand freimiitig (auch eigene) schwere Irrtiimer in der Vergangen- heir ein. Vieles, u. a. seine Dissertation aus den 50er Jahren, in der er clamals aus l[lber- zeugung auch stalinistische Positionen ver- treten habe, mfisse aus heutiger Sicht umge- schrieben werden. BERNETr stellte in einem

Ber/chte

systematisch aufgebauten Vortrag knapp, iibersichtlich und praise das finalistische Geschichts- und Sportgeschichtsverst~ndnis in der DDR dar, das auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus gestanden und der St~kung des sozialistischen Bewut~tseins ge- dient habe. Auch die Sportgeschichte sei von den Direktiven der SED, von den Parteitags- und ZK-Beschliissen abh~ingig gewesen, de- ren Forderungen und Vorgaben sic habe nachkommen miissen. Nach den Worten des ehemaligen sogenannten Chefideologen der DDR, Kurt HAGEIL seien Geschichte und Geschichtswissenschaft in erster Linie Pro- paganda-Instrumente im Kampf gegen den imperialistischen Klassenfeind BRD gewe- sen. Diese inzwischen in sich zusammenge- brochene ,Theorie" wurde pflichteifrig auch von den bei der Tagung anwesenden Sport- historikern in Lehre und Forschung umge- setzt, wie BERNE~ an zahlreichen Beispielen belogte, u. a. an einem von EicHrr und WesT- vma_ herausgegebenen Pamphlet anl~ifflich der Miinchener Spiele, abet auch an Bii- chern und Lehrbiichern von WONN~ERGER, WESTPHAL, SCHRt~DER oder SKORNING oder anhand von Artikeln im ,ideologisch-theo- retischen Kampfblatt" (S~oRNINC) ,Theorie und Praxis der K6rperkultur" der DDR- Sportgeschichte Diese sachliche Analyse miisse ins Herz tref- fen, fiigte UEBEV.I-IORST, der sich anschliegend aber leider nicht der Diskussion stellte, in ei- nem engagierten und tier bewegt vorgetrage- nen Redebeitrag hinzu. Angesichts dieser Propagandaliigen, der friiheren Beschimp- fungen der BRD-Kollegen und auch der in- zwischen bekannt gewordenen schweren Verbrechen des SED-Regimes k6nne nicht einfach zur Tagesordnung iibergegangen werden. Auch die Sportgeschichte habe sich schuldig gemacht, und eine Vergangenheits- bew~iltigung diirfe sich nicht in der Umar- beitung alter Bticher ersch6pfen. An diesem Punkt drohte die Diskussion zum Tribunal umzukippen, wenn nicht ei-

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Berichte

nige jiingere Kollegen aus der ,68er Genera- tion", die ihr frfiheres und z. T. bis heute auf- rechterhaltenes Kokettieren mit dem Mar- xismus nicht verhehlen konnten (und woll- ten), zur Sachlichkeit und Besonnenheit ge- mahnt h~tten. Trotzdem wurde hart und di- rekt, auch pers6nlich gefragt: Warum, Herr SCHR~3DER, zitierten sie in ihren Arbeiten weir fiber das n6tige (und ert~gliche) Mat~ hinaus immer wieder die bornierten SED- Phrasen? Warum nutzten Sie ihren Spiel- ra'um nicht? Warum, Herr WOrCr,m~ERGER, haben sie in Sachen Linientreue und Erge- benheit die Normen stets fibererfiillt? Wie, Herr S~foRNrNC, sind die stalinistischen Pas- sagen in ihren Bfichern zu erkl~en? Warum die unwfirdig-unwissenschaftlichen Polemi- ken gegen die .Klassenfeinde" und heutigen Kollegen in der BRD? .Wer yon euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein ~ -- dieser biblischen Ein- sicht ist es wohl zu verdanken, daf~ sich die Debatte letztlich als .reinigendes Gewitter" entlud, wie sich ein DDR-Kollege ~iugerte Vergangenheitsbew~tigung und rasches Um- denken miissen die DDR-Kollegen letztlich selber leisten, aber .wir" aus der BRD dfirfen dabei nicht abseits stehen. Die Diskussion hatte jedenfalls zur Kl~.rung der Atmosph~ire beigetragen und den Weg zum Verst~indnis und zur Zusammenarbeit nicht verbaut. Um diese Ziele letztendlich auch zu errei- chen, daffir waren aber wohl weniger die .of. fiziellen" Debatten verantwortlich, sondern vielmehr die zahlreichen Kontakte, die am Rande der Tagung in pers6nlichen Gespfii- chen, vor allem unter den jfingeren Kolle- gen, geknfipft wurden, die sich ~iberwiegend auch aus dem Streit der ,Alten" herausgehal- ten hatten. Eine ~ihnliche Funktion erffillten auch die politisch weniger brisanten fach- wissenschafilichen Refemte, fiber die in wis- sensschaftlichem Geist gemeinsam disku- tiert werden konnt~ Der wissenschafiliche Ertrag dieses ersten gesamtdeutschen Sport historiker-Treffens

war insgesamt gesehen zwar gering, seine (sport)wissenschaftspolitische Bedeutung daffir um so gr6t~er. Der grot~e Zug auf sei- ner wilden Fahrt ins vereinte Deutschland hat einen weiteren, ganz kleinen Waggon an- geh~ingt bekommen: die Sportgeschichte.

M. KRi)CER

Psychomotorik in Therapie und P~idagogik

Internationaler KongreJ~ f~r Psychornotorik vom 28. 9. his 1 10. 1989 in Heidelberg

Veranstaltet wurde der 1. Internationale Kongret~ ffir Psychomotorik gemeinsam vom Institut fiir Sport und Sportwissen- schaft der Universifiit und vom Aktions- kreis Psychomotorik e V., einer interdiszi- plin~iren Vereinigung von derzeit 1700 Sportwissenschaftlern, Sport- und Sonder- p~idagogen, Medizinern, vor allem Kinder- ~irzten, Psychologen, Erziehern, Motologen, Sport-, Tanz- und Psychotherapeuten sowie Krankengymnasten. Zun~ichst die Eckdaten der Veranstaltung: 120 Referenten stellten in Grundsatzreferaten und Workshops Kon- zepte in Theorie und Praxis vor. 700 Teil- nehmer der o. g. Berufsgruppen aus zehn L~indern waren gekommen, um sich an der Diskussion zu beteiligen. Diese iiberaus po- sitive Resonanz auf die Kongrefiankiindi- gung war schon deshalb iiberraschend, weil gerade drei Monate zuvor (21.--24. Juni) 800 Teilnehmer am WeltkongreB der IFAPA (In- ternational Federation of Adapted Physical Activity) im Internationalen Congret~-Cen- trum Berlin an einer Veranstaltung mit ~ihn- licher Thematik (,Bewegung, Spiel und Sport fiir behinderte, kranke und alte Men- schen") teilgenommen hatten. Hermann RmDER brachte die psychomotori- sche Intentionen in seiner Er6ffnungsrede

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