49

Der Jäger und der Göttersohn

Embed Size (px)

Citation preview

Nr. 316

Der Jäger und der Göttersohn

Ein ungleiches Paar im Kampf gegen Dämonen

von Hans Kneifel

Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis.

Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der von Atlantis oder Pthor verbannte Berserker, sind die einzigen, die den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen kön­nen, mit dem sich die geheimnisvollen Leiter der Invasion ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen.

Und so landen Atlan und Razamon an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und der Schrecken. Das Ziel der beiden Männer, zu denen sich inzwischen der Fen­riswolf gesellt hat, ist, die Herren der FESTUNG, die Beherrscher von Pthor, aufzu­spüren und schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse.

Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nah­men, haben Atlan und Razamon zusammen mit ihrem neuen Weggefährten, dem Fenriswolf, durch die Zerstörung des Kartaperators der irdischen Menschheit bereits einen wichtigen Dienst geleistet.

Während die Kampfgefährten nun weiter nach Norden ziehen, hat der Androide Koy, der Atlan und Razamon sucht, seine eigenen Abenteuer zu bestehen.

Diese Abenteuer gipfeln in der Begegnung: DER JÄGER UND DER GÖTTER­SOHN …

3 Der Jäger und der Göttersohn

Die Hautpersonen des Romans:Heimdall - Odins ältester Sohn.Koy der Trommler - Der Menschenjäger begegnet einem Göttersohn.Kröbel - Heimdalls Faktotum.Knarder - Ein Ausgestoßener.

1.

Die Schroffen und Zinnen des Taambergs bildeten gegen den heller werdenden Him­mel eine tiefschwarze, drohende Silhouette. Die hügelige Landschaft lag kalt unter dem letzten Licht der erlöschenden Sterne. Hin und wieder ertönte, mit vielen rollenden Echos nachhallend, ein scharfes Knallen. Ir­gendwo brach ein Stück Fels los und polter­te zu Boden. Wie schlafende Riesentiere duckten sich kleine Hügel in die Ebene. Knarder bewegte sich unruhig in seinen staubigen, zottigen Pelzen. Er wartete be­reits die ganze Nacht darauf, was geschehen würde. Er hatte den Trupp der Männer gese­hen, die bewaffnet und mit entschlossenen Gesichtern am Abend aus der Gegend des Regenflusses gekommen waren. Was immer passierte, es würde für ihn etwas abfallen.

Zuerst hörte Knarder nur das Geräusch. Er kannte es und wußte, was es bedeutete. Er richtete sich auf und spähte zwischen den Felsbrocken in die Richtung des Rasselns. Dann sah er die drei breiten Lichtbalken, die immer wieder aufzuckten, von Steinbrocken oder uralten Stümpfen unterbrochen wurden oder über die Kuppen von Hügeln strahlten.

»Es ist der Riese mit seinem Wagen aus Metall!« sagte er leise zu sich selbst und zog den Pelz über die Schultern.

Das Rasseln und ein schleifendes Mahlen wurde lauter, als der Truvmer zwischen den letzten Hügeln hervorkroch wie eine Spinne aus Stahl und Glas und Licht.

Am Horizont erschien jetzt ein breiter Streifen gelbweißlicher Helligkeit. Genau vor diesem Streifen, scheinbar am Ende der geröllübersäten Steppe, zog das Fahrzeug in seiner eigenen ausgefahrenen Spur vorbei. Zwei der Lichter waren starr nach vorn ge­

richtet, das dritte bewegte sich unruhig wie das leuchtende Auge eines Spähers.

Knarder, der Ausgestoßene, sah sich wachsam um. Aber die ganze Nacht über hatte es kein Zeichen dafür gegeben, daß sich Raubtiere oder andere Räuber in seiner unmittelbaren Umgebung befanden. Auch jetzt, beim Morgengrauen, war er noch al­lein.

Der Truvmer fuhr, dreißig Skerzaalschuß weit von Knarder entfernt, in südliche Rich­tung.

Der Wagen sah seltsam aus; der Mann in seiner schweren Rüstung saß in einer großen Kugel, die wie ein merkwürdiger Helm von einem sichelförmigen Visier geschlossen und geöffnet werden konnte. Zwei breite, gepolsterte Sitze befanden sich nebeneinan­der. Die gläserne Kugel setzte sich nach hin­ten in einen metallenen Leib fort, der aus ei­ner Anzahl ringförmiger Elemente bestand. Sie verkleinerten sich nach hinten zu und bildeten schließlich eine Art Skorpions­chwanz, auf dessen Spitze das schwenkbare Licht saß. Vier röhrenförmige Beine ragten nach beiden Seiten und, durch ein großes, kugelförmiges Gelenk unterbrochen, nach schräg unten. Dort mündeten sie in die brei­ten Raupenketten, die vom vielen Gebrauch in der felsigen Landschaft glattgeschliffen waren. Vier, fünf Mannslängen maß dieses erstaunliche Fahrzeug, mit dem der Gepan­zerte immer wieder zwischen der Straße und dem Taamberg hin und her fuhr. Schon oft hatte Knarder den Wagen gesehen, einmal von fern, dann wieder näher.

Viele Atemzüge lang starrte Knarder dem Gefährt nach. Als die ersten Sonnenstrahlen waagerecht über die Ebene zuckten, brachen sie sich in der langen, wolkigen Spur aus hochgewirbeltem Staub.

Der Truvmer verschwand schließlich wie­

4

der in dem schluchtreichen, bergigen Ab­schnitt hinter der Steppe. Zwischen den Felsbrocken kamen Staubfontänen und hal­lende Geräusche hervor. Etwa drei Minuten später drang der laute Donner einer Explosi­on an Knarders Ohren. Über die Felsen sprang eine Fontäne aus Sand und Stein­brocken hoch. Es war etwas Dramatisches geschehen, genau dort, wo der Gepanzerte mit seinem Metallskorpion verschwunden war.

Hatten die Piraten einen Hinterhalt ge­legt? fragte sich Knarder. Er würde noch ei­ne Stunde in der wärmenden Sonne schla­fen, dann sein karges Frühstück verzehren und sich zum Schauplatz der Explosion schleichen. Vielleicht fand er etwas, das er eintauschen konnte.

*

Heimdall bremste beide Gleisketten ab, als er den Felsen in der Fahrspur sah. Er mußte in der Nacht heruntergebrochen und umgefallen sein. Eine große, rostbraune Felsnadel, viermal so lang wie er selbst, lag quer auf dem Sand und dem Geröll. Heim­dall kannte den Weg sehr genau. Er ließ die linke Kette schneller werden und bog nach rechts ab. Es ging fünfzig Meter über einen leichten Hang hinunter, an einer Kette dorni­ger, staubüberpuderter Gewächse entlang und in die kurze Schlucht hinein. Er erinner­te sich, sie vor langer Zeit einmal mit rei­ßendem Wasser gefüllt gesehen zu haben, nach einem stundenlangen Wolkenbruch. Die Gegend der bewachsenen Hügel lag in­zwischen weit zurück.

Der Truvmer kippte leicht nach vorn, durch die zu einem Schlitz geöffnete Visier­scheibe drang der muffige, abgestandene Geruch herein, der zwischen den schwarzen Felsen hing. Einige Sekunden später tauchte die Kabine in den Schatten der breiten Schlucht ein, die mahlenden Geräusche der schweren Ketten verstärkten sich und erfüll­ten die Schlucht mit ihrem Stakkato.

Heimdall wußte auch nicht, warum er kei-

Hans Kneifel

nen anderen Weg gefahren war. Es bot sich an, auch andere Teile dieses trostlosen Stücks Landschaft kennenzulernen. Aber seine Gedanken waren, wenn er von seinen Fahrten zu den Berserkernachkommen zu­rückkehrte, noch dunkler als sonst. Er suchte die Nähe seines Freundes und die verinner­lichte Ruhe seines Heimes.

Wie lange war es her, da Tfohr in voller Blüte stand!

Eine Ewigkeit schien es her zu sein; da­mals lebten die stolzen Berserker in den Mauern des reichen, prächtigen und pulsie­renden Tfohr!

Heimdall befand sich in der Mitte der Schlucht, zwischen den senkrechten Felsen. Vor sich sah er den breiten Streifen aus Sand und Geröll, der wieder hinausführte in die Halbwüste. Heimdall erinnerte sich, daß er die Scheinwerfer nicht ausgeschaltet hatte und holte dies nach.

Die Kabine, in der er saß, war groß genug für zwei von seiner Art, einschließlich der Waffen. Sie hing mehrere Meter vor dem er­sten Greifrad der Gliederketten federnd über dem Boden. Heimdall sah jede Handbreit des Geländes, über das die Ketten walzten. Er war wachsam, aber hier in der Wüste gab es nichts, was ihm gefährlich werden konn­te. Der Sitz und die Kabine hoben sich, als die Raupenketten griffen und das Fahrzeug die Steigung hinaufschoben. Genau dort, wo der Boden wieder eben wurde, geschah es.

Mitten in der Beschleunigung gab es einen schmetternden Schlag. Auf der rechten Seite hob sich der Truvmer jäh hoch, Heim­dall klammerte sich instinktiv fest, und dann drehten die gezähnten Räder leer durch.

Die linke Antriebseinheit schleuderte den Truvmer hart nach rechts herum. Wütend riß Heimdall an einem Hebel und wurde wieder zur Seite geworfen, als der Wagen ruckartig anhielt und rechts schwer in den Sand schlug. Eine riesige Wolke quoll aus der Schlucht und verdunkelte die Umgebung. Jetzt prasselten Felstrümmer, Steine und trockener Sand auf die Kabine und den Me­tallkörper herunter und machten Heimdall,

5 Der Jäger und der Göttersohn

der sich in den Sessel duckte, halb taub. »Bei meinem Vater Odin«, sagte Heim­

dall vor kalter Wut. »Das stinkt nach Hinter­halt oder Überfall.«

Er setzte den Helm auf, schloß die Schnalle und griff nach der Khylda, die un­ter den Sitzen festgeklammert war. Dann knirschte das durchsichtige Visier hoch; Sand hing in den Lagern der Konstruktion. Der älteste Sohn Odins sprang mit einem weiten Satz aus der Kabinenkugel, nahm die lange Streitaxt in beide Hände und blickte unter seinen buschigen Augenbrauen auf­merksam in die Runde. Der Truvmer stand genau an der Stelle, wo die Steigung in den ebenen Boden überging. Die Sonne hing ei­ne Handbreit über dem Horizont und über­schüttete diesen Teil Pthors mit grellem Licht. Überall lagen kleine und große Felsen im Geröll und im Sand. Regungslos standen die hartrindigen Pflanzen mit den lanzettför­migen, ledrigen Blättern. Nichts regte sich. Der Himmel war gänzlich leer und fahlblau.

»Ich hatte einen Überfall erwartet!« knurrte Heimdall.

In seinem gelben, schuppigen Lederkleid und den blauen Metallteilen seiner Rüstung wirkte er doppelt wie ein Riese. Wachsam ging er zurück zum Truvmer. Als er in der Höhe der leeren Kabine war, sah er den zwei Meter tiefen Krater, in dem die Kette lag. Sie war gerissen und nach vorn geschleudert worden; die Greifräder hatten sich um eine Kettenlänge weiter nach vorn bewegt. Zwei Kettenglieder, geriffelte, achtmal handgroße Teile mit Löchern und Führungsstiften, la­gen im Sand, ein abgebrochenes Achsstück steckte direkt neben Heimdalls brauner Stie­felspitze.

Es gab keine andere Möglichkeit: Heim­dall mußte die Kette reparieren und weiter­fahren. Er überlegte kurz. Dies war nicht die erste Reparatur einer Kette, die er durch­führte. Werkzeug und Teile waren vorhan­den. Wenn die Räder und deren Zähne und Lager nicht beschädigt waren, konnte er in zwei Stunden diese ungemütliche Stelle ver­lassen.

»Eindeutig ein Explosionstrichter«, mur­melte er und schritt einmal um den Kreis herum. »Ich bin auf eine eingegrabene Mine gefahren.«

Der abgebrochene Felsen gab ihm zu den­ken. Wenn ihn jemand dadurch auf einen an­deren Weg geführt hatte, dann hatte dieser heimtückische Wegelagerer sich sehr viel Arbeit gemacht.

»Keine Sorge«, flüsterte er mit dunkler Stimme. »Ich werde vorsichtig sein. Sie sol­len nur kommen. Ich schicke sie alle mit blutigen Köpfen zurück.«

Er lehnte die Khylda, seine eineinhalb Meter lange Streitaxt mit der Doppelschnei­de, an die langgezogene Antriebseinheit. Dann klappte er den Laderaum auf, holte die Kiste mit den Teilen und dem Werkzeug hervor und hob die schwere Kiste scheinbar mühelos hinunter in den Sand.

Heimdall betrachtete die gerissene Kette und richtete sie gerade aus. Dann nahm er ein spatenförmiges Werkzeug und grub ein Loch unter das erste Zahnrad. Immer wieder hob er seinen mächtigen Oberkörper und sah sich um, aber er entdeckte nichts.

Er arbeitete schnell und mit sicheren Grif­fen weiter. Zuerst schleppte er die Kette, bis die ersten Zähne in die Vertiefungen griffen. Dann schwang er sich wieder hinauf in die Kabine und ließ das rechte Element langsam anlaufen. Knirschend und immer wieder an­haltend, wurde die aus vielen Einzelstücken bestehende Kette unter dem langen Teil durch Sand und Steintrümmer gezogen.

Heimdall beugte sich aus der Kabine und schaltete die Maschine aus, als auf der gan­zen Länge des Triebwerks die Kette hin­durchgezogen war und vorn sowie hinten gleich weit auf dem Sand lag. Jetzt kam der schwierigere Teil.

Wieder sprang Heimdall hinunter, muster­te aufmerksam die Umgebung und fluchte leise. Hatte sich dort in dem langen, pech­schwarzen Schatten ein zweiter Schatten be­wegt?

Heimdall rechnete fest mit einem Über­fall. Er konnte sich nicht denken, wer sich in

6

dieser verlassenen Gegend herumtrieb, aber möglich schien fast alles. Pthor war ein Land der ungewöhnlichen Vorfälle.

Er zuckte die Schultern. Die Metallstre­ben des Waffenrocks bewegten sich knir­schend. Dann packte Heimdall mit seinen Pranken das vordere Ende der Gleiskette und wuchtete die schweren Stahlglieder hoch, stemmte sich gegen das zerrende Ge­wicht des Metalls und schleppte das Kette­nende bis zur Mitte des Antriebselements aus Rädern, Stangen, Gelenken und Füh­rungsschienen. Überall quoll heißes Fett aus den Lagern. Krachend fiel die gerissene Ket­te auf die Laufräder.

Genau dasselbe machte Heimdall mit dem anderen Ende, das unterhalb des hochge­krümmten Hecks im Geröll lag. Als er keu­chend zurücktrat, sah er, daß der leere Raum zwischen den Enden drei Kettenglieder breit war.

Zwei fand er in der unmittelbaren Nähe des Truvmers, das dritte suchte er erst gar nicht, sondern nahm es zusammen mit vier neuen Verbindungsrundstählen aus dem kleinen Vorrat. Dann holte er den riesigen Hammer und ein stabförmiges Stück Stahl, um die Reste der Achsen aus den Lagern schlagen zu können.

Die Arbeit ließ den Schweiß über sein kantiges, breites Gesicht laufen. Aber er nahm den Helm nicht ab, obwohl sein Haar zu kleben begann. Mit wuchtigen Hieben trieb er die abgebrochenen Stahlstücke aus den Lagern heraus.

Als er das letzte Stück des zweiten Ket­tenglieds bearbeitete, traf ihn ein mächtiger Schlag zwischen die Schulterblätter, schleu­derte ihn nach vorn über die Führungsschie­nen und betäubte ihn für einen Augenblick. Dann aber handelte er.

Er warf sich nach vorn, überschlug sich und warf den Pelzumhang ab. Mit einem Satz sprang er zur Seite und griff nach der Khylda.

Eine Handbreit neben seinem Kopf schlug ein scharfer Stahlbolzen eine Schramme in das Metall des Gefährts, rutschte ab und er-

Hans Kneifel

zeugte einen kreischenden Ton. Heimdall wirbelte blitzschnell herum und hob die Kampfaxt.

Von drei Seiten kam ungefähr ein Dut­zend bewaffneter Männer auf ihn zu. Immer wieder erklang das typische Geräusch einer vorschnellenden Armbrustsehne. Die Bolzen summten bösartig durch die Luft.

Sie sehen aus wie Piraten vom Regenfluß, schoß es Heimdall durch den Kopf.

Durch die Lieferung von Nahrung und Gegenständen des täglichen Lebens hatte er verhindern wollen, daß die Berserker ihre wilden Raubzüge irgendwann in die Gegend seiner Behausung vortrugen. Und jetzt stell­ten sich ihm hier Piraten entgegen.

»Was wollt ihr?« schrie er laut, während er auf den ersten Angreifer zurannte und die Kampfaxt schwang. Er bekam keine Ant­wort. Heimdall stürmte weiter und schlug den ersten Piraten mit einem einzigen, furchtbaren Hieb nieder und warf sich her­um, starrte den nächsten Mann in die Augen und schwang die Axt zurück. Er handhabte das schwere, nur am Schaft hydraulisch ge­federte Kampfinstrument, als sei es aus trockenem Holz.

Der Pirat zielte mit der Skerzaal auf Heimdalls Gesicht, aber der Odinssohn duckte sich, senkte den kleinen Stirnflügel des Helms und hob die Hand im schweren Kampfhandschuh vor die Augen.

Einige Männer, sah er flüchtig, rannten auf den Truvmer zu. Er lief durch den Sand, sprang über Felsen und warf seinen Ober­körper hin und her, um den heulenden Bol­zen zu entgehen. Mit fünf weiten Sprüngen erreichte er den zweiten Piraten, der ein Mann von bemerkenswertem Mut war. Während die Doppelschneide der Axt durch die Luft pfiff und hinter Heimdall das erste Opfer gellend zu schreien begann, zischte der Bolzen über seine Schulter und prallte gegen Stein.

Der Pirat sprang zur Seite, aber die fun­kelnde Schneide folgte seiner Bewegung und traf. Mit einer gräßlichen Wunde brach der Pirat zusammen.

7 Der Jäger und der Göttersohn

»Weg vom Truvmer!« donnerte Heimdall und rannte ein Stück zurück, um sein Ge­fährt zu verteidigen.

Die Piraten schienen erschrocken zu sein. Vielleicht hatten sie einen anderen Mann am Steuer dieses Wunderkarrens erwartet.

Aber dieser riesenhafte Mann von fast zweihundertsechzig Pfund, mit schwarzen, glühenden Augen, schwarzem Haar und dä­monischem, schwarzen Bart in seiner schim­mernden Rüstung jagte ihnen Schrecken ein. Sie erlebten eine böse Überraschung. Aber auch sie waren mutig und schnell. Immer wieder klirrten gepanzerte Bolzenspitzen ge­gen Teile der Rüstung. Mit der linken Hand packte Heimdall einen Mann, der den Lade­raum zu plündern versuchte, riß ihn vom Truvmer zurück und schleuderte ihn sieben Meter weit hinter sich.

Der Pirat stolperte, brach zusammen und schlug mit dem Hinterkopf gegen einen Steinbrocken.

»Hierher!« schrie jemand mit rauher Stimme. Heimdalls Khylda beschrieb Krei­se, die im Sonnenlicht feurige Blitze warfen. Sein Beil mähte die Angreifer nieder. Einem von ihnen, der ihn mit einem flammenförmi­gen Dolch ansprang, rammte er den scharfen Dorn an der Spitze der Khylda in die Brust. Schreiend sank der Pirat auf die Knie und preßte die Hände auf die Wunde.

»Zurück!« donnerte Heimdall. Ein Pirat packte einen Sack voller Nahrungsmittel und Wasser und rannte davon.

Jetzt erreichte Heimdall den Truvmer, trat einen Angreifer zur Seite und schlug einen anderen mit der Breitseite der Waffe zurück auf die klirrenden Kettenglieder auf der rechten Seite. Einen dritten, der halb in die Kabine geklettert war, riß er mit einem wil­den Ruck am Gürtel zurück und schleuderte ihn auf einen anderen Kämpfer. Beide über­schlugen sich und gingen zu Boden.

Heimdall griff abermals ein. Jetzt lief der Schweiß in breiten Bahnen über sein Gesicht und biß in den Augen. Eine wilde, heiße Wut hatte ihn überkommen. Er schien seine Kräfte und seine Geschwindigkeit zu ver­

doppeln. Inzwischen hatten wieder einige Piraten die Skerzaals gespannt und feuerten die Bolzen auf ihn ab. Einer streifte den Oberarm und hinterließ eine tiefe Schram­me, aus der das. Blut tropfte. Ein anderer riß eine neue Spur in seinen Helm. Ein dritter donnerte gegen die durchsichtige Kuppel und blieb stecken. Aber die Khylda be­schrieb weiter ihre Halbkreise, traf hier einen Angreifer, schlug dort einem zweiten seine Waffe aus der Hand, verwundete einen anderen. Sandfontänen wirbelten hoch. Heimdall griff mit der linken nach einem Stein, während er mit dem Dorn zustach und schleuderte den Brocken dem nächsten Mann, der auf ihn zusprang, ins Gesicht.

»Zurück! Schnell. Er ist ein Teufel!« schrie es hinter Heimdalls Rücken. Der Pirat wandte sich zur Flucht. Heimdall blieb für wenige Augenblicke stehen, holte tief Atem und blickte dann den Mann an, der den Sack gestohlen hatte und sich inzwischen bei den Felsnadeln befand, stolpernd und rennend.

Die anderen flüchteten auf eine Weise, die mindestens einigen von ihnen das Leben rettete. Heimdall wußte, daß einen guten halben Tagesmarsch von hier ein Seitenarm des Flusses im Sand versickerte. Dorther al­so waren sie gekommen.

Er verfolgte den einzelnen Mann, der schwer an dem großen Sack schleppte.

Etwa eine Minute lang raste Heimdall hinter dem Flüchtenden her, dann drehte sich der Pirat um und warf in panischer Furcht den Sack von den Schultern. Er wur­de danach etwas schneller, aber nach zwan­zig weiteren Sprüngen hatte ihn Heimdall eingeholt, bückte sich, packte einen Stein und schleuderte ihn in die Kniekehlen des Piraten. Aufbrüllend strauchelte der Mann und brach zusammen. Er drehte sich äch­zend herum und blieb liegen. Er hob in einer schutzsuchenden Geste die Hände, als Heimdall heransprang und ihm die Spitze der Axt an die Kehle setzte.

Schwer atmend fragte Heimdall: »Dein Name?«

»Ich bin … Keisor.«

8

»Du bist ein Flußpirat?« »Ja, Herr. Einen halben Tagesmarsch …

unser Schiff.« »Ihr habt die Mine vergraben?« »Unsere Spione haben uns gesagt, daß bei

dir, Herr, reiche Beute zu holen ist.« Heimdall starrte ihn mit mörderischem

Grimm an, aber er mochte diesen hilflosen Mann nicht töten.

»Vom Regenfluß kommt ihr?« »So ist es. Wir sind arm, und wir haben

…« Heimdall senkte die Khylda und bohrte

den Dorn leicht in die Haut am Hals seines Gegners.

»Schweige! Willst du leben, oder ziehst du einen schnellen Tod vor?«

»Leben, Herr. Du bist ein unbesiegbarer Kämpfer.«

»Man sagt es. Höre! Folge deinen törich­ten Freunden. Sage ihnen, daß ich Heimdall bin, der Sohn der alten Götter. Sage ihnen, daß ich dir und den Überlebenden ihr lausi­ges Leben schenke. Aber niemals wieder sollen sie sich an mir oder meinesgleichen vergreifen. Denn sie sind gewarnt. Ich töte sie alle, ich verfolge euch und lege Feuer an eure Schiffe, und keiner wird überleben.«

Er lächelte kalt, und der Mann vor ihm im Sand zitterte. Langsam hob Heimdall die Waffe und steckte sie vor seinen Füßen in den Sand. Er stützte sich mit den Unterar­men auf den Schaft und sagte leise:

»Hast du begriffen, Pirat Keisor?« »Ja, Herr. Ich habe verstanden … ich wer­

de es ihnen sagen. Deine Gnade ist groß!« »Laufe jetzt, und sage es ihnen. Ich töte

einen jeden, der sich bewaffnet in meine Nä­he wagt.«

Er hob die Khylda auf und drehte sich herum. Dann stapfte er langsam in die Rich­tung auf den Truvmer davon.

Keisor humpelte davon, so schnell er konnte. Heimdall blieb stehen, warf den staubigen Sack über seine linke Schulter und ging ruhig weiter. Er beachtete die Verwun­deten nicht, die vor ihm flohen, und er küm­merte sich überhaupt nicht um die Leichna-

Hans Kneifel

me, die zwischen den Steinen und dem Truvmer lagen.

Er haßte diese Kreaturen. Abgesehen von diesem Überfall – sie störten ihn. Er kam von hinten an das Gefährt heran, warf den Proviantsack in den Laderaum und lehnte die Waffe wieder an die röhrenförmigen Fe-derbeine des Truvmers.

