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Schlußbetrachtung In Konstantinopel bestand ein Akzeptanzsystem. Die Zweifel, die ich in der Einleitung geäußert habe, haben sich nicht als stichhaltig erwiesen. Seine Sa- kralität entband den Kaiser nicht von den Erwartungen der Welt. Die Unter- tanen waren an Kritik keineswegs gehindert, im Gegenteil: Wenn die Dinge in Konstantinopel schlecht liefen, also etwas nicht stimmte im Verhältnis zu den höheren Mächten, dann lag es nahe, die Schuld bei dem zu suchen, dem Gott besondere Verantwortung auferlegt hatte. Der Kaiser besaß kein Deutungs- monopol, was den Willen des Himmels betraf. Gottes Gnade konnte da rasch zu Gottes Ungnade werden. Die Abgeschlossenheit des Kaisers in seinem Palast ist eine Fiktion. Der Herrscher war regelmäßig in allen vierzehn Regionen der Stadt unterwegs, jeder Konstantinopolitaner bekam ihn, wenn er nur wollte, regelmäßig zu Gesicht. Das Auftreten des Kaisers folgte auch nicht der frostigen Unerbittlichkeit eines hochformalisierten Zeremoniells. Das Protokoll konnte je nach Erfordernis reguliert werden, dem distanzierten Staatsakt folgte ohne weiteres ein Kirch- gang, bei dem ein stolzer Untertan dem Kaiser mitunter einen besonders großen Apfel präsentierte. Der Kaiser war Herr der Zeremonie, mit ihrer Hilfe stellte er Distanz ebenso her wie Nähe. Beides brauchte er für eine effektive Regie- rung und, wichtiger, für eine angemessene Herrschaftsdarstellung. Auch die joviale Geste gehörte zum Verhaltensrepertoire. Der letzte Einwand betraf den dynastischen Gedanken. Doch so stark das Erbprinzip auch war, es blieb stets eingebettet in die Bedingungen des Ak- zeptanzsystems. Andere Prätendenten konnten sich gegenüber Brüdern, Neffen und Schwiegersöhnen eines toten Herrschers durchsetzen. Dem regierenden Kaiser halfen Verwandtschaft oder die einvernehmliche Herrschaftsübertragung durch den Vorgänger – die monarchische Solidarität – wenig, wenn ihn ein Usurpator herausforderte, und umgekehrt stürzte ein erfolgreicher Usurpator nie über seine revolutionären Anfänge, sondern stets über eine schlechte Herrschaft. Ein Erbe mußte der Beste sein nicht im Sinne einer monarchischen Legitimität, sondern in seiner Fähigkeit, das Amt zu führen. Eine weitere Einschätzung, die ich in der Einleitung geäußert habe, hat sich nicht als richtig erwiesen. Von den vier Akzeptanzgruppen, die ich postuliert habe, ist eine, die Geistlichkeit, ausgeschieden. Um Mißverständnisse zu ver- meiden: Ich behaupte nicht, daß Bischof, Mönche und Heilige Männer keine Rolle im Leben Konstantinopels spielten. Das taten sie ganz offensichtlich. Sie konnten das Funktionieren des soziopolitischen Systems situativ beeinträchti- Bereitgestellt von | New York University Elmer Holmes Bobst Library Angemeldet Heruntergeladen am | 10.10.14 13:02

Der Kaiser und Konstantinopel (Kommunikation und Konfliktaustrag in einer spätantiken Metropole) || Schlußbetrachtung

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Schlußbetrachtung

In Konstantinopel bestand ein Akzeptanzsystem. Die Zweifel, die ich in derEinleitung geäußert habe, haben sich nicht als stichhaltig erwiesen. Seine Sa-kralität entband den Kaiser nicht von den Erwartungen der Welt. Die Unter-tanen waren an Kritik keineswegs gehindert, im Gegenteil : Wenn die Dinge inKonstantinopel schlecht liefen, also etwas nicht stimmte im Verhältnis zu denhöheren Mächten, dann lag es nahe, die Schuld bei dem zu suchen, dem Gottbesondere Verantwortung auferlegt hatte. Der Kaiser besaß kein Deutungs-monopol, was den Willen des Himmels betraf. Gottes Gnade konnte da rasch zuGottes Ungnade werden.