Als er um den Wagen herumging und in die Kabine blickte, erstarrte er. Er konnte es nicht glauben, aber es war so:

Quer über die beiden Sitze lag ein Mann und grinste ihn unverschämt an. Dann, mit einem zweiten Blick, noch immer sprachlos und verwundert, entdeckte Heimdall, daß der Fremde eine ungewöhnliche Persönlich­keit sein mußte. Er schien darüber hinaus ungefährlich zu sein, denn er richtete nichts auf Heimdall, das einer Waffe ähnlich sah.

Voller Erstaunen fragte Heimdall: »Wer bist du? Was willst du in meinem Truv­mer?«

Der bärtige Fremde mit den stacheligen Haaren und den beiden seltsamen Fortsätzen an der Stirn grinste und schwieg.

2.

In der Stille knackte abkühlendes Metall. Eine Wolke erschien am Himmel über dem Ausschnitt, den die Felsen der Schlucht freiließen. Heimdall kämpfte einige Sekun­den mit dem Wunsch, vier Meter weit zu rennen und die Khylda zu holen. Er fühlte sich, obwohl dies nicht stimmte, schutzlos und irgendwie nackt. Der freche, kalte Blick des Fremden dort oben war analytisch und prüfend. Eines war sicher: Er war kein Pirat vom Regenfluß. Er mußte sich während der Verfolgung hier eingeschlichen haben.

»Ich habe deinen schnellen, überlegten Kampf genau beobachtet«, sagte plötzlich der Fremde und hörte zu grinsen auf.

Heimdall knurrte verdrießlich: »Hoffentlich hat dir gefallen, was du gese­hen hast.«

Er mußte den Kopf in den Nacken legen, um den Fremden anzusehen. Dies störte ihn

9 Der Jäger und der Göttersohn

erheblich. »Ein geplanter Hinterhalt, nicht wahr? Ich

hörte deinen Wagen und später die Explosi­on. Kann ich dir helfen?«

Er schien nicht zu spüren, mit welch fin­steren Blicken ihn Heimdall anstarrte.

»Ich werde allein fertig. Komm herunter aus der Kabine. Wer bist du eigentlich?« knurrte Heimdall.

»Ich bin Koy der Trommler. Viele kennen meinen Namen.«

»Koy hin oder her. Du machst dich dort oben unverschämt breit. Es ist mein Platz. Verschwinde am besten.«

Heimdall hatte den Namen schon oft ge­hört. Jeder, der etwas über Koy den Tromm­ler erzählte, rühmte dessen Eigenschaften. Dieser unverschämt grinsende Mann also war der berüchtigte Jäger; ziemlich klein, korpulent und muskulös, eine gedrungene Gestalt, die vor Zähigkeit und Kraft strotzte. Aber Heimdall vermochte auch Koy keine echte Sympathie entgegenzubringen. Er, der Göttersohn, war ein Einzelgänger. Er dulde­te nur Kröbel in seiner Nähe. Er verachtete alle anderen Kreaturen, die auf Pthor umher­krochen. Heimdall registrierte, daß aus dem zerknitterten, wie gegerbt wirkenden Ge­sicht ihn zwei freundliche schwarze Augen prüfend betrachteten. Dann fragte Koy:

»Mir scheint, daß du Heimdall bist, einer der Söhne Odins. Habe ich recht?«

»Es läßt sich nicht verbergen«, gestand Heimdall widerwillig.

»Es freut mich, dich kennengelernt zu ha­ben«, antwortete Koy, dehnte noch einmal seine Muskeln und sprang dann gewandt aus der Kabine. »Du mußt wissen, daß ich Fremde suchen oder finden soll, die angeb­lich auf Pthor eingedrungen sein sollen. Ich brach von Agmonth auf. Und dann verlor ich den Kontakt mit meinen Herren, die mir den Auftrag gaben …«

Heimdall winkte ärgerlich ab. »Das alles geht mich nichts an. Ich muß

mein Fahrzeug reparieren.« Koy war wirklich ein Zwerg, verglichen

mit dem Hünen Heimdall. Der Odinssohn

ging um die Kabine herum, legte sorgfältig den Helm auf den zusammengefalteten Pel­zumhang und machte sich wieder an die Ar­beit. Mit wuchtigen Schlägen trieb er die Reste der zweiten Achse aus den Löchern.

Ein Schatten fiel auf seine Arbeit. Koy stand neben ihm und sprach stets dann, wenn die Hammerschläge nicht ertönten.

»Aber ich habe meine Meinung jetzt ge­ändert. Ich freue mich sozusagen darüber, daß ich die Verbindung verloren habe.«

Heimdall grunzte etwas Unverständliches und griff nach dem nächsten Kettenglied. Wieder schlug er wie besessen auf den Stahlstab ein.

»Ich freue mich deshalb, weil ich jetzt un­belastet durch Befehle nach meiner Mutter suchen kann. Hast du sie gesehen? Ihr Name ist Dagrissa. Ich gelte bei den Gebietern als verschollen. Jetzt habe ich Zeit und Gele­genheit, nach meiner Mutter zu suchen. Ich fühle …«

»Ich kenne sie nicht«, murmelte Heimdall mürrisch zwischen zwei krachenden Ham­merschlägen.

»Schade. Ich fühle, wie die Jagdlust zu­nimmt. Du mußt wissen, daß alle meine Sin-ne schärfer werden, daß meine Schnelligkeit und Ausdauer zunehmen. Man weiß, wie gut Koy der Trommler ist.«

Heimdall ließ den Hammer sinken und brummte verdrießlich:

»Wahrscheinlich wirst du ein paar Kom­plexe verdrängen müssen, Zwerg!«

»Zwerg?« grinste Koy. »Schon möglich. Aber früh und am Abend werfe ich einen langen Schatten.«

»Ich auch. Du hältst mich auf.« Er schlug die letzten Reste der zertrümmerten Achsen aus den Löchern, fettete die neuen Achsen stark ein und legte die drei Glieder neben­einander. Mit vorsichtigen Schlägen verband er die drei Teile miteinander, fügte sie an das Ende der Kette auf der linken Seite und drehte dann die Sicherheitsscheiben und die Muttern auf die Achsen. Langsam und ge­nau überprüfte er den Sitz der restlichen Verbindungen und ging dann, die letzte

10

Achse in der Hand, zu der klaffenden Ver­bindung zwischen dem hinteren Ende der Kette und den neu eingefügten Gliedern. Zwischen den Teilen waren fast zwei Hand­breit Spielraum.

»Jetzt kommt der schwierigste Teil«, kommentierte Koy freundlich, der das tech­nische Problem längst verstanden hatte.

»Hmm.« Heimdall ging zur Laderaumöffnung und

holte die Hebelübersetzung heraus. Er setzte das zangenartige Werkzeug an, preßte die beiden Hebel zusammen und zog beide En­den der Kette zusammen. Noch immer war drei Finger breit leerer Raum. Ächzend nahm Heimdall die Zange ab, verstellte sie, klinkte sie wieder ein und preßte sie mit al­ler Kraft zusammen. Nun schoben sich die zungenförmigen Fortsätze des einen Gliedes in die Aussparungen des anderen. Als Heim­dall vorsichtig den Zugriff der Zange locker­te, zog das Eigengewicht des Stahles die Kette wieder auseinander.

»Ich kann die Achse leicht hineinschie­ben«, schaltete sich Koy der Trommler ein. Unwillkürlich schüttelte Heimdall den Kopf, holte ein Ende Stahltrosse aus dem Lade­raum und wiederholte das Manöver mit der Zange.

Dreimal versuchte er, beide Griffe mit seiner Hand zu umspannen und zusammen­zuhalten.

Dreimal glitten sie auseinander, als er sich anschickte, mit dem Kabelrest die Hebel zu­sammenzubinden. Schließlich drehte er sich halb herum und brummte eine Spur weniger unfreundlich:

»Du kannst mir helfen, Kleiner.« »Stolz und Dummheit sind Geschwister«,

antwortete Koy, sprang von dem Antriebs­element und ergriff Hammer und Achse.

Heimdall setzte leise fluchend die Backen der Zange an, zog beide Kettenteile ineinan­der, und mit drei leichten Schlägen rammte Koy die Achse in die Löcher. Mit einem sat­ten Geräusch schlug der wuchtige, mit Bei­lagringen geschützte Kopf an die verbunde­nen Glieder. Mit flinken, starken Fingern

Hans Kneifel

setzte Koy die Scheiben ein und drehte die Mutter auf das Gewinde. Langsam löste Heimdall die riesige Zange und hob den Schlüssel auf.

»Danke«, sagte er leise. »Was sind das für Dinge an deiner Stirn, Zwerg?«

»Du meinst die Broins?« »Wenn sie so heißen, dann meine ich es.

Was soll das? Unpraktisch, wenn du in ei­nem Helm kämpfen solltest.«

»Es sind Waffen. Ich richte sie gegen ein Ziel, schlage die kugeligen Enden gegenein­ander und vernichte meine Opfer. Sie ster­ben und hören dabei Trommelschlag. Des­wegen habe ich diesen Namen.«

»Ich verstehe. Hunger?« »Nein. Aber Durst. Wohin fährst du?« »Zum Fort. Zu meinem Heim. Dorthin,

wo ich mich wohl fühle.« »Ich freue mich für dich.« Heimdall sammelte sein Werkzeug und

die Teile ein und warf sie in die Kiste, ver­staute alles im Laderaum und zog aus dem Proviantsack eine Kanne, die dick mit schwarzem Stoff gefüllt war. Er zog den Korken heraus, trank einen gewaltigen Schluck und hielt den Schnabelkrug hinun­ter zu Koy.

»Hier. Trinke! Ich spüre es, es wird ein lausiger Tag voller Ärger und Aufregungen werden. Bei Odin!«

Koy trank eine Art wohlschmeckenden, leicht säuerlichen, aber sehr kühlen Tee, korkte die langhalsige Kanne wieder zu und ging langsam in die Richtung des Vorder­teils. Er hörte, wie Heimdall die verschiede­nen Fächer des Laderaums schloß und ver­riegelte. Er hob Mantel, Helm und Streitaxt auf und stapfte durch den Sand. Er schien merkwürdigerweise nicht überrascht zu sein, als er Koy den Trommler neben sich im Fah­rerhaus entdeckte.

Er sagte kein Wort, sondern kippte das Visier der Kabine nach unten und drückte auf mehrere Schalter. Über den Köpfen der Männer begann das durchsichtige Material sich dunkel zu färben. Der Motor des Truv­mers winselte auf, brummte laut und wurde

11 Der Jäger und der Göttersohn

dann leiser. Zuerst knirschend und zögernd, dann immer schneller und in höheren Tönen rasselnd bewegten sich die breiten Gleisket­ten. Heimdall sah mehrmals nach hinten, aber die Reparatur schien geglückt.

»Die Mine hat nur die Kette zerrissen«, sagte Koy fröhlich. »Es ist ein gutes Gefühl, zu fahren. Man lebt bequemer, als wenn man geht.«

»Deswegen fahre ich.« Die Spuren führten weitestgehend von

Norden nach Süden, wußte Koy. Natürlich nicht in einer geraden Linie, sondern dem Gelände angepaßt. Südwestlich von ihnen lag irgendwo, weit jenseits der Steinblöcke, der winzigen Hügel und der dürren Gras­flecken, die Ebene Kalmlech, die Heimat der furchtbaren Horden der Nacht.

»Nach Donkmoon?« rief Koy etwas spä­ter, als der Truvmer seine volle Geschwin­digkeit erreicht hatte.

»An Donkmoon vorbei geht die Fahrt. Zur Straße der Mächtigen.«

»Das klingt verheißungsvoll«, bemerkte Koy trocken, lehnte sich entspannt zurück und begann, die Gegend zu betrachten. Nur langsam veränderte sich das Aussehen der Landschaft. Sie verlor ihren unwirklichen, sonnendurchglühten Charakter. Der Taam­berg mit seinen Gipfeln blieb hinter ihnen zurück und löste sich im Dunst des Vormit­tags auf.

*

Sehr spät sah Knarder die schräge Spur aus Staub, die sich nur ganz langsam senkte. Knarder schob sich behutsam aus dem Schatten eines kühlen Felsblocks hervor. Ein hagerer Mann mit grauer, faltiger Haut und einem Gesicht, das von Entbehrungen ge­zeichnet war, ging er vorsichtig auf die Schlucht zu. Es waren weitaus weniger flüchtende Regenflußpiraten gewesen, als er heute Nacht gezählt hatte. Einige lagen viel­leicht sterbend in der Schlucht und hatten ih­ren Besitz bei sich. Er mußte mit jeder Klei­nigkeit zufrieden sein.

Das dünne Leder und der durchscheinen­de Stoff schlotterten um die mageren Beine und Arme. Knarder rückte den Schild aus Leder zurecht, der seine Augen vor der grel­len Sonne schützte, dann ging er weiter.

Eine alte, ausgeleierte Skerzaal, ein dünn­geschliffenes Messer, einige schlaffe Leder­schläuche und ein fast völlig neuer, staubi­ger Fellmantel waren sein einziger Besitz. Und das, was sich in den Manteltaschen fand und in der kleinen Umhängetasche.

Drei Stunden wanderte er langsam zwi­schen den Steinen entlang und auf die Schlucht zu. Er fand den ersten Toten und begann ihn systematisch zu plündern. Alles. Alles, was brauchbar war, rettete ihn über einige Tage hinweg.

Er fand Nahrungsmittel, über die er sich heißhungrig hermachte. Es gab eine halblee­re Lederflasche, die warmen Tee oder ein ähnliches Getränk enthielt. Knarder trank sie leer. Ein paar Stiefel wechselten seinen Be­sitzer; mit einem gellenden Gelächter schleuderte Knarder seine löchrigen Stiefel in die Schlucht hinunter.

Er sprang, immer gieriger werdend, zum nächsten Opfer. Es schien kein Leben hier zu geben, aber auf den Wunden und dem trocknenden Blut versammelten sich bereits große Schwärme schillernder Fliegen. Klei­ne schwarze Insekten kamen aus Löchern im Sand hervor und bildeten in ihrer Masse lan­ge Schnüre auf dem Sand.

Als die Sonne fast senkrecht über der Steppe stand und die Schatten ganz kurz ge­worden waren, wußte Knarder, daß er lange Tage mit Hilfe dessen überleben würde, was er hier gefunden hatte. Es war vor allem et­was, aber kein Reichtum. Eine bessere Waf­fe, ein scharfes Messer, ein Hemd und eine Hose und so fort.

Als Knarder sich zum letztenmal aufrich­tete und umsah, wußte er, daß ihn seine Wanderung nach Osten führen würde, weder an den Regenfluß noch zu den Berserkern. Vielleicht überlebte er länger, wenn er in die Richtung von Agmonth wanderte.

Als Ausgestoßener hatte er nirgendwo

12

große Chancen.

*

Koy der Trommler schlug seine schwar­zen Kunststoffstiefel übereinander und be­merkte:

»In Wirklichkeit kannst du gar nicht so sein, wie du dich gibst, Heimdall.«

»Ich bin ein Einzelgänger. Ich brauche keine Geselligkeit«, brummte Heimdall är­gerlich und runzelte seine dichten, schwar­zen Brauen.

»Du scheinst verschlossen und düster. Du lachst nicht oft und denkst immer, jeder will gegen dich kämpfen. Wovon träumst du ei­gentlich, Heimdall?«

Koy veränderte seine Stellung auf dem Sitz. Sie fuhren ununterbrochen weiter. Koy war sicher, daß Heimdall es aus Mißtrauen vermied, die Stadt zu betreten. Vermutlich steuerte er erst einige Kilometer jenseits der Stadt auf seinen Straßenabschnitt zu.

»Wer sagt dir, daß ich träume?« fragte Heimdall wortkarg, aber seine Reaktion be­wies dem Trommler, daß er ins Schwarze getroffen hatte.

»Ich glaube, daß du von Odin träumst. Es ist nur natürlich, wenn du daran denkst, daß du mit deinem Vater und deinen Brüdern die alte Herrschaft wieder aufrichten könntest.«

»Manchmal träume ich davon«, gab Heimdall widerwillig zu, dann hob er die Schultern und deutete schräg nach Südwest.

»Sieht nach Gefahr aus. Irgendeine Bestie aus der Ebene Kalmlech.«

»Du meinst, sie kann uns gefährlich wer­den? Uns beiden, dem Jäger und dem toll­kühnen Kämpfer?« lachte Koy. Neben den Sitz hatte er die Reste seiner Ausrüstung ge­schichtet. Einen Teil der Ausrüstung hatte er bei der zerstörten Vegla zurücklassen müs­sen.

»Ja, wenn das Ungeheuer groß genug ist.« Koy kannte alle Erzählungen und hatte

die Ungeheuer auch schon gesehen. Aber noch niemals hatte er gegen einen Bewohner der Ebene Kalmlech kämpfen müssen.

Hans Kneifel

Nachdenklich schüttelte er den Sand aus sei­nem silbergrauen Haar.

»Hassen dich die Herren der FE­STUNG?« fragte Koy vorsichtig.

»Nein. Wir lassen uns gegenseitig in Ru­he.«

Dort drüben ging etwas Sonderbares vor. Wo die Kalmlech aufhörte und in leicht hü­geliges Land voller kleiner Büsche und Grasflächen überging, südwestlich von Donkmoon also, bewegte sich eine riesige, rostrote Masse. Die Bewegungen des Truv­mers ließen keine genaue Beobachtung zu. Aber diese einzelne Bestie sprang immer wieder in die Höhe und schien in kurzen Ab­schnitten zu fliegen. Dann senkte sich das Ungeheuer wieder und blieb kurze Zeit auf dem Boden. Wenn es gegen ein anderes Un­geheuer kämpfte, dann war von diesem Geg­ner nichts zu sehen.

»Manchmal greifen sie sogar mich an«, bemerkte Heimdall kurz.

»Ich werde dir helfen«, versprach der Trommler und erntete einen verblüfften, fast heiteren Seitenblick des Riesen.

»Dann werden wir ja überleben«, mur­melte Heimdall. Inzwischen folgte sein Ge­fährt einer Art breitem Pfad, der im wesent­lichen aus zwei Spuren im grüner werden-den Gelände bestand und oft zugewachsen war.

Wieder schwang sich das Ungeheuer in die Luft. Es wirkte von hier aus wie ein Wurm mit Fledermausflügeln. Plötzlich er­starrte es mitten in einer aufbäumenden Be­wegung. Heimdall zog an seinen Hebeln und ließ den Truvmer langsamer werden. Jetzt sahen sie beide deutlich, was eigentlich vor­ging. Zwei dieser Bestien kämpften gegen­einander. Ein schlangenartiges Tier raste am Boden hin und her und stieß mit einem bluti­gen, langen Horn immer wieder auf das rostrote Ungeheuer ein.

»Sie kämpfen gegeneinander!« stellte Heimdall fest und ließ den Truvmer wieder schneller werden. Als sie einen leichten Hü­gel erreicht hatten, blieb der Wagen aber­mals kurz stehen.

13 Der Jäger und der Göttersohn

Auf der Ebene Kalmlech zogen einzelne Gruppen der nächtlichen Horden hin und her. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, aber über den Bestien schwebten Wolken aus Staub und Sand. Die beiden Männer glaubten, Schreie und Gebrüll zu hören, aber dies war eine Täuschung. Einige Sekunden lang blieben sie in der schattenlosen Hitze stehen und sahen schweigend den Aufruhr am Horizont.

»Weiter!« Als Heimdalls Hände nach vorn griffen

und die Hebel berührten, stießen gleichzeitig die beiden kämpfenden Tiere ein zorniges Brüllen aus. Sie sahen den Truvmer und griffen blind an.

»Auch das noch«, bemerkte Heimdall fin­ster und zog einen zweiten Hebel ganz nach hinten. Der Truvmer wurde ruckartig schnel­ler, und das Rasseln der Ketten verstärkte sich zu einem Inferno. Dies schien die Un­geheuer noch mehr zu reizen. Sie wurden schneller und machten sich an die Verfol­gung des Truvmers.

Koy beugte sich aus der Kuppel und späh­te nach hinten.

Der rostrote Wurm war offensichtlich ge­panzert. Er lief auf wuchtigen Beinen, deren Krallen den Boden aufrissen. Das Ungeheu­er blutete aus zahllosen Wunden, aber es nahm einen rasend schnellen Anlauf, riß sei­nen gewaltigen Rachen auf und schrie, wäh­rend es die Schwingen ausbreitete und sich heftig flatternd in die Luft erhob. Es schien nicht wirklich flugfähig zu sein, aber kurze Strecken flatterte es in beängstigender Ge­schwindigkeit. Das schlangenartige, silbern und weiß schimmernde Tier wurde ebenfalls von einer wilden Wut gepackt und schlän­gelte sich in einer Reihe grotesker Halb­sprünge in die Richtung des dahinratternden Fahrzeugs.

»Können sie uns was anhaben?« fragte Koy und strich sich abwesend über den wei­ßen Kreis mit dem Doppelkopf an seinem Pullover.

»Nicht sehr viel. Ich bin gut bewaffnet«, sagte Heimdall und deutete kurz auf die

Khylda zu seinen Füßen. Ein merkwürdiger Bursche, dieser Heim­

dall, dachte Koy. Aber auf bestimmte Weise sind wir alle auf Pthor eigenartig. Er griff nach links und nahm seine kurze Feuerlanze hervor, kontrollierte das Gerät durch und be­tätigte mehrmals den Zünder. Die Waffe war einsatzbereit.

»Bist du versessen auf einen Kampf?« brummte nach einer halben Minute der Od-inssohn. Das Fahrzeug war schlingernd und schüttelnd den kaum mehr kenntlichen Pfad entlanggefahren und hatte mehrere scharfe Kurven ausgelassen. Das fliegende Unge­heuer schlug schwer in eine Gruppe kleiner Bäume ein, zerfetzte sie und drang wieder daraus hervor. Die Männer sahen riesige Augen und einen Kamm aus sichelartigen Knochenplatten, die sich in die Richtung des Wagens streckten. Das Ungeheuer schrie noch einmal gellend und galoppierte, den langen Schweif über dem Kopf balancie­rend, auf den Truvmer zu. Schräg hinter dem Giganten drängte sich die Schlange aus dem Unterholz. Sie lief auf einer Unzahl kleiner, haariger Beine.

»Wie weit ist es noch bis zu deinem Heim?« schrie Koy durch das Rasseln der Ketten und das Brummen der Motoren.

»Ungefähr fünfunddreißig Kilometer von der Grenze Donkmoons liegt das Lettro. Zu weit entfernt.«

»Das bedeutet Kampf!« Der riesige Mann setzte den Helm auf

sein schwarzes, nackenlanges Haar, ließ aber das Kinnband ungeschlossen. Mit einer Hand steuerte er den Truvmer geradeaus. Noch waren weder die Stadt oder die Stra­ßen zu sehen, obwohl der Geländestreifen nicht sonderlich breit sein konnte.

»Meinetwegen.« Koy wußte nicht, ob die Intelligenz der

Ungeheuer so groß war, daß sie den Truv­mer als das erkannten, was er wirklich war: Vielleicht hielten sie dieses undefinierbare Etwas für einen eßbaren Gegner. Oder sie tobten nur ihre Wildheit aus, die kein Ventil fand, solange die unsichtbare Mauer um

14

Pthor nicht aufgebrochen und die Ungeheuer in die neue Umgebung hinaus entlassen wer­den konnten.

Obwohl Heimdall rücksichtslos geradeaus fuhr, holten die zwei Ungeheuer auf. Sie preschten rechts und links neben dem Truv­mer heran und schienen ihn von vorn angrei­fen zu wollen. Heimdall stieß ununterbro­chen leise Flüche aus, deren Sinn Koy nur zum Teil verstand. Und plötzlich tauchten die gräßlichen Schädel der Ungeheuer an beiden Seiten vor dem Truvmer auf. Krei­schende Schreie übertönten die Flüche und alle anderen Geräusche. Noch immer ruhig und auf seine Waffen vertrauend, steckte Koy seine Feuerlanze durch den Spalt zwi­schen Dach und Visier.

Er versuchte zu zielen, aber die harten Stöße und das Schwanken der Kabine mach­ten einen sicheren Schuß zum Risiko.

Koy drückte trotzdem ab. Aus der röhren­förmigen Spitze der Lanze schoß jaulend ein Feuerstrahl. Das sich ausbreitende Zentrum an der Spitze traf den Schädel des schlan­genartigen Ungeheuers und hüllte ihn voll­ständig ein. Aus dem Rauch und den Flam­men ertönte ein Schrei, der Koys Trommel­felle klingen ließ. Die Bestie krümmte sich zusammen. Obwohl der Truvmer weiterfuhr und nur geringfügig die Richtung änderte, breitete sich ein furchtbarer Gestank nach verbranntem Horn und Haar aus.

Koy blickte kurz nach hinten und zog die Feuerlanze aus der Öffnung.

Das Ungeheuer war mit sich selbst be­schäftigt. Es drehte sich im Kreis. Ringsher­um brannten und qualmten Gras und Bü­sche. Koy konnte sicher sein, daß diese Be­stie niemanden mehr angreifen würde.