Die Abgeschlossenheit des Kaisers in seinem Palast ist eine Fiktion. DerHerrscher war regelmäßig in allen vierzehn Regionen der Stadt unterwegs, jederKonstantinopolitaner bekam ihn, wenn er nur wollte, regelmäßig zu Gesicht.Das Auftreten des Kaisers folgte auch nicht der frostigen Unerbittlichkeit eineshochformalisierten Zeremoniells. Das Protokoll konnte je nach Erfordernisreguliert werden, dem distanzierten Staatsakt folgte ohne weiteres ein Kirch-gang, bei dem ein stolzer Untertan dem Kaiser mitunter einen besonders großenApfel präsentierte. Der Kaiser war Herr der Zeremonie, mit ihrer Hilfe stellteer Distanz ebenso her wie Nähe. Beides brauchte er für eine effektive Regie-rung und, wichtiger, für eine angemessene Herrschaftsdarstellung. Auch diejoviale Geste gehörte zum Verhaltensrepertoire.

Der letzte Einwand betraf den dynastischen Gedanken. Doch so stark dasErbprinzip auch war, es blieb stets eingebettet in die Bedingungen des Ak-zeptanzsystems. Andere Prätendenten konnten sich gegenüber Brüdern, Neffenund Schwiegersöhnen eines toten Herrschers durchsetzen. Dem regierendenKaiser halfen Verwandtschaft oder die einvernehmliche Herrschaftsübertragungdurch den Vorgänger – die monarchische Solidarität – wenig, wenn ihn einUsurpator herausforderte, und umgekehrt stürzte ein erfolgreicher Usurpatornie über seine revolutionären Anfänge, sondern stets über eine schlechteHerrschaft. Ein Erbe mußte der Beste sein nicht im Sinne einer monarchischenLegitimität, sondern in seiner Fähigkeit, das Amt zu führen.

Eine weitere Einschätzung, die ich in der Einleitung geäußert habe, hat sichnicht als richtig erwiesen. Von den vier Akzeptanzgruppen, die ich postulierthabe, ist eine, die Geistlichkeit, ausgeschieden. Um Mißverständnisse zu ver-meiden: Ich behaupte nicht, daß Bischof, Mönche und Heilige Männer keineRolle im Leben Konstantinopels spielten. Das taten sie ganz offensichtlich. Siekonnten das Funktionieren des soziopolitischen Systems situativ beeinträchti-

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gen, die anderen Akzeptanzgruppen wurden von ihrem Verhalten beeinflußt,den Kaiser ließ ihre Opposition nicht gleichgültig. Aber ein wesentliches Kri-terium für eine Akzeptanzgruppe ist, daß ihr (offener oder angedeuteter) Wi-derspruch grundsätzlich anerkannt und nicht jedesmal ohne weiteres unter-drückt wird. Kommunikation steht vor Repression. Doch mit der Geistlichkeithielt der Kaiser eine regelmäßige Konsensherstellung nicht für nötig. DieMönche galten als Störenfriede, der Bischof war beschränkt auf eine pastoraleFunktion, die ihm nicht einmal in sakralen Angelegenheiten einen Gestaltungs-oder wenigstens Verhinderungsanspruch einbrachte. Beim Heiligen Mann wardas anders. Der Kaiser sah sich durchaus gezwungen, ihn in seinem Status de-monstrativ zu bestätigen und um seine Akzeptanz zu werben. Da sein Auftretenaber ein sporadisches war, ja gerade der Seltenheit seine Durchschlagskraftverdankte, war es sehr einfach, den Widerspruch eines Heiligen Mannes zuüberwinden: durch schlichtes Aussitzen. Selbst Basiliskos hätte mit dieser Ver-haltensform gegenüber Daniel Stylites Erfolg gehabt, wenn ihn nicht seineReligionspolitik und sein unbedachtes Verlassen Konstantinopels bei den so-ziopolitischen Gruppen unmöglich gemacht hätten. Der Akzeptanzentzug einesHeiligen Mannes allein galt wenig.

Auf den ersten Blick sah das Akzeptanzsystem Konstantinopels also nichtanders aus als das Roms, mit den drei relevanten Gruppen Armee, Eliten undVolk. Doch die Gewichte waren anders, nämlich ungleich verteilt. Das Gros desHeeres war durch die uneinnehmbaren Befestigungen aus der Stadt ausge-schlossen, die Soldaten in Konstantinopel aber waren zu wenige, um das Volk zukontrollieren. Das war kein Zufall, sondern politisch gewollt. Diese Soldaten,im wesentlichen die Leibgarden, sollten die Akzeptanzgruppen ebensowenigdominieren wie den Kaiser gefährden. Letzteres war natürlich nicht vollständigerreichbar, auch die Garden fielen ab. Aber: stets als letzte der Akzeptanz-gruppen. Ihre Loyalität war stärker ausgeprägt als in Rom. Dazu trug vor allemihre Unterbringung bei, nicht in einer Kaserne, sondern im Palast selbst, nebenall den Bediensteten, Höflingen, Ministern, Botschaftern, Besuchern und na-türlich neben dem Kaiser. Diese vollständige Einbettung in das Hofleben undder fast permanente Kontakt mit dem Kaiser verhinderten die Ausbildung einesselbstreferentiellen Sonderbewußtseins – ‘wir als Kampfelite’ anstatt ‘wir alsVerteidiger des Herrschers’. Das Feldlager, das der Kaiser Ende des viertenJahrhunderts verlassen hatte, baute er in gewissem Sinne neu auf: Immer nochhielt er sich inmitten seiner Soldaten auf, aber diese beherrschten seine Um-gebung nicht mehr, sie waren domestiziert, integriert, urbanisiert.

Die Eliten waren in höherem Maße vereinzelt als in Rom. Ihr Gruppen-bewußtsein war schwach ausgeprägt, über ein gelegentliches Murren ging esnicht hinaus. Die Gnade des Kaisers war das entscheidende Statuskriterium.Der Widerstand war deshalb ein isolierter und meist vergeblicher, weil frühverratener. Offene Herausforderungen des Kaisers gab es relativ wenige, öfter

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hatte der Kaiser mit einer kalten Entmachtung zu kämpfen, der Bevormundungund Überwältigung durch mächtige Elitenangehörige. Die trat aber viel seltenerein, als die Forschung vermutet. Nur für kurze Zeitspannen im fünften Jahr-hundert wurde der Kaiser zur Marionette seiner Minister, jedesmal konnte erdie Fäden abschneiden – und trotzdem bewegungsfähig bleiben. Die soziopo-litischen Gruppen waren ganz auf das Kaisertum ausgerichtet, einen Wettstreitum Akzeptanz konnte auch der begabteste Politiker nur für den Moment, nieauf längere Zeit durchhalten.

Es bleibt das Volk. Sein Stellenwert war höher als in Rom, nicht so sehr,weil es stärker, sondern weil Armee und Eliten schwächer waren. Allein dasVolk trat dem Kaiser mit offener Kritik gegenüber, es artikulierte seine An-liegen klar und erstaunlich geschlossen. Fehler des Herrschers konnte der ein-zelne, auch wenn er noch so mächtig war, angesichts des Statusunterschiedsnicht offen sanktionieren. Nur das Kollektiv des Volkes diente als permanentesVerhaltenskorrektiv. Dies traf nicht nur auf die Zirkusparteien zu, sondern aufdas Volk insgesamt – das Signal zum Sturz von Maurikios gaben nicht dieGrünen oder Blauen, sondern eine kollektive Aktion des restlichen Volkes.Wenn unsere Quellen nicht täuschen, dann bemühte der Kaiser sich um dasVolk ausgiebiger und länger, er verbrachte mehr Zeit mit ihm, er griff ihmgegenüber häufiger zur integrativen Geste.