»Du mußt in die andere Richtung len­ken«, sagte Koy laut, als ein heftiger Stoß das Fahrzeug traf. Ein schleifendes Ge­räusch erschütterte die Laderäume und das Motorengehäuse hinter dem Fahrerhaus. Das andere Ungeheuer hatte seine Knochenplat­ten gegen den Truvmer gerammt.

»Nach dem Schuß, ich verstehe.« Koy schob die Spitze der Feuerlanze in die ande-

Hans Kneifel

re Richtung. Der Truvmer hörte zu schau­keln auf und wurde etwas langsamer. Sofort tauchte die Bestie wieder auf der rechten Seite auf und griff an. Diesmal feuerte der Trommler dreimal. Der erste Schuß traf das Ungeheuer in den Schlund mit den riesigen Zähnen, der zweite verbrannte das Auge und einen Teil des Flügels, der dritte bildete eine gewaltige schwarze Wolke um den Schädel des Tieres. Sofort gab Heimdall mehr Ge­schwindigkeit auf der rechten Kette, riß den Truvmer nach links und machte ihn schnel­ler. Abermals breitete sich eine Wolke aus Gestank, Rauch und brennendem Fleisch aus. Langsam zog Koy die Feuerlanze zu­rück, sicherte sie und legte sie zu Heimdalls Waffe auf den Boden der Fahrerkugel.

»Und nun«, erklärte er mit seiner ange­nehmen Stimme, die auf Heimdall ebenfalls nicht den geringsten Eindruck zu machen schien, »können wir folgenden Ereignissen mit Ruhe entgegensehen.«

»Hmm.« Das Lettro, von dem Heimdall gesprochen

hatte, mußte mit seiner Wohnung identisch sein. Koy fragte sich, wie die Wohnstätte ei­nes solch mürrischen und mißtrauischen Mannes aussehen mochte. War es eine dü­stere Burg mit abweisenden, kalten Mauern? Oder verbarg er sich in einem Höhlenlaby­rinth? Nun, er würde es in Kürze sehen, denn links von ihnen erkannte man undeut­lich die Außenbezirke der Stadt hinter dem Blättergewirr. Koy wußte genau, daß die Straße der Mächtigen hinter Donkmoon be­gann und südöstlich nach Zbohr führte. Wenn er richtig beobachtet hatte, dann fuhr Heimdall in einem weiten Bogen um die Stadt herum und auf die Straße zu.

Eine halbe Stunde etwa begegneten sie keinem größeren Lebewesen. Die Hitze nahm zu, die Sonne sank unmerklich dem Nachmittag entgegen.

Keiner von ihnen sprach. Heimdall schien kein Bedürfnis zu haben, das Wort an den Weggefährten zu richten. Koy verzichtete darauf, nur ein mürrisches Brummen als Antwort hingeworfen zu bekommen. Also

15 Der Jäger und der Göttersohn

wartete und schwieg er, bis sich die Umstän­de änderten. Schließlich verfolgte er einen Plan, der nur ihn etwas anging.

Wieder änderte sich die Landschaft ganz langsam. Eben noch waren sie durch hügeli­ges und grün bewachsenes Land voller Bäu­me und winziger Seen und Bäche gefahren. Jetzt tauchte weit voraus das stumpfsilberne, teilweise unsichtbare Band der Straße auf. Dahinter lag eine Steppe. Von ihr wußte der Jäger Koy, daß sie unbewohnt war, aber kei­neswegs ungefährlich. Sie wurde von Si­gurds Straßenabschnitt im Norden begrenzt.

Genau vor der durchsichtigen Rundung der Fahrerkugel tauchte jenseits der Straße ein sehr merkwürdig aussehendes Bauwerk auf. Eine Ansammlung kantiger Mauern, vielleicht dreißig Meter hoch und zweihun­dert Meter breit.

»Ist das dein Lettro?« fragte Koy ein we­nig verblüfft.

Wieder heulten die Maschinen des Truv­mers auf und schleuderten das Kettenfahr­zeug förmlich vorwärts. Heimdall stieß brül­lend eine furchtbare Verwünschung aus. Kurz vor dem Rand der Straße hielt er den Truvmer hart an, klappte das Visier hoch und schwang sich aus dem Fahrersitz. Er schloß den Halteriemen seines Helmes und packte die Khylda. Dann rannte er auf den Eingang in der riesigen Mauer zu.

Koy blickte den bunkerähnlichen Bau an, aber er sah nichts, das Heimdall hätte war­nen können. Es mußte ein unsichtbares Zei­chen sein. Heimdall rannte mit riesigen Schritten geradeaus, überquerte die Straße und näherte sich dem Zentrum der roten Mauern.

3.

Koy der Trommler packte seine Feuerlan­ze und kletterte schnell aus der Kugelkanzel. Als er sich umdrehte, sah er noch immer keinen Gegner für Heimdall. Aber der Sohn Odins stapfte mit entschlossenen Schritten auf das Tor zu.

Das Lettro war ein rechteckiges, schachte­

lähnliches Gehäuse. Es wirkte uneinnehm­bar. Ob die Steinblöcke, aus denen es erbaut war, rot waren oder nur rot angestrichen, konnte Koy nicht entscheiden. Die äußerste Mauer mit dem wuchtigen Tor war etwa dreißig Schritt jenseits des Straßenrands. Die seitlichen Mauern hatten dieselbe Höhe, schienen aber nur rund hundert oder einige Meter mehr lang zu sein. Niemand zeigte sich auf den Zinnen oder auf dem Dach. Das Verhalten Heimdalls war rätselhaft. Nichts und niemand belagerte das Tor, nichts war zu erkennen. Heimdall drehte sich kurz her­um, als ihn Koy fast eingeholt hatte. Der Trommler schwenkte seine Feuerlanze.

»Ich spüre es. Sie sind wieder da!« grollte Heimdall und deutete mit dem linken Arm zurück zum Truvmer.

»Wer ist da? Gespenster?« Die dunklen Augen sandten ihm einen ab­

lehnenden Blick. »Geh zurück. Ich verteidige das Lettro

selbst. Es ist nicht dein Kampf, Koy!« Koy ging näher und blickte den Riesen

kopfschüttelnd an. Er hörte das feine Sum­men aus dem langen Schaft der Khylda.

»Ich helfe dir. Aber da ist niemand? Ich kann keinen Gegner sehen!«

»Ich weiß, daß sie da sind. Zurück!« Dro­hend hob Heimdall die Khylda. Koy sah ein, daß es klüger war, der Aufforderung Folge zu leisten. Er zuckte seine massigen Schul­tern und blieb stehen, ging dann einige Schritte zurück. Wieder einmal kämpften zwei verschiedene Überzeugungen in ihm. Einerseits ging ihn das, was hier passierte, nichts an, andererseits gebot es eine eiserne Regel, einem Weggefährten im Kampf bei­zustehen. Aber die Ablehnung Heimdalls war deutlich.

Koy blieb zehn Schritt vor dem Truvmer stehen. Die Motoren des Fahrzeugs arbeite­ten leise im Leerlauf. Der Jäger stützte sich auf die Feuerlanze und schaute, immer unru­higer werdend, hinüber zu dem wuchtigen Tor. Es schienen Doppelflügel aus metallbe­schlagenen Bohlen zu sein, die sich nach in­nen öffneten.

16

Auf den letzten Metern verwandelte sich Heimdalls hastiges Vorwärtsstürzen in zö­gernde Schritte. Er faßte seine gewaltige Streitaxt fester und hob sie, dann versuchte er, das Tor zu öffnen. Es gab also einen Me­chanismus, der Koys scharfen Augen bisher verborgen geblieben war.

Als sich ein winziger Spalt zwischen den Flügeln öffnete, bröckelte oberhalb des To-res ein Stück scheinbar massiver Stein aus­einander. Ein riesiger Balken hob sich blitz­schnell aus der geheimen Öffnung, über­schlug sich halb in der Luft und krachte mit einem Ende zu Boden. Das andere Ende traf Heimdall zwischen Helm und Schuppenpan­zer im Nacken, schleuderte ihn gegen das Gefüge des Tores und wieder nach links zu­rück. Das Stöhnen Heimdalls mischte sich mit dem Geräusch des Aufprallens. Lang­sam hob Koy die Feuerlanze, er dachte an die tödliche Wirkung seiner Broins, dann er­starrte er wieder.

Heimdall lag am Boden und bewegte sich schwach. Seine Hand umklammerte noch immer den Schaft der Waffe.

Beide Waffen, die Koy hätte einsetzen können, würden Heimdall ebenso gefährden wie seine noch immer unsichtbaren Gegner. Mit zwei Sätzen war Koy am Truvmer und kletterte in die gläserne Kugel.

Das Tor wurde weit aufgerissen. Eine Gruppe von Gestalten war in der hel­

len Öffnung zu sehen. Sie machten einen seltsam unkörperlichen Eindruck, als wären sie halb durchsichtig. Wer immer sie waren, jedenfalls umringten sie Heimdall und schickten sich an, ihn hochzuheben und wegzuzerren. Gerade, als Koy die Fahrthe­bel betätigte, sah er, daß Heimdall den Kopf hob und mühsame Anstalten machte, sich zu wehren. Aber wieder sackte er zusammen und rührte sich nicht, während die schatten­haften, nebligen Gestalten an ihm schoben und zerrten.

Sie achteten nicht darauf, daß der Truv­mer sich näherte.

Koy hatte sich entschlossen, zu handeln. Konzentriert steuerte er den Truvmer gera-

Hans Kneifel

deaus und auf das Tor zu. Er hob die Lanze, schob sie nach vorn und feuerte, als er zehn Meter vor der Öffnung war. Zwischen den Mauern erschien eine kochende, brodelnde Wolke, aus der Flammen nach allen Seiten zuckten. Wieder stemmte sich Heimdall mühsam hoch.

»Aufspringen!« schrie Koy, so laut er konnte. Gleichzeitig drückte er auf einen dicken Knopf vor sich. Der Truvmer gab ein kreischendes, heulendes Geräusch von sich. Die nebelhaften, Gestalten wurden aus der Nähe noch undeutlicher und ließen keinerlei Körperformen erkennen. Heimdall stützte sich vom Boden ab, stierte mit weit offenem Mund den Truvmer an und schien mühsam zu begreifen, was er zu tun hatte. Während die beiden Raupenketten mahlend wieder einsetzten, schob sich die Kugel mit dem Tragegestänge genau über Heimdalls Kör­per. Er raffte sich auf, sein Bewußtsein schi­en für einen Moment wiederzukommen. Entschlossen hob Koy den Hebel vorwärts, die wuchtige Maschine machte einen Satz und passierte zur Hälfte den Tordurchgang. Die Schatten sprangen lautlos nach allen Seiten auseinander, wurden aber nicht we­senhafter. Heimdall klammerte sich, ohne seine Waffe loszulassen, an das Gestänge. Unbeirrbar steuerte Koy weiter. Die beiden Ketten trafen mit einem schweren Krachen gleichzeitig auf die Mauer; das Tor war nicht breit genug, um den Truvmer durchzu­lassen.

Heimdall ließ nicht los, als Koy die Ket­ten schneller rasen ließ. Mauerbrocken flo­gen nach allen Seiten. Der Stahl erzeugte auf den Steintrümmern ein gräßliches Geräusch, von oben prasselte Schutt auf die Kuppel und das Metall des Laderaums. Dann kipp­ten nacheinander mehrere Blöcke auseinan­der. Zwei breite Öffnungen entstanden, wäh­rend sich die Ketten und die Antriebsele­mente durch die steinernen Torpfosten hin­durcharbeiteten. Wieder faßten die Glieder, schleuderten das Fahrzeug vorwärts und ras­selten mit ihm in einen geräumigen Innenhof hinein.

17 Der Jäger und der Göttersohn

Irgendwo vor sich sah Koy ein zweites Tor. Heimdall ließ sich aus dem Gestänge fallen und torkelte genau auf dieses Tor zu. Sofort schaltete Koy die Maschine aus und schnellte sich aus der Kanzel.

Er packte Heimdall am Gürtel und half ihm, auf eine Art Seitengang zu taumeln, der zu diesem Tor führte. Heimdall öffnete die Tür, fiel in den dahinterliegenden Raum hin­ein und verlor die Khylda, die klappernd über einen Steinboden schleuderte. Koy wir­belte herum und schlug donnernd das Portal zu.

Er fand das Schloß und einige zusätzliche Riegel, die stark und wuchtig wirkten. Er verschloß die Pforte und lief zu Heimdall.

Der riesige Mann lag mit bleichem Ge­sicht auf dem Rücken. Er streckte Arme und Beine aus und wirkte wie tot. Schnell gingen Koys Blicke durch den mittelgroßen Raum. Er entdeckte einige Bänke und Tische und lief suchend die Wände entlang. Dann fand er einen Krug, der Wasser enthielt, und eini­ge leidlich saubere Tücher.

Koy hastete zurück, löste die massive Schnalle des Helmes und streifte den Helm behutsam ab. Heimdall stieß ein langgezoge­nes Ächzen aus und zuckte mehrmals. Koy warf ein Tuch ins Wasser und wischte damit das Gesicht des Mannes ab. Den Rest des Wassers goß er in das Gesicht Heimdalls.

Der Körper entspannte sich. Dann öffnete Heimdall die Augen und sagte flüsternd:

»Danke. Es geht schon wieder.« Der Trommler stützte den Oberkörper des

Kämpfers. Die Situation wurde immer rät­selhafter.

»Damit du es weißt, Heimdall. Wir sind sicher innerhalb deiner Burg. Hierher kom­men deine seltsamen Feinde nicht.«

»Du irrst.« Heimdall nahm das Tuch, legte es sich in

den Nacken und kam mit Koys Hilfe auf die Beine. Noch stand er schwankend, aber mit jedem weiteren Schritt erholte er sich ein wenig mehr.

»Kröbel! Was haben sie … mit Kröbel gemacht?« keuchte er.

»Keine Ahnung. Wer oder was ist Krö­bel?«

»Mein Freund. Wir müssen ihn suchen. Sie haben ihn vielleicht schon verschleppt …«

Koy ging wortlos zu der Stelle, an der die Streitaxt lag, hob sie auf und staunte über das Gewicht der Waffe. In ihrem Schaft summte es noch immer.

»Hier. Suchen wir also deinen Freund.« »Danke.« Koy nahm die Feuerlanze und ging hinter

Heimdall her, der sich immer wieder gegen eine Mauer lehnte oder innehielt, bis er die nächste Tür geöffnet hatte. Der rote Bunker war, diesen Eindruck bekam Koy der Trommler bald, eine einzige Baumasse mit einem Innenhof. Wuchtig wie ein Block, viereckig und in kalter, barbarischer Pracht, reihte sich Raum an Raum. Weiträumige Hallen taten sich auf, angefüllt mit klobigen Möbeln. Für Koy waren sie alle viel zu groß, aber Heimdall mochte sich wohlfühlen.

Dann folgte ein Korridor voller rechtecki­ger Spiegel. Kantige Fenster, die wie Schießscharten wirkten, gingen teilweise in eine andere Halle, teilweise in den Hof hin­aus. Der gedrungene, kleine Jäger grinste mehrmals anerkennend, was die tausend Fältchen in seinem braunen Gesicht verviel­fachte.

»Du lebst hier allein, Heimdall?« rief er. In der weitläufigen Halle erzeugte seine Stimme ein Echo. Gebannt staunte er einen riesigen, radförmigen Leuchter an, der an silbernen Ketten von der Decke hing.

»Nein«, rief Heimdall von der anderen Seite des Raumes her. »Zusammen mit dem Magier.«

»Mit Kröbel?« »Ja. Hörst du ihn nicht?« »Ich höre nichts, obwohl ich mich an­

strenge, etwas zu hören«, entgegnete Koy. Je länger sie suchten, desto unbehaglicher

und merkwürdiger schienen die Räume in­nerhalb des Lettro zu werden. Fast überall lag auf den Platten mehr oder weniger dick der Staub. Der gesamte Prunk wirkte alt und

18

wurmstichig. In den Ecken hingen große Spinnweben. Nachts, wenn nur wenige Lampen brannten, mochte eine Spur von Gemütlichkeit aufkommen, aber das helle Licht enthüllte schonungslos das Aussehen dieser Räume.

Irgendwie spiegelten sie Heimdalls seltsa­men Charakter deutlich wider. Zwei Männer allein in diesem riesenhaften Bauwerk – ein Wunder eigentlich, daß noch nicht alles in Nachlässigkeit und Schmutz erstickt war.

Türen öffneten und schlossen sich knar­rend. Heimdall und der Jäger stiegen Trep­pen aufwärts und abwärts. Aber es gab keine Geräusche in den angrenzenden Räumen, keine Spuren und nichts, das auf einen Kampf hätte schließen lassen.

»Kröbel! Wo bist du?« Jetzt standen sie nebeneinander auf einem

Treppenabsatz. Sie sahen hinunter in einen Korridor, der mehrere Verbindungen zum Innenhof hatte, auf seiner anderen Seite zweigten abermals Gänge und Türen ab.

Heimdall hatte laut gerufen. Seine Stim­me hallte, und dann gab es eine undeutliche Antwort. Es war ein dünnes Ächzen, das von überall herkommen konnte. Aufgeregt stieß Heimdall hervor:

»Er ist hier. Sie haben Kröbel nicht ver­schleppt!«

»Wen meinst du eigentlich immer mit ›sie‹? Wer sind sie?« rief Koy laut. »Wer sind deine Feinde?«

Ohne zu antworten, stürzte Heimdall die Treppe hinunter und rannte auf die erste Tür zu. Jetzt schien er erst zu merken, daß er einen feuchten Lappen im Genick hatte, sah das Tuch verständnislos an und schleuderte es gegen die nächste Wand. Etwas langsa­mer folgte Koy der Trommler, der sich ge­wissenhaft umsah und versuchte, die Rich­tung festzustellen, aus der jener ächzende Laut gekommen war.

Der lange Korridor bestand aus weißen Steinplatten, einem schwarzen Steinboden und aus wuchtigen hölzernen Querbalken, die unendlich alt sein mußten. Die Decken­streifen zwischen ihnen waren einst weiß ge-

Hans Kneifel

wesen, jetzt waren sie grau und stockfleckig. Die Kanten der Steintreppe waren durch den Gebrauch völlig rund abgetreten worden; Koy rutschte zweimal aus und stürzte jedes­mal beinahe. Krachend warf Heimdall die Türen der Räume zu, in die er hineingesehen hatte. Schließlich rannte er in die linke, hin­terste Ecke des langen Ganges und schmet­terte dort eine schwere Tür gegen die Wand. Der Lärm erzeugte harte Echos. Koy war, als Heimdall aufschrie, gerade an der offe­nen Tür.

»Hier bist du! Was haben sie mit dir ge­macht!« schrie Heimdall auf.

Eine Szene, die den Reigen der Merkwür­digkeiten noch verstärkte, breitete sich vor Koy aus. Er wußte nicht genau, ob er lachen oder sich ärgern sollte. Sie befanden sich eindeutig in einem Wirtschaftsraum des Bauwerks, der halb Vorratskammer, halb Küche war – oder eine ähnliche Funktion er­füllte.

Dicht unter der Decke verlief eine Reihe von Fenstern, deren Glas schon lange zer­stört war. Vögel flatterten von dort auf, flo­hen hinaus in die Umgebung oder schwirrten unter den Balken hin und her. An Ketten und Seilen hingen lange, altersschwarze Bretter, auf denen sich runde, gelbe Dinge stapelten. Töpfe und Krüge standen darauf und in gemauerten Regalen. Zwischen Ti­schen, die von Eßwaren und schmutzigem Geschirr starrten, standen Fässer und Säcke.

Aus einem der fast eineinhalb Meter ho­hen Fässer sah ein erstaunlicher Kopf her­vor.

Ein bleiches, mageres Gesicht mit bren­nenden Augen. Ein blaues Tuch war als Knebel verwendet worden. Tiefe Kerben und eingefallene Züge, strähniges und schmutziges Haar, dessen Farbe ein merk­würdiges rotblond war. Aufgeregt zitterte ein grauer, rotgefleckter Kinnbart, als Heim­dall in das Faß griff und den kleinen Mann mühelos hervorhob. Der Mann – es mußte wohl jener Kröbel sein – strampelte aufge­regt mit seinen Beinen, die in schwarzen Stiefeln steckten. Mit einem Griff zum Gür­

19 Der Jäger und der Göttersohn

tel zog Heimdall sein Messer und schnitt die Fesseln auf. Dann knotete er den Knebel auf. Der Mann war noch ein paar Fingerbreit kleiner als Koy, aber gegen ihn wirkte der gedrungene, massige Jäger wie das Faß, in dem Kröbel gesteckt hatte.

Kaum fiel das Tuch zu Boden, holte Krö­bel tief Luft und begann mit keifender Stim­me zu zetern.

»Wenn du ein einzigesmal pünktlich ge­wesen wärst, dann würden wir anders daste­hen, Heimdall!«

In diesem Raum roch es mindestens nach zwanzig verschiedenen Nahrungsmitteln, die langsam verdarben oder schon verdorben waren. Jeder Geruch für sich war unange­nehm, zusammen ergab dies einen abscheu­lichen Gestank.

»Aber ich wurde aufgehalten. Flußpiraten stellten mir eine Falle und ließen …«

»Du hast jedesmal eine andere Ausrede. Ich bin ein Magier, einer der besten, die es je geben wird, aber die Teufel von Gordy überfielen mich, während ich skullmanente Praktiken studierte.«

»Jetzt bist du frei«, sagte Heimdall. Koy konnte nicht sagen, ob sich der riesige Mann wirklich schämte, oder ob er gegenüber dem mageren Zwerg hier einen ausgeprägten Be­schützerinstinkt hatte.

»In ein Butterfaß haben sie mich gesteckt. Ich konnte ihnen nicht einmal einen Bann­fluch hinterherschicken.«

Die einteilige Kombination des Kröbel war mit Symbolen bestickt, die nach Koys Auffassung magisch sein sollten. Auch der Umhang war wie alles übrige, eingeschlos­sen die langen Fingernägel, schwarz.

»Wir werden sie in die Flucht treiben!« versprach Heimdall. »Mich haben sie nie­dergeschlagen. Mit einem Steinquader.«

Koy verbesserte ruhig: »Mit dem Ende eines zwölf Meter langen

Balkens, der dich in den Nacken traf, Heim­dall.«

Heimdall zuckte die Schultern, was ihm Schmerzen zu bereiten schien, dann verzog er das Gesicht.

»Siehst du! Das ist immer so. Sie warten den besten Moment ab, dann schlagen sie zu. Es sind richtige Stadtteufel, diese Gordys!«

»Ich weiß. Wir sind hungrig. Das ist Koy der Trommler. Er half mir, die Kette zu re­parieren!«

Koy hob seine Feuerlanze und lächelte breit. Das Männlein starrte ihn in offenem Mißtrauen an.

»Einer aus Donkmoon?« »Nein. Koy der Jäger«, erklärte Koy ru­

hig. »Und nebenbei habe ich verhindert, daß Heimdall von irgendwelchen kaum sichtba­ren Gestalten verschleppt wurde. Sind das die Gordys?«

Heimdall schüttelte den Kopf und stöhnte dabei.

»Nein. Ihre Werkzeuge. Ich mag sie nicht.«

»Wen magst du schon?« setzte Koy dage­gen. »Kröbel, wenn du Magier bist, dann kannst du sicherlich die Torpfosten draußen reparieren und die Gordy-Werkzeuge ver­treiben. Außerdem bin ich sicher, daß zwei Männer in diesem Raum hungrig sind.«

»Ich bin kein Koch!« fuhr Kröbel krei­schend auf. »Ich bin der größte lebende skullmanente Magier.«

»Was bedeutet skullmanent?« erkundigte sich der Trommler noch immer freundlich und höflich. Das Bizarre an der Situation verhinderte, daß er sich ernsthaft zu ärgern begann. Heimdall stampfte an ein halbblin­des Fenster und blickte hinaus in den Innen­hof. Dort stand der Truvmer, aber sonst schien nichts den Göttersohn zu beunruhi­gen.

Die keifende Stimme senkte sich zu ei­nem geheimnisvollen Flüstern, das mehr ein abgehacktes Pfeifen war.

»Skullmanent ist die größte der erreichba­ren magischen Wissenschaften. Es ist die Steigerung aller Fähigkeiten. Wunderbarer kann es nicht mehr gesteigert werden. Das ist skullmanent. Großartig, einmalig, exzep­tionell und überzeugend. Der Triumph magi­scher Einsicht über lebende und tote Mate­

20

rie. Einfach alles: Das ist skullmanent.« »Verblüffend!« erwiderte Koy, nur mäßig

beeindruckt. »Und wo bleiben die Proben deines Könnens?«

»Wegen eines dicken Mannes mit wei­chen Hörnern auf der Stirn werde ich mich wohl in Stücke reißen!« antwortete Kröbel wegwerfend und näherte sich einem steiner­nen Behälter, der halbvoll Wasser war. Er steckte die Hände in das Wasser und sah von Heimdall zu Koy.