Häufiger bedeutet freilich nicht verschiedenartig. Dem Konstantinopolita-ner Akzeptanzsystem mangelte es an institutionalisierten Mechanismen zurKonsensherstellung, die in unterschiedlichen Stadien der Konfliktentwicklungangewendet werden konnten. Auf den Zirkusdialog – bei dem das Volk Dampfablassen konnte – folgte nur noch die Entschuldigungs- und Bittrede als letzteWaffe des fast schon akzeptanzlosen Kaisers, die vor allem deshalb stach, weilsie eben nur in verzweifelter Situation angewandt werden konnte. Dazwischengab es aber nichts. Der Kaiser selbst war außerhalb des Hippodroms kaumansprechbar: Unmutskundgebungen und selbst langatmige Petitionen galten alsunerhört. Diese Norm qualifizierte den offenen Umgang des Herrschers mitseinem Volk in charakteristischer Weise: Das Volk konnte nur eine statusaf-firmierende Interaktion initiieren, auch nur potentiell konfrontative Kommu-nikation, wie die Bitte um Hilfe gegen Mißstände, pflegte der Kaiser dagegen zuunterbinden, wenn er in den Straßen der Stadt unterwegs war. Dadurch zog eraber erst recht diejenigen Protestierenden an, die nicht mehr beschwichtigtwerden, sondern durch die Mißachtung der Norm Druck ausüben wollten.

Unmut, der durch die Kommunikation im Hippodrom nicht abgebautwerden konnte, brach sich deshalb häufig in Gewalt Bahn, und dagegen war dieRegierung hilflos. Der Einsatz der Garden war meist ein Zeichen von Ratlo-sigkeit. Nur gegen kleinere Gruppen gelang er (was systemkonform war), oftprovozierte er: Das Volk sah seinen Status zu Recht mißachtet, der Konflikteskalierte weiter. Das Akzeptanzsystem wurde durch gewaltsame Auseinan-

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dersetzungen freilich nicht gesprengt. Keine Gesellschaft hält dauernden Kon-sens aus, Konflikte müssen auch ausgetragen werden, um die Gemeinschaft neuzu stabilisieren. Gerade in der Vormoderne war der gewaltsame Austrag vonSpannungen oft selbstverständlich. In Konstantinopel war er freilich fast an derTagesordnung, nicht nur in der Auseinandersetzung mit der Regierung, sondernauch in der zwischen Untergruppen des Volkes (vor allem zwischen Grünen undBlauen). Straßenschlachten und Blutvergießen erschütterten aber stets das öf-fentliche Leben. Es lag im Interesse des Kaisers, die Zahl der Ausschreitungengering zu halten, und das konnte er am leichtesten erreichen, indem er auf dieBedürfnisse des Volkes möglichst früh möglichst umfassend einging. Die Nei-gung zum Gewaltausbruch, geboren aus einer Unzulänglichkeit des soziopoli-tischen Systems, führte also dazu, daß das Volk einen besonders hohen Stel-lenwert im Akzeptanzsystem erhielt.

In der Hierarchie der Akzeptanzgruppen stand das Volk oben. Natürlichhatte das nichts mit Demokratie zu tun. Dafür fehlten die institutionellen wiedie normativen Voraussetzungen. Aber die Macht des Volkes war nicht nur eineverhindernde, sondern auch eine gestaltende. Die Menge formulierte in ihrenRufen ihre Geltungsansprüche: an die Hilfe eines fürsorgenden Kaisers, an denGlauben eines orthodoxen Kaisers, an das Verhalten eines christlichen Kaisers.Der Herrscher war gut beraten, diese Erwartungen zu berücksichtigen, wollte ernicht gegen einen Aufstand ankämpfen, der ihn und seinen Thron hinwegspülte.Akzeptanz war für das Volk von Konstantinopel mehr als eine Suggestion vonPartizipation. Sie war auch Teilhabe am Regiment.

Damit will ich nun nicht behaupten, daß der Kaiser auf Abruf regierte undjederzeit mit einer Usurpation rechnen mußte. Gerade in den letzten Kapitelnist deutlich geworden, wie stark der Kaiser war. Alle Akzeptanzgruppen, auchdas Volk, waren affirmierend eingestellt. Diese Haltung galt nicht nur demKaisertum, das alternativlos war, sondern auch dem einzelnen Throninhaber.Die spätantike Gesellschaft war streng hierarchisch aufgebaut, sie scheute einenoffenen Bruch mit den gegenwärtigen Verhältnissen. Der Kaiser mußte schonmehrere gröbste Schnitzer begehen, um seinen Thron in Gefahr zu bringen.Kein Volksaufstand begann mit der Forderung nach Umsturz. Im Gegenteil, erbegann mit Hochrufen auf den Herrscher. Dem Kaiser galt eine hohe Grund-loyalität. Fehler wurden kritisiert, Maßnahmen wurden eingefordert, Akzeptanzging verloren, aber nicht ruckartig im ganzen, sondern langsam über einen ge-wissen Zeitraum. Gerade weil die Proteste des Volkes schnell gewalttätig wur-den, gab es ein frühes und deutliches Signal, daß etwas nicht in Ordnung war.Der Kaiser hatte dann genügend Zeit, sichtbar zu reagieren. Auch wenn ererneut Fehler beging, wurden diese lange toleriert. Erst nach einer hohen Zahlvon Fehlentscheidungen erodierte der Rückhalt so weit, daß das Volk sich nacheiner Alternative umsah. Die aber war nicht immer zu finden, mancher Senator,der schon seit vielen Jahren vom Purpur träumte, bekam es mit der Angst zu

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tun, wenn sich endlich die große Chance bot – und floh. Ohne Alternative gab esaber keinen Kaisersturz. Die Akzeptanzgruppen beseitigten nicht einen Kaiserund sahen sich dann in Ruhe nach dem nächsten um. Nein, erst in der Akkla-mation des Usurpators vollendete sich der Akzeptanzentzug. Maurikios verließ602 zu früh den Palast. Solange sich kein Usurpator erhob oder erheben ließ,erduldeten die Akzeptanzgruppen auch einen schlechten Kaiser. Andererseitskonnte ein ehrgeiziger Herausforderer noch so sehr mit dem Herrscher rivali-sieren – seine Bemühungen blieben fruchtlos, solange dieser nicht wesentlicheFehler beging. Und selbst wenn: Auch dann blieb der Kaiser noch lange über-legen. Eine gewisse Trägheit (nicht intellektuelle, sondern strukturelle) ließ denAkzeptanzgruppen das bestehende Regime meist annehmbar erscheinen. Soerklärt sich, daß auch unbeliebte Kaiser sehr lange regieren konnten.

Die Ausübung des Kaisertums war eine aufreibende Sache, keine Frage.Dauernd traten irgendwo potentiell gefährliche Akzeptanzverluste ein. DieGegenmaßnahmen waren aber nicht allzu schwer zu treffen. Hier half demKaiser, daß die Normerwartungen der soziopolitischen Gruppen sich weitge-hend deckten. Die Ansprüche des Volkes, die ich oben umrissen habe, stelltendie beiden anderen Akzeptanzgruppen genauso. Ein Princeps des ersten Jahr-hunderts hatte es schwerer gehabt. Der spätantike Kaiser mußte für die Armeenicht mehr den Feldherrn geben, die Senatoren erwarteten keine Demonstra-tionen von Egalität. Der Kaiser hatte bei seiner täglichen Herrschaftsausübungalso nicht flexibel auf unterschiedlichste Erwartungen einzugehen. Es genügte,wenn er den einen Part, den er hatte, gekonnt spielte. Das Akzeptanzsystembesaß durchaus seine Unebenheiten und Herausforderungen. Aber es verziehseinem Protagonisten auch viel.