»Drüben ist Essen. Genug für eine Horde solcher klobiger Riesen wie Heimdall. Es wird auch noch für dich reichen, obwohl du aussiehst wie der Große Fresser aller Din­ge.«

»Vielleicht«, wagte Koy laut zu sagen, »solltest du ein wenig mehr essen, um die Wirkung deiner skullmanenten Wissenschaft zu verstärken. Wenn ich euch richtig ver­standen habe, dann wird dies nötig werden.«

Heimdall ging an Koy vorbei und öffnete eine etwas kleinere Tür. Der Trommler sah im Nebenraum einen gedeckten Tisch, der einen ziemlich einladenden Eindruck mach­te. Im Vorbeigehen sagte Heimdall:

»Du mußt wissen, daß Kröbel unter den berühmten Magiern in der Großen Barriere von Oth lebte.«

Und wahrscheinlich haben sie diesen an­geberischen Wichtigtuer mit Schimpf und Schande davongejagt, dachte Koy belustigt. Wenn es richtige Magier waren, dann bot sich dieser Ausweg an.

Noch immer hielt Kröbel seine Hände in den Wasserbottich und grinste Koy heraus­fordernd an.

»Ich bin auf der Straße der Mächtigen ge­pilgert, um Bescheidenheit, Ruhe und Be­dürfnislosigkeit zu lernen, die wichtigsten Tugenden eines Magiers!«

»Was dir, wie leicht zu erkennen ist, auch gelang!« bestätigte Koy der Trommler sar­kastisch, was den Magier nicht sonderlich zu berühren schien. Vermutlich entbehrte er, wie die meisten Bewohner Pthors, des Sin­nes für Ironie.

»Richtig. Zwischen Zbohr und Donk-

Hans Kneifel

moon stießen wir – ich und mein skullma­nentes Talent – auf Heimdall. Schnell wur­den wir zu echten Freunden.«

Er nahm eine Hand aus dem Wasser, auf dessen Oberfläche sich leichte Dampfwol­ken zu kräuseln begannen, dann winkte er mit knochigem Zeigefinger dem Jäger.

Heimdall wird ihn aufgelesen und Mitleid mit ihm bekommen haben. Seither leben sie hier, weil Heimdall jemanden braucht, dem er zeigen kann, daß er schlechte Laune hat. Sonst würde sie sinnlos, mangels Publikum. Und doch, durchfuhr es Koy, kommt er zu den armen Berserkernachfahren und bringt ihnen unaufgefordert Nahrungsmittel und Gebrauchsartikel. Seltsam.

Er trat an den Bottich und sah hinein. Per­len stiegen an die Wasseroberfläche und platzten, ein Zeichen, daß das Wasser bald zu kochen anfangen würde.

»Ich reinige meine Hände. Und was ge­schieht?« rief meckernd der kleine Mann, während Heimdall nebenan mit Geschirr und Besteck klapperte.

»Was geschieht? Die Hände werden sau­berer. Ein großes Wunder!« sagte Koy höh­nisch.

»Nichts da. Faß hinein, du vorwitziger Musikant.«

Koy verzichtete darauf, dem klugen Ma­gier zu erklären, daß seine beiden Broins keineswegs etwas mit Tanzmusik zu tun hat­ten. Er steckte einen Finger in das Wasser und zog ihn sofort wieder heraus. Das Was­ser war kochend heiß.

»Und was geschieht?« krähte triumphie­rend Kröbel und sprang von einem Bein zum anderen.

»Das Wasser wird warm«, rief Koy. »Das Wasser kocht! Du bist derselbe

Ignorant wie Heimdall. Siehst du?« Tatsächlich kochte das Wasser. Koy

bückte sich und suchte nach einer versteck­ten Hitzequelle, aber er sah nichts anderes als einen wuchtigen Holztisch, auf dem der Bottich stand. Er war zweifellos heiß, und ebenso zweifellos kochte das Wasser. Koy wußte nun nichts mehr, als daß der Magier

21 Der Jäger und der Göttersohn

tatsächlich eine einzige magische Wissen­schaft beherrschte, nämlich das Erhitzen ei­ner kleineren Menge Wasser mit den Hän­den. Kröbel trocknete seine Finger an sei­nem schwarzen Umhang ab und deutete ge­radeaus.

»Dorthin. Und nach dem kurzen Imbiß werden wir es Ihnen zeigen! Sie haben mich brüskiert und beleidigt. Mich, Kröbel, zu be­leidigen. Ich schwöre Ihnen ewige Rache und baldige Vernichtung.«

»Nach dem Essen!« bestätigte Koy. Kröbel hüpfte voran, Koy folgte ihm. Der

angrenzende Raum war ein wenig kleiner und auch sauberer. Er hatte ein breites, offe­nes Fenster, das in den Innenhof zeigte. Dort war nichts Feindseliges zu beobachten, wie sich Koy schnell vergewisserte. Heimdall hatte auf rührendunbeholfene Weise den Tisch gedeckt. Die Nahrungsmittel waren ebenso barbarisch wie das wuchtige Ge­schirr und die restliche Umgebung: riesige Schinken, Humpen mit schäumendem Bier, halbe Früchte mit schwarzen Kernen, eine Schale voll gebratener Geflügelteile, ein Ke­gel gelber Butter. Die Messer sahen aus wie Dolche, die Gabeln wie Mordinstrumente. Koy setzte sich in einen hölzernen Stuhl, der eine Nacht lang einen großen Kamin hätte heizen können.

Schweigend aßen sie. Hin und wieder setzte Heimdall den Ton­

becher an die Lippen und trank saure Milch, dann wieder das schwarze Bier. Dicke Scheiben des fetten Schinkens und wuchtige Brotkanten, dick mit Butter beschmiert, ver­schwanden in beängstigendem Tempo. Selbst der Magier verschlang staunenswerte Mengen. Als Koy satt war, trank er einen Schluck Bier und lehnte sich zurück.

Etwas weniger ruppig erkundigte sich Heimdall jetzt:

»Die Herren der FESTUNG, also? Sie su­chen Fremde von … draußen? Und du sollst sie fangen?«

»Um sie zu fangen, müßte ich erst einmal wissen, wer sie sind und wo ich sie finden kann. Aber da ich keine Verbindung mehr

mit ihnen habe, werde ich meine Mutter Dagrissa suchen. Ich glaube, meine Jagdlust ist wieder erwacht, und dies ist immer ein gutes Zeichen.«

Kröbel starrte ihn an und zwinkerte dann mehrmals.

»Ich habe die Aktivitäten der Gordys für einige Zeit unterbunden. Wenn wir uns stark und satt fühlen, werde ich wieder eingreifen. Dann spüren wir sie auf, und schon bald werden sie sich wünschen, dem Lettro fern­geblieben zu sein!« erläuterte mit grenzenlos überlegener Miene der Magier.

»Darf ich dieses Mal helfen?« fragte Koy ruhig den schwarzbärtigen Sohn Odins. Als Heimdall den Mund zur Antwort öffnete, er­schütterte übergangslos eine kurze Reihe schwerer Schwankungen und Vibrationen den Bunker. Sämtliche Gegenstände beweg­ten sich. Klirren, Bersten, Krachen und Pol­tern mischte sich in den dröhnenden Schrei, den Heimdall in äußerster Wut ausstieß.

»Sie sind eingedrungen! Der Saal des Schatzes ist in Gefahr. Jetzt müssen wir kämpfen!«

Er raffte sein Kampfbeil an sich und winkte Koy. Der Trommler hatte eine ande­re Antwort erwartet, aber dies war ein eben­so deutliches Signal. Die Merkwürdigkeiten rissen nicht ab. Die Gordys schienen zuge­schlagen zu haben – vielleicht hatte einer von ihnen die Drohung des Magiers gehört.

Koy der Trommler fürchtete sich nicht vor schattenhaften Gespenstern, aber er war brennend neugierig, was er im Saal des Schatzes vorfinden würde.

4.

Heimdall riß eine andere Tür auf und stürmte mit langen Sätzen eine schmale, dunkle Treppe hinunter. Koy der Trommler folgte ihm auf den Fersen. Irgendwo hinter ihm keifte der Magier. Koys Stiefel rutsch­ten auf den schlüpfrigen Stufen aus, aber er bewegte sich schnell und sicher. Heimdall wußte, in welche Richtung er rannte. Nach zwanzig Stufen riß die Treppe ab und mün­

22

dete in einen schmalen Gang. Dieser Teil der Anlage schien noch älter als alles andere zu sein, denn die Farbe und der grünliche Belag der Mauerquadern, der stechende Ge­ruch und die Feuchtigkeit ließen keinen an­deren Schluß zu. Heimdall war hier zu Hau­se und rannte wie ein Rasender schweigend geradeaus.

Dicke, verkrustete Kabel waren mit rosti­gen Klemmen im Stein befestigt und ende­ten immer wieder in schmutzigen Lampen, die eine trübe Helligkeit warfen.

»He, Heimdall«, schrie der Jäger. »Nicht so schnell!«

Der Boden bestand aus gebranntem Lehm und war leidlich sauber, so daß sowohl der Sohn Odins als auch Koy der Trommler gut und schnell vorwärts kamen. Der Weg zum Schatzsaal führte zunächst eine Strecke lang geradeaus, dann mündete er in ein simples Labyrinth aus lauter rechteckigen Abzwei­gungen.

Koy wußte, daß er einen Teil seiner Er­fahrungen vorübergehend vergessen oder ignorieren mußte. Hier befand er sich in ei­ner Umgebung, die für ihn neu und teilweise wirklich unerklärlich war. Koy, der darunter litt, daß er über seine persönliche Geschichte zu viel Erzählungen Dritter kannte und zu­wenig Fakten hatte, der ziemlich genau über die Kräfte Bescheid wußte, die an seiner Seele zerrten, und zwar in verschiedene Richtungen, hatte im Moment keine Mög­lichkeit, dies alles zu vergessen. Er befand sich in einer Phase, in der er auf alles nur reagieren konnte. Bewußtes und geplantes Handeln wie bei fast allen bisherigen Jagden war ihm unmöglich gemacht. Darüber hin­aus entwickelte er ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit von Befehlen, die aus der FE­STUNG kamen.

»Du mußt wissen, Koy, daß die wertvoll­sten …«, schrie Heimdall, der seinen Magier inzwischen völlig vergessen zu haben schi­en. Da er um die nächste Ecke bog, verstand Koy die folgenden Worte nicht mehr deut­lich. Für ihn war es eine Folge unidentifi­zierbarer Töne. Er versuchte, etwas schnel-

Hans Kneifel

ler zu rennen, aber die häufigen Richtungs­wechsel machten dies unmöglich.

»… alle möglichen Schätze zusammenge­tragen. Es sind Stücke aus einer Zeit, die längst vergangen …«

Entweder liefen sie im Kreis, oder die un­terirdischen Korridore führten ganz bewußt zu einem bestimmten Raum. Koy wußte, daß es für ihn keine andere Möglichkeit gab, als bedingungslos Heimdall zu folgen. Er hatte sich ihm freiwillig angeschlossen – jetzt konnte er nicht mehr zurück. Ein Ge­fühl der Unsicherheit und deutlich kommen-der Gefahren tobte in seinem Verstand und seinen Eingeweiden. Dennoch rannte er hin­ter dem Riesen her und sah weit vor sich ei­ne vage Helligkeit. Der Korridor schien dort aufzuhören und entweder in einen hellen Raum oder ins Freie zu münden.

»… auch ich habe den Schatz zusammen­getragen. Aber der Besitz ist ein Risiko.«

Die letzten Worte Heimdalls schlugen an Koys Ohren. Die vielen rechten Winkel hör­ten jetzt auf; der schmale Gang mündete in eine flache, aufwärtsführende Rampe. Nicht nur die Lichtverhältnisse änderten sich, son­dern auch der Geruch wechselte. Jetzt roch es nicht mehr nach Feuchtigkeit und wu­chernden Moosen, sondern wieder nach dem Inhalt eines Raumes, der eine Ewigkeit lang nicht gelüftet, geputzt und instandgesetzt worden war. Es roch nach der Vergangen­heit. Zehn Schritte hinter Heimdall rannte Koy die Schräge aufwärts, schaltete die Si­cherung seiner Feuerlanze aus und sprang schließlich aus dem tiefgelegenen Hallenein­gang auf den Boden eines riesigen Raumes, der weder im Dunkel noch in gleißender Helligkeit lag.

Der Fußboden befand sich eine Manns­länge tiefer als die Böden der Räume, die Koy bisher kennengelernt hatte.

Er bestand aus einem Gemisch; selten hat­te Koy solche Kostbarkeiten gesehen. Schon mit dem ersten, schnellen Rundblick stellte er dies fest. Das Gemisch bedeutete in die­sem Fall, daß sich weiße, hochglänzende Fliesen mit solchen abwechselten, die aus

23 Der Jäger und der Göttersohn

Edelmetallen und wertvollen Steinen zusam­mengesetzt und mit einer durchsichtigen Glasur versehen waren. Die Halle war gewiß nicht viel kleiner als sechzig zu sechzig Me­ter. Ihr tiefster Punkt befand sich an der Stelle, an der Heimdall und Koy standen. In einzelnen Stufen, jeweils etwa einen halben Meter höher und mehrere Meter breit, er­streckten sich Rampen mehr oder weniger rechteckig nach oben. Auf jeder Rampe oder auf mehreren gleichzeitig befanden sich Sockel, die aus Halbedelsteinen geschliffen oder mit kostbaren, wenn auch staubigen Stoffen bezogen waren.

»Der Saal meiner Schätze!« sagte Heim­dall leise und grimmig. »Aber ich sehe keine Kreaturen der Gordys.«

»Und ich verstehe rein gar nichts«, pflich­tete ihm Koy bei. Langsam sah er sich um und bewunderte uneingeschränkt die wahllo­se Zusammenstellung barbarischer Prunkge­genstände. Alles, woran so ziemlich jedes lebende Wesen dachte, wenn es sich ein Mu­seum wertvollster Gegenstände vorstellte, war hier vorhanden – und dazu kam, daß dies alles ausnahmslos von unbekanntem Alter war.

»Ich lebe für diese Schatzkammer«, brummte Heimdall und sprang mit mühelo­sen Sätzen die Rampen aufwärts. Seine Stimme hallte von den weißen Wänden zu­rück, seine Schritte klangen auf den kostba­ren Fliesen. Koys Blicke fielen nach weni­gen Sekunden auf ein Gestell, das aus hun­derten kurzer Stahlrohrstücke bestand, die durch kugelartige Elemente zusammenge­fügt waren und einen Viertelkreis bildeten. Koy erstarrte, als er begriff, was er hier ei­gentlich sah. Schlagartig vergaß er die Ge­fährdung durch die Kreaturen der Gordys und kletterte näher an das Gerüst aus gold­schimmerndem Gestänge heran.

»Diese Bruchstücke …« flüsterte er ge­bannt. Er wußte, was er vor sich sah. In dem Gerüst waren mehrere Dutzend verschieden große Bruchstücke mit klauenartigen Klem­men eingefaßt wie Edelsteine in einem Schmuckband.

Dunkelgrau, metallisch, hart und brüchig wirkten die völlig willkürlich zerbrochenen Teile. Einige von ihnen waren mit ihren Bruchrändern zusammengefügt, und die Zei­chen und Buchstaben liefen ineinander über.

»Parraxynth-Bruchstücke!« sagte Koy laut. »Noch nie habe ich gehört, daß ein ein­zelner Mann so viele Bruchstücke besitzt. Und gesehen habe ich natürlich auch immer nur das eine oder andere.«

Heimdall unterbrach seinen unruhigen Lauf durch das Museum und rief:

»Dieser unermeßlich wertvolle Schatz ist von meinem Vater, und zum Teil habe ich die Stücke gesucht und gefunden und hier befestigt.«

»Wenn du lange genug lebst und weiter suchst«, rief Koy ehrlich verwundert, »dann könntest du eines fernen Tages das Geheim­nis von Pthor lösen?«

»Ich beabsichtige, beides zu tun.« Das Gerüst, dessen tragende Elemente mit

dem Boden fest verbunden waren, hatte eine Länge von etwa zehn Metern und eine Höhe von drei Metern. Die Anordnung der Parra­xynth-Bruchstücke schien bis auf wenige Ausnahmen willkürlich zu sein, aber Koy erkannte, daß Heimdall oder sein Vater oder beide versucht hatten, diejenigen Teile ne­beneinander anzuordnen, die so aussahen, als gehörten sie zusammen und an genau diesen Platz. In einigen Fällen war dies ge­glückt, in fast allen anderen nicht. Es gab of­fensichtlich kein erkennbares System. Auch jetzt empfand Koy genau das gleiche Gefühl wie jene, die ihm davon berichtet hatten: Al­le diese verschiedenen großen Stücke waren nichts als Bruchstücke, die irgendwann ent­standen waren. Etwas oder jemand hatte die­se große Tafel auseinandergeschlagen oder in Fetzen zerspringen lassen. Und – Koy glaubte daran, daß an dem Tag, an dem alle Bruchstücke vorhanden waren und in sinn­vollen Bezug zueinander gebracht werden konnten, Pthors Geheimnisse gelöst waren.

Koys Blick irrte ab und heftete sich auf die anderen Gegenstände dieser Schatzkam­mer. Waffen und Bilder, völlig unverständli­

24

che Fundgegenstände, steinerne und metal­lene Zeugen einer längst vergessenen Ver­gangenheit, dies alles war auf Sockeln, an Wandmontagen, in gläsernen Kuben, die von der Decke herunterhingen und auf ge­meißelten Säulenstümpfen standen. Koy kletterte einige Stufen höher hinauf und rief:

»Wenn es jemanden gäbe, der mir erklärt, was alle diese kostbaren und funkelnden Ge­genstände bedeuten, wäre ich klüger.«

»Ich kann es nicht«, antwortete Heimdall, der mit der summenden Streitaxt in beiden Händen unruhig entlang der Wände rannte. Sie verständigten sich, indem sie fast schri­en.

»Aber du bist der Besitzer dieser Kostbar­keiten!«

»Ich habe mehr damit zu tun, sie gegen andere zu verteidigen. Kann mich nicht um Historien kümmern.«

»Wer will hier eindringen und stehlen? Was sind die Gordys?«

»Eine Familie«, brüllte Heimdall wütend. »Eine Sippe aus Donkmoon. Aber sie sind nicht die einzigen. Sie wollen alle die Parra­xynth-Teile.«

Koy hatte die oberste Rampe erreicht, die entlang der vier Mauern lief. Schmale, senk­rechte Fenster an drei Seiten des Raumes ließen gelbgefiltertes Tageslicht herein. Die goldenen Waffen und Rüstungen schienen aufzuglühen, aber die stumpfgrauen Flächen der Bruchstücke saugten das Licht an und blieben glanzlos und geheimnisvoll.

»Unterstützen die Herren der FESTUNG diese Sippe?« rief Koy der Trommler.

»Ich kann es nicht glauben. Sie waren im­mer … nun, gleichgültig. Oder jedenfalls nicht gegen mich.«

Koy lehnte sich gegen die Mauer, hielt wachsam seine Feuerlanze in den Händen und ließ seine Augen hin und hergehen. Er bewunderte die wahllose Zusammenstellung der Zeugen einer unbekannten Zeit.

»Warum wollen die Gordys die Bruch­stücke?«

»Weil sie ihre Position gegenüber den Herren der FESTUNG verbessern wollen.

Hans Kneifel

Wer die Bruchstücke hat, hat die Macht«, rief Heimdall. »Oder auf alle Fälle mehr Macht. Verstanden, Zwerg?«

»Verstanden. Und was tun die Gordys?« »Sie versuchen immer wieder, die Bruch­

stücke zu rauben. Auf hundert verschiedene Arten. Bin ich hier, dringen sie ein. Bin ich weg, beleidigen sie Kröbel und versuchen, die Stücke zu bekommen. Sie werden gleich wieder losschlagen. Es ist ein Nervenkrieg. Sie wollen mich dazu bringen, aufzugeben.

Wenn doch mein Vater hier wäre! Aber ich schwöre Ihnen, er wird kommen, und dann hat die verdammte Schinderei ein En­de.«

Es war die längste Rede, die Koy von die­sem merkwürdigen Mann gehört hatte. Al­les, was er tat und dachte, kreiste um diesen Zustand des verlorenen Glücks. Auch seine Versuche, durch Auffinden anderer Bruch­stücke seine Sammlung zu vervollständigen, zielten darauf ab, diesen Zustand wieder herzustellen. Selbstverständlich würde Heimdall den wertvollsten Teil seines Schatzhauses mit seinem Leben verteidigen, wenn es nötig war. Koy erinnerte sich an die schattenhaften, halb unsichtbaren Wesen, die um das Tor herumgegeistert waren, und er fragte:

»Ist der Kampf zwischen dir und den Gordys gefährlich, Heimdall?«

Heimdall schüttelte seinen Kopf. Er wur­de immer unruhiger; also erwartete er einen Angriff.

»Ja und nein. Sie werden mich nicht tö­ten, höchstens durch einen unglücklichen Zufall. Die FESTUNGS-Herren gestatten es ihnen nicht. Sie würden an Reputation dra­stisch verlieren.«

»Es wird immer wirrer und undurchsichti­ger. Die Gordys wollen also versuchen, dich verrückt zu machen oder zu veranlassen, ih­nen die Parraxynth-Trümmer freiwillig zu geben?«

»Du hast es erraten, dicker Kleiner.« »Keine Beleidigung«, rief Koy laut. »Ich

helfe dir, und zusammen werden wir die Ge­spenster der Gordys erfolgreich in die Flucht

25 Der Jäger und der Göttersohn

schlagen.« »Du kennst sie nicht. Sie werden es im­

mer und immer wieder versuchen«, schrie Heimdall. »Sie wollen mich fertigmachen, weißt du!«

»Ich hab's begriffen, Odinssohn.« Nun war Koy ein Bewohner von Pthor,

zwar mit Können, Kenntnissen und einer einmaligen Begabung ausgestattet, aber selbst keineswegs frei von Zweifeln und Problemen, was seine eigene Existenz be­traf. Wie würden solche Beobachtungen auf die Fremden wirken, die er zu suchen hatte? Was würden sie denken, wenn sie beispiels­weise die Gespräche der letzten halben Stun­de zwischen Heimdall, ihm selbst und die­sem skullmanenten Kröbel gehört hätten? Es war nicht auszudenken.

»Aber diese abscheulichen Nachkommen von vergessenen Vätern und namenlosen Müttern – wo sind sie?« schrie Heimdall wütend auf. Er rannte noch immer wie ein Besessener in seinem Museum hin und her und erwartete den Angriff oder Überfall der Gordys.

»Wenn wir lange genug warten, werden sie sicher kommen. Sie waren da, als wir mit dem Truvmer kamen.«

»Sie sind auch jetzt noch da. Sie warten«, dröhnte Heimdall, »bis ich unaufmerksam bin.«

»Das spricht für ihr taktisches Geschick.« Was von Kröbel, dem skullmanenten Ma­

gier, zu halten war, wußte Koy der Tromm­ler nun genau. Nichts. Möglicherweise konnte er mit seinem heißen Wasser gut Tee kochen, aber das war alles. Sollte es zu ei­nem Kampf kommen, dann war er nutzlos.

5.

Die Plantage war jetzt, kurz nach Mittag, ziemlich ruhig. Aber die Farmer und die Ar­beiter standen nach wie vor im Schatten und sahen hinüber zu den seltsamen Maschinen, Projektoren und Anlagen, an denen noch im­mer die Mitglieder der Sippe hantierten. Es war heiß, es roch nach den zertrampelten

und ruinierten Pflanzen, und die Wut der Farmer wurde größer.

In den Gebäuden nahe der großen, grünen Plantage wohnten rund zweihundert Mitglie­der der Familie Gordy. Viele von ihnen wa­ren zwischen den Anlagen beschäftigt und arbeiteten trotz der Hitze und des grellen Sonnenlichts fieberhaft. Es war nicht genau zu erkennen, was dort geschah.

Zwischen den Bäumen, an denen die Früchte zu reifen begannen, breiteten sich die seltsamen Geräte aus. Zwischen ihnen befand sich eine Plattform, die noch viel mehr ein Fremdkörper war als alles andere, das die Bauern und Arbeiter mit Furcht und Staunen erfüllte.

Fünfzig Angehörige der Sippe waren in den letzten Tagen hier aufgetaucht. Es wa­ren hauptsächlich Techniker und Wissen­schaftler. Sie hatten viele der gebogenen und gewundenen, schwarzen und leuchtenden Gerätschaften mitgebracht, aufgestellt und justiert. Sie hielten die Farmer von den not­wendigen Arbeiten ab, aber es fiel ihnen nicht einmal ein, eine Erklärung zu geben.

Die Farmer wußten nicht, worum es ging, aber sie erkannten, daß die Gordys unter starker innerer Spannung arbeiteten. Sie wa­ren hektisch und aufgeregt. Irgend etwas ging hier vor. Man erkannte es auch an dem Gesichtsausdruck der Sippenangehörigen. Sie versuchten etwas zu tun, wovon sie sich etwas Wichtiges versprachen.

Einer der Farmer wagte sich etwas weiter heran.

Er sah, daß ein Angehöriger der Gordys sich der Plattform näherte. Das Farmgebiet befand sich etwa zehn Kilometer südlich der Stadt Donkmoon. Dorthin wurden die Früchte und die landwirtschaftlichen Er­zeugnisse geliefert, die man hier anbaute und kultivierte. Was ging dort auf der Platt­form vor?

Einzelne Gruppen umstanden Schaltpulte und transportable Energieerzeuger. Mehrere Projektoren richteten sich summend so aus, daß sich ihre unsichtbaren Strahlen im Zen­trum der runden Plattform kreuzten. Der

26

Gordy, der einen entschlossenen und irgend-wie wütenden Eindruck machte, kletterte auf die Plattform und blieb auf einem gekenn­zeichneten Punkt stehen.

»Was tut er?« Der Farmer warf einen zögernden Blick

auf die kantigen, weißen Gebäude der klei­nen Vorstadt weit vor den Grenzen Donk­moons. Niemand war dort zu sehen; die Straßen, die Terrassen und die Treppen wa­ren leer und verwaist. Es gab nur kalkweiße Flächen und die kantigen tiefschwarzen Schatten. Alles konzentrierte sich auf die Rasenanlagen zwischen den Fruchtbäumen.

Eine Lautsprecherstimme sagte knarrend: »Das ist Nummer zweiundzwanzig. Be­

ginn der Reduktion in fünfundzwanzig Se­kunden. Alles klar?«

»Klar.« Schon mehrmals waren Gordys, offen­

sichtlich besonders mutige junge Männer, auf die Plattform gestiegen und dort ver­schwunden. Sekundenlang schienen sie sich in einen Nebel zu verwandeln, aber das war in der grellen Hitze nicht deutlich zu beob­achten gewesen. Jedenfalls war alles sehr merkwürdig.

Der Farmer preßte sich an einen Baum­stamm und spähte zwischen zwei brummen­den Fahrzeugen hindurch auf die Plattform.

»Zehn Sekunden.« Überall war das Gras zertrampelt. Die

Fahrzeuge hatten Äste abgebrochen und die heruntergefallenen Früchte zermalmt. Im Augenblick bewegten sich die anderen Gordys nicht, sondern starrten gebannt ihren Familienangehörigen an, der sich bemühte, still zu stehen und sich dennoch rührte. Er schien trotz der Hitze zu zittern. Wieder sag­te eine Lautsprecherstimme knapp:

»Fünf Sekunden.« Das Summen verstärkte sich. Nach fünf

Sekunden ertönte ein peitschender Knall, der die Bäume zittern ließ. Der Mann auf der Plattform löste sich binnen weniger Sekun­den auf, er wurde durchsichtig, verlor seine Konturen, und das grelle Sonnenlicht mach­te alle seine Bewegungen unwirklich. Mit

Hans Kneifel

einigen Sätzen turnte er hinüber, stellte sich vor einen Projektor, dessen schüsselförmiger Sender ihn ganz verschwinden ließ.

Der Bauer hörte, wie ein Gordy zu dem anderen sagte:

»Das war der letzte. Nummer zweiund­zwanzig. Es wird sich jetzt kein mutiger Gordy mehr melden.«

»Sie werden seine Botschaft hören und Heimdall so belästigen, daß er die Teile frei­willig herausgibt.«

»Das hoffen wir.« Also war dieser entstofflichte Gordy in

dem riesigen Wohnbunker des Odinssohns verschwunden, so wie alle einundzwanzig vor ihm, erkannte der erschrockene Bauer. Wie konnten die Gordys aus Gleidruss es wagen, nicht nur die Plantage zu verwüsten, sondern auch Heimdall zu belästigen? Die Bauern waren machtlos dagegen; hier herrschten die Bewohner der Siedlung Glei­druss. Vorsichtig zogen sie sich zurück. Sie würden ärgerlich sein, wenn sie sahen, daß man sie belauschte und beobachtete. Zwei­undzwanzig Gordys tobten jetzt dort, etwa fünfzehn Kilometer weit weg, in Heimdalls Hallen und Kammern und machten ihn wahnsinnig und böse.

Der Farmer wußte nicht, daß die Gordys alles sehr gut hatten vorbereiten können. Sie wußten, daß Heimdall seinen Truvmer aus­rüstete und mit Nahrungsmitteln belud. Das war das Zeichen für die Wissenschaftler und Forscher gewesen, in rasender Eile ihre Ge­rätschaften herzubringen und aufzubauen. Als der Truvmer das Fort verließ, war alles bereit gewesen. Kurz darauf tauchte der er­ste halbentstofflichte Gordy im Fort auf und begann mit seiner zerstörerischen Tätigkeit.

Mit einigen Sprüngen rannte der Bauer auf den Maschinenschuppen zu und warf sich hinter den Büschen in Deckung.

Einige Zeitlang geschah nichts. Die Gordys verließen ihre Plätze und bildeten große Gruppen. Sie diskutierten aufgeregt miteinander und schienen sich zu freuen, daß ihr Anschlag auf Heimdall geglückt war.

27 Der Jäger und der Göttersohn

Plötzlich stürzte aus einem der großen Fahrzeuge aufgeregt ein junger Mann, lief auf die erste Gruppe zu und rief in heller Pa­nik einige Sätze, die der Farmer nicht verste­hen konnte. Augenblicklich rannten die Leu­te auseinander. Sekunden darauf ertönte wieder die Lautsprecherstimme, die schon den ganzen Tag über ihre Befehle durch die Plantage gebrüllt hatte.

»Achtung! Meldung aus Donkmoon! Eben wurde uns durchgegeben, daß Artol Forpan nicht mehr lebt. Der Kartaperator wurde zerstört, das Projekt ist damit zusam­mengebrochen. Forpan soll sich das Leben genommen haben!

Donkmoon befiehlt, daß alle Forscher, Wissenschaftler und ihre Assistenten sofort zurückkommen. Das war der Text der Mel­dung. Wir wissen, was unsere Pflicht ist.«

Der Bauer kannte Artol Forpan nicht. Aber er wußte, daß die Meldung für die Gordys von Gleidruss von ausschlaggeben­der Wichtigkeit war. Was er sah, gab ihm recht. Er erlebte einen hastigen, teilweise ziellosen Aufbruch mit. Maschinen wurden abgeschaltet, Wagen fuhren umher und walzten die Pflanzen nieder, Männer spran­gen auf Transportmittel und entfernten sich in Richtung der weißen Häuser.

Was hatte der Tod dieses Forpans geän­dert?

Warum verließen so viele Männer den Schauplatz ihrer Versuche, nachdem sie die Plantage halbwegs zertrampelt und zerwühlt hatten?

Und wer kümmerte sich um die durch­sichtigen, wesenlosen Gordys, die der un­sichtbare Strahl in Heimdalls Fort geschleu­dert hatte?

So viele Hast, so viele Aufregung, dachte der Farmer. Wie leicht konnte in den Schal­tungen oder in der Energieversorgung etwas durcheinandergeraten. Nur ein einziger Schalter, und alles veränderte sich. Er zuckte die Schultern und dachte daran, daß er wie­der schuften mußte, wenn die Herren von Gleidruss abgezogen waren.

*

Heimdall hörte mit seiner rastlosen Wan­derung kreuz und quer durch die Schatzkam­mer auf und schob eine eiserne Lade zur Seite. Sie quietschte gräßlich. Ein Bündel aus Sonnenstrahlen fiel in den Raum und verwandelte Teile davon in Zonen betäuben­den Glanzes und irrlichternder Reflexe. Die Bruchteile des Parraxynth blieben bleiern stumpf.

»Dort draußen sind sie. Sie gehen durch Mauern wie durch Wasser«, sagte er schließlich, als gäbe er ein großes Geheim­nis frei.

»Das kann nicht dein Ernst sein. Ich habe niemals von Wesen gehört, die das vermö­gen«, antwortete Koy voller Verwunderung.

»Die Gordys von Gleidruss, einer Vor­stadt Donkmoons, haben solche Geräte. Deswegen sind sie auch hier eingedrungen. Ich kann nichts gegen sie tun, verstehst du?«

»Jetzt verstehe ich manches!« brummte Koy.

Jeder Kampf und jeder Versuch, diese Art von Eindringlingen wieder hinauszuwerfen, war sinnlos und lächerlich, da die Eindring­linge einfach durch die nächste Wand ver­schwanden und sich in einem anderen Raum befanden. Für sie war zwar das Wohnfort nicht aus Glas, aber überall zu durchdringen. Weder er, Koy, noch Heimdall, konnten einen der Gordys packen. Sicher würde die Feuerlanze eine wirksame Waffe sein, aber der Preis für jeden Schuß wäre ein Brand, den sie selbst löschen mußten. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik, fand Koy, aber die Gefahren wurden dadurch nicht kleiner. Was Heimdall tat, war sicher das beste Verfahren. Er wartete hier an der Stelle, an der sich sein teuerster und nicht wieder herstellbarer Besitz befand: jene Dut­zende von Bruchstücken. Alles andere war vergleichsweise unwichtig und konnte wie­derhergestellt und wieder herbeigebracht werden. Und selbstverständlich blieb für einen fremden Gordy hier optisch gesehen

28

eine Mauer auch eine Mauer: dick, schallsi­cher und keineswegs transparent. Das be­deutete wiederum, daß die Gordys die Schatzkammer auch suchen mußten wie je­der Dieb.

»Jetzt verstehe ich fast alles«, wiederholte Koy der Trommler einschränkend. »Ich se­he, du bist hilflos ohne mich, Heimdall.«

»Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt.« »Begreiflich. Wir können nichts anderes

tun als hier warten. Wie lange dauert der Angriff? Weißt du es?«

Heimdall sah ihn unter den buschigen schwarzen Brauen wütend und verzweifelt an.

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie können diesen Zustand nicht sehr lange aushalten. Aber es kommen neue. Einer nach dem an­deren. Die ganze verdammte Sippe war schon hier in meinem Haus. Sie kennen es teilweise besser als ich selbst.«

»Und Kröbel?« Bis jetzt schien noch keiner der Gordys

den Saal der Schätze entdeckt zu haben. Heimdall und Koy warteten weiter, während die Sonne tiefer und tiefer sank.

»Vergiß Kröbel. Ich nahm ihn auf, weil er mich dauerte. Er war halb verhungert, als ich ihn fand. Er kann vielleicht etwas, aber er ist das Faktotum hier. Er hört zu, wenn ich spreche.«

»Was immerhin recht selten ist«, murmel­te Koy und begann zu ahnen, daß aus allen Richtungen die Gordys sich in das Zentrum der Anlage vortasteten. Sie passierten Mauer um Mauer, orientierten sich und drangen weiter vor. Früher oder später würden sie hier eindringen, und dann gab es Kampf.

Die Unruhe der beiden ungleichen Män­ner stieg, je mehr Zeit verstrich. Das Gebäu­de war völlig still, es schien ausgestorben zu sein. Nicht einmal Kröbel war zu hören. Auch im Innenhof, wo noch immer regungs­los das Kettenfahrzeug stand, rührte sich nur der Sand, wenn ein Windstoß durch das ge­borstene Tor hereinwehte und ihn zu klei­nen, wandernden Säulen hochwirbelte.

Gerade in dem Augenblick, als Koy die

Hans Kneifel

Augen schloß und merkte, wie die Müdig­keit ihn ergriff, ertönten krachende Detona­tionen und wilde, kreischende Schreie aus allen Richtungen. Dicht neben ihm brach aus der massiven Wand ein Fuß und ein aus­gestreckter Arm hervor, wurde deutlich und verlor seine schattenhaften Umrisse und be­wegte sich krampfartig. Die Schreie wurden lauter, und die Mauern und Wände began­nen drohend zu knirschen und zu knistern.

»Sie sind da!« brüllte Heimdall und riß die Khylda hoch.

6.

Während Koy der Trommler mit einem gewaltigen Satz aus der Reichweite des um­hertastenden Arms sprang, fuhren ihm ra­send schnell eine Serie von Erklärungen und Erkenntnissen durch den Kopf.

Etwas war geschehen, das die Gordys ih­res geheimnisvollen Zustands beraubte. Sie waren nicht mehr fähig, Wände zu durch­schreiten. Aber sichtlich waren nicht alle von ihnen mitten im Durchgang steckenge­blieben. Welch ein grauenhaftes Schicksal! dachte er und sah, wie vier junge, wild aus­sehende Männer die schräge Rampe im un­tersten Punkt des Saales heraufstürmten und mit ihren Blicken die Parraxynth-Bruch­stücke suchten.

»Weg hier. Ich bringe euch alle um. Ver­fluchte Brut aus Gleidruss!« schrie Heim­dall, schwang seine summende Streitaxt und sprang von einer Rampe auf die nächstnied­rige hinunter. Koy suchte einen günstigen Schußwinkel, aber wie er sich auch drehte und wendete, er würde überall Ausstellungs­gegenstände und Schätze von unaussprechli­chem Wert vernichten. Er gab einen kurzen Schuß schräg in die Höhe ab und duckte sich schräg unter dem Feuer weg.

Zwei Gordys hechteten durch die Öff­nung, die in den Innenhof zeigte. Sie alle waren mit stählernen Dingen bewaffnet, die wie merkwürdig geformte Schwerte aussa­hen.

Heimdall stürzte sich auf den ersten Ein­

29 Der Jäger und der Göttersohn

dringling und schlug mit der Schneide der Axt zu. Aber er konnte sich nicht ungehin­dert bewegen. Überall waren die Sockel und die Vitrinen im Weg, die Rüstungen oder Bündel von fremdartigen, stangenähnlichen Gerätschaften. Die Schneide der Khylda klirrte mit ungeheuerer Wucht gegen das Schwert in der Hand des Gordys.

Die Gordys waren in Panik geraten. Jetzt waren sie durchaus gegenständlich

und Wesen aus Fleisch und Blut. Sie fühlten sich in die Enge getrieben. Nach und nach drangen zwölf Männer hier ein.

Aus der gekrümmten, flammenartig ge­schliffenen Schneide des Schwertes schoß eine Funkengarbe und blendete Heimdall und den Gordy. Dann prellte der Schlag der Waffe mit den Zinken und Zacken an der Spitze aus der Hand des Angreifers. Das Schwert überschlug sich mehrmals, als es in die Höhe gewirbelt wurde und wieder herun­terstürzte. Es blieb mit einem krachenden Schlag in der Schädeldecke eines riesigen hölzernen Kopfes stecken, der mit gläsernen Augen in die Richtung der Bruchstücke blickte.

Der Gordy warf sich zur Seite und ging hinter einem plastischen Bild in Deckung, das einen Palast zeigte, in dem sich prunk­volle Pthorer bewegten.

Heimdall sah sofort den nächsten Gordy an. Er sah, daß die wütenden Männer von al­len Seiten auf ihn eindrangen. Ein Schwert­hieb traf die Panzerplatten der Rüstung im Rücken, erzeugte ein kreischendes Klappern und einen klirrenden Schlag, als sich die Spitze in eine der Bodenfliesen bohrte.

»Jetzt haben wir dich, Heimdall!« schrie einer von rechts.

»Du hast unsere Brüder verwandelt und lebend eingemauert.«

Noch immer schrien und zappelten dieje­nigen, die in Mauern und in den wuchtigen Felsquadern steckten. Die Erschütterung schien einen Mechanismus in dem Kopf aus­gelöst zu haben. Die Augen öffneten sich weit, die Lider hoben sich, zwei blendend weiße Strahlen zuckten daraus hervor und

badeten, wie vorher die Sonnenstrahlen, das Gerüst und die Bruchstücke in ein grelles Licht. Die Stäbe und Kugeln flammten auf, die Bruchstücke verloren an den Rändern ih­re stumpfe Farbe und schienen winzige Fun­ken zu sprühen.

Koy wirbelte herum und schlug den lan­gen Lauf der Feuerlanze in den Nacken ei­nes Gordys, der an ihm vorbeitaumelte und langsam von Ebene zu Ebene hinunterfiel. Der Schwerthieb pfiff wirkungslos eine Handbreit neben dem rechten Ohr vorbei. Nicht einmal im Fallen ließ der Gordy sein blutrot gefärbtes Schwert fallen.

Der Riesenkopf klappte die Kiefer ausein­ander und schrie in altertümlichem Pthora:

»Verflucht sei, wer die Teile des Parra­xynths stehlen will. Ich werde ihn verfolgen und niedermachen …«

Das Schwert in seinem Scheitel schwang zwischen den silberfarbenen Haaren lang­sam hin und her. Die hallenden, donnernden Sätze mischten sich mit dem Schreien der Eingemauerten und dem Knirschen der Bal­kenkonstruktionen.

Heimdall verteidigte den Raum rund um die Bruchstücke. Aber immer wieder zuckte er zurück; die langgeschäftete Waffe zog weite Kreise und gefährdete die Bruch­stücke. Er duckte sich unter dem ausge­streckten Arm einer Statue, stieß einen An­greifer mit dem Dorn der Khylda nieder und sprang auf den nächsten zu. Noch immer brüllte der hölzerne Riesenschädel seine Verwünschungen hinaus.

»… verflucht sei er. Niemand soll sie an­tasten, Heimdall soll sie schützen mit sei­nem Leben …«

Wieder zuckten zwei Schwerter auf ihn zu. Sie waren tatsächlich alle in verschiede­nen leuchtenden Farben gehalten. Blaue und silberne, rote und gelbe Lichter blendeten von den wirbelnden Schneiden. Klirrend prallte die Khylda gegen das Schwert und schleuderte es zur Seite, dann wehrte Heim­dall den anderen Angreifer ab und machte einen Ausfall, der ihn von dem Gerüst der Bruchstücke wegbringen sollte.

30

Koy packte einen verzierten, schweren Speer und hob ihn in der rechten Hand, dann schleuderte er ihn mit aller Wucht nach vorn und traf einen Gordy tief in die Schulter.

»Heimdall! Hinter dir!« schrie er. Der schwarzhaarige Kämpfer fuhr herum,

seine Axt schrammte am Boden entlang und traf mit der letzten Ecke das Gerüst, das einen ächzenden Laut von sich gab. Aber dann wirbelte die Axt hoch, zischte senk­recht herunter und spaltete einem Angreifer den Schädel. Inzwischen bildeten sieben oder acht Gordys eine Art Kreis um Heim­dall.

»Sogar meine Schwerter habt ihr gestoh­len! Gesindel!« schrie Heimdall aufgebracht und sprang hin und her.

»Und du hast sie alle grausam umge­bracht!« schrie ein Gordy.

Heimdall hätte sie alle binnen kurzer Zeit in die Flucht geschlagen, aber hier mußte er auf seine Kostbarkeiten Rücksicht nehmen. Jeder wuchtige Schlag konnte unwieder­bringliches restlos zerstören. Und selbstver­ständlich trennte er sich nicht von dem be­wußten Gerüst mit den Bruchstücken. Wie ein Wolf umkreiste er es immer wieder und begegnete jedem Angriff.

Das Schreien der Eingemauerten und Steckengebliebenen war leiser geworden. Der sprechende Kopf hatte aufgehört, seine Verwünschungen hinauszubrüllen. Noch im­mer steckte das Schwert in seinem Scheitel. Auch die Balken und Mauern knisterten nicht mehr.

»Das ist nicht wahr!« Wieder beschrieb die Axt einen Viertel­

kreis, entwaffnete mit einem schneidenden Schlag einen Gordy und traf den nächstste­henden am Arm. Koy baute sich schräg hin­ter Heimdall auf, hob eines der herunterge­schlagenen Schwerter auf und fragte sich, ob er den Angriff mit den Broins restlos zu­rückschlagen sollte. Aber dies war eine töd­liche Waffe, und die Gordys hatten ihm nichts getan.

Ein Gordy warf ein Schwert. Zwei Männer, die vor ihm gegen Heim-

Hans Kneifel

dall kämpften und immer wieder den zö­gernd geführten Schlägen und Ausfällen auswichen, sprangen auseinander. Das Schwert, die mehrfach auseinandergespreiz­te Spitze nach vorn, zischte zwischen ihren Schultern hindurch und traf Heimdall. Die Rüstung über seinem Herzen klirrte, das Schwert blieb zwischen den einzelnen Plat­ten der Rüstung stecken. Heimdall taumelte und strauchelte. Nur seine Geistesgegenwart und der Umstand, daß er schnelle Reflexe hatte und sich wehrte, ohne denken zu müs­sen, retteten ihm das Leben.

Der Schwerthieb, der ihm den Kopf von den Schultern getrennt hätte, ging ins Leere. Heimdall war im richtigen Sekundenbruch­teil mit dem Kopf und dem Oberkörper nach rückwärts ausgewichen.

Die beiden Angreifer sprangen nach vorn, als Heimdall auf dem Rücken lag, vor Schmerzen aufstöhnte und das Kampfbeil hochriß, um sich gegen sie zu wehren. Er versuchte, auf die Füße zu kommen, aber schon schwebte ein Schwert über ihm. Dem zweiten Schwerthieb würde er nicht entge­hen können.

»Schluß!« sagte Koy laut und schmetterte mit einem wilden, gezielten Schlag das er­beutete Schwert nach rechts. Der Angreifer wurde mitten im Lauf gestoppt, das Metall seines Schwertes brach klirrend dicht hinter dem Griff ab.

Koy fixierte den Angreifer, der in drei oder vier Sekunden Heimdall töten würde.

Die beiden Fühler, die aus seiner Stirn herausragten, bewegten sich wie zitternde Grashalme. Die kugelförmigen Verdickun­gen schlugen schon nach wenigen Vibratio­nen lautlos gegeneinander. Psionische Im­pulse suchten sich ihr Ziel und trafen denje­nigen Gordy, der mit erhobenem Schwert auf Heimdall lossprang, der sich seinerseits halb aufgerichtet gegen zwei andere Ein­dringlinge wehrte, keinen Meter von den un­tersten Parraxynth-Bruchstücken entfernt.

Jetzt war aus der Vibration der beiden Broins ein rasendes Stakkato geworden. Koy stand da und starrte den Angreifer an. Dieser

31 Der Jäger und der Göttersohn

schien sich mitten in der Bewegung zu Stein verwandelt zu haben. Das Schwert fiel aus seiner Hand und klirrte laut auf den Fliesen. Seine Kameraden bemerkten die Verände­rung und hielten im Kampf inne. Jetzt schien man die beiden Kugeln der Broins nicht mehr sehen zu können; die Vibrationen wa­ren zu schnell.

Niemand der Anwesenden beachtete Koy den Trommler.

Alle blickten auf den Gordy, der mit hocherhobenem Arm dastand und ein lang­gezogenes Stöhnen von sich gab, das aus dem tiefsten Grund seines Körpers zu kom­men schien und nichts Natürliches mehr an sich hatte. Er riß beide Arme an den Körper. Dann hielt er sich mit den Handflächen die Ohren zu, schrie laut und gellend auf und schloß die Augen. Sein Körper zerbarst wie eine Steinfigur in tausend kleine Bruch­stücke, die auf die Fliesen herunterfielen und einen flachen Haufen bildeten. Koy drehte den Kopf um wenige Zentimeter und faßte den Angreifer ins Auge, der eben ver­sucht hatte, auf den kämpfenden Heimdall einzudringen.

Der Mann warf sein Schwert weg und rannte auf die Fensteröffnung zu.

»Weg von hier! Hier herrscht Magie!« kreischte er in hysterischer Furcht auf. Wie von Furien gehetzt, lief er Rampe um Ram­pe aufwärts und sprang kopfüber durch das offene Fenster.

Die anderen folgten ihm. Zwölf Männer waren hier eingedrungen.

Neun von ihnen waren noch in der Lage zu fliehen. Sie warfen die Waffen achtlos weg, drehten sich herum und rannten auf die ein­zige Öffnung zu, die sich ihnen bot. Zwei prallten kurz vor dem Fenster zusammen, ein dritter sprang über sie hinweg und tau­melte schreiend vor Entsetzen hinaus. Man hörte die schnellen Schritte der ersten Flüch­tenden.

In rasender Eile folgten die anderen Gordys. Sie alle hatten miterlebt, wie sie wieder voll verstofflicht wurden, und wie ei­ner von ihnen zerborsten war. Dies alles war

für sie zuviel. Sie quetschten sich durch die Fensteröffnungen, sprangen hinunter in den Sand und Kies des Innenhofs und rannten schreiend durch das zerstörte Tor.

Dreißig Sekunden später herrschte voll­kommene Stille.

Langsam ging Koy der Trommler auf Heimdall zu. Ächzend schaltete dieser die Vibrationseinrichtung der Khylda aus und blickte Koy hohläugig an. Koys Broins be­wegten sich nicht mehr, sondern sahen so wie immer aus; aufrecht und regungslos.

»Der Gordy ist vor meinen Augen zu Schutt zerfallen«, sagte Heimdall dumpf und schien erst jetzt zu bemerken, daß das Schwert noch immer zwischen den Teilen der Rüstung steckte. Er stand auf, packte das Schwert am Griff und riß es, obwohl zwi­schen den Platten aus Metall frisches Blut glänzte, mit einem einzigen Ruck heraus und warf es achtlos weg.

»Ich habe versucht, dich und die Parra­xynth-Stücke zu retten. Die Gordys hätten dich getötet.«

In Heimdalls Gesicht bildeten sich harte, scharfe Linien und Kerben. Er maß Koy mit einem langen Blick voll brennender Intensi­tät. Koy ahnte nicht, was Heimdall jetzt dachte. Langsam sagte er:

»Was ist passiert? Einige von ihnen steck­ten in Mauern.«

Als kehre er aus einem Ausflug in tage­lange Alpträume zurück, sah sich Heimdall um und bemerkte mit dunkler, rauher Stim­me:

»Ich weiß es nicht. Ich war es nicht, der sie wieder zu normalen Wesen werden ließ. Es gibt keine Anlagen dieser Art hier in Heimdallsheim.«

Koy warf ihm einen mißtrauischen Blick zu.