Konstantinopel hatte das Glück, daß ihm Wahnsinnige und Blutsäufer aufdem Thron erspart blieben (was den Selektionskriterien des Akzeptanzsystemsein gutes Zeugnis ausstellt). Die Genies waren aber ebenfalls dünn gesät. Einherausragender Staatsmann war nur Theodosius II. Er erkannte die Bedin-gungen des neuen städtischen Beziehungsgeflechts wie niemand vor ihm. Daschristliche, urbane Kaisertum übte er annähernd perfekt aus, und durch be-ständige Wiederholung und Einschärfung machte er sein Verhalten zur unbe-strittenen Norm für ganz Konstantinopel und für alle seine Nachfolger. Indiesem Blick für das politisch Gebotene steht er auf einer Ebene mit Kon-stantin, in seiner geduldigen Praktizierung über Jahrzehnte ähnelt er Augustus.Es ist schade, daß die überragende politische Leistung dieses Mannes bis heutekaum gewürdigt wird. Von Theodosius abgesehen, bleibt eine Reihe von mehroder weniger begabten, immer bemühten, oft irrenden Herrschergestalten. Dasgenügte jedoch völlig. Das Akzeptanzsystem war so stabil, daß es auch einenminder talentierten Kaiser aushielt. In einer Monarchie ist oft die Person desHerrschers der schwache Punkt. Im Prinzipat war das der Fall gewesen. InKonstantinopel war das Kaisertum aber institutionell und normativ so stark

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abgesichert, wie es in einem System, das Wert auf die Befähigung des Herr-schaftsträgers legt, möglich ist. Auch ein Kaiser, der nur den mäßigsten Er-wartungen standhielt, war immer noch stark.

Die größte Schwäche des Systems war sein Blick nach innen, die Konzen-tration auf die Stadt. Konstantinopel duldete keine Nebenbuhlerinnen. Alles,was draußen vor sich ging, war von nachrangiger Bedeutung, zunächst für dieAkzeptanzgruppen, in der Konsequenz für den Kaiser. Diese Selbstreferentia-lität war eine Schwäche, denn draußen war das Reich, und ohne Reich konnte eskeinen Kaiser geben und ohne Kaiser kein Konstantinopel. Wenn der Herrscheraber Herrscher bleiben wollte, mußte er zunächst die Ansprüche der Stadt er-füllen. Kaiser, die andere Prioritäten zu setzen suchten, gerieten in großeSchwierigkeiten (Anastasios) oder scheiterten (Basiliskos). Seit langem wird inder Forschung die These debattiert, daß die religiöse Entfremdung der Mia-physiten in Syrien und Ägypten von den chalkedonischen Kaisern wesentlichzum Verlust der Levante unter Herakleios beitrug. Ich kann hier nicht auf diesesProblem eingehen, statt dessen möchte ich den Rahmen erweitern: Die Kon-zentration des Kaisers auf Konstantinopel führte dazu, daß die Loyalitätsbandein allen Provinzen schlaffer wurden. Die meisten Untertanen draußen im Reichmachten, ungeachtet ihres Bekenntnisses, irgendwann im Leben die Erfahrung,daß es auf sie nicht ankam, daß ihre Heimat zweitklassig war. Der Kaiser be-suchte sie ja nicht einmal. Auch deswegen gelang Herakleios’ Aufstand inAfrika und Ägypten, und es war ja diese Erhebung, die den Persern ihrenvernichtenden Einbruch ins Reich erst erlaubte. Das Akzeptanzsystem undinsbesondere sein gutes Funktionieren hatten also durchaus einen Anteil daran,daß das Römische Reich im siebenten Jahrhundert für immer seinen Rang alsmediterranes Imperium verlor.

Zu weit will ich diese Argumentation nicht treiben. Die persische Invasionwurde schließlich zurückgewiesen, und erst die Erschöpfung aller Ressourcenmachte den Osten zu einer leichten Beute für die islamischen Eroberer. DasAkzeptanzsystem hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits aufgelöst, der Kaiserverließ Konstantinopel wieder. Zugrunde gegangen war es nicht an innerenSchwierigkeiten, sondern unter dem Druck einer existentiellen äußeren Be-drohung. Bis zuletzt einwandfrei funktionierend, hatte es fast 230 Jahre Bestandgehabt. Damit hatte es länger gedauert als jede freiheitliche Ordnung derModerne, die amerikanische ausgenommen. Diese Stabilität stellt der soziopo-litischen Ordnung Konstantinopels nicht das schlechteste Zeugnis aus.

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