»Kröbel, der skullmanente Magier?« »Er wird sich vor Angst in seinen Bü­

chern oder unter einem leeren Butterfaß ver­graben haben!« war die Antwort.

»Also keine magische Beeinflussung?« »Nein. Aber dieses Zerbröckeln … du

warst es?«

32

»Ja. Ich war es. Meine Broins trommel­ten. Ich sagte es bereits einmal: eine Waffe von absoluter Tödlichkeit.«

Verblüfft starrte Heimdall auf den klei­nen, wuchtigen Mann. Er schien es immer noch nicht zu begreifen.

»Sie sind alle geflüchtet. Das blanke Ent­setzen hat sie gepackt«, murmelte er und achtete nicht auf das Blut, das aus der Rü­stung tropfte.

»Sie werden rennen, bis sie Gleidruss er­reicht haben. Vielleicht haben die Gordy-Wissenschaftler in der Vorstadt einen Fehler begangen. Wir kennen Geräte und Instru­mente, und jedermann weiß, wie schnell sie zerstört werden können.«

»Das ist möglich. Was, denkst du, tun sie jetzt?«

Voller Überzeugung sagte Koy, der als berufsmäßiger Spurenleser und Jäger die Reaktionen anderer Pthorer sehr genau ab­schätzen konnte:

»Sie tun nichts anderes als rennen, bis ih­re Kräfte sie verlassen werden. Die Furcht ist in ihnen. In den nächsten hundert Tagen wirst du sicherlich Ruhe vor ihnen und ihren schlimmen Streichen haben.«

Er überlegte kurze Zeit und rief sich die Eindrücke ins Gedächtnis zurück, die er während der letzten halben Stunde gesam­melt hatte, teilweise bewußt, zum anderen Teil unbewußt. Dann sagte er zögernd:

»Ihr Angriff war nicht echt. Sie waren verzweifelt. Niemals hätten sie von sich aus den Mut aufgebracht, daß sie alle Chancen und jedes Gramm Wohlwollen der Herren der FESTUNG verloren hätten. Es war eine Art Notwehr, eine Mischung zwischen Trotz, Verzweiflung und Unsicherheit. Und gegenseitig schaukelte sich ihre Wut hoch. Ebenfalls ihr Mut. Wenn du sie genau ange­sehen hast, dann wirst du entdeckt haben, daß sie alle jung waren. Nur ein Narr wagt es, gegen dich zu kämpfen. Das ist, meiner Überzeugung nach, die Wahrheit.

Ich glaube, wir können diese Nacht trotz des geborstenen Tores ruhig schlafen.«

Heimdall mochte ein blitzschneller

Hans Kneifel

Kämpfer sein, der bisher alle Auseinander­setzungen seines langen und womöglich nie­mals endenden Lebens gewonnen hatte. Aber mit Überlegungen dieser Art tat er sich nicht sehr leicht. Er traute dem Frieden und der Ruhe nicht.

»Was jetzt?« fragte er dumpf. Koy und er standen direkt vor den Parra­

xynth-Bruchstücken. Drei tote Gordys lagen an verschiedenen Punkten der Schatzkam­mer.

»Was? Nichts! Ich werde ausschlafen und, denke ich, weiterziehen. Es sei denn, es er­geben sich umwerfend neue Gesichtspunk­te.«

Heimdall stützte sich schwer auf sein Kampfbeil. Koy dachte sich, daß sich der Odinssohn verhielt, als habe er einen schwe­ren Hieb direkt auf den ungeschützten Kopf erhalten. Deswegen schlug er vor:

»Wir gehen zurück zu Kröbel. Vielleicht hat er wieder heißes Wasser erzeugt, in dem du dich baden kannst. Ich werde deine Wun­den versorgen. Möglicherweise gestattest du mir, eine Nacht unter dem breiten Dach von Heimdallsheim zu verbringen. Keine Sorge – ich werde deine großzügige Gastfreund­schaft nicht mißbrauchen.«

Heimdall lachte kurz. Plötzlich war er wieder der alte. Er überwand schnell eine gewisse Verlegenheit. Trotzdem wirkte er, als sei er aus der Tiefe eines langen Schlafes aufgewacht.

»Entschuldige«, sagte er und verzog sein bleiches Gesicht zu einem gewinnenden Lä­cheln. »Entschuldige bitte, Koy, aber ich bin eingesponnen in mein Leben, in meine Pro­bleme. Hin und wieder vergesse ich, was sich schickt, und was eines Mannes Brauch und Sitte ist. Bisher war ich mürrisch und abweisend zu dir. Ich schäme mich! Aber ich muß immer mißtrauisch sein, denn du selbst weißt jetzt, wie mir nachgestellt wird. Du hast mir geholfen – selbstlos und wie ei­ner der Meinen.«

»Keine Übertreibungen!« warnte Koy leichthin. Er rang sich ebenfalls ein herzli­ches Lächeln ab.

33 Der Jäger und der Göttersohn

»In der Tat«, sagte Heimdall und zog Koy mit sich auf den Ausgang zu. »Wie ein Edel­mann hast du dich verhalten. Sei mein Gast, koste die fetten Schinken ebenso wie das schwarzschäumende Bier. Bleibe hier und fühle dich wohl, Koy!«

Sie betraten die schiefe Ebene. Heimdall schulterte die Khylda, und Koy trug seine Feuerlanze.

»Es mag sein, daß ich andere Pläne ha­be«, sagte Koy vorsichtig. Langsam gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen wa­ren. Heimdall schien seine Wunden zu igno­rieren.

»Welche?« »Jedenfalls nicht jene, die mich zwingen,

nach Agmonth zurückzukehren«, erklärte der Jäger. »Für diesen Abend und diese Nacht nehme ich deine Einladung mit Freu­den an. Vielleicht bade ich mich auch in Kröbels Heißwasser, wer weiß?«

Heimdall lachte leise. »Wenn du schon wandern und reisen

willst, so magst du dich hier ausrüsten, wie immer es dir beliebt. Zuerst aber – suchen wir den furchtsamen Kröbel, und dann wer­den wir ein Abendessen zusammen schmau­sen, als ob mein Vater Odin die Tafel krö­nen würde.«

»So sei es!« schloß Koy. Er hatte das Herz Heimdalls offensicht­

lich gewonnen. Aber auch dieser Bunker mit all seiner ranzigen Butter und seinen zwei merkwürdigen Bewohnern und Schätzen war nur eine Station für ihn. Er vergaß die Herren der FESTUNG und entschloß sich, nicht nur seine Mutter zu suchen, sondern möglichst auch die Fremden zu finden. Sie waren auf eine noch genauer zu beschrei­bende Weise seine Verbündeten, auch wenn sie noch nichts davon ahnten.

Durch das Labyrinth der Gänge, Korrido­re und Winkel liefen sie unterhalb des Bo­dens durch die halbe Anlage, dann kamen sie wieder nahe der Küche oder der Vorrats­kammer in den bewohnten Teil des Forts. Von Kröbel war nichts zu sehen.

Heimdall warf seine Khylda auf einen

Tisch, hob beide Hände an den Mund und schrie:

»Kröbel! Skullmanenter Magier Kröbel!« Schweigen … »An deiner Stelle würde ich unter den

Butterfässern und den Mehlsäcken nachse­hen«, riet Koy dem Odinssohn. »Und viel­leicht solltest du endlich deine Handschuhe und die Rüstung ablegen. Rost und offene Wunden vertragen sich nicht sonderlich gut.«

Langsam suchten sie Raum um Raum ab. Von Küche und Lager führten einige Trep­pen und schmale, verwinkelte Gesindekorri­dore nach oben. Schließlich entdeckten sie Kröbel, der in einem kleinen Zimmer vor ei­ner Tischplatte hockte und selbstvergessen in einem Folianten las.

»Kröbel!« donnerte Heimdall. Der Kleine drehte sich um, machte einige

Bewegungen, als wolle er Fliegen verscheu­chen, dann klappte er resignierend das Buch zu und fragte:

»Was ist los?« Koy der Trommler entschied in diesem

Moment, daß er Kröbel nicht mochte. Das dürre Männlein verlangte alles und gab nichts. Er sagte im Tonfall harter Entschie­denheit:

»Der Gönner, der dich aus dem Straßen­graben aufgelesen hat, ist müde, hungrig, verletzt und ärgerlich. Wir brauchen jede Menge heißes Wasser und ein Nachtmahl. Du kannst nichts, du forderst viel, und du le­bst nur durch Heimdalls Gnade. Los! Schnell! Wir müssen Heimdall verbinden.«

Kröbel sprang auf und warf ihm einen un­beschreiblichen Blick zu. Aber dann zupfte er sich mehrmals an seinem roten, grauge­sprenkelten Bart und murmelte:

»Oftmals benehmen sich Gäste schlimmer als Hausherren. Heimdall ist mein Freund. Schön und gut. Er soll nicht leiden; wir wer­den ihn heilen. Die Kraft meiner magischen, skullmanenten Finger wird die furchtbaren Wunden dazu bringen, sich schnell zu schließen.«

»Vorwärts! Hinunter in Heimdalls Schlaf­

34

raum. Du nimmst ihm die Rüstung ab, und ich mische Heilkräuter. Zum Nachtessen ist er wieder einer der Unseren. Schnell, Mann mit den biegsamen Hörnern!«

»Ich habe schon mächtigeren Magiern, als du es bist, die Richtung gezeigt«, knurrte Koy voller Grimm. »Und ich bin gern bereit, dich wieder in ein Faß mit Resten ranziger Butter zu stecken und dein loses Mundwerk mit einem stinkenden Lappen zu schließen. Entweder du hilfst mir, oder ich mache Ernst.«

»Worte, nichts als Worte. Ich gehorche. Aber ich werde dir Magengrimmen verursa­chen.«

Sie brachten Heimdall in einen Schlaf­raum. Auch dieses Zimmer war riesengroß und von barbarischem Prunk. Sie zwangen ihn, sich auf dem mehr oder weniger schmutzigen Bett auszustrecken, dann machte sich Koy daran, die Haken und Schnallen der Panzerung zu lösen und die Rüstung abzuziehen. Das verkrustete Blut klebte die Stahlteile an den Stoff und diesen an die Haut. Mit heißem Wasser weichten sie die Krusten auf und lösten den Panzer, die Handschuhe, die Stiefel und das Schup­penhemd. Dann rissen sie weißen Stoff in Streifen.

Kröbel brachte stechend riechende Salbe. Koy reinigte die Wunden und strich dick je­ne gelbliche Salbe darauf, dann wickelte er die Binden um den Oberkörper des Götter­sohnes. Schließlich, nach zwei Stunden, streiften sie ihm einen Hausmantel über und verließen das Zimmer, da Heimdall mit Hil­fe eines Trankes aus der Hand des skullma­nenten Magiers tief schlief.

Sie trafen sich in der Küche. Koy reinigte und trocknete sich ab, so gut

es ging, und dann sagte er: »Nichts für ungut, Gevatter Kröbel. Ich

bin durstig, hungrig und müde. Und morgen werde ich euch verlassen und niemals wie­der hierher zurückkommen. Ich habe ge­kämpft, und du wirst den Abendtisch versor­gen. Wo schlafe ich?«

»Oben, dicht neben Heimdalls Raum.

Hans Kneifel

Habt ihr die Gordys in die Flucht geschla­gen? Ich habe unablässig skullmanente Flü­che und Verwünschungen ausgestoßen.«

»Sie haben geholfen«, sagte Koy und zuckte die Schultern. »Wo ist das Bier?«

»Hier, der Krug.« Tiefer Friede senkte sich über den roten

Bunker. Die Vögel kehrten in ihre Nester hoch über den Küchenherden und den Vor­ratsregalen zurück. Die Sonne, die jenseits der Wüstenei den Horizont berührte, über­schüttete alles mit einem einschläfernden ro­ten Licht. Kröbel mochte ein mieser Magier sein, aber als Koch oder Anrichter war er hervorragend. Binnen zweier Stunden, in de­nen Koy sich leidlich erholte und säuberte, seine Kleidung reinigte und sich halbwegs reisefertig machte, sprang Kröbel zwischen Herd und Kammer hin und her.

Der letzte Schein der Sonne verging. Noch immer umgaben Einsamkeit, Stille

und Ereignislosigkeit die vier langen, roten Mauern des Forts. Koy, der sich inzwischen besser fühlte, hörte undeutlich, wie Heim­dall erwachte und die Treppe hinuntertappte. Kurze Zeit später folgte Koy und sah ein überraschendes Bild. Im stillen entschuldig­te er vieles, was ihn an Kröbel gestört und verärgert hatte – aber nicht alles.

In einem anderen Raum – in dem es nicht stank! – brannten Holzkloben in einem mächtigen Kamin.

Ein großer runder Tisch strahlte im Schmuck eines schneeweißen Tuches; Be­cher, Teller und Besteck schimmerten an drei Plätzen. Helle Decken und kostbare Fel­le lagen über drei hochlehnigen Stühlen. In der Mitte des Tisches standen und lagen aus­gesuchte Nahrungsmittel. Suppe dampfte in einer silbernen Schüssel. Zwischen den Schalen standen hohe Kerzen in goldenen Leuchtern. Eindeutig war es für Koy: Der Magier versuchte, sein schlechtes Gewissen durch diese Demonstration zu beschwichti­gen.

Koy blickte die Anordnung an und be­merkte anerkennend:

»Ich bin überwältigt, Kröbel. In der Tat,

35 Der Jäger und der Göttersohn

du bist ein Magier nach meinem Herzen.« Kröbel schob einen Wagen herbei, auf

dem andere Köstlichkeiten aus Kammer und Küche gestapelt waren. Er grinste kurz und versicherte:

»Nicht für dich, Fremder. Es ist meine Pflicht, Heimdall zu bedienen.«

Heimdall saß in einem langen und wallen­den Mantel von tiefem Schwarz am Tisch und zog gerade einen Kragen aus schwar­zem Pelz hoch. Er blickte Kröbel an, dann Koy, schließlich sagte er leise:

»Wir sind allein hier. Jetzt solltest du mangelnde Raffinesse mit Herzlichkeit ent­schuldigen, Koy. Ich habe lange nachge­dacht, als ich auf meinem Bett lag. Ich dan­ke dir. Aber niemand wird ahnen können, wie dieser Tag endet.«

Koy zuckte seine breiten, runden Schul­tern und erwiderte:

»Der morgige Tag endet friedlicher, Heimdall. Zumal ich eure Gastfreundschaft nicht länger strapazieren werde. Nichtsde­stotrotz: Ich fühle mich so wohl wie schon seit Jahren nicht mehr.«

»Du hast auch allen Grund dazu!« kicher­te der Magier und schlenkerte seine Finger. Tropfen heißen Wassers flogen durch den Raum. »Iß, Fremder! Trinke! Und dann – schlaf dich aus. Kröbel mit seinen skullma­nenten Fähigkeiten wird den Schlaf von euch beiden bewachen. Und wenn ich bis morgen kein Auge zutun kann … es ist mir gleichgültig. Und morgen, Heimdall, werden wir die Spuren unseres verbissenen Kampfes beseitigen!«

»Meinetwegen«, brummte Heimdall. Koy hielt an sich. Er aß und trank mäßig.

Heimdall wurde schläfrig und wortkarger. Kröbel plapperte ununterbrochen vor sich hin, beschimpfte die Gordys und versicherte jeden, der das Fort in Zukunft angreifen würde, seiner vernichtenden Feindschaft. Koy der Trommler hörte aufmerksam zu und versuchte, die Geheimnisse zu entdecken, aber es schien keine zu geben. Heimdall hü­tete das Erbe seines Vaters und hoffte auf einen Wandel und somit auf eine Zeit, in der

er und seine Brüder wieder herrschten. Und darüber hinaus glaubte er, daß Vater Odin zurückkommen und ihnen allen helfen wür­de. Immer wieder senkten sich seine schwe­ren Lider; er wurde müder und schläfriger von Minute zu Minute.

Koy wischte sich die Lippen mit einem sauberen Tuch ab und sagte:

»Noch einen Schluck Bier, und ich bin reif für einen langen Schlaf. Vorher bringen wir jedoch Heimdall zu Bett.«

»Gemacht«, kicherte Kröbel. »Ich sehe, du bist ein Mann, der die Zeichen richtig deutet!«

»Viele sagen es«, erwiderte Koy der Trommler und sehnte sich plötzlich nach Ruhe, Stille, Einsamkeit und Schlaf. »Los. Hilf mir!«

»Gern.« Sie brachten Heimdall dazu, sich von ih­

nen helfen zu lassen. Sie schleppten ihn die Treppen aufwärts, zogen ihm die Stiefel aus und deckten ihn zu. Heimdall schlief mitten in ihren Handlungen ein und begann zu schnarchen, als wollte er die nistenden Vö­gel und die schwärmenden Fledermäuse ver­treiben. Koy nickte dem Magier zu und sag­te leise:

»Ich schlafe auch. Morgen früh … wir werden uns um die Gordys kümmern. Gute Nacht, skullmanenter Magier.«

Kröbel wisperte geheimnisvoll: »Ich werde wachen und in den alten Auf­

zeichnungen studieren. Mein Auge wird sich nimmer schließen. Tag und Nacht, bei Son­nenschein und dem Licht von Unschlittfun­zeln – ich suche, lerne und prüfe die Texte auf Wirksamkeit. Du bist sicher, Koy.

Denn mein Zauber und meine magischen Kräfte werden dich beschützen.«

Koy versicherte lustlos: »Demzufolge kann ich sicher sein, mor­

gen mit durchschnittener Kehle fröhlich auf­zuwachen.«

Beleidigt zog Kröbel davon und schlurfte die Stufen hinunter. Koy öffnete das Fenster und hörte das Summen der Mücken und die sägenden Geräusche unbekannter Insekten.

36

Er schob beide Riegel vor die Tür, legte die Feuerlanze griffbereit neben das Bett und zog sich aus.

Sekunden später war er eingeschlafen. Als er wieder aufwachte, hatte er keinerlei Erin­nerungen an seine Träume mehr.

*

Nachdem Koy der Trommler erwacht war, verschränkte er seine muskulösen Un­terarme hinter seinem Nacken, blieb re­gungslos liegen und dachte nach.

Niemand störte ihn, keiner stellte Forde­rungen, es gab nichts, das ihn ablenkte.

Sein Pflegevater hatte ihm gesagt, was er war, und wer er war. Es gab keine Illusio­nen. Die Herren der FESTUNG wollten, daß er die Fremden – falls es solche gab – fand und auslieferte. Aber die Herren schienen weder ehrlich zu sein, noch gab es klare Gründe, warum sie Androiden und andere Wesen (zu denen er sich zu rechnen hatte) nicht an ihren Gedanken und Überlegungen teilnehmen ließen, sondern von allen Infor­mationen ausschlossen und lediglich als Werkzeuge benutzten, die sklavisch zu ge­horchen hatten.

Heimdall und Kröbel waren nicht mehr als eine kurze Station auf seinem Weg. Heu­te noch würde er weiterziehen. Heimdall würde ihn ausrüsten, ehe er mit Kröbel zu­sammen versuchte, die Schäden an seinem Fort auszubessern. Es war der kühle Morgen eines sonnigen Tages. Koy reinigte sich gründlich, säuberte seine Kleidung und Aus­rüstung und zog sich in Ruhe an. Immer wieder hörte er Kröbels zeternde Stimme und Heimdalls Brummen; sie arbeiteten of­fensichtlich im Innenhof. Schließlich ging er hinunter, zapfte sich einen kleinen Becher Bier und stapfte langsam auf den Hof hin­aus.

Heimdall wuchtete die halb geborstenen Torflügel hoch und zerrte einen davon zur Seite. Schutt und Mauerbrocken polterten nach allen Seiten.

»Einen guten Morgen wünsche ich«, sagte

Hans Kneifel

er wohlgelaunt. Die Strapazen und die Kämpfe waren für ihn bereits Vergangen­heit.

»Danke. Die Gordys haben das Weite ge­sucht. Diese Nacht war ruhig und erhol­sam«, sagte Heimdall. Er hatte, so schien es jetzt, seinen Mißmut verloren. Er wirkte lockerer und entspannt.

»Ich habe herrlich geschlafen, tief und oh­ne böse Träume«, erklärte Koy. »Und nun will ich weiterziehen und meine Suche fort­setzen.«

Heimdall ließ vor Überraschung den Bal­ken fallen. Weißer Staub wirbelte hoch.

»Nein!« rief er entschlossen. Kröbel sprang auf einem Bein über einen zerbroche­nen Quader und zeterte:

»Wir haben sie gemeinsam in die Flucht geschlagen!«

»Das ist richtig. Mit Nachdrücklichkeit«, bestätigte Koy der Trommler und warf einen langen Blick auf den Truvmer. Ein kurzer nächtlicher Regen hatte ihn ein wenig gesäu­bert. Die Maschine sah stark, schnell und unverwundbar aus.

»Und deshalb bitte ich nun meinen Mit­streiter«, sagte Heimdall mit unbeholfener Feierlichkeit, »unser Gast zu sein. Wirklich. Ich meine es ehrlich.«

Koy wußte, wie es gemeint war. Langsam schüttelte er den Kopf.

»Ich war euer Gast. Es hat mir gut gefal­len, und ich danke euch beiden. Aber mein Ziel ist es, meine Mutter zu finden und die beiden Fremden. Jene, die ich suchen und fangen soll, könnten meine Freunde werden – ich ahne es. Ich werde unruhig und kein guter Gesellschafter, wenn ich nicht jage. Es ist meine zweite Natur. Deswegen die Zeichnung auf meiner Brust.«

Er deutete auf den Kopf mit den beiden Gesichtern und nickte. Dann fiel sein Blick durch den offenen Bogen des Portals hinaus in den Streifen Land vor der Straße. Dort sah er drei längliche Hügel aus aufeinander­geschichteten Steinen. Am Kopfende des mittleren Grabens saß ein riesiger purpurfar­bener Aasfresser und versuchte, die Stein­

37 Der Jäger und der Göttersohn

brocken mit dem Hakenschnabel umzuwen­den.

»Die drei Gordys aus der Schatzkammer …«

»Sind begraben«, murmelte Heimdall, richtete sich auf und stemmte die Arme in die Seiten. Mit dröhnender Stimme sagte er in einem Tonfall, der kaum Widerspruch duldete:

»Ich habe dich gebeten, Zwerg, mein Gast zu sein. Du hast dein Leben gewagt und mein Leben gerettet. Noch niemals hat ein Sohn Odins sich nicht gebührend bedankt. Ich bitte dich, bleibe hier und fühle dich wohl. Äußere deine Wünsche – sie werden dir erfüllt.«

»Ich werde skullmanente Sprüche aufsa­gen, auf daß es zu deinem Wohl sein wird!« krähte der Magier überschwenglich.

»Das Ding, mit dem ich flog, die Vegla, ist zerborsten. Ich werde die Fremden im Norden suchen, denke ich. Ich habe eine große Bitte, Heimdall. Aber du mußt verste­hen, daß ich nicht bei euch bleiben kann.

Ich bin Koy der Trommler. Die Jagd ist mein Leben. Ich sterbe, wenn ich hier blei­be. Willst du das?«

»Nein. Es ist dein fester Wille, Zwerg?« »Es ist mein fester Wille. Ich muß. Ich

kann nicht anders, Heimdall!« entgegnete Koy fest.

»Bei Odin! Ein mutiger Zwerg!« rief Heimdall aus. »Deine Bitte?«

»Stelle mir den Truvmer zur Verfügung, Heimdall. Ich lasse ihn irgendwo stehen, wo du ihn holen kannst. Denn nicht jeder Weg kann von ihm befahren werden.«

»Wahr! Den Truvmer, wie? An deiner Stelle hätte ich nichts anderes gewünscht, Zwerg. Ich gebe ihn dir nicht gern, aber du hattest mein Wort. Nimm ihn – vorher räu­men wir noch heraus, was wir brauchen. Wie lange?«

Koy zog seine Schultern hoch und be­mühte sich, sein Erstaunen nicht allzu deut­lich zu zeigen. Vielleicht würde dann Heim­dall beleidigt reagieren.

»Ein paar Tage. Nicht länger. Du bist

großzügig und großherzig, Heimdall. Es ist gut, dein Freund zu sein.«

»Wir Odinssöhne sind alle gutmütige Herren. Nun, wir werden einige Tage zu tun haben, um das Tor wieder zu reparieren. Wann willst du losfahren?«

Der Innenhof lag noch fast vollkommen im Schatten. Die Sonne hatte sich noch nicht über die Mauern und Säulen erhoben. Nur im westlichen Teil kennzeichnete ein schmaler Streifen die kommende Helligkeit des Tages. Es roch nach feuchtem Sand und Staub.

»Nach einem ausgedehnten Frühstück. Ich denke, ihr werdet auch hungrig sein!« erklärte Koy.

»Einverstanden, Zwerg.« Der Magier hob beide Arme und spreizte

die Finger. Mit stechend flüsternder Stimme sagte er:

»Und wenn sich die Staubwolke der Rau­penketten am Horizont verliert, Koy, dann werde ich dort oben auf dem Dach stehen und dir nachschauen. Skullmanente Geister und magische Formeln werden um den Truvmer und um dich sein. Sie werden dich schützen und verbergen. Die Guten sehen dich, den Bösen wird der Blick auf dein run­des, zerknittertes Antlitz versperrt bleiben. Und nun, auf zum Bier und zum fetten Kä­se!«

»Ich weiß, daß du ein furchtbarer, ernst­zunehmender Magier bist«, gab Koy zurück und krümmte sich innerlich vor Lachen. Im­merhin war die Absicht durchaus positiv, wenn auch vollkommen nutzlos.

»So ist es. Ich sehe, wenigstens du ver­stehst mich!«

»Vorher mußt du noch mit anfassen! Dort hinüber mit dem Holzzeug!« brummte Heimdall und grinste breit. Tatsächlich! dachte Koy voller Verblüffung. Er lächelte. Welche Wandlung ist in ihm vorgegangen.

»Selbstverständlich.« Zusammen schleppten und zerrten sie die

schweren Tore in die Nähe von offenstehen­den Kammern, die den Eindruck von Werk­stätten machten. Bekannte und unbekannte

38

Geräte standen zwischen allen nur denkba­ren Teilen aus Eisen, Hölzern und anderen Materialien. Aufgeschreckte Eiervögel flat­terten nach allen Seiten und flüchteten unter umgestürzte Körbe. Dann gingen die drei so ungleichen Männer wieder in den Neben­raum der Küche, und diesmal halfen sie alle zusammen, um den Tisch so zu decken, daß er sich zu biegen drohte.

*

Die Unruhe, die in ihm stärker und stärker wurde, hinderte Koy daran, zu essen und zu trinken, bis er sich nicht rühren konnte. Für eine kurze Stunde waren die dunklen Ge­heimnisse, die Heimdall und sein Fort um­gaben, vergessen. Erste Sonnenstrahlen fie­len in den Raum und machten ihn trotz des Schmutzes und der Unordnung gemütlich und anheimelnd. Koy begann zu ahnen, daß er freiwillig aus einer Oase der Ruhe und des Wohllebens floh, wenn er den Truvmer durch jenes Tor gesteuert hatte. Es tat ihm leid; in seinem harten Leben gab es wenige Plätze dieser Art, an die er sich erinnern konnte.

Mit heiserer Stimme sagte er übergangs­los:

»Ehe ich meinen Entschluß bereue, meine neuen Freunde, breche ich auf. Ich weiß jetzt, Heimdall Odinssohn, was dein Ange­bot bedeutete. Wenn ich nicht diese stechen-de Unrast in mir spürte, würde ich hierblei­ben.«

»Niemand zwingt dich! Bleibe!« sagte Heimdall herzlich.

»Vieles zwingt mich. Ich gehe. Kommt, bringt mich zum Truvmer.«

»Deine Feuerlanze?« »Ich hole sie schnell.« »Wir warten draußen auf dich.« Ein neuer Abschnitt in seinem Leben be­

gann. Für den Augenblick fühlte sich Koy der Trommler frei und unbeschwert. Er wußte, daß dies nicht lange anhalten würde – sein Leben hieß nicht Ruhe, Frieden und Zufriedenheit. Es hieß: Kampf, Gefahr und

Hans Kneifel

Tod. Er rannte die Treppe aufwärts, holte seine kostbare Waffe und war kurze Zeit später wieder zurück im Innenhof. Der Strei­fen goldenen Sonnenlichts an den Zinnen des Daches war breiter geworden. Heimdall und Kröbel entluden den Truvmer. Es war nicht viel in den Laderäumen, das sie her­auswuchteten.

Heimdall fragte ruhig: »Du kannst ihn steuern, Zwerg?« »Nicht genügend fachmännisch. Zeige es

mir. Fahren wir eine Runde um dein rotes Fort, Heimdall.«

Sie klappten den Einstieg hinunter, scho­ben das gläserne Visier hoch und ließen die Maschinen an. Heimdall bemerkte nach eini­gen Schaltungen:

»Du könntest bis zum Taamberg und zu­rück fahren. An Treibenergie ist also kein Mangel, wie du hier sehen kannst.«

Koy überwand sich nur geringfügig zu ei­ner Geste, die er sich und dem skullmanen­ten Magier schuldig war. Er machte eine Handbewegung und bat damit Heimdall, et­was mit seinen Erklärungen zu warten.

»Einen Augenblick.« Er sprang hinunter, streckte dem Magier

beide Hände entgegen und sagte laut und deutlich:

»Kröbel! Zuerst erschienst du mir wie ein hungernder, ahnungsloser Magier. Jetzt weiß ich, daß du der beste Freund eines Mannes sein kannst! Heimdall weiß es schon länger. Du hast einen Platz in meinem Herzen, und wenn ich jemals wieder lebend in diesen Teil Pthors komme, wird mein erster Besuch dir gelten. Lebe wohl, und jeder Zauber, den du aussprichst, möge wirksam sein und blei­ben.«

Kröbel schluckte und war sprachlos. Dies hatte ihm noch niemals jemand gesagt. Um seine Rührung und Bewegung nicht allzu deutlich zeigen zu müssen, zuckte er die knotigen Schultern und begann zu schimp­fen. Koy begriff alles.

»Hau ab! Ich lasse mich von dir nicht auf den Arm nehmen. Nimm den Truvmer und schlage dir den Schädel an einem Felsen ein,

39 Der Jäger und der Göttersohn

du verrückter Jäger. Viel Erfolg. Glück auf der Jagd. Und Freude an der Beute!«

Koy schenkte ihm ein herzliches Lächeln und erwiderte:

»Danke. Ich rechne fest damit, daß deine skullmanenten Beschwörungen meinen Weg begleiten!«

»Für dich lasse ich mir etwas ganz Teufli­sches einfallen!« keifte Kröbel und versetzte einem Packen einen furchtbaren Tritt. Eine Sekunde später hüpfte er wimmernd über den Hof und hielt seinen rechten Fuß fest. Grollend startete der Truvmer, die Ketten wühlten sich tief in den Untergrund. Heim­dall steuerte das Fahrzeug haarscharf durch die Lücke des Tores und hielt an, als der Truvmer genau zwischen Straße und Mauer stand. Schwerfällig schwang sich der Aasvo­gel in die Luft und krächzte abscheulich.

»Dies ist der Hebel der Geschwindigkeit …«, begann er, während sie die Plätze wechselten. »Und dieser für die Richtungen. Du bremst ein Element ab, das andere dreht den Truvmer …«

Je länger sie fuhren, desto schneller be­griff Koy, was es mit den Hebeln, Schaltern und Uhren auf sich hatte. Nach zwei Um­kreisungen des Forts verstand er alles. Und im übrigen rechnete er mit seinem eigenen Sachverstand. Und darüber hinaus beabsich­tigte er nicht, die Grenzen Pthors mit dem Truvmer zu überschreiten.

»Ich habe alles verstanden. Und woher wirst du wissen, wo der Truvmer steht?«

Sie kletterten hinunter und blieben im Schatten der großen, durchsichtigen Kuppel stehen.

»Heimdall ist kein Narr. Ich werde es schnell erfahren.«

Koy streckte seine Hand aus. Heimdall er­griff sie und drückte zu.

»Ich danke dir, Heimdall. Wenn unsere Wege sich wieder kreuzen, wissen wir, was wir voneinander zu halten haben.«

Heimdall zeigte seine weißen Zähne und erwiderte kurz:

»Wahr! Fahre jetzt. Wohin willst du zu­erst?«

»Nordwest. Scharf vorbei am Taamberg. So plane ich es. Was daraus wird, liegt im Dunkel der Zukunft.«

»Ich wünsche dir alles Glück. Ruiniere den Truvmer nicht; er soll mir noch lange gute Dienste leisten.«

»Ich werde darauf aufpassen wie auf mei­ne Broins!« versprach Koy.

Er kletterte hinauf. Heimdall schob die Leiter hoch. Das Visier senkte sich bis auf einen schmalen Spalt. Dann schob Koy die Hebel nach vorn. Die breiten Gleisketten be­wegten sich und schoben den Truvmer lang­sam vorwärts. Immer schneller wurde das Fahrzeug, und es fiel Koy leicht, die Spuren zu erkennen, sobald er das stumpfsilberne Band der Straße der Mächtigen überquert hatte.

Nach einer Kurve blickte er auf den Rich­tungsanzeiger.

Er steuerte nordwestlichen Kurs. Hinter ihm wirbelten die Zacken und Kanten der Ketten den Staub auf. Ein Blick in den Spie­gel: Das rote Fort verschwand hinter den Staubwolken. Koy glaubte, zwischen den Kanten des Portals den wuchtigen Heimdall zu erkennen und auf dem Dach den kleinen, dürren Zauberer.

Mit einem tiefen Gefühl der Dankbarkeit fuhr er weiter. Je mehr er sich von dem Fort entfernte, desto mehr schwand dieses Gefühl und machte echter Sorge Platz. Die Beklem­mung wuchs. Er war nur scheinbar frei. Er wußte nicht, was ihn unterwegs und am En­de dieser Fahrt erwartete.

Koy fuhr durch das flache Land und hoff­te, so lange zu überleben, bis er in einigen Punkten Gewißheit hatte.

7.

Sie standen schweigend und in Gedanken verloren da und sahen die Staubfahne, die sich hinter den Ketten des Truvmers erhob und sich langsam wieder senkte. Die Sonne stieg eine Handbreit höher. Sowohl Heim­dall als auch Kröbel hatten das deutliche Ge­fühl, einen Freund verloren zu haben. Oder

40

genauer: einen Mann, der ihr Freund hätte werden können. Ein mutiger Mann. Ein An­droide, aber echter als die wirklichen Men­schen auf Pthor. Er war ein Mann nach ih­rem Herzen. Immer niedriger wurde die Wolke, immer kleiner und schwächer. Der Truvmer bewegte sich in mäßigem Tempo genau nach Nordwesten. Er zielte ziemlich genau auf die Gipfel des Taambergs. Was suchte Koy? Wen jagte er? Welchen Erfolg versprach er sich davon, daß ihn das wache Auge nicht mehr erblickte?

Heimdall knurrte finster: »Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.

Aber … Müßiggang verdirbt die Sitten. Wir müssen diese verdammten Gordys aus den Wänden schlagen.«

Er ging in den Innenhof zurück und legte beide Hände an den Mund. »Kröbel!«

Nach einigen Sekunden kam die Antwort vom flachen Dach über dem Tor zurück.

»Hier bin ich. Ich kann ihn gerade noch sehen.«

»Komm her. Wir gehen in den Saal der Schätze. Sonst fangen sie an, in den Mauern zu stinken.«

»Ich komme, Heimdall. Schade, daß ich keinen skullmanenten Zauberspruch und keine magische Formel gefunden habe, die uns diese lästige Arbeit ersparen. Schade. Ich habe die halbe Nacht in den Folianten geblättert. Nichts. Es gibt keinen Zauber für die Beseitigung von erstickten Gordys.«

Ungeduldig winkte Heimdall. »Wir brauchen keinen Zauber. Wir brau­

chen Hämmer und Meißel, Beile und Hacken. Und zehn Gordys – oder sind es neun? – müssen aus den Mauern herausge­schlagen werden. Vergiß Koy den Tromm­ler. Er wird uns nicht helfen.«

»Nein. Diese verdammte Arbeit bleibt uns. Aber die Bruchstücke haben sie nicht einmal berührt, diese verbrecherischen Gordys!« kreischte Kröbel.

Sie suchten die Werkzeuge zusammen, dann gingen sie schweigend durch die Stol­len und Korridore bis zum Saal der Kostbar­keiten. Heimdall zählte die Stellen, an denen

Hans Kneifel

ein Körperteil aus der Mauer ragte. Er pack­te eine riesige, spitze Hacke und begann wie ein Rasender, auf die Wände loszuschlagen.

Ziegeltrümmer, Brocken von Füllmaterial und Stücke von wuchtigen Quadern flogen nach allen Seiten. Nach einiger Zeit hielt Kröbel in seinem Versuch, eine Leiche aus der Mauer herauszuschlagen, inne. Er warf einen langen, nachdenklichen Blick auf sei­nen bärenstarken Freund.

Die flüchtige Heiterkeit hatte Heimdall verlassen. Seit Koy weggefahren war, ver­düsterte sich seine Miene zusehends wieder. Er wurde schweigsam und in sich gekehrt.

Kröbel kannte die kurzen Momente einer unglaubwürdigen, aber nichtsdestotrotz ech­ten Euphorie. Sie beschäftigte sich aus­nahmslos mit der Zukunft. Aber die Gegen­wart war für den Sohn Odins schon immer eine Qual gewesen, die schwer auf seinen Schultern und noch schwerer auf seinem Herzen lastete. Jetzt schien sich die Gelöst­heit umzukehren. Schwarze Gedanken und Empfindungen suchten Heimdall heim. Wie ein Rasender drosch er auf die Wand in der Umgebung eines aufgedunsenen Kopfes mit hervorquellenden Augen, eines Knies und eines ausgestreckten Armes ein.

Kröbel versuchte, auf Heimdall einzuwir­ken. Er rief:

»Heimdall?« Er mußte seinen Ruf dreimal wiederholen,

denn der schwarzhaarige Mann arbeitete wie ein Berserker.

»Ja? Was ist los?« »Du warst vorhin weiter. Warum bist du

jetzt wieder böse, in dich gekehrt und wie ein Fremder?«

Heimdall schlug weiter mit der Hacke auf die Mauer ein. Ein Drittel seines Körpers war in Umrissen schon erkennbar. Ein Ge­ruch nach Verwesung breitete sich ekelhaft aus.

»Ich kann nicht lachen, wenn ich solche Scheußlichkeiten sehe«, rief Heimdall.

»Ich will nicht, daß du lachst!« »Sondern?« Heimdall kniff die Augen zusammen. Im­

41 Der Jäger und der Göttersohn

mer wieder beschrieb die wuchtige Hacke einen Halbkreis und traf mit der Spitze dicht neben das Loch und die Spalten des vorher­gegangenen Schlages. Gesteinssplitter surr­ten durch den Saal der Schätze und klirrten auf die kostbaren Bodenfliesen.

»Du sollst nicht so schwarz und so düster sein.«

Nach zwanzig weiteren Schlägen stieß Heimdall hervor:

»Mein Vater Odin hat es prophezeit!« Kröbel war verblüfft. Stockend erkundig­

te er sich: »Was hat er geweissagt, Heimdall?« Es würde ihm nicht gelingen, seinen rät­

selhaften Freund ein wenig aufzuheitern. Die Gelöstheit des vorangegangenen Abends und die heiteren Gespräche des Frühstücks waren vorbei und vergessen. Wieder senkte sich die graue, nebelartige Verzweiflung über Heimdall.

»Er sagte, daß ein Tag käme, an dem alles in Bewegung geraten würde. Die festen Din­ge sind dann nicht mehr fest. Fremdes dringt ein, Unbekanntes macht sich breit und ver­ändert die bekannten Werte.«

Kröbel bewies, daß auch er zwei Gesich­ter hatte. Für einige Sekunden vergaß er den Status, den er hier genoß. Er wurde sehr ernst – aber nur für ganz kurze Zeit, dann gewann sein Bestreben, es aller Welt zeigen zu müssen, wieder die Oberhand, und des­wegen sagte er:

»Mir scheint, dich suchen Visionen und Schreckensbilder heim?«

»So ist es. Eines Tages werde ich alle Tei­le besitzen, alle Bruchstücke dort!«

»Und dann?« »Dann werde ich das Geheimnis Pthors

ergründen. Vater Odin sagte es. Die Zeit der Unsicherheit ist nahe. Spürst du es nicht, Magier?«

Schlagartig fand Kröbel zu dem Bild zu­rück, das sich alle anderen von ihm machen sollten.

»Ich spüre es zweifellos. Aber anders als du, Heimdall. Koy der Trommler ist nur ei­nes von vielen Zeichen. Aber … was willst

du tun?« »Warten, Kröbel, warten!« »Worauf?« »Auf ein neues Ereignis. Fremde sollen

gekommen sein. Ich sage dir: Alles wird sich verändern. Vielleicht kommt Vater Odin wieder und zeigt es allen, wohin der Weg führt. Er war der beste aller göttlichen Herrscher.«

»Bevor du dich in Tagträumen verlierst«, schrie Kröbel und versuchte, die Gedanken seines Freundes in andere Bahnen zu lenken, »versuche wenigstens, die stinkenden Lei­chen dieser verbrecherischen Gordys aus der Wand zu hacken. Los, du Monstrum! Schlag zu! Tobe deine Wut am Stein aus.«

Heimdall starrte ihn schweigend an. Sein Blick glich dem eines zu Tode getroffenen Tieres. Dann spuckte er in die Hände, griff wortlos nach der Hacke und schwang sie wie seine Khylda in die Höhe. Er holte aus und jagte die scharfgeschliffene Spitze kra­chend in die Mauer. Mehr und mehr schälte sich der Körper des steckengebliebenen und erstickten Gordys aus dem Mörtel und den uralten Ziegeln. Diese Reaktion war kenn­zeichnend: Heimdall war zutiefst unsicher und tobte sich in Aktionen und Kraftanstren­gungen aus. Kröbel hob die Schultern und sah dem schweigend schuftenden Freund ei­ne Weile lang zu, dann fing auch er wieder an, auf die Wand einzuschlagen.

Brach wirklich eine neue Zeit an? War der Besuch Koys eine Art Zeichen

gewesen? Oder hatten die Fremden etwas damit zu tun?

Würde Odin wiederkommen? Kaum zu glauben, aber immerhin möglich – Pthor war eine Welt der wunderbaren Zufälle und der ständig wechselnden Außenwelten. Wie auch immer: Die nächste Zeit würde alles andere als einfach oder leicht sein. Und er, der skullmanente Magier, befand sich mitten in der Auseinandersetzung.

Aber er hatte Heimdall als Freund.

8.

42

Seine Waffen und die Ausrüstung lagen auf dem Nebensitz. An runden Haken bau­melten Wasserflaschen und ein Paket mit Nahrungsmitteln aus dem roten Fort. Die Maschinen brummten gleichmäßig, das Ras­seln und Rattern der Ketten war ein ange­nehmes, gleichförmiges Geräusch. Die letz­ten Häuser von Donkmoon verschwanden rechts in der Staubwolke des Truvmers. Koy der Trommler schob die Hebel nach vorn und registrierte, daß der Truvmer etwas schneller wurde.

Ihm war daran gelegen, möglichst schnell weit nach Norden zu gelangen, in die Rich­tung der dunklen Regionen und der Eiskü­ste. Odin mochte wissen, wo für ihn die Rei­se zum erstenmal endete.

Immer wieder spähte er nach vorn, sah in die Spiegel und hielt Ausschau nach rechts und links. Niemand schien an diesem späten Morgen von ihm Notiz zu nehmen. Viel­leicht dachte jedermann, Heimdall mit seiner furchtbaren Khylda sei wieder unterwegs, um an irgendeiner abgelegenen Stelle nach einem Parraxynth-Bruchstück zu suchen.

Koy lächelte kurz und lachte leise auf. »Das Gegenteil ist der Fall. Ich bin es, der

kleine Jäger mit den Broins und dem schar­fen Spürsinn. Es gibt keine Spuren und kei­ne Hinweise.«

Eine Stunde lang fuhr er weiter, in lang­gezogenem Zickzackkurs, den flachsten Stellen der Landschaft folgend. Er bemühte sich, die Ketten stets auf felsigem oder stei­nigem Grund zu halten, oder auf Sand, wo sie bald von Bergen und Wind verwischt werden würden. Natürlich kam er schnell vorwärts, aber dafür verschmolz er nicht wie sonst mit der Natur und verbarg sich in ihren eigenen Verstecken.

Vor ihm tauchte ein schwarzer Punkt auf. Er bewegte sich langsam am Himmel und zog dort weite Kreise. Nachdem Koy eine Baumgruppe umrundet hatte, hob er wieder den Kopf – und da waren es schon vier schwarze, winzige Silhouetten geworden.

Er kannte sie. Es waren Raubvögel. Große Aasfresser,

Hans Kneifel

die auch Lebende nicht verschmähten. Ihre langen, sichelförmig nach vorn gekrümmten Schwingen waren unverkennbar, auch der kurze, breitgefächerte Schwanz mit den drei langen Endfedern, die sich im Lauf der Ent­wicklung zu biologischen Peitschenschnüren herausgebildet hatten. Zwei weitere Yrkans kamen hinzu, schließlich waren es ein Dut­zend, dessen Kreise immer enger wurden, die immer tiefer schwebten.

»Ein Aas dort vorn. Oder etwas anderes. Nun, ich brauche keinen Umweg zu fahren.«

Bis jetzt hatte sich Koy etwa an die Spu­ren gehalten, die Heimdall durch das Land gepflügt hatte. Weit links sah er wieder die Wolken aus Staub und Sand, die von den Bestien der Ebene Kalmlech erzeugt wur­den. Das Grün des Landes weit entfernt von Donkmoon und der Straße verlor jetzt seine saftige Farbe und änderte sich; es wurde hel­ler, schon begannen Gräser und Blätter zu dorren und sich mit dem feinen gelbweißli­chen Staub zu überziehen. Koy fuhr gerade­aus. Seine Wachsamkeit nahm zu. Er fühlte, daß tief in seinem Innern eine Stimmung er­wachte. Auch sie war ihm gut bekannt – das Jagdfieber. Tatsächlich schienen sich seine Sinne zu schärfen, seine Konzentration nahm zu, und er versuchte, die winzigsten Bedeutungen zu erkennen und richtig zu deuten. Sein Leben und der Erfolg seiner Jagd hingen davon ab.

Schräg links vor ihm erschien jetzt ein Teil des Schattens, den der Truvmer warf. Die Ketten glitten jetzt über Gras und riesige schillernde Moosflächen und zwischen kup­pelförmigen Büschen mit Blättern hindurch, die wie gepanzerte Stacheln aussahen. Vor ihm breitete sich eine kleine, ebene Fläche aus, mehr ein Talkessel, von kleinen Hügeln umgrenzt, an deren Hänge sich Baumgrup­pen duckten. Die Yrkans benahmen sich jetzt, als ob ihre Mahlzeit unmittelbar bevor­stünde. Der erste winkelte die Schwingen an und leitete eine schräge Sturzbahn ein. Hin­ter der Kuppe des am weitesten entfernten Hügels verschwand das Raubtier, aber als Koy die Maschine beschleunigte und quer

43 Der Jäger und der Göttersohn

über den Talkessel ratterte, schwang sich der schwarze Vogel wieder schräg aufwärts und schlug hastig mit seinen Flügeln. Die ande­ren behielten ihre Kreisbahnen bei, aber sie befanden sich nur noch hundert Meter über dem Boden.

Koy war jetzt ernsthaft beunruhigt. Der Truvmer beschrieb kurz vor dem En­

de der Talfläche einen Bogen und klirrte auf den Spalt zwischen zwei Hügeln hinein. Ein Bachbett tauchte auf, ein zwei Handbreit tie­fes Rinnsal lief inmitten eines breiten Strei­fens aus weißgewaschenen Kieseln. Die Ma­schine vibrierte kurz, als die Ketten sich leer durchdrehten und einen Hagel von Kieseln und Splittern nach hinten schleuderten. Dann faßten sie wieder, und Koy jagte das Bachbett aufwärts, schwang den Truvmer zwischen den Bäumen hindurch, schrammte an einem Felsen entlang und brach dann zwischen den Hügeln hervor. Die Yrkans waren jetzt direkt über ihm. Ab und zu jagte ein schwarzer Schatten dicht über die Kup­pel des Fahrerhauses hinweg. Der metallene Skorpion gab einen heulenden Warnschrei von sich, als Koy sah, was sich vor ihm ab­spielte.

Auf einer Moosfläche, die im Sonnenlicht seltsam glänzte, stand ein mittelgroßer Mann. Er war abenteuerlich gekleidet, aber er blutete aus unzähligen Wunden. Er hielt einen Arm über den Kopf und schlug nach einem Yrkan, der ihn angriff. Der Haken­schnabel riß eine Kopfwunde, die Klauen fetzten Leder und Haut von der Schulter des Mannes. Die schwarzen Flügel, von denen Federn weggerissen wurden, schlugen das Schwert aus der kraftlosen Hand.

Koy steuerte den Truvmer, ununterbro­chen scharfe Warntöne aus dem verborge­nen Horn ausstoßend, genau auf den Mann zu. Im selben Augenblick, als Koy die Ket­ten anhielt und mit der Feuerlanze in der Hand aus dem Frontspalt sprang, gab der Mann ein langgezogenes Stöhnen von sich und brach zusammen.

Mit drei, vier Sätzen war Koy bei ihm. Jetzt sah er, warum das Moos so glänzte. Es

waren blutige Yrkanfedern und das Blut des übel zugerichteten Mannes.

Jetzt erfolgte der eigentliche Angriff. Die Yrkans waren rasend vor Hunger und

Gier. Drei oder vier von ihnen stürzten sich aus verschiedenen Richtungen auf die bei­den Männer. Koy riß die Lanze hoch, entsi­cherte sie und kniff die Augen zu schmalen Spalten zusammen. Dann feuerte er und drehte sich schnell um seine eigene Achse. Eine riesige Flammenwolke breitete sich heulend und knatternd aus, bildete einen Kreisring, der kochend heiß aufstieg, in die Flugbahnen von einigen riesigen Vögeln hinein.

Die weiße Glut blendete sie, äscherte ihre Federn ein und verbrannte Gefieder und Klauen. Viermal ertönte ein schriller Todes­schrei. Hier und dort schlugen die Körper wie Geschosse ins Moos und blieben zuckend als qualmende Bündel liegen.

Der Mann lag auf dem Rücken. Ein Arm hatte sich unter den Körper geschoben. Zu seinem Entsetzen sah Koy einen abgesplit­terten Armbrustbolzen oberhalb des Magens in dem blutigen Fleisch stecken.

Der Geruch des Todes ging von dem Un­bekannten aus.

Koy hielt die Lanze schußbereit in der Rechten, beschattete seine Augen und starrte zu den Yrkans hinauf.

Ein Dutzend etwa drehte weiterhin ihre Kreise, aber jetzt ließen sie sich von dem warmen Aufwind aufwärts tragen. Sie wür­den hier bleiben und auf ihre Sekunde war­ten, aber die Todesschreie ihrer Artgenossen hatten sie gewarnt. Koy kauerte sich neben dem Sterbenden ins Moos und fragte:

»Wer hat dich so zugerichtet, Fremder?« Der Fremde bewegte die Lippen. Ein pfei­

fendes Geräusch drang aus seiner Lunge. Dann öffnete er die Augen. Koy nestelte die kleine Wasserflasche von seinem Gürtel und träufelte Wasser auf die aufgerissenen Lip­pen.

»Die Regenflußpiraten … der Pfeil. Dann die verfluchten Vögel. Sie kamen ganz plötzlich … der Truvmer?«

44

»Heimdall lieh ihn mir. Wo hast du die Piraten getroffen?«

Es mußten Angehörige der Gruppe gewe­sen sein, mit denen sich Heimdall diesen schnellen und erbarmungslosen Kampf ge­liefert hatte. Koy glaubte, die auffallend gut gearbeiteten Stiefel wiederzuerkennen. Einer der Toten hatte sie getragen.

»Vor Stunden. In der Nacht. Sie sind ra­send vor … Wut. Wer bist du?«

»Ich bin Koy der Trommler.« »Koy?« Der Sterbende versuchte, den Kopf zu he­

ben. Mit entsetzten Augen starrte er den Trommler an. Das Wasser tropfte auf seine Augen und die Nase. Ächzend sank er wie­der zurück.

»Ich bin … ich war Knarder. Ein Ausge­stoßener. Ich wanderte hin und her und über­lebte. Am Abend traf ich den Kramolan. Er sprach … von dir.«

Koy witterte neue Geheimnisse, neue Ge­fahren. Er warf einen argwöhnischen Blick zu den Totenvögeln. Sie verhielten sich noch immer abwartend.

Gierig schluckte der Sterbende das kühle Wasser.

»Wer ist Kramolan?« Knarder schwieg. Er begann röchelnd zu

atmen. Seine Augen schlossen sich. Koy schob die Hand vorsichtig in den Nacken des Mannes. Seine Finger wurden klebrig vor Blut und kaltem Schweiß.

»Zwischen hier und den Goscholt-Klip­pen … einen halben Tagesmarsch … ein weicher Felsen. In einer Höhle … der Kra­molan. Du wirst ihn erkennen … silbern, groß mit drei Augen. Manchmal sieht er in die Zukunft oder hinaus in die fremden Wel­ten. Er sagte, daß ich dich treffen …«

»Offensichtlich hatte er recht«, antwortete Koy. »Kann ich etwas für dich tun? Ich fürchte, ich kann dich nicht mehr retten.«

Ihm fiel das Fläschchen ein, das ihm Krö­bel beim Frühstück gegeben hatte. Immer dann ein paar Tropfen, wenn du denkst, es ist unbedingt nötig. Es ist eine skullmanente Medizin. Sie hilft Toten auf die Beine, hatte

Hans Kneifel

Kröbel gesagt und listig gekichert. Schnell holte Koy die Ampulle aus seiner Tasche, öffnete sie und träufelte vier oder fünf Trop­fen auf die Lippen des Sterbenden. Ein durchdringender Geruch breitete sich aus und wurde vom Wind fortgetragen.

Die Wirkung war schnell und verblüffend. Die gequälten Züge des zerrissenen, blut­

verkrusteten Gesichts glätteten sich. Ein Ausdruck von Frieden erschien. Knarder öffnete die Augen und brachte eine Art dankbares Lächeln zustande. Automatisch verkorkte Koy das Fläschchen wieder; es war nicht sehr viel von der geheimnisvollen Flüssigkeit darin.

»Du hast schon viel getan, Koy. Ich danke dir, daß du dich um einen Ausgestoßenen gekümmert hast. Bevor ich sterbe … geh zum Kramolan. Sprich mit ihm. Vielleicht erfährst du, was du wissen willst. Er ist ei­genartig, aber klug. Mir sagte er, daß meine Leiden bald ein Ende haben. Wie wahr …«

Er schloß die Augen. Durch seinen Kör­per ging ein langsames Zittern, und er starb. Koy stand langsam auf und wischte sich me­chanisch die Hände an den Hosen ab.

»Die Medizin hat dir zwar nicht auf die Beine, aber zu einem sanften Tod ohne Schmerzen verholfen«, murmelte er. Dann packte er Knarder am Gürtel und schleppte ihn mit der linken Hand an den Rand der Moosfläche. Eine halbe Stunde lang sam­melte er große Steine und bedeckte damit den Körper des Ausgestoßenen. Die Vögel hielten sich in achtungsvoller Höhe, von den vier verschmorten Körpern stiegen Rauch­säulen auf. Koy schulterte die Lanze, ging zurück bis zum Wasserlauf und wusch das Blut von seinen Händen und den Stiefeln.

Als er weiterfuhr, ließ sich ein Yrkan nach dem anderen fallen und landete auf dem Steinhaufen oder dicht daneben. Die Vögel schrien gellend. Zwei von ihnen sprangen mit ungefügen Schritten hinüber zu ihren verbrannten Artgenossen und schlu­gen mit den Schnäbeln auf die Körper ein. Koy wandte schaudernd den Kopf und sah in der Ferne die Gipfel des Taambergs auf­

45 Der Jäger und der Göttersohn

tauchen. Leichter Dunst und einige weiße Wolken

hüllten die obersten Spitzen ein. Sie wirkten wie die zahllosen Legenden, die sich um den Berg und seine Umgebung rankten.

*

Gegen Mittag tauchte am Horizont etwas auf, das wie ein Pilz aussah. Konnte dies der weiche Felsen des Kramolan sein? Mit stei­gender Unruhe steuerte Koy weiter und hielt genau darauf zu. Es schien zu stimmen: Wenn er eine Linie zog zwischen dem Stein­haufen, der Knarder bedeckte, und dem klei­neren, südlicheren Gipfel des Taam-Mas­sivs, dann konnte dies die bewußte Stelle sein.

Die Figur kam näher und verschmolz all­mählich mit der Landschaft. Ein heller Fel­sen von der Farbe des Sandes. Ein dicker Stumpf wuchs aus dem Boden, und die Ero­sion hatte sowohl die oberste Fläche als auch die überhängenden Teile ausgewa­schen. Der Fels sah wie ein Pilz aus und war voller Löcher, Beulen und bewachsener Stellen. Als Koy nahe genug heran war, um genau zu sehen, erkannte er im Stumpf ein paar Öffnungen, die nicht von der natürli­chen Verwitterung herrührten.

Er suchte zwischen üppig wuchernden, ei­gentümlich runden Vegetationsinseln und kargeren Teilen der Umgebung seinen Kurs und steuerte den Truvmer von Westen an den Pilz heran. Einmal drückte er kurz auf den Knopf, und wieder ertönte das laute, drohende Horn. Koy wollte diesen rätselhaf­ten Mann nicht erschrecken.

Silberhäutig? Drei Augen? Klug und ei­genartig?

»Er ist sicher eigenartig«, murmelte Koy und lenkte den Truvmer, der immer langsa­mer über die Steine kroch und schwankte, halb um den Pilz herum. Verschieden große und unterschiedlich geformte Öffnungen be­fanden sich in verschiedenen Höhen, aber stets mindestens fünf Meter über dem Bo­den. Der gesamte Pilz mochte eine Höhe

von dreißig Metern haben. Der Truvmer fuhr in den Schatten hinein. Auf der südöst­lichen Seite führte eine bogenförmige Trep­pe, in minuziöser Arbeit aus dem Stein her­ausgemeißelt, aufwärts.

Niemand war zu sehen. Keine Posten, Ungeheuer oder kleine,

bösartige Tiere stürzten sich aus Verstecken auf den Truvmer. Koy hielt einige Meter vor dem Fuß der Treppe an, wählte aus seinem Waffenarsenal einige Gegenstände aus, dann schob er das Visier hoch und klappte die Steigleiter herunter. Zögernd blieb er auf der untersten, größten Stufe stehen.

»Ich bin Koy der Trommler. Ich suche den Kramolan!« rief er.

Niemand antwortete. Nur der Mittags­wind fauchte hohl in den leeren Fensteröff­nungen. Langsam und mit äußerster Vor­sicht stieg Koy Stufe um Stufe hinauf. Auf halber Höhe, etwa doppelt mannshoch über dem Boden, blieb er stehen und schaute sich um. Von hier aus hatte man einen hervorra­genden Blick über das gesamte Land, die Horizonte waren sehr weit entfernt. Auf sei­ne Weise war der Ausblick eintönig und fas­zinierend zugleich; es wiederholten sich nur wenige Bestandteile sehr häufig: Baumin­seln, Gesteinsfelder, kleine Hügel und ebene Flächen. Darüber spannte sich der Himmel, über den nicht das kleinste Wölkchen trieb. Nur drüben am Taamberg bildeten sich Schleier und langgezogene Felder. Koy ging weiter und hielt die Feuerlanze schußbereit.

»Ein harmloser Besucher will den Kramo­lan sprechen!« rief er, als er den Eingang er­reicht hatte. Es gab keine Tür, sondern nur eine gerundete, schmale Öffnung. Sie war von Dhorm-Fruchtkernen optisch verschlos­sen; die kugelförmigen Samen waren auf dünne Fäden kettenartig aufgezogen.

Der Vorhang rasselte und klapperte, als Koy ihn zur Seite schob und eintrat. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die verän­derten Heiligkeitsverhältnisse. Er blieb in der Mitte eines annähernd runden Baumes stehen, sah sich um, horchte und zog scharf die Luft ein.

46

Die Stille mochte natürlichen Ursprungs sein, ihn machte sie gespannt und ließ ihn Gefahren erwarten. Das leise Winseln des Windes zerrte an den Nerven. Er glaubte nicht, daß ein einzelner Mann diesen Felsen ausgehöhlt hatte. Es war eine Unmenge Ar­beit gewesen. Es gab kaum scharfe Kanten. Alle Böden und Wände und Decken standen nicht in rechten Winkeln zueinander. Vertie­fungen in den Wänden enthielten in unregel­mäßig geformten Nischen Gegenstände, die so fremd waren wie jeder andere Eindruck hier. Den Finger auf dem Hahn der Feuer­lanze ging Koy weiter, kam in einigen leeren oder fast leeren Kammern vorbei, in denen hohe, vasenförmige Behälter standen. In ei­ner leeren Fensteröffnung saß ein riesiger Schmetterling mit zuckenden Flügeln.

»Kramolan!« rief Koy nochmals. Wieder erhielt er keine Antwort.

Er drang tiefer in das Gebäude ein. Trep­pen und Rampen führten in allen denkbaren Windungen aufwärts und abwärts. Koy ver­suchte, keine Abzweigungen zu nehmen, sondern ging in dem breitesten Stück des Korridors. Nachdem er festgestellt hatte, daß er immer weiter nach oben kam, öffnete sich vor ihm der bisher größte Raum.

Hier gab es vier große Öffnungen, die in alle Himmelsrichtungen hinausgingen. In der Mitte des Raumes, der am besten von bisher allen anderen eingerichtet war, lag ei­ne Art dicker Teppich auf einem Podest. Darauf kauerte ein Mann, der wahrhaft selt­sam aussah und noch merkwürdiger wirkte.

»Du bist Kramolan?« fragte Koy und senkte die Lanze, an der er den Mechanis­mus gesichert hatte. Von diesem Mann drohte ihm keine Gefahr. Ganz langsam, als ob er aus einem tiefen Traum erwachen wür­de, bewegte sich der Kramolan.

»Wer bist du?« fragte er leise. »Man nennt mich Koy den Trommler«,

sagte Koy überwältigt. »Ich habe den Aus­gestoßenen Knarder begraben. Die Piraten und die Yrkans haben ihn getötet.«

»Dies war abzusehen und lag im Bereich der engeren Wahrscheinlichkeit.«

Hans Kneifel

Der Kramolan trug weiche Stiefel aus Stoff mit dem Leder aus Echsenhaut. Eine kurze Hose und eine offene Jacke waren sei­ne einzige Bekleidung. Seine Haut schien geschuppt zu sein wie die eines Fisches. In der halben Dämmerung des Raumes war der Umstand, daß sie tatsächlich silberfarben war, nicht zu übersehen. Auch das längliche, asketische Gesicht mit der kühn vorsprin­genden Geiernase war silbern und völlig haarlos.

In der Stirn, direkt über der Nasenwurzel, gab es etwas, das man als drittes Auge be­zeichnen konnte. Es sah aus wie ein Stück Metall oder Edelstein in der Form einer Ku­gelkalotte. Die Farbe war ein marmoriertes Blau. Koy sah weder Lider noch Wimpern.

»Bevor er starb, sprach er mit mir«, be­gann Koy.

»Sonst wärst du nicht hierher gekommen. Ich sah den Truvmer Heimdalls. Hast du ihn gestohlen?«

»Nein. Ich half Heimdall. Und er half mir. Er überließ mir den Truvmer. Wer bist du wirklich, Kramolan?«

»Meine Herkunft tut nichts zur Sache«, sagte er. »Was willst du?«

»Mit dir über die Zukunft oder über Din­ge reden, die weiter liegen als bis wohin das Auge reicht.«

»Das wollen sie alle.« »Knarder schickt mich. Er sagte, du hät­

test über mich gesprochen.« »Ich spreche über vieles. Nimm Platz.« Breite Armbänder und überbreite Bänder

aus fein ziseliertem schwarzem Metall zier­ten die silberne Haut des Kramolan. Mehre­re Ketten in ebensolcher Technik hingen von seinem schlanken Hals bis auf die unbehaar­te Brust. Kramolan saß regungslos da und betrachtete Koy aus zwei grauen Augen. Ganz sicher war Kramolan ein Einsiedler und ein Eigenbrötler. Aber was verbarg sich hinter dieser ungewöhnlichen Maske, die selbst im Reigen aller anderen Eigentüm­lichkeiten im Land Pthor eine Ausnahme darstellte?

Koy setzte sich auf ein würfelförmiges

47 Der Jäger und der Göttersohn

Stück Sandstein, auf dem ein einfaches Kis­sen lag. Er schwieg und wartete.

Nach einiger Zeit, in der er regungslos aus dem im Süden gelegenen Fenster hinausge­starrt hatte, wandte sich der silberne Mann Koy zu, zog seine Beine unter seinem Kör­per hervor und federte mit einer blitzschnel­len Bewegung vom Postament hinunter. Koy sah, daß er starke Knochen und scharf mo­dellierte Muskeln hatte, die sich in spieleri­scher Leichtigkeit bewegten.

»Du bist ein Sklave der Herren der FE­STUNG, nicht wahr?«

»Ja. Sie schickten mich aus, um Fremde zu suchen. Kannst du, der du die Zukunft kennst, mir sagen, ob es diese Fremden gibt? Ich habe die Verbindung zum Wachen Auge verloren und bin praktisch frei.«

Koy hatte unzählige Legenden und viele Berichte in allen Teilen des Landes gehört. Aber nicht eine Erzählung sprach vom sil­bernen, dreiäugigen Kramolan. Der Mann und das, was er angeblich vermochte, waren ihm völlig neu. Und überdies war er skep­tisch. Schaden konnte es nicht, wenn er sich mit diesem Rätselwesen unterhielt, aber vielleicht nützte es auch nichts. Jedenfalls war Kramolan sehr bemerkenswert in allem, was er tat, und vor allem, wie er es tat. Eine Aura der Geheimnisse und der Rätsel umgab ihn.

»Die Fremden sind in Pthor«, sagte Kra­molan und setzte sich Koy gegenüber an den Rand des Podests.

»Wo?« »Ich weiß es nicht. Ich sah Leute, die von

ihnen erzählten. Aber ich sah sie selbst nicht.«

»Ich fahre nach Norden, nach Nordwe­sten, genauer. Werde ich sie dort treffen, je­ne Fremden? Und … was kannst du mir über die Fremden sagen?«

»Sie sollen wild und kämpferisch sein, durchtrieben und schnell. Sie haben eine große Fähigkeit, so weiß ich, sich allen Um­gebungen anzugleichen wie gewisse Tiere, die ihre Farbe wechseln. Im Augenblick sind sie unsichtbar und irgendwo auf Pthor, nie­

mand weiß, wo. Du sollst sie suchen und vernichten?«

Koy sagte sich, daß es sehr viel klüger war, seine Absichten nicht klar zu schildern. Da er sie als seine potentiellen Verbündeten betrachtete, mußte er sie so oder so finden, um mit ihnen sprechen zu können. Dies traf ebenso auf den Befehl der Herren der FE­STUNG zu.

»Ich bin gehalten, sie schnell zu finden«, sagte er. »Und ich weiß, daß es alles andere als leicht und einfach sein wird. Was mich zur nächsten Frage bringt. Was werde ich er­leben, ehe ich auf die Fremden stoße?«

Kramolan hatte ihm bestätigt, was er ge­ahnt hatte. Niemand, der auf Pthor überleb­te, war ein Schwächling oder ein Dumm­kopf. Und wenn es Fremden gelang, den Schirm zu durchbrechen, den sie selbst um Pthor gelegt hatten und noch immer zu le­ben, dann mußten es wahre Wunderexem­plare sein.

Kramolan schüttelte den Kopf und lächel­te kühl.

»Jede Information ist ihren Preis wert. Was könntest du bieten?«

Ohne zu zögern sagte Koy: »Ich kenne den Besitzer der meisten Par­

raxynth-Bruchstücke. Er wird es, denke ich, sein, der in absehbarer Zeit alle Geheimnisse von Pthor löst. Er hat, so wie ich es sehe, die besten Chancen dazu.«

Das dritte Auge Kramolans leuchtete plötzlich auf. Ein kaltes blaues Licht erfüllte sekundenlang zuckend den Raum. Koy fuhr zurück und zwinkerte. Er war kurz geblen­det worden.

»Ein schöner Effekt«, sagte er schließlich. »Ein Zeichen meiner Erregung. Das dritte

Auge leuchtet auch, wenn ich tief in die Ge­heimnisse eindringe.«

Der größere Bruder von Kröbel, dachte sich Koy. Aber er fragte:

»Bist du an dieser Information interes­siert?«

»Selbstverständlich. Ich kenne mehrere, die ebenfalls Bruchstücke haben. Keine großen, aber voller Zahlen, Ziffern und

48

Buchstaben. Sie werden Ehren einheimsen, wenn sie sich mit dem Manne verbünden, der die meisten hat.«

»Ich kann mich nicht erinnern, gesagt zu haben, daß es ein Mann ist!« gab Koy zu­rück.

»Eine Frau? Undenkbar.« »Du hast recht. Nimmst du diese meine

Information in Zahlung, Kramolan? Ich muß weiter, es zieht mich nach Nordosten. Aber versuche bitte nicht, mich mit Hinweisen auf drohende Gefahren und große Entbehrungen zu überschütten. Ich weiß, daß es kaum eine Stelle auf Pthor gibt, die nicht voller Gefah­ren ist. Was mich betrifft, so führe ich seit langem ein entbehrungsreiches Leben.«

Als Kramolan seine Schultern hob und den Kopf schüttelte, klirrte der eiserne Schmuck.

»Du wirst, ehe du die Fremden findest, den absolut tiefsten Punkt im Lauf deiner Existenz erreicht haben. Nachher wirst du ein anderer sein, nicht äußerlich, aber inner­lich. Die Schmerzen, die man dir zufügt, sind körperlich und treffen ebenso dein Herz. Man wird dich darüber hinaus des letzten Restes deiner Würde zu berauben versuchen. Das sehe ich ganz deutlich.«

Koy starrte ihn schweigend an. Hinter sei­ner runden Stirn überschlugen sich Gedan­ken und Empfindungen. Woher nahm dieser Mann das Wissen und diese ruhige, echte Selbstverständlichkeit?

»Ich kann nicht behaupten, daß mich dei­ne Erklärungen freuen. Aber wenn du nicht lügst, dann weiß ich, was mir droht. Danke für deine Rede, Kramolan. Ich weiß jetzt, daß ich kein leichtes Leben haben werde.«

»Die Linien des Schicksals sind wirr. Ich sehe Teile davon, aber ich vermag sie nicht zu entknoten. Wer ist der Besitzer der vielen Bruchstücke?«

Ruhig sagte Koy: »Heimdall, der Sohn Odins.« Wieder zuckte flackernd das blaue Auge

auf wie ein Scheinwerfer des Truvmers. Kramolan stieß heiser hervor:

»Der schwarze, düstere Heimdall, der

Hans Kneifel

Pthor mit seinem Kettenwagen durchforscht! Ausgerechnet er! Nun, ich werde nichts tun, um ihm die Teile zu stehlen. Aber es ist gut, zu wissen, wer vermutlich die Herren der FESTUNG ablösen wird.«

Koy nickte bedächtig und stand zögernd auf.

»Siehst du die Schicksalslinien des heuti­gen Nachmittags, Silberner?«

»Zum Teil.« Koy schulterte die Feuerlanze und ging

einige Schritte in die Richtung des Ausgan­ges.

»Sind darunter meine persönlichen Lini­en, Kramolan?«

Die Worte, die er gehört hatte, fraßen sich langsam in ihm fest. Wenn der Silberne die Wahrheit sprach, dann hatte er nicht gerade schöne Tage vor sich. Seine Mutter fiel ihm ein; ein weiterer Punkt, an dem er ernsthaft verwundbar war.

»Zum Teil, Koy«, sagte der Silberne lä­chelnd.

»Was sagen sie? Was bedeuten sie?« »Der Rest dieses Tages wird dir keine Ge­

fahren bringen. Nimm den Truvmer und steuere auf dein Ziel zu. Du bist nicht ge­fährdet. Mag sein, daß du auf dem Weg Din­ge siehst oder erlebst, die gefährlich ausse­hen mögen, aber für dich, Jäger, bedeuten sie keine wirklichen Gefahren.«

Koy nickte dankend und streckte die Hand aus.

»Ich danke dir, Kramolan. Wenigstens ein paar Stunden voller Ruhe habe ich noch vor mir. Und du? Du bleibst hier und starrst ab­wechselnd durch eines der vier Fenster in die Ferne?«

»Glaube mir«, war die ruhige Antwort, »daß ich auf diese Weise Dinge sehe, die dir und den anderen verborgen bleiben.«

Er schüttelte Koys Hand mit einem festen, harten Griff und deutete in die Richtung des Ausgangs.

»Wie auch immer«, murmelte Koy. »Ich danke dir, und ich wünsche dir bessere Schicksalslinien, Silberner.«

»Da ich mein Leben betrachtend, abwar­

49 Der Jäger und der Göttersohn

tend und weitestgehend passiv betreibe, ist die Gefahr gewaltsamer Unterbrechungen gering. Viel Glück, Koy. Du wirst es brau­chen.«

»Warten wir's ab!« murmelte Koy und verließ nachdenklich den pilzförmigen Fel­sen. Er hatte sich, sah er am Stand der Son­ne, nicht lange aufgehalten. Er kletterte in das kugelige Vorderteil des metallenen Skorpions, ließ die Maschine an und klappte das Visier herunter. Langsam drehte sich das Fahrzeug auf der Stelle. Als vor Koy die drei Gipfelmassive des Taambergs erschie­nen, schob er beide Hebel nach vorn und ließ das Fahrzeug schneller werden.

Schweigend und sehr nachdenklich fuhr er in die Richtung, die er eingeschlagen hat­te.

Es gab zwei Möglichkeiten: Skepsis oder Glaube.

Koy der Trommler versuchte, während er steuerte, eine Art Bilanz zu ziehen. Was ihn auch auf dem weiteren Teil seiner Suche oder Jagd erwartete, es würde hart sein und mörderisch. Die Unterbrechungen, wie sie beispielsweise bei Heimdall und Kröbel stattgefunden hatten, waren selten und kost­bar. Vor ihm lag eine lange Strecke. Vor ihm waren Gefahren, Erniedrigungen und Gewalt. Er konnte jetzt noch umkehren und alles vergessen.

Er fuhr weiter. Er glaubte, daß er seinem eigenen Tod

entgegenfuhr. Heute, morgen oder an einem der folgenden Tage …

ENDE

E N D